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Nächstes Jahr in Havanna E-Book

Chanel Cleeton

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Beschreibung

Mein Herz gehört Havanna

Havanna 1958: Elisa, Tochter eines Plantagenbesitzers, verkehrt in den besseren Kreisen Havannas und weiß kaum etwas über die Lage des Landes. Bis sie einem Mann begegnet, der tief verstrickt ist in die politischen Umwälzungen, die ihre Zukunft für immer verändern werden.

Miami 2017: Marisol macht sich auf den Weg nach Kuba. Sie wird zum ersten Mal das Land kennenlernen, in das ihre Großmutter zeit ihres Lebens zurückkehren wollte und in dem sie nun beigesetzt werden soll …

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Das Buch

Miami 2017: Marisol macht sich auf den Weg in die fremde Heimat. Nach Kuba, das Land ihrer Familie, in das ihre Großmutter Zeit ihres Lebens zurückkehren wollte, und in dem sie nun beigesetzt werden soll.

Havanna 1958: Elisa, Tochter eines Plantagenbesitzers, verkehrt in den besseren Kreisen Havannas und weiß kaum etwas über die Lage des Landes. Bis sie einen Mann kennenlernt, der tief verstrickt ist in die politischen Umwälzungen, die ihre Zukunft für immer verändern werden.

Die Autorin

Chanel Cleetons Familie stammt ursprünglich aus Kuba. Sie selbst wuchs jedoch in Florida auf, bevor sie für das Studium der Internationen Beziehungen nach England ging. An der Londoner School of Economics & Political Science machte sie schließlich ihren Masterabschluss in Internationaler Politik. Nächstes Jahr in Havanna ist ihr erster Roman bei Heyne.

Chanel Cleeton

Nächstes Jahr in Havanna

Roman

Aus dem Amerikanischen von Stefanie Fahrner

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Next Year in Havanna erschien bei Berkley
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2018 by Chanel CleetonCopyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Claudia KraderUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design/Margit Memminger,unter Verwendung von © Getty Images/Aline JohnsonSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-22626-8V004
www.heyne.de

Para mis abuelosFür meine Großeltern

Kapitel 1

Elisa

Havanna, 1959

»Wie lange werden wir fort sein?«, fragt meine Schwester Maria.

»Ein Weilchen«, antworte ich.

»Zwei Monate? Sechs Monate? Ein Jahr? Zwei Jahre?«

»Pst.« Ich versetze ihr einen sanften Stoß, damit sie weitergeht, und sehe mich nervös in der Abflughalle des Rancho-Boyeros-Airports um. Hat jemand mitgehört, was sie gesagt hat?

Im Gänsemarsch gehen wir los. Wir, das sind die berühmten Perez-Schwestern. Oder auch die berüchtigten, je nachdem, wen man fragt. Isabel führt uns an, sie ist die Älteste. Sie sagt nichts, schaut nur zu ihrem Verlobten Alberto hinüber. Ganz blass im Gesicht sieht er uns dabei zu, wie wir aus der Stadt marschieren, die uns einst zu Füßen lag.

Als Nächste kommt Beatriz. Sie trägt ihr bestes Kleid, hellblau mit Spitzenbesatz. Bei jedem Schritt schwingt es gegen ihre Waden. Der ganze Flughafen scheint sie bewundernd anzustarren. Sie ist die Familienschönheit, und das weiß sie auch.

Ich folge ihr mit zitternden Knien. Jeder Schritt kostet mich enorme Kraft.

Schließlich ist da Maria, die Letzte der Sugar-Queens.

Sie ist erst dreizehn und versteht noch nicht, dass sie im Angesicht der grün uniformierten Soldaten mit ihren Gewehren lieber leise sprechen sollte. Welche Gefahren von diesen Uniformen ausgehen, weiß sie, im Gegensatz zu uns anderen, nicht so genau.

Uns ist es nicht gelungen, den Kummer zu überwinden, der unsere Familie so unbarmherzig in seinen Klauen hält, aber wir haben unser Bestes getan, um wenigstens sie von den Grausamkeiten abzuschirmen, die wir durchmachen mussten. Sie hat die Schreie der Gefangenen nicht gehört, die wie Tiere in die Zellen von La Cabaña gepfercht wurden. Dort herrscht jetzt dieses argentinische Monster. Sie hat nicht gesehen, wie kubanisches Blut vergossen wurde.

Ihr Vater hat all das erlebt.

Er dreht sich um und bringt sie mit einem Blick zum Schweigen. Das macht er nur ganz selten, aber wenn er es tut, wirkt es sofort. Solange wir denken können, hat er die Erziehung seiner Töchter unserer Mutter und Magda, unserer Nanny, überlassen. Er war zu sehr in sein Zuckerunternehmen und die Politik eingespannt. Doch es herrschen außergewöhnliche Zeiten. Es geht um mehr denn je. Für Fidel gäbe es nichts Schöneres, als an Emilio Perez und seiner Familie ein Exempel zu statuieren. Wir sind der Inbegriff für das, was seine Revolution ausradieren will. Wir sind nicht die reichste Familie Kubas und auch nicht die mächtigste, aber die enge Verbindung zwischen meinem Vater und dem früheren Präsidenten ist nicht zu leugnen. Selbst die unvorsichtigen Worte eines dreizehnjährigen Mädchens können uns in diesem Klima zum Verhängnis werden.

Maria verstummt.

An der Seite meines Vaters geht unsere Mutter, den Kopf hocherhoben. Sie hat darauf bestanden, dass wir unsere besten Kleider anziehen, komplett mit Hüten und Handschuhen, und uns die Haare bürsten, bis sie glänzen. Ihre Töchter sollen perfekt aussehen, selbst im Exil.

Am Boden, doch nicht unterzukriegen.

Wir haben nicht in den Bergen gekämpft, wir haben keine Waffen in unseren behandschuhten Händen gehalten, aber wir haben den Kampf in uns, wir alle. Ein gewisser Fidel hat diese Flamme entzündet, die niemals erlöschen wird.

So streben wir in unseren Lieblingskleidern dem Gate zu. Kubanischen Stolz und Pragmatismus, das strahlen wir aus. Das ist unsere Art, die kostbaren Kleider mitzunehmen, selbst wenn die Edelsteine, die sie einst zierten, verschwunden sind. Was von unserem Schmuck übrig geblieben ist, haben wir im Garten unseres Hauses vergraben.

Damit er da ist, wenn wir zurückkommen.

Kubanerin zu sein heißt, stolz zu sein. Es ist unsere größte Gabe und gleichzeitig unser schlimmster Fluch. Wir dienen keinem König, verbeugen uns nicht, tragen unseren Kummer mit uns herum, als würde er nichts wiegen. Das ist eine Kunst.

Es ist eine Kunst, alles ganz leicht aussehen zu lassen. So zu tun, als stehe einem die Welt offen, wenn man tatsächlich vor lauter Gram zu Boden gedrückt wird. Wir tragen Seide und Spitze, aber darunter sind wir aus Stahl.

Wir reden uns weiterhin ein, dass wir bloß in den Urlaub fahren, nur kurz weg sein werden. Die Blicke im Flughafen belehren uns eines Besseren.

Beatriz nimmt meine Hand. Das tut gut. Die Wächter in Olivgrün beobachten jede Bewegung, die wir machen. Ich spüre etwas Beruhigendes in Beatriz’ Angst, diesem Riss in der Fassade. Ich lasse sie nicht los.

Unsere Welt ist unwiderruflich verschwunden, und die, die sie ersetzt hat, kenne ich nicht.

Über die Abflughalle hat sich ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit gelegt. Man sieht es in den Augen der Männer und Frauen, die darauf warten, ins Flugzeug einzusteigen. An ihren müden Schultern, an dem Schock, der sich in ihre Gesichter gegraben hat, an den Besitztümern, an die sie sich klammern. Auch an den kleinen Kindern ist es zu merken. Ihr Lachen wird von dem Pesthauch erstickt, der sich über uns alle gelegt hat.

Für uns ist das früher ein schöner Ort gewesen. Wir begrüßten unseren Vater, wenn er von einer Geschäftsreise zurückkam, und saßen auf denselben Sitzen, wenn wir voller Vorfreude auf unseren Urlaubsflug nach New York warteten.

Wir lassen uns nieder. Beatriz sitzt mir zur Rechten, Maria zur Linken. Isabel hat sich ein Stück weiter weg gesetzt. Ihr Schmerz lastet auf ihren Schultern wie ein bleierner Umhang. Das, was wir hinter uns lassen, wiegt schwer, und der Verlust hat verschiedene Abstufungen.

Meine Eltern halten sich an der Hand, die Finger ineinander verschränkt. Eine solche Geste der Zuneigung habe ich selten bei ihnen beobachtet. Ich sehe Sorgen in ihren Augen, ahne den Kummer in ihren Herzen. Wie lange werden wir fort sein? Wann werden wir zurückkommen? Was für ein Kuba werden wir erleben, wenn es so weit ist?

Wir warten seit Stunden. Die Sekunden ziehen sich geradezu ins Unendliche. Mein Kleid fühlt sich kratzig an, an meinem Hals laufen Schweißperlen herab. In meinem Bauch macht sich Übelkeit breit, in meinem Mund ein bitterer Geschmack.

»Ich muss mich übergeben«, sage ich leise zu Beatriz.

Sie drückt meine Hand. »Nein, musst du nicht. Wir haben es gleich geschafft.«

Ich dränge die Übelkeit zurück und starre auf den Boden. Die Blicke der Fremden bohren sich in mich hinein. Gleichzeitig fühle ich mich wie in einem Vakuum, aus dem jedes Geräusch herausgesaugt wurde, einmal abgesehen vom gelegentlichen Rascheln der Röcke und den vereinzelten Schluchzern. Es ist wie im Fegefeuer. Wir warten und warten.

»Die Maschine ist zum Einsteigen bereit.«

Mein Vater erhebt sich mit knackenden Gelenken. Er ist in den zwei Monaten sichtlich gealtert, seit Präsident Batista geflohen ist, seit die Revolution in unsere Ecke der Insel vorgedrungen ist. Emilio Perez war einst einer der reichsten und mächtigsten Männer von ganz Kuba. Inzwischen unterscheidet sich mein Vater kaum von den anderen Männern im Raum. Wir sind alle Bürger ohne Staat, verwaist durch die Umstände.

Mit meiner freien Hand greife ich nach Marias.

Sie ist still, ganz so, als hätte sie die Realität endlich begriffen. Wir alle sind still.

Hintereinander gehen wir über das Rollfeld, ernst und wortkarg. Kein Lufthauch ist heute zu spüren, die Hitze erdrückend, die Sonne sticht in den Rücken. Vor uns ragt drohend das Flugzeug auf.

Ich schaffe das nicht. Ich kann nicht weg. Ich kann nicht bleiben.

Beatriz zieht mich voran. Wir bilden eine Reihe, wir Perez-Mädchen. Ich gehe weiter.

Widerwillig schieben wir uns ins Flugzeug. Die Stille bricht auf, als die gedämpften Stimmen lauter werden und eine Kakofonie der Trauer die Kabine erfüllt. Weinen. Der Abflughalle entflohen, weicht der Firnis der Zivilisiertheit etwas Ungeschminktem, Rohem.

Trauer.

Ich nehme einen Fensterplatz ein und spähe durch die kleine Luke hinaus. Hoffentlich kriege ich etwas Besseres zu sehen als nur das Flughafengebäude. Hoffentlich.

Mit einem Ruck setzt sich das Flugzeug in Bewegung. Stille legt sich über die Kabine.

Plötzlich sehe ich mich selbst am Silvesterabend. Ich stehe im Ballsaal von Bekannten meiner Eltern, ein Glas Sekt in der Hand. Ich lache. Mein Herz fließt über vor Glück. Aber da ist auch die Angst im Hintergrund. Angst und Unsicherheit. Und leise Hoffnung.

Innerhalb von Minuten hat sich mein ganzes Leben verändert.

Präsident Batista ist aus dem Land geflohen. Lang lebe das freie Kuba!

Soll das etwa Freiheit sein?

Wir werden schneller, schießen die Rollbahn hinunter. Mein Körper wird durch die Geschwindigkeit hin und her geworfen. Ich verliere den Kampf, greife nach der Tüte in der Sitztasche und leere meinen Mageninhalt hinein.

Beatriz streicht mir über den Rücken, während ich vornübergebeugt dasitze. Die Räder des Flugzeugs verlieren den Bodenkontakt, wir steigen in den Himmel auf. Wieder und wieder kommt die Übelkeit über mich, ein schändliches Abschiedsgeschenk. Als ich irgendwann aufsehe, entfaltet sich unter mir ein unglaubliches Panorama aus Blau und Grün, die Palette eines Künstlers.

Als Christoph Kolumbus Kuba erreichte, beschrieb er es als das schönste Land, das menschliche Augen jemals gesehen hätten. Das ist es auch. Doch da ist noch viel mehr außer dem Meer, den Bergen, dem klaren Himmel. Es ist so viel mehr, was wir hinter uns lassen.

Wie lange werden wir fort sein?

Ein Jahr? Zwei Jahre?

Ojalá. So Gott will.

***

Marisol

Januar 2017

Als ich klein war, bat ich meine Großmutter ständig, mir Geschichten über Kuba zu erzählen. Es war eine mythenumrankte Insel, die da in meinem Herzen existierte. Ich schuf sie ganz nach der Version Kubas, die meine Großmutter im Exil in Miami entworfen hatte, und aus den Erzählungen, die sie mit mir teilte. Ich war gefangen zwischen zwei Ländern, zwei Versionen meiner selbst. Jener, die ich in der Realität bewohnte, und der anderen, die ich nur in meinen Träumen auslebte.

Oft saßen wir im Wohnzimmer des weitläufigen Hauses meiner Großeltern in Coral Gables, und Großmutter zeigte mir alte Fotos, die furchtlose Familienmitglieder aus Kuba herausgeschmuggelt hatten. Dann ersann sie Geschichten über ihr Leben in Havanna und über die Abenteuer ihrer Geschwister. Sie malte das Bild eines Landes, das in meiner Vorstellung zum Leben erweckt wurde. Ihre Geschichten dufteten nach Gardenien und Jasmin, schmeckten nach Kochbanane und Mammiapfel, wurden begleitet von den Klängen ihres alten Plattenspielers.

Jedes Mal, wenn sie eine Geschichte beendet hatte, lächelte sie und versprach mir, eines Tages würde ich das alles mit eigenen Augen sehen. Wir würden mit Glanz und Gloria zurückkehren, die Familienvilla am Meer bei Varadero in Besitz nehmen, genau wie das elegante Heim in Havanna, das sich fast über die gesamte Länge einer baumbestandenen Straße erstreckte.

Wenn Fidel stirbt, kehren wir zurück. Du wirst sehen.

Schließlich starb er. Nach beinahe sechzig Jahren der dauernden Anspannung im Volk, nur unterbrochen von gelegentlichem falschem Alarm und einigen schlechten Scherzen.

Meine Großmutter war einige Monate zuvor verschieden. Am Tag von Fidels Tod öffneten wir eine Flasche Champagner, die mein Urgroßvater nur für diesen Anlass vor fast sechzig Jahren gekauft hatte. Wir stießen in unserer unnachahmlichen Art auf Fidels Abgang an. Leider hatte der Champagner seinen Zenit schon überschritten, genau wie Fidel selbst, aber wir feierten trotzdem an der Calle Ocho in Miami, die ganze Nacht, bis die Sonne wieder aufging. Und doch …

Und doch bleiben wir hier.

Sein Tod hat fast sechzig Jahre des Exils nicht einfach beiseitegewischt. Oder eine Zukunft in Freiheit garantiert. Im Gegenteil: Ich muss die Asche meiner Großmutter in kleine Make-up-Fläschchen füllen und auf diese Art durch den Zoll schmuggeln. Um ihr ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Noch immer beten und hoffen wir, dass sich die Dinge ändern mögen.

Wenn ich tot bin, bringt mich zurück nach Kuba. Verstreut meine Asche über dem Land, das ich liebe. Ihr werdet dann schon wissen, wo.

Nun sitze ich im Flugzeug, irgendwo in der Luft zwischen Mexico City und Havanna, bewaffnet mit einem Notizbuch voller Straßennamen und Orte, die es zu besuchen gilt. Außerdem besitze ich einen Reiseführer, den ich im Internet gekauft habe. Ich habe keinen blassen Schimmer, wo die Asche ihre letzte Ruhe finden soll.

Vor sechs Monaten wurde das Testament meiner Großmutter verlesen, in einem Konferenzraum in der Kanzlei unseres Anwalts, vor dreißig Familienmitgliedern. Ihre Schwestern Beatriz und Maria waren anwesend. Isabel war im Vorjahr gestorben. Deren Kinder waren jedoch da, mitsamt ihren Ehepartnern und Kindern. Die jüngeren Generationen erwiesen der älteren Generation ihren Respekt. Dann waren da noch mein Vater als Großmutters einziges Kind, meine Schwestern und ich.

Die Hauptteile des Testaments waren ziemlich klar gehalten, ohne größere Überraschungen. Mein Großvater war zwei Jahrzehnte zuvor verstorben und hatte das Familienunternehmen früh an meinen Vater übergeben. Das Haus in Palm Beach ging an meine Schwester Daniela, die Farm in Wellington mitsamt Pferden an meine Schwester Lucia, das mittlere Kind. Ich bekam das Haus in Coral Gables, von dem aus ich einst so viele Fantasiereisen nach Kuba unternommen hatte.

Verteilt wurden außerdem Geld, Kunstwerke und eine Menge anderer Posten, alles vom Anwalt in sachlichem Ton verlesen, nur unterbrochen von gelegentlichen Tränen oder Ausrufen der Dankbarkeit.

Dann kam ihr letzter Wunsch.

Eigentlich sollten Großeltern keines ihrer Enkelkinder bevorzugen, aber meine Großmutter hat sich nie an Regeln gehalten. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass meine Mutter meinen Vater zwei Monate nach meiner Geburt mit der Erbin eines Gummiunternehmens im Bett erwischt hatte.

Lucia und Daniela hatten Jahre der Familienharmonie vor der großen Scheidung erlebt und danach ein enges Verhältnis zu meiner Mutter, in das ich nie eingebunden wurde.

Meine Kindheit war geprägt von Strategiesitzungen in der Anwaltskanzlei und ständig wechselnden Wohnsitzen, bis meine Mutter irgendwann genug hatte und zurück nach Spanien ging. Mich ließ sie in der Obhut meiner Großmutter zurück. Vielleicht war ich für Großmutter ja die Tochter, die sie niemals hatte. Sie erzog mich jedenfalls wie ihr eigenes Kind, und darum ist es logisch, dass sie mich damit betraut hat.

Keines der anderen Familienmitglieder hatte Einwände dagegen.

Von ihren Schwestern bekam ich eine Adressenliste, darauf auch das Perez-Anwesen in Havanna und das Strandhaus, das seit fünfzig Jahren niemand mehr gesehen hatte. Sie stellten den Kontakt zu Ana Rodriguez her, der engsten Kindheitsfreundin meiner Großmutter. Obwohl so viel Zeit vergangen war, lud sie mich freundlich ein, die ganze Woche in ihrem Haus zu übernachten. Vielleicht wusste sie ja, wo meine Großmutter die letzte Ruhe finden konnte.

Du wolltest immer Kuba sehen, und ich bereue am allermeisten, dass wir das nicht gemeinsam zu meinen Lebzeiten tun konnten. Mir ist die Vorstellung ein Trost, wie du über den Malecón flanierst, kleine Gischttröpfchen auf dem Gesicht. Ich stelle mir vor, wie du in der Kathedrale von Havanna in der Kirchenbank kniest, wie du an einem Tisch im Tropicana sitzt. Habe ich dir je von jenem Abend erzählt, an dem wir uns heimlich rausgeschlichen haben und in den Club gegangen sind?

Ich habe davon geträumt, dass Fidel vor mir sterben und ich nach Hause zurückkehren würde. Heute träume ich einen anderen Traum. Ich bin eine alte Frau und habe akzeptiert, dass ich Kuba niemals wiedersehen werde. Du wirst es sehen.

Im Exil zu leben bedeutet, die Dinge zu verlieren, die man am meisten liebt. Die Luft, die man atmet, der Boden, auf dem man wandelt – alles weg. Sie existieren auf der anderen Seite einer Mauer, gleichzeitig da und doch wieder nicht. Sie ändern sich nicht mit der Zeit oder den Umständen, sondern bleiben eine perfekte Erinnerung in einem Land der Träume.

Mein Kuba ist dahin. Das Kuba, das ich dir über Jahre geschenkt habe, wurde vom Wind der Revolution fortgetragen. Es ist Zeit, dass du dein eigenes Kuba entdeckst.

Ich lasse den Brief wieder in meine Handtasche gleiten. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Es ist sechs Monate her, tut aber noch immer weh. Vor allem in diesem Moment, da ich den Verlust so deutlich spüre. Sie sollte in diesem Moment an meiner Seite sein, aber sie ist nicht da.

Der Anblick der merenguitos, der Baiserteilchen, die sie zu besonderen Anlässen für mich zubereitete. Ihr zuckriger Geschmack, das weiße Puder, das sich auf der Zunge auflöste. Der Klang meiner Kindheit, unsere musikalischen Ikonen: Celia Cruz, Benny Moré, der Buena Vista Social Club. Und jetzt das: Die Räder des Flugzeugs setzen auf kubanischem Boden auf.

Ich vermisse meine Großmutter.

Tränen laufen mir über die Wangen. Es ist nicht bloß ihre Abwesenheit, sondern dieses Gefühl, mit ihr verbunden zu sein, während das Flugzeug dieselbe Landebahn entlangrollt wie jenes, das meine Großmutter vor fast sechzig Jahren aus Kuba fortgetragen hat.

Ich starre aus dem Fenster. Das ist mein erster Blick auf den José-Martí-Airport. Zuerst wirkt er wie einer der zahllosen karibischen Flughäfen, die ich auf Urlaubsreisen kennengelernt habe. Dann verspüre ich eine Art Wiedererkennen, einen Schauer, der mir durch den ganzen Körper fährt. Ich seufze, als hätte ich die ganze Zeit über die Luft angehalten, um endlich tief auszuatmen.

Es ist dieses Gefühl, lange weg gewesen zu sein und endlich wieder nach Hause zu kommen, zu dem Haus, das einen zu begrüßen scheint, gleichzeitig vertraut und doch verändert. Man tritt durch die Eingangstür, stellt die Koffer neben sich auf dem Boden ab, spürt eine Art Vollendung. Die Reise ist vorbei. Man betrachtet seine Umgebung, alles, was man hinter sich gelassen hatte, und denkt:

Ich bin zu Hause.

Kapitel 2

Marisol

Ich steige aus dem Flugzeug und mache mich auf den Weg durch den Flughafen, mein Gepäck in den Händen. Mein ganzes Leben lang war Kuba dieses mystische Gebilde, manchmal greifbar, manchmal flüchtig und nicht zu fassen. Jetzt ist es real. In der Ankunftshalle gibt es nichts Romantisches oder Glamouröses. Trotzdem bin ich schrecklich aufgeregt.

Leider wird der Zauber des Augenblicks von der lästigen Warterei zerstört. Die Minuten ziehen sich. Fast eine Stunde ist vergangen, bis ich endlich ganz vorn in der Einreiseschlange stehe. Ich betrachte die Beamten hinter ihren Schaltern, die Leichtigkeit, mit der sie die Touristen vor mir abfertigen. Offiziell bin ich als Journalistin gekommen. Ich habe ein Arbeitsvisum, um für einen Artikel über den Tourismus in Kuba nach Aufhebung der Sanktionen zu recherchieren. Das Thema habe ich meiner Chefredakteurin schmackhaft gemacht, indem ich eine mehrteilige Serie vorschlug, praktisch eine Einführung in das Land Kuba für ein amerikanisches Publikum. Den Auftrag bekam ich allerdings erst, als ich anbot, meine Reisekosten selbst zu tragen. Inoffiziell habe ich die Asche meiner Großmutter im Gepäck.

Es gibt offizielle Wege, verstorbene Exilanten zur Bestattung nach Kuba zurückzubringen. Ich habe mich bei Freunden darüber informiert, die mir wegen der ausufernden Bürokratie und der Einmischung durch die Regierung davon abrieten. Also entschied ich mich für den einfachsten Weg, viele Kubaner machen das so. Während ich meine Großmutter ins Land schmuggele, habe ich das starke Gefühl, dass sie in diesem Augenblick auf mich herabsieht und lächelt. Es ist ihr bestimmt eine Genugtuung, das verhasste System zu übertölpeln.

Ich halte meine Papiere und das Visum in der Hand, schiebe mich weiter vor. Hoffentlich bekomme ich die behelfsmäßige Urne an den Beamten vorbei, ohne dass sie Fragen stellen.

Mein Beamter nimmt die Papiere entgegen. Mein Herz rast, als ich seine Fragen beantworte. Auf Spanisch, der Sprache, die ich mein Leben lang gesprochen habe. Ich spüre eine seltsame Trennung. Einerseits sind wir als Landsleute miteinander verbunden, andererseits auch wieder nicht. Obwohl meine Mutter Amerikanerin mit spanischen Wurzeln ist, habe ich mich immer in allererster Linie als Kubanerin empfunden. In Miami war das nie ein Problem. Meine Großeltern waren Kubaner, mein Vater ist Kubaner, also bin auch ich Kubanerin. Wird es hier einen Unterschied machen, dass meine Haut ein wenig heller ist als die vieler Einheimischer? Dass mein Blut nicht ganz und gar kubanisch ist? Bin ich eine Außenseiterin, oder genügt meine Abstammung?

Er winkt mich durch. Nervös nehme ich mein Handgepäck und lege es samt der Asche zum Durchleuchten auf das Band. Es setzt sich rumpelnd in Bewegung, und meine Tasche gleitet durch den Apparat. Mir stockt der Atem.

Ich trete durch die Schleuse und warte. Sicher wird gleich meine Tasche einkassiert. Sie werden mich in einen fensterlosen Verhörraum bringen. Tatsächlich ist es Amerikanern ja noch verboten, Kuba als Touristen zu bereisen. Was wird mit mir passieren? Ich bewege mich auf unbekanntem Territorium. Es gibt keine Erfahrungswerte für solche Situationen.

Keines meiner Familienmitglieder hatte Einwände dagegen, dass die Asche meiner Großmutter in Kuba verstreut wird und dass ich die Sache erledigen soll. Meine Reise dagegen stößt auf gewisse Skepsis, gerade vonseiten jener, die bereits mit dem System zu tun gehabt haben.

Vergiss niemals, wo du bist, hat Beatriz mich gewarnt. Sobald du in Havanna landest, hast du so gut wie keine Rechte mehr. Halte deine Freiheit in Amerika nicht für selbstverständlich.

Meine Großtante Maria hat mir in den Wochen vor meiner Abreise täglich E-Mails mit Neuigkeiten und Reiseinformationen des Außenministeriums geschickt. Ich habe die Worte im Kopf. Festnahme beliebiger Personen jederzeit möglich … auch bei unwissentlichem Verstoß gegen die lokalen Gesetze … Festnahme … Haft.

Es gibt wenig, was mir eine solche Angst macht wie die Vorstellung, einfach so verhaftet zu werden. Ich glaube nicht, dass Kuba sich sehr von anderen Orten unterscheidet, die ich bereist habe. Doch irgendwie gelingt es mir nicht, die Bilder von bunten Oldtimern, tosenden Wellen und romantischer Architektur, die ich aus dem Fernsehen kenne, mit der drastischen Beschreibung meiner Großtanten zu verbinden.

Meine Großtanten versuchen stets, mich und meine Cousinen zu schonen, aber wenn sie über Kuba reden, spüre ich eine tiefere Ebene der Angst. Eine Angst, die sich auf unausgesprochene Grausamkeiten bezieht, welche mit der Zeit nicht weniger bedrohlich geworden sind. Ich habe ihnen erklärt, dass die Dinge sich verändert haben, wir nicht mehr im Jahr 1959 leben, die Revolution vorbei und die amerikanische Botschaft in Havanna wieder geöffnet ist. Dass wir ein zartes Aufblühen der Beziehungen zwischen Kuba und den USA erleben.

Nichts von dem, was ich sagte, vertrieb die Angst aus ihren Augen. Als Maria darauf bestand, dass ich wegen des hohen Risikos ihren Rosenkranz bei mir tragen solle, protestierte ich nicht. Glück kann ich sicher gebrauchen.

Ich schiebe mich wieder ein Stück vorwärts.

Wenn ich meine Großmutter unbehelligt durchschleusen kann, verspreche ich hoch und heilig, mir während der ganzen restlichen Reise keinen Ärger einzuhandeln.

Meine Augen sind auf den Durchleuchtungsapparat geheftet.

Ein weiterer Beamter nickt mir flüchtig zu, und ich schnappe mir meine Tasche vom Band. Innerlich jubele ich ausgelassen, als ich die Sicherheitskontrolle verlasse.

Bei der Gepäckausgabe sammle ich den Rest meines Gepäcks ein und gehe Richtung Zoll. Mit jedem Schritt beruhigen sich meine Nerven ein wenig mehr, und eine freudige Erregung, so ähnlich wie vor Heiligabend, verdrängt das Unbehagen. Mein ganzes Leben lang habe ich auf diesen Augenblick gewartet.

Ich trete aus dem Flughafengebäude. Das also ist mein erster Blick auf Havanna, mein erster Atemzug in kubanischer Luft. Es weht eine sanfte Brise, aber mit einer Luftfeuchtigkeit, die mich beinahe erschlägt. Mein Haar klebt mir im Nacken fest. Der Januar in Havanna fühlt sich also fast wie der Januar in Miami an. Ich hole meine Sonnenbrille aus der Tasche und setze sie auf.

Der Bürgersteig vor dem Flughafen ist ein einziges freundliches Chaos. Freunde und Familienmitglieder umarmen sich, laute spanische Wortfetzen schwirren durcheinander, Gepäck wird in den riesigen Kofferräumen der knallbunten Autos verstaut. Die meisten Fahrzeuge sind fast sechzig Jahre alt, manche älter, aber das Alter erkennt man eher an den Typen und Formen als am Zustand. Die Farben leuchten, das Chrom glänzt. Diese Autos werden offensichtlich von stolzen Besitzern gepflegt.

Ich überfliege die Menschenmenge. Viele Leute halten ein kleines Schild mit einem Namen in der Hand. Wo ist Ana Rodriguez? Ich möchte die Frau kennenlernen, die mir meine Großmutter voller Nostalgie und Wärme beschrieben hat.

Wir waren schon unzertrennlich, als wir klein waren. Ihre Familie wohnte neben unserer, und wir spielten zusammen im Garten. Habe ich dir davon erzählt, wie ich versuchte, über die Mauer in ihren Garten zu klettern, Marisol?

Ich habe mir die Freundschaft zwischen meiner Großmutter und Ana als eine kubanische Version von Lucy und Ethel, den Hauptfiguren der Comedy-Serie I Love Lucy, vorgestellt.

»Marisol Ferrera?«

Als ich meinen Namen höre, drehe ich mich um. Nicht weit von mir lehnt ein Mann an einem hellblauen und weißen Cabrio mit riesigem verchromtem Kühlergrill.

»Ja?«

Er stößt sich vom Auto ab. Der Saum seines Guyabera-Hemdes flattert im Wind, als er auf mich zugeht. Im Gang des groß gewachsenen Mannes liegt eine gewisse Eleganz.

In flüssigem Englisch begrüßt er mich und streckt mir die Hand hin. »Ich bin Luis Rodriguez. Meine Großmutter hat mich gebeten, dich abzuholen. Es tut ihr sehr leid, dass sie nicht persönlich kommen kann, aber sie fühlt sich nicht wohl.«

Ich nehme seine Hand. Seine schwieligen Finger stoßen gegen meine. Sein Griff ist fest, seine Haut warm. Als er meine Hand wieder loslässt, reibt sein Daumen gegen die Innenseite meines Handgelenks. Diese Berührung elektrisiert mich.

Ich blinzele. Meine Augen verengen sich ein wenig, als ich ihn betrachte. Warum habe ich nicht besser aufgepasst, als Beatriz mir von Anas Familie erzählt hat?

Er scheint in meinem Alter zu sein, vielleicht ein paar Jahre älter. Mitte dreißig ungefähr. Sein Haar ist voll und etwas heller als meins, eher braun als schwarz. Seine Haut ist tief gebräunt, seine Augen sind dunkelbraun. Winzige Falten umgeben seine Augenpartie. Das steht ihm gut, genau wie der gepflegte Bart.

Er hat etwas an sich, das nur wenige Männer besitzen. Während ihre Kennzeichen für sich genommen wenig eindrucksvoll sind, verleiht die Summe dieser Teile ihnen etwas Besonderes. Sie ziehen einen unweigerlich in ihren Bann.

»Ist es was Ernstes?«, frage ich auf Spanisch. In meinem Magen hat sich eine gewisse Nervosität ausgebreitet.

Seine vollen Lippen formen ein Lächeln, auf das ich nicht gefasst bin. Amüsiere ich ihn etwa?

»Es geht ihr gut«, erwidert er auf Spanisch. »Sie ist bloß müde nach einem langen Tag.«

Meine Großmutter ist siebenundsiebzig Jahre alt geworden. Ana ist fast ein Jahr älter.

»Sie freut sich sehr darauf, dich kennenzulernen. Seit Wochen spricht sie von nichts anderem.«

Er beugt sich vor, nimmt meinen großen Koffer mit der einen Hand, greift mit der anderen nach meinem Handgepäck.

»Bist du bereit? Ist das alles?«

Ich nicke. Er ignoriert meinen Hinweis, dass ich mein Gepäck selbst tragen kann, und ich folge ihm zum Auto. Unwillkürlich fahre ich mit der Hand über dessen elegante Kurven.

»Bist du zum ersten Mal in Kuba?«, fragt er, als er die kleinere Tasche absetzt und mir die Beifahrertür öffnet.

»Ja.«

Ich gleite auf die riesige Vordersitzbank und betrachte das Innere des Autos. Die Sitze sind mit einem Leder bezogen, das einst wohl weiß war und inzwischen den Ton von Elfenbein angenommen hat. Ich stelle mir meine Großmutter in einem solchen Auto vor, am Leib eines der Kleider, die ich auf den wenigen Fotos von damals gesehen habe. Einen Augenblick lang begebe ich mich auf Zeitreise.

Ich warte, während Luis das Gepäck im Kofferraum verstaut und sich hinter dem Steuer niederlässt. Als er den Motor anlässt, greife ich instinktiv nach dem Sicherheitsgurt. Da ist aber nichts. Meine Hand erstarrt.

Na schön.

Ich bin tatsächlich in der Zeit zurückgereist.

»Dieses Auto ist wirklich toll. Hast du es selbst restauriert?«

»Ich habe einen Cousin, der handwerklich begabt ist.« Liebevoll streicht er über das Armaturenbrett. »Sie hat Temperament, aber wenn ich sie gut behandele, lässt sie mich nicht im Stich.«

Ich muss grinsen. »Dein Auto ist eine Sie?«

»Natürlich.«

Mit einem Hupen und einem Winken reiht er sich in den fließenden Verkehr ein.

Uns überholen sowohl Oldtimer als auch modernere, kastenförmige Fahrzeuge. Manche sind in makellosem Zustand, so wie Luis’ Auto, andere werden anscheinend nur noch von Erfindergeist und Gebeten zusammengehalten. Luis tritt aufs Gaspedal. Ich halte mich am Türrahmen fest und betrachte die Palmen, die an uns vorbeiziehen. Das Auto fährt erstaunlich schnell für sein Alter. Der Wind bläst mir das Haar ins Gesicht und macht die Hitze etwas erträglicher.

Wir rumpeln über einige Unebenheiten, sodass ich ordentlich herumgeschleudert werde. Ich bin ja nicht angeschnallt.

Die Landschaft wandelt sich. Am Straßenrand stehen große Schilder, die die Kubanische Revolution und die Überlegenheit des Kommunismus preisen. Fidel Castro starrt mich an, gefolgt von Che Guevara, die Haare im imaginären Wind wehend. Die beiden waren die Monster aus meiner Kindheit. Es fühlt sich seltsam an, sie in dieser Umgebung zu sehen. Als Helden, nicht als Schurken.

»Du bist also Journalistin?«, brüllt Luis. Er muss den Wind und den Lärm der anderen Autos übertönen.

»Ja, bin ich«, schreie ich zurück. »Freiberuflich.«

Es hat fast ein Jahrzehnt voller Artikel und Blogeinträge gedauert, bis ich mich selbst als Journalistin betrachtet habe. Manchmal fühle ich mich heute noch wie eine Hochstaplerin. Das Schreiben ist kein Beruf, den meine Familienmitglieder respektieren oder verstehen. Dafür verdiene ich zu wenig, arbeite zu unregelmäßig, genieße zu wenig Prestige. Sie halten es eher für ein exzentrisches Hobby, für etwas, von dem man gut auf Partys erzählen kann. Für etwas Lustiges und auf keinen Fall für etwas, das zumindest meistens meinen Lebensunterhalt sichert. Sie fänden es fast alle besser, wenn ich bei Perez-Zucker arbeiten würde.

Meine Großmutter nicht.

Das Leben ist zu kurz, um unglücklich zu sein, Marisol. Zu kurz, um nur auf Sicherheit bedacht zu sein. Um das zu tun, was von einem erwartet wird, anstatt seinem Herzen zu folgen. Schau uns doch an. Einst hatten wir alles, und plötzlich war es fort, wie eine niedergetrampelte Sandburg. Du weißt nie, was das Leben mit dir vorhat.

Sie kaufte vierzig Exemplare von der Zeitschrift, in der mein allererster Artikel erschien, und drückte jedem, dem sie begegnete, mit einem Lächeln eines in die Hand. Voller Stolz verkündete sie, dass der hervorragende Artikel ihrer Enkeltochter über die optimale Ordnung im Kleiderschrank sie dazu gebracht hatte, ihren großzügigen Ankleideraum neu zu organisieren.

»Worüber schreibst du denn so?«

Mich überrascht es, wenn sich jemand tatsächlich für meine Arbeit interessiert. Meistens ernte ich bloß gelangweilte Höflichkeit oder die Frage, wann ich mir einen richtigen Job besorge.

»Über Lifestyle-Themen«, entgegne ich. »Reise, Mode, Kochen und so weiter. Im Moment arbeite ich an einem Artikel über den kubanischen Tourismus nach der Öffnung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA.«

»Macht es dir Spaß?«

Wirklich komisch, aber er ist der Erste, der ein Gespräch über meinen Beruf mit dieser Frage beginnt. Meistens wollen die Leute wissen, wo meine Artikel erschienen sind, ob eine berühmte Zeitschrift darunter ist, kurz, ob ich nach den Maßstäben, die sie wichtig finden, erfolgreich bin. Geld, Ruhm, vielleicht sogar ein zweifelhafter Ruf. An Luis gefällt mir auf Anhieb, dass er zum Wesentlichen vordringt. Zu dem Grund, warum ich schreibe.

»Ja, meistens schon. Es macht mir Freude. Ich reise gern und entdecke neue Orte, treffe neue Menschen. Oft ist es wie ein Puzzle. Ich weiß, wo mich mein Weg hinführen wird, weiß auch, welche Worte mich dahin führen werden. Der eigentliche Zauber beginnt, wenn ich am Computer sitze und versuche, Sätze aneinanderzureihen, um zum Kern dessen zu kommen, was ich ausdrücken möchte. Wenn ich anfange zu recherchieren, ist es jedes Mal eine neue Herausforderung, eine neue Überraschung.«

Ich mag außerdem die Freiheit, die mein Beruf mir schenkt, aber das sage ich nicht. Ich werde unruhig, wenn ich zu lange am gleichen Ort sein muss. Zwar kehre ich stets nach Miami zurück, aber nach spätestens einem Monat packt mich wieder die Rastlosigkeit. Wie ein Virus hat sie sich seit dem Tod meiner Großmutter in andere Bereiche meines Lebens ausgebreitet. Ihr Verlust und die Erinnerungen, die sie mir geschenkt hat, haben mich dazu gebracht, meinen eigenen Platz in der Welt zu hinterfragen. Ich bin einunddreißig, unverheiratet, kinderlos, getrieben von einer Karriere, die ich mag, aber nicht liebe.

»Dann ist es also die Suche, die du am meisten genießt?«

Darüber habe ich noch nie nachgedacht.

»Ja, wahrscheinlich schon.«

Wir fahren an einer Mauer vorbei, die mit Bildern der kubanischen Flagge geschmückt ist. Ich blicke verstohlen hinüber zu Luis. Sein Arm ruht auf dem Platz neben mir, nur Zentimeter entfernt von mir.

Ist er je aus Kuba hinausgekommen? Verachten die Kubaner, die geblieben sind, jene, die gegangen sind? Haben sie Angst davor, dass wir unsere verlorenen Besitztümer zurückverlangen, wenn es einen Umsturz gibt? Würde er gehen, wenn er könnte? Macht er sich Gedanken über die Welt außerhalb von Kuba? Es fühlt sich seltsam an, an einem Ort zu sein, der so abgeschnitten vom Rest der Welt ist. Festzustellen, dass wir vermutlich völlig unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben haben.

»Frag mich doch einfach.« Ein Lächeln umspielt seine Lippen, und er wirft einen Blick in den Rückspiegel. »Ich spüre förmlich die vielen Fragen, die in deinem Kopf kreisen.«

Ich öffne den Mund, um ihm zu widersprechen, aber er schüttelt nur den Kopf und blickt wieder auf die Straße.

»Journalisten.«

In diesem Wort liegt eine Art nachsichtiger Freundlichkeit.

»Was machst du denn so?«, frage ich ihn stattdessen.

»Ich bin Professor für Geschichte an der Universität Havanna. Ich halte Seminare über kubanische Geschichte. Wenn du im Laufe deiner Recherche Fragen über die Stadt hast, beantworte ich sie dir gern.«

»Das wäre toll, danke. Ich habe eine Liste von Orten, die ich gern besuchen würde. Den Malecón, das Hotel Nacional, das Tropicana. Ich würde aber auch sehr gern Orte sehen, die eher den Einheimischen bekannt sind.«

»Ich würde mich freuen, wenn ich dich herumführen dürfte.«

Als ich Anas Einladung annahm, rechnete ich nicht damit, dass ein Touristenführer inbegriffen war, und bin richtig dankbar für seine Hilfe. Außerdem ist es ja nicht gerade eine Strafe, von einem gut aussehenden, intelligenten Mann durch Kuba geführt zu werden.

»Wie viel weißt du denn über Kuba?«, fragt er.

»Ich bin mit Kuba aufgewachsen«, entgegne ich stolz. »Für meine Großmutter gab es nichts Schöneres, als mir Geschichten zu erzählen. Über das Haus, in dem sie aufwuchs, die Fahrten nach Varadero, die Tanzabende auf den öffentlichen Plätzen. Kuba war ein Teil meines alltäglichen Lebens. Wir haben kubanisch gegessen und kubanische Musik gehört. Das ist noch heute so. Seit meine Großmutter nicht mehr da ist, fühlt es sich jedoch ein bisschen fremder an.«

»Wurde dein Vater hier geboren?«

»Nein. Meine Großmutter floh im Jahr 1959, mein Vater kam erst danach auf die Welt.«

»Wollte er dich nicht auf dieser Reise begleiten?«

Ich zucke mit den Schultern. »Er arbeitet viel. Er leitet das Familienunternehmen, das hält ihn auf Trab.«

Mein Vater ist Geschäftsmann, ein Mann der Tat. Er hält nicht viel von Sentimentalität oder Selbsterfahrung. Wenn beziehungsweise falls sich die Beziehungen zwischen den USA und Kuba normalisieren, wird er sicher den neuen Markt erschließen wollen. Aber das hier? Seiner Familiengeschichte hinterherjagen? Nein.

»Es ist ein Zuckerunternehmen, nicht?«

Ich nicke. Was hat ihm seine Großmutter wohl über uns erzählt?

»Meine Großmutter hat sich gewünscht, dass wir ihre Asche auf Kuba verstreuen. Sie sagte zu mir, ich würde dann schon wissen, wo. Ich habe mit ihren Schwestern darüber gesprochen und mich noch nicht für einen Ort entschieden. Sie haben mir einige Anregungen gegeben, aber ich möchte mir die Stellen lieber zuerst ansehen und abwarten, wie sie sich anfühlen. Meine Großmutter hat mir diese Aufgabe übertragen. Ich will sie nicht enttäuschen.«

Mein Großvater wurde auf einem Friedhof in Miami bestattet, aber meine Großmutter hat ganz klar festgelegt, dass sie nicht in amerikanischer Erde begraben werden will.

Ich habe gesagt, dass ich zurückkommen würde, und es liegt an dir, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Mich mit denen wieder zu vereinen, die ich zurückgelassen habe.

»Mein herzliches Beileid. Ihr habt euch wohl sehr nahegestanden?«

»Sie war wie eine Mutter für mich.«

Er nickt, als verstünde er, dass ich diese Worte nicht einfach so dahingesagt habe. »Meine Großmutter hat oft und liebevoll von ihr gesprochen. Sie hat gehofft, dass sie sich eines Tages wiedersehen würden.«

»Meine Großmutter hat immer an ihre Rückkehr geglaubt«, erwidere ich. Je mehr ich über sie spreche, desto stärker kriecht mir der Kummer die Kehle hinauf. Wenn ich über sie rede, ist sie mir zwar näher, aber ich spüre auch den Verlust.

Luis biegt in eine andere Straße ein, und ich bekomme eine erste Ahnung von Havanna.

Natürlich habe ich Bilder von der Stadt gesehen, aber die ersetzen den persönlichen Eindruck nicht. Vor uns ragen hohe Gebäude auf. Viele der Fassaden sind in bunten Farben gehalten. Korallenrot, Kanariengelb, Türkis. Sie leuchten warm im Sonnenlicht. Die Hauswände, deren Farbe an manchen Stellen abblättert, passen gut zu den auffälligen Autos. Von den Balkonen mit ihren verschnörkelten Eisengittern flattern Wäscheleinen im Wind. Stromleitungen winden sich in einem Gewirr um die Gebäude herum. Die Menschen wohnen anscheinend wie in einer Sardinenbüchse, jedes bisschen Platz wird ausgenutzt.

Die Architektur allerdings ist atemberaubend. Schön gearbeitete schwarze Eisenlaternen stehen wie Wächter am Straßenrand. Die Feinarbeiten an den Fassaden, kunstvolle Ziselierungen und Beschlagwerk, sind wirklich erstaunlich. Doch an vielen Stellen sind Stuckteile abgefallen und haben Löcher in den Wänden hinterlassen. Über allem liegt eine Art Grauschleier. Man bekommt den Eindruck, die Stadt hätte einen Großputz nötig.

Havanna ist wie eine Frau, die einst eine Königin war und nun schwere Zeiten durchmacht. Hier und da erinnert manches an die frühere Herrlichkeit, zeigt Spuren einer vergangenen Ära, wie eine verblichene Fotografie, die sich langsam auflöst.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Havanna, wie es einmal war, als Heiligtum bewahrt in der Erinnerung meiner Großmutter. Wenn ich sie wieder öffne, ist da die Realität nach fast sechzig Jahren der Isolation. Gut, dass meine Großmutter den Verfall der Stadt, die sie so sehr liebte, nicht mehr erleben muss.

»Früher war es wunderschön«, sagt Luis. Ich bin baff. Unsere Blicke treffen sich.

»Ja, das sieht man.«

»Mit jedem weiteren Jahr verfällt alles ein bisschen mehr.« Er seufzt auf und widmet seine Aufmerksamkeit wieder der Straße. »Wir streichen und bessern aus, aber es ist einfach zu viel.«

Weiter redet er nicht. Natürlich, ohne Geld kann man nicht viel tun.

»Die Altstadt von Havanna sieht besser aus als die meisten anderen Viertel. Sie wird für die Touristen bewahrt. Wenn du also sehen möchtest, wie es früher ausgesehen hat, dann am besten dort.«

Die Spanier gründeten die Altstadt im sechzehnten Jahrhundert. Nach dem, was ich gelesen habe, ist Havanna in mehrere Viertel aufgeteilt, von denen jedes einzelne absolut unverwechselbar ist. Ich habe mich auch deswegen dafür entschieden, Anas Einladung anzunehmen, weil ihre Familie heute noch in dem Haus neben jenem meiner Großmutter lebt. Dem Haus, in dem Generationen von Perez’ geboren wurden und aufwuchsen.

»Was kannst du mir über Miramar erzählen?«, frage ich. So heißt das Viertel meiner Großmutter.

»Aus welcher Warte soll ich dir antworten, aus der eines Professors oder aus der eines Mannes, der dort sein ganzes Leben lang wohnt?«

»Aus beiden, wenn’s geht.«

»Die Geschichte des kubanischen Volkes, jedenfalls die neuere Geschichte, ist die Geschichte der Anpassung. Davon, das Beste aus dem wenigen zu machen, das die Große Revolution uns gewährt hat.« Als er Große Revolution sagt, bemerke ich einen Hauch von Missbilligung.

»Miramar geht es besser als vielen anderen Vierteln, weil sich dort die Botschaften befinden. Manche Häuser sind heruntergekommen, aber es könnte schlimmer sein. Viele Generäle und andere hohe Regierungsbeamte leben in den Häusern, die früher von den Vasallen Batistas, also Kubas reichsten Familien, bewohnt wurden.« Dieses Mal ist die Missbilligung ganz deutlich. »Das ist Fortschritt, nicht wahr? Da wird man das Ungeziefer los, und wer zieht an seiner Stelle ein?«

Seine Offenheit und seine unverhohlene Verachtung überraschen mich.

»In unserem Haus haben wir einen paladar aufgemacht, ein privates Restaurant«, fährt Luis fort. »Er ist voll mit europäischen Touristen. Wir berechnen ihnen hohe Preise. Jedenfalls aus unserer Perspektive. Dadurch subventionieren sie das Restaurant und ermöglichen so auch Kubanern, bei uns zu essen.«

Ich habe von den zwanglosen Restaurants gehört, die manche Kubaner mit Billigung der Regierung in ihren eigenen Wohnhäusern betreiben. Ich möchte meinem Artikel eine Liste der besten paladares in Havanna hinzufügen, und der der Familie Rodriguez gehört natürlich dazu.

»Kocht deine Großmutter?«

»Ja, meistens. Jeder Gast wird von ihr begrüßt wie ein Mitglied der Familie. Sie wird nicht jünger, aber es macht ihr Spaß, die Gäste zu bewirten. Ich helfe ihr, so viel ich kann.«

»Und deine Eltern? Leben die auch in Miramar?«

Er antwortet nicht, trommelt mit den Fingern gegen das mit Leder umhüllte Lenkrad. Dann biegt er in eine Nebenstraße ein, und plötzlich liegt das Meer vor uns. Perfektes Türkisblau, nur durchbrochen von den weißen Schaumkronen der Wellen.

»Mein Vater starb, als ich klein war. In Angola.«

»Das tut mir leid.« Ich zögere kurz. »War er beim Militär?«

»Er war Armeeoffizier und kämpfte 1988 in Angola. In der Schlacht von Cuito Cuanavale. Er starb als Held. Meine Mutter arbeitet zusammen mit meiner Großmutter im paladar.«

Ich spüre eine Offenherzigkeit, die vielleicht täuscht. Er hat mir mehr Informationen gegeben, als ich verlangt habe. Ich frage nicht weiter.

Danach spricht keiner mehr. Ich stelle mich darauf ein, die restliche Fahrt mit stillem Bewundern der Landschaft zu verbringen. Dabei male ich mir aus, wie meine Großmutter diese Straßen entlangflaniert, unter den Laternen steht, mit nackten Füßen über den Strand geht. Auch ihre Schwestern sehe ich vor mir. Beatriz, immer für einen Streich gut. Isabel, die vor fast zwei Jahren gestorben ist und ihr Leben lang um eine verlorene Liebe getrauert hat. Maria, die jüngste meiner Großtanten, kaum älter als ein Kind, als sie aus Kuba wegging.

Das Viertel erinnert mich an den spanischen Teil von Coral Gables. Mir wird klar, warum sich meine Großmutter dort hingezogen fühlte, als sie in die Vereinigten Staaten kam. Sie fand ihre eigene Enklave, indem sie versuchte, das geliebte und verlorene Land neu zu erschaffen.

Riesige Palmen dominieren die Landschaft. Ihre raffiniert gewachsenen, biegsamen Stämme sind ein eindrucksvolles Zeugnis für die Widerstandskraft der Insel gegen die Macht der Natur, gegen die Hurrikane, die oft über sie hereinbrechen.

Die Häuser befinden sich in verschiedenen Stufen des Verfalls. Sie sind Geister einer Zivilisation, die von der Revolution vertrieben wurde. Neben den Ruinen stehen große, moderne Hotels für die europäischen Touristen sowie einige Läden und Bars, die dieselbe Zielgruppe ansprechen sollen. Ein leerer Brunnen gammelt vor sich hin, seine einsamen Meerjungfrauen wirken ratlos, wie durch einen Zauberspruch versteinert.

Wir fahren weiter. Die Stadt brummt, die Menschen streben die Straße entlang und warten an den Bushaltestellen.

Nun nehmen wir die Quinta Avenida, vorbei an den Botschaften, die alle in einer Reihe liegen. Weitere Häuser. Deren Rasenflächen sind ungepflegt, die Swimmingpools leer. In dieser Gegend ist der Platz nicht ganz so knapp, die Anwesen sind größer. Betrachtet man den Zustand der Gebäude, geht es Miramar verhältnismäßig gut. Natürlich ist das Viertel nicht annähernd mit dem vergleichbar, was ich von zu Hause kenne. Und nicht mit dem opulenten Glanz, von dem meine Großmutter mir vorgeschwärmt hat.

Die Häuser wurden nach dem Vorbild der großen europäischen Anwesen gestaltet, die Baumaterialien aus Frankreich und Spanien importiert. Die Gärten waren perfekt gepflegt, die Blumen blühten, der Duft von Orangen lag in der Luft, die riesigen Palmen spendeten uns allen Schatten.

Luis macht mich auf die russische Botschaft aufmerksam, die wir gerade passieren. Dieses Gebäude kann man unmöglich übersehen. Es ist nüchtern gehalten und sehr hoch. Wie eine Rakete ragt es in den Himmel empor.

Luis fährt einen Bogen, als wolle er ein Boot an seine Anlegestelle manövrieren. Dann sind wir in der Straße, in der meine Familie gewohnt hat.

***

Luis hält vor einem Haus mit schmiedeeisernem Tor an, das ich trotz des heruntergekommenen Äußeren sofort erkenne.

Es war zartrosa gestrichen, derselbe Farbton wie das Innere einer Muschel. Beatriz stand oft auf dem Balkon wie eine Königin, die Hof hält.

Und wo warst du, abuela?

Ich schwamm wahrscheinlich im Pool, zusammen mit Maria. Oder schmökerte im Lesezimmer. Manchmal schlichen wir uns in die Küche, und der Koch gab uns heimlich eine Vorspeise. Meine Mutter konnte das gar nicht leiden, was es natürlich besonders aufregend machte.

Ich setze die Sonnenbrille ab und wische mir das Gesicht ab. Dann steige ich aus dem Auto und gehe auf das Haus zu. Ich starre auf die Palmen, auf die Stufen, die zum Eingang führen. Von Beatriz weiß ich, dass unsere Vorfahren das Haus im Barockstil erbauten. Das Gebäude, das ich vor mir sehe, hat nicht mehr viel Ähnlichkeit mit den geschmuggelten Fotos, die ich studiert habe, aber ich erahne die frühere Herrlichkeit.

»Wer wohnt da jetzt?«, frage ich, als Luis sich neben mich stellt und die Hände in die Taschen seiner Kakihosen steckt. Der Ärmel seiner guyabera streift meine nackte Schulter. Ich kann das Gewicht seines Körpers neben meinem beinahe spüren.

»Ein russischer Diplomat, er ist schon vor Jahrzehnten eingezogen.« Er atmet tief durch, und unsere Arme berühren sich flüchtig. »Als ich ein Teenager war.«

Das Zimmer meiner Großmutter ging nach hinten hinaus. Wenn sie aus dem Fenster blickte, sah sie den Ozean. Ich würde so gern hineingehen und mich ein bisschen umschauen.

»Sind die Leute zu Hause?«

Vielleicht könnte ich sie dazu überreden, mich einzulassen? Von allen Orten, die als letzte Ruhestätte meiner Großmutter infrage kommen, scheint mir das Haus ihrer Kindheit der passendste zu sein.

»Nein, im Moment nicht.«

Die Sonne scheint auf das Haus herunter und badet es in jenem Glanz, der an diesem Ort alles umgibt. Der Himmel ist eine Explosion aus Farben und strahlt in allen Blautönen, die man sich nur vorstellen kann. Über allem hängen weiße Wattewölkchen.

In meinem ganzen Leben habe ich keinen schöneren Ort gesehen.

»Es ist wunderschön«, hauche ich, mehr an mich selbst gerichtet, und umfasse das schmiedeeiserne Tor mit den Händen.

Jetzt existieren nur noch das Haus und ich, alles andere tritt in den Hintergrund.

Eine Minute vergeht. Zwei.

Widerwillig löse ich mich von dem Tor. Ich will nicht weg. Als ich mich zu Luis umdrehe, sehe ich, dass er nicht das Haus ansieht, sondern mich.

»Bist du bereit, dein Zimmer zu beziehen und die Koffer loszuwerden?« Er sieht mich fragend an.

Ich nicke, noch immer sprachlos.

Mit der Hand fordert er mich zum Weitergehen auf. Wieder erkläre ich, mein Gepäck selbst zu tragen, wieder lehnt er ab und folgt mir, die Taschen in der Hand, auf dem Weg zum benachbarten Anwesen.

Das Haus der Rodriguez hat drei Stockwerke und ist blassgelb gestrichen. Im Vergleich zu den anderen Häusern befindet es sich in relativ gutem Zustand, bedenkt man sein Alter. Eine Restaurantmarkise hängt über einem Teil der Fassade und deutet auf die neue Zusatzfunktion des Gebäudes hin. Auf einer Veranda stehen Tische und Stühle, Gäste schwirren durcheinander. Große Glastüren, die offen stehen, geben den Blick auf den Speiseraum im Inneren frei.

Wir gehen die Kiesauffahrt entlang. Luis führt mich zum Eingang und öffnet die knarzende Tür. Wir treten über die Schwelle. Der Eingangsbereich wirkt riesig. Der Marmorboden weist Risse und Macken auf, ist aber eindrucksvoll. An den Wänden klaffen große Lücken, die sicherlich früher von Möbelstücken ausgefüllt wurden. Die, die noch da sind, fallen durch ihren hervorragenden Zustand auf.

Meine Großmutter erzählte mir, dass Anas Familie im Rumgeschäft war, bevor Castro es verstaatlichte. Selbst fünfzig Jahre Kommunismus konnten die Überreste ihres Reichtums nicht tilgen.

Die Wände sind in Pastellgrün gehalten. An einer Seite hängt ein schwerer Spiegel mit fein verziertem Goldrand, an manchen Stellen leicht abgestoßen. An einer anderen Wand befinden sich verschiedene Gemälde und alte Fotografien, bunt durcheinander arrangiert. Von der Decke hängt ein Kronleuchter, eine Flügeltreppe führt in den ersten Stock.

»Euer Haus ist wunderschön.«

Luis setzt seine Sonnenbrille ab und lächelt. »Danke sehr.«

»Marisol?«

Ich drehe mich um.

Aus einer Tür im Eingangsbereich kommt sie auf mich zu. Selbst fünfzig Jahre später erkenne ich sie von Großmutters alten Fotos sofort wieder.

Ana Rodriguez ist nicht besonders groß, etwa vier bis fünf Zentimeter kleiner als ich, und stämmig. Ihr dunkles Haar fällt lockig über die Ohren, ihre Wangen sind rosig. Sie lächelt breit.

Mit nur drei Schritten durchquert sie den Eingangsbereich, streckt die Hände aus und packt meine.

»Marisol.«

Sie spricht meinen Namen mit großer Zuneigung aus. Spätestens jetzt verflüchtigen sich meine Bedenken, bei einer Wildfremden zu übernachten. Sie behandelt mich nicht wie einen Gast, sondern wie eine Enkeltochter, die sie nach vielen Wochen wiedersieht. Fest schließt sie mich in die Arme, und ich spüre, dass mir Tränen in die Augen treten. Sie hat etwas an sich, das mich an meine Großmutter erinnert. In der engen Umarmung mit Ana, die eine Schürze umgebunden hat, erschnuppere ich Düfte, die mit Sicherheit aus der Küche stammen. Mojo, die berühmte Soße aus Öl, Knoblauch, Gewürzen und Limettensaft, und schwarze Bohnen, köstlich!

Eigentlich habe ich nicht nahe am Wasser gebaut, aber in meinem Kummer und der Nostalgie des Augenblicks schaffe ich es nicht, meine Gefühle im Zaum zu halten. Die Geschichten meiner Kindheit scheinen plötzlich zum Leben zu erwachen. Ich spüre den Geist meiner Großmutter, meine Familie, unser Vermächtnis, wohin ich auch sehe.

Ana lächelt. In ihren braunen Augen schimmern Tränen.

»Du siehst aus wie Elisa.«

Das stimmt. Ich habe das beinahe pechschwarze Haar meiner Großmutter geerbt und trage es lang. Genau wie sie in ihrer Jugend. Unsere Gesichter sind beide herzförmig, und auch ihren Mund habe ich mitbekommen. Außerdem bin ich genauso zierlich wie sie.

Ich entdecke ein Funkeln in Anas Augen. »Und auch ein bisschen wie Beatriz.«

Es gibt tatsächlich kein größeres Kompliment. Tante Beatriz ist die Familienschönheit. Die Geschichten von den gebrochenen Herzen, die ihren Weg säumen, sind legendär.

»Danke.«

»Wie geht es ihr? Also Beatriz?«

»Gut. Sie hat mir Geschenke für euch mitgegeben.«

»Ist sie noch immer …?«

Sie braucht die Frage nicht zu beenden.

Ich grinse. »Natürlich.«

Meine Großtante hat Skandale verursacht, die ganze Länder und sogar Kontinente umspannen.

»Und Maria?«

»Es geht ihr gut. Ihre Enkelkinder, also meine Cousinen und Cousins, halten sie auf Trab.«

»Ich war sehr traurig, als ich von Isabels Tod erfahren habe. Und von dem deiner Großmutter.«

Ich nicke und bin zu überwältigt, um etwas Passendes zu sagen. An einem Ort zu sein, der für meine Großmutter so wichtig war, ohne dass sie bei mir ist, schneidet mir ins Herz. So ist es eben mit dem Kummer. Er überwältigt einen, wenn man ihn gerade nicht erwartet.

Ana drückt meine Hand und zeigt auf ihren Enkel.

»Komm. Wir bringen dich auf dein Zimmer. Du musst nach der Reise erschöpft sein. Ruh dich ein wenig aus, dann reden wir.«

Ana führt mich die imposante Treppe hinauf zu dem Zimmer, das sie für mich vorbereitet hat. Nebenbei erklärt sie, dass das Haus in Wohnungen aufgeteilt wurde und auch andere Familien hier leben.

Luis folgt uns mit dem Gepäck.

Dann stehen wir vor einer schweren Holztür, die gut in ein spanisches Kloster passen würde.

»Ich hoffe, das Zimmer gefällt dir«, sagt Ana und stößt die Tür auf.

Das Zimmer ist klein und sauber. Das Fenster steht offen, die weißen Leinenvorhänge flattern im Wind. An der Wand steht ein Bett, daneben ein alter Holztisch mit einem bunten Blumenstrauß in einer bestoßenen Glasvase. Ein passender Kleiderschrank befindet sich in der Ecke, ein Spiegel mit üppigem Goldrand und Karneol an der Wand. Auch der Spiegel sieht mitgenommen aus.

»Es ist perfekt.«

Das ist es tatsächlich.

Luis stellt meine Tasche beim Kleiderschrank ab und entschuldigt sich. Dann bin ich mit Ana allein.

Noch einmal umarmt sie mich fest.

»Ruh dich nur aus. Wir unterhalten uns später.«

Dann geht sie aus dem Zimmer und macht die Tür hinter sich zu. Ich sehe mich um, packe meine Sachen aus und ziehe mir eine Pyjamahose samt ärmellosem Hemd an. Die Gastgeschenke lege ich zur Seite. Stundenlang habe ich im Zuge der Reisevorbereitung nach Dingen gesucht, die Ana vielleicht gefallen könnten.

Dann schlüpfe ich unter die Bettdecke. Von draußen weht ein sanftes Lüftchen herein. Ich sehe die Zimmerdecke an, den bröckelnden Stuck, die Stellen mit der abgeplatzten Farbe. Meine Lider werden schwer. Als ich die Eindrücke des Tages Revue passieren lasse, lässt die Aufregung mit einem Mal nach, und ich kann mich entspannen.

Ich drehe mich um, ziehe das abgenutzte Laken bis unter das Kinn und schließe die Augen. Ich rieche die Gardenien, die meine Großmutter mir beschrieb, den Jasmin, den Duft des gebratenen Spanferkels, der vom paladar heraufzieht. Ich höre gedämpfte Saxofonklänge, die vertrauten Noten von La Bayamesa.

Das alles ist Familie, Heimat. Das, was mich ausmacht. Ich könnte im eleganten Haus meiner Großmutter in Coral Gables sitzen oder irgendwo in Europa, aber der Duft von mojo und der Klang meines Volkes genügen, um mich zu erden.

Die Brise weht mein Haar über das Kissen, der Duft von Jasmin ruft mir Erinnerungen an meine Kindheit in den Sinn. Das Parfüm meiner Großmutter, ihre Hand, die mir über das Haar strich, wenn sie mich ins Bett brachte …

Erzähl mir eine Geschichte.

Als ich noch ein kleines Mädchen in Kuba war …

Ich schlafe ein.

Kapitel 3

Elisa

Havanna, September 1958

Es ist das perfekte Kleid für einen Abend wie diesen. Elegant, aber nicht so sittsam wie jene, die unsere Mutter uns im Ausland bestellt. Der Ausschnitt ist ein bisschen gewagter als üblich, der Saum gibt den Blick auf meine Waden frei, die ich am Schwimmbad des Havanna Biltmore Yacht & Country Club mit viel Geduld gebräunt habe.

Ich ziehe das weiße Kleid aus meinem Schrank und streiche mit den Fingern über den Spitzenbesatz. Das schmal geschnittene Mieder ist mit blassrosa Blüten verziert, die Taille eng, der Rock ausladend. Zusammen mit Beatriz habe ich das schöne Stück im berühmten Kaufhaus El Encanto erworben. Die ganze Zeit über habe ich auf eine Gelegenheit gewartet, es anzuziehen. Warum also nicht heute? Ich habe meiner Mutter ein Paar Schuhe stibitzt, nachdem sie mit meinem Vater nach Varadero aufgebrochen ist. Zartrosa, passend zu den Blüten.

Schnell ziehe ich mich an. Die kleinen Knöpfe am Rücken sind etwas knifflig. Dann habe ich es geschafft. Ich wähle ein Paar Ohrringe vom Schminktisch in der Zimmerecke und betrachte mein Spiegelbild im dreiteiligen Schminkspiegel. Ich nehme einen der Glasflakons auf der Kommodenplatte, spritze mir etwas Parfüm an die Handgelenke und hinter die Ohren. Es ist der Duft, den ich mir für besondere Anlässe aufspare.

»Bist du fertig?«, zischt meine Schwester Isabel vom Türrahmen aus und späht auf den Flur hinaus. Die Dienstboten werden uns wohl kaum verraten, nur Magda können wir nicht einschätzen. Unsere Nanny ist Teil der Familie, genauso bedacht auf den Ruf der Perez wie unsere Mutter. Partys besuchen wir eigentlich nicht. Bei unseren üblichen Veranstaltungen tragen wir lange Ballkleider mit Handschuhen bis zum Ellenbogen und üppigen Diamantschmuck.

Ich hebe die Brauen, als ich Isabel in ihrer Abendgarderobe sehe. Offensichtlich bin ich nicht die Einzige, die sich am Kleiderschrank unserer Mutter bedient hat. Isabel trägt ein Kleid, das unsere Mutter einmal zu einem Fest getragen hat. Schwarz, figurbetont und wesentlich gewagter als alles, was sie uns für gewöhnlich erlaubt. Wenn das Isabels Wahl ist, will ich gar nicht erst wissen, was Beatriz sich ausgesucht hat.

»Ja, ich bin so weit.« Ich schnappe mir mein Abendtäschchen und fahre mit den Fingern über die aufgestickten Perlen.

»Wo ist Beatriz?«, frage ich leise. Magda hat die unheimliche Eigenschaft, im ungünstigsten Augenblick aufzutauchen. Die arme Maria hat das leidvoll erfahren müssen. Es ist hart, die Jüngste zu sein.

»Sie wartet im Auto.«

Das Auto. Ein weiterer Kampf, den Beatriz mit unserer Mutter ausgefochten und schließlich gewonnen hat.

Isabel wirft einen schnellen Blick in den Flur.

»Und Maria?«, will ich wissen.

»Schläft.«

Den Ausflug vor unserer kleinen Schwester geheim zu halten ist beinahe so wichtig, wie ihn Magda zu verheimlichen. Maria hat die Bestechung zu einer Kunst entwickelt, die Präsident Batista vor Neid erblassen ließe. Der Preis, den wir dafür bezahlen müssten, dass sie unseren Eltern nichts von der Party erzählt, wäre zu hoch gewesen. Beim letzten Mal, als Maria Isabel dabei erwischte, wie sie sich nach einem Rendezvous ins Haus schlich, zog sie mit Isabels Lieblingsohrringen und einem Pariser Modellkleid ab.

Ich folge Isabel auf den Flur, unsere Absätze klacken über den Marmorboden. Unser Haus wurde Mitte des achtzehnten Jahrhunderts von dem ersten bedeutenden Perez erbaut, einem französischen Korsaren, der sich ein Vermögen zusammenraubte und eine Frau aus bestem Hause nahm. Er baute ihr eine der größten und pompösesten Villen in Havanna, seine Erben pflegten und renovierten sie. Am Ende kam ein riesiges Haus voller Blattgold und Marmor dabei heraus. Ich habe immer gefunden, dass der Korsar mehr Geld als Geschmack besaß. Da er durch die Heirat einen bourbonischen Adelstitel erworben hatte, war er auch unserer Mutter gut genug, um ihn stolz als Vorfahren zu reklamieren.

Die Grundlage unseres Vermögens stammte aus dem Schmuggel und anderen Schandtaten des Korsaren. Doch bald fanden seine Kinder und Enkelkinder andere Wege, um es zu vergrößern. Durch eine vorteilhafte Heirat wurden die Perez schließlich zu Zuckerbaronen.

Der Zucker hat die Geschichte Kubas geprägt, im Guten und im Schlechten.

Der dunkelhaarige Korsar starrt auf uns hinab, als wir auf Zehenspitzen durch den Flur huschen. Die anderen Vorfahren auf ihren Leinwänden scheinen unseren Akt der Rebellion zu missbilligen. Der Korsar dagegen – hat er uns nicht gerade verschwörerisch mit seinen rabenschwarzen Augen zugeblinzelt?

Oben an der Treppe streifen wir gleichzeitig die Schuhe ab, in einer Art schwesterlicher Präzisionschoreografie. Der Marmor unter meinen Füßen fühlt sich kalt an, obwohl die Luft so warm ist. Mondlicht fällt auf die Stufen. Als wir Geräusche aus der Küche hören, erstarren wir.

Ist ein Abend der Freiheit tatsächlich das Risiko wert?

Welche Strafe hätten wir zu erwarten? Zeitweilige Verbannung aufs Land. Dort müssten wir endlose Kaffeekränzchen und Mittagessen absitzen, außerdem Partys besuchen, auf denen wir einem Junggesellen nach dem anderen vorgestellt werden, Söhnen von Geschäftspartnern unseres Vaters. Das Übliche eben.

Sie kämpfen in Kubas östlichen Provinzen, im Oriente. Jungs, die nicht viel älter sind als ich. Jungs, die eigentlich an der Universität studieren sollten. Hätte Batista nicht die Universität Havanna vor Jahren aus Angst geschlossen. Die Revolutionäre kämpfen im ganzen Land, stürmen den Präsidentenpalast, wollen die Regierung stürzen, Batistas Korruption beenden. Bei uns aber, hinter den hohen Mauern unseres Anwesens in Miramar, herrscht weiterhin das ancien régime. Meine Mutter hat keine Zeit für Revolutionen, die ihre Bälle und Kaffeekränzchen durcheinanderbringen würden.

Es ist eine seltsame Zeit für die Kubaner. Man spürt die Erschütterungen im Boden, hört das Brausen am Himmel und tut, als wäre nichts. Noch seltsamer ist es, als Frau in Kuba zu leben. Wir dürfen wählen. Doch was bedeutet eine Wahl, wenn die Ergebnisse schon vorher feststehen?

Die Frauen unserer Familie sind auf die besten Schulen gegangen, haben eine ganze Reihe an Hauslehrern verschlissen. Besonders Beatriz hat sich darin hervorgetan, sie nach Kräften zu ärgern. Die Perez-Frauen arbeiten jedoch nicht, egal, wie gern sie es täten. Wir sind nutzlose Vögel in einem goldenen Käfig, während unsere Landsfrauen für die Regierung arbeiten oder die Revolution vorbereiten.

Die Zeiten haben sich geändert auf unserer kleinen Insel, ein Funke wurde entzündet und hat einen Flächenbrand entfacht. Unsere Anwesen sind Bollwerke gegen die Moderne, gegen den Wandel, gegen die Freiheit.

Also machen wir hin und wieder dumme Sachen, schleichen uns mitten in der Nacht aus dem Haus. Es ist nämlich unmöglich, neben einer Flamme zu stehen, die alles um einen herum verschlingt, ohne sich nicht mindestens ein Eckchen seines Kleids zu versengen.