Schwestern des Sturms - Chanel Cleeton - E-Book

Schwestern des Sturms E-Book

Chanel Cleeton

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Beschreibung

Wenn der Sturm aufzieht

Florida 1935: Am Labor Day Weekend kreuzen sich in Key West die Wege dreier junger Frauen. Helen ist Kellnerin in einem Café und erwartet ihr erstes Kind, doch ihr Mann ist ein alkoholsüchtiger Schläger. Mirta ist auf dem Weg in die Flitterwochen mit einem Mann, den sie nur geheiratet hat, weil er ihre Familie beschützen kann. Elizabeth ist auf der Suche nach ihrem Halbbruder, der sich in einem der Veteranencamps hier aufhalten soll. Mit seiner Hilfe will sie ihrer Verlobung mit einem New Yorker Kriminellen entkommen. Als ein mächtiger Hurrikan die Inseln erreicht, werden die Leben der drei Frauen mit ungeahnter Wucht durcheinandergewirbelt. Und plötzlich ist nichts mehr so, wie es mal war …

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Seitenzahl: 396

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Das Buch

Am Labor Day Weekend 1935 kommen die Touristen nach Key West, um ihre Sorgen für ein paar Tage zu vergessen. Nur die hochschwangere Helen Berner, die hier lebt, wünscht sich nichts mehr, als zu fliehen. Nach der Revolution in Kuba ist der Familie von Mirta Perez nicht mehr viel geblieben. Also hat sie in die Ehe mit einem wohlhabenden Amerikaner eingewilligt. Während ihrer Flitterwochen in Florida kommen sich die beiden näher, doch die krummen Geschäfte ihres Mannes könnten ihr junges Glück bald bedrohen. Elizabeth Prestons Familie hat beim Börsencrash alles verloren. Jetzt kann ihr nur noch ihr Halbbruder helfen, den sie in einem der Camps vermutet, in denen sich die Veteranen des Großen Krieges aufhalten. Die Drei Frauen ahnen nicht, dass sich ihre Leben bald für immer verändern werden. Denn ein mächtiger Sturm zieht auf …

Die Autorin

Chanel Cleetons Familie stammt ursprünglich aus Kuba. Sie selbst wuchs in Florida auf, bevor sie für das Studium der Internationalen Beziehungen nach England ging. An der Londoner School of Economics & Political Science machte sie schließlich ihren Masterabschluss in Internationaler Politik.

Lieferbare Titel

Nächstes Jahr in Havanna

Wir träumten von Kuba

Chanel Cleeton

Schwestern des Sturms

Roman

Aus dem Amerikanischen von Stefanie Fahrner

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Last Train To Key West erschien erstmals 2020 bei Berkley.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 04/2023

Copyright © 2020 by Chanel Cleeton

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Krader

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von Getty Images (H. Armstrong Roberts) und Shutterstock.com (Halay Alex, Nadezda Murmakova)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27599-0V001

www.heyne.de

Für meine Familie – ihr seid mein Herz.

1

Samstag, 31. August 1935Helen

Ich habe mir den Tod meines Mannes tausendmal vorgestellt. Die Szene beginnt immer auf dem Boot. Die Wellen wogen, und der Wind weht. Er stürzt über Bord und ins Meer, das Wasser reißt ihn fort. Sein Kopf tanzt in einem Mahlstrom aus Türkis und Blau. Das Boot schwankt hin und her, mitten im Ozean, ohne eine Menschenseele in der Nähe, die ihm zu Hilfe eilen könnte.

Manchmal überfällt mich das Bild bei der täglichen Hausarbeit, beim Wäscheaufhängen. Die weißen Laken flattern in der Brise, der Geruch von Lauge liegt in der Luft. Mitunter lasse ich mich darauf ein, und meine Gedanken tragen mich fort. Ich träume vor mich hin, während ich den Fisch brate, den Tom fängt, wenn er mit der Helen hinausfährt. Mit dem Schiff, mit dem ich zwei Dinge gemeinsam habe: den Namen und die Tatsache, dass unsere besten Tage längst hinter uns liegen.

Hin und wieder kommen die Bilder im Schlaf über mich. Ich werde wach. Meine scharfen und unregelmäßigen Atemzüge vermischen sich mit dem Schnarchen meines Mannes, der neben mir schläft. Sein behaarter Arm liegt über meiner Taille, sein Atem fühlt sich heiß an auf meinem Nacken, der Geruch von Gin sickert aus seinen Poren.

Heute habe ich wieder davon geträumt, und als ich aufwache, hält mich kein Arm fest. Der Platz neben mir ist leer. Die Matratze weist eine Vertiefung auf, dort, wo der Körper meines Mannes lag.

Wie konnte ich nur verschlafen?

Ich ziehe mich schnell an, erledige meine Morgenrituale im Badezimmer. Sehe ich hübsch aus? Bin ich nicht zu sehr herausgeputzt? Der Verlauf unseres Tages hängt von diesem frühen Morgen ab, lange vor Sonnenaufgang, bevor Tom aufs Meer hinausfährt.

Wenn Tom glücklich ist und das Wetter gut, wenn er reichlich Fisch fängt und ich tue, was ich soll, wird es ein passabler Tag. Wenn Tom nicht glücklich ist …

Eine Welle von Übelkeit überfällt mich. Schmerz pulsiert in meinem Bauch, setzt sich im unteren Rücken fest. Ich muss mich an der Wand des Schlafzimmers abstützen. Das Baby tritt, und ich schiebe meine Hand nach unten, um die Bewegung abzufangen.

In den letzten Wochen ist das Baby aktiver geworden. Es rollt herum und schlägt um sich, strebt mit Macht in die Welt hinaus. Der Geburtstermin rückt näher.

Die Übelkeit lässt nach. Ich richte mich wieder auf. Der Schmerz vergeht so schnell, wie er gekommen ist.

Rasch gehe ich vom Schlafzimmer in den Wohnbereich unseres Häuschens. Tom sitzt am Tisch in einer Ecke des offenen Raums, der als Küche, Wohn- und Esszimmer dient.

Als Tom mich nach unserer Hochzeit vor neun Jahren zum ersten Mal hierherbrachte, erschien mir das Haus als der perfekte Ort, um unser gemeinsames Leben zu beginnen. Als das Zuhause, in dem unsere Familie wachsen würde.

Ich schrubbte jeden Zentimeter, bis alles glänzte, und durchkämmte die Strände, während Tom auf See war. Dort fand ich alle möglichen interessanten Dinge, die von Bootsfahrern und Schmugglern über Bord geworfen worden waren. Daraus machte ich Möbel, denn kaufen konnten wir uns keine. Der Esstisch, hinter dem Toms Gestalt aufragt, war einst eine Kiste, die wahrscheinlich geschmuggelte Flaschen enthalten hatte, und stammte aus Zeiten, in denen Alkohol illegal war.

Früher putzte ich voller Stolz, rackerte für unsere Zukunft. Heute sehe ich bloß noch den Verlust von allem, was hätte sein können. Das Haus, in das ich so viele Träume gesteckt habe, ist nur ein weiteres Versprechen, das unerfüllt blieb.

Dielenbretter fehlen, außen blättert Farbe ab. Schädlinge und Ungeziefer drängen in unseren Lebensraum, nisten sich in sämtlichen Ecken und Spalten ein. Die Nähe zum Wasser ist das Einzige, was man schön nennen könnte. Nicht einmal fünfzehn Meter sind es dorthin.

Toms Boot ist in der Bucht nebenan festgemacht. Wenn er auf See ist, wirkt das Haus gemütlich. Die Mangroven um uns herum schützen uns vor der Außenwelt. Wenn Tom zu Hause ist, fühlt es sich an, als packten mich ein Paar Hände am Hals.

»Ein Sturm zieht auf«, brummt er mit dem Rücken zu mir.

Durch das zusätzliche Gewicht des Babys sind meine Schritte schwerer als gewöhnlich. Sie kündigen meine Anwesenheit an, bevor ich bereit bin, ihm gegenüberzutreten. Sein Stuhl steht so, dass er aus dem Fenster auf das Meer blicken kann. Für einen Fischer ist das Wetter das Wichtigste.

»Ein Unwetter auf den Bahamas«, fügt er hinzu. In seiner Stimme schwingt Schläfrigkeit mit und ein unmöglich zu beschreibender Unterton, der sich im Laufe unserer Ehejahre entwickelt hat. »Ist bald da.«

Es war Toms Liebe zum Meer, die mich zuerst an ihm faszinierte. Die Art und Weise, wie das Wasser an seiner Haut klebte. Der schwache Geschmack von Salz auf seinen Lippen, wenn er sich einen Kuss stibitzte. Der Wind in seinem Haar. Das Gefühl des Abenteuers, wenn er mit seinem Boot hinausfuhr. Ich war jung. Erst fünfzehn, als wir uns kennenlernten, und sechzehn, als wir heirateten. Ich fühlte mich von Dingen angezogen, die mir damals harmlos erschienen. Von seinen großen Händen, den Muskeln und Sehnen seiner gebräunten Unterarme, den breiten Schultern aus Zeiten, in denen er Kisten fragwürdiger Herkunft geschleppt hatte. Ich hielt ihn für einen Mann, der mich beschützen würde. Ein weiteres gebrochenes Versprechen.

»Wird das Wetter schlimm?«, frage ich.

Hier unten, in dieser Ecke der Welt, erleben wir ständig schwere Stürme. Zum Glück gab es in letzter Zeit keine extremen Unwetter, doch ich erinnere mich an einen bösen Hurrikan auf Key West. Damals war ich noch ein Kind gewesen. Zwar ist niemand gestorben, aber der Wind blies das Haus meiner Eltern um. Das Wasser drohte es zu verschlingen. Ich hatte schreckliche Angst.

»Niemand glaubt, dass es richtig schlimm wird«, antwortet Tom. »Im Radio sagte einer vom Wetterdienst, dass das Unwetter uns verschonen wird.«

»Fährst du raus?« Ich bemühe mich sehr, halbwegs fröhlich zu klingen. Ihn nicht mit der Frage zu bedrängen, wohin er gehen oder was er tun wird, habe ich inzwischen gelernt. In Zeiten wie diesen tut ein Mann alles Mögliche, um Essen auf den Tisch zu bringen.

Tom grunzt. Das heißt Ja.

Ich gehe zur Arbeitsplatte und achte darauf, dass mein Körper nicht in seiner Reichweite ist. Meine Hüfte berührt einen der Knöpfe am Herd. Mein Fuß streift den Kühlschrank.

In einem beengten Häuschen, in einer beengten Ehe, lernt man, den Raum um sich herum als eine Art Puffer zu nutzen, sich geschmeidig und flexibel zu verhalten und sich dem Willen eines anderen zu beugen.

Doch mein Körper hat sich verändert. Mein Bauch ist aufgebläht, meine Gliedmaßen bewegen sich schwerfällig. Ich musste die Kunst neu erlernen, so wenig Raum wie möglich einzunehmen – für mich und das Baby. Man kann nicht flink sein, wenn man das Gewicht eines anderen mit sich trägt.

Ich stelle Tom sein Frühstück hin.

Er umklammert mein Handgelenk und übt genau das richtige Maß an Druck aus, dass ich zusammenzucke, aber nicht genug, dass ich zu Boden stürze. Der Zustand unserer Beziehung zeigt sich nicht nur im äußerlichen Zustand des Hauses. Auch ich trage Spuren.

»Warum willst du wissen, ob ich rausfahre?«, herrscht er mich an.

»Ich … ich mache mir Sorgen. Wenn das Wetter schlecht wird, ist das gefährlich.«

Er festigt seinen Griff, seine Fingernägel graben sich in meine Haut. »Glaubst du etwa, ich kenne mich mit dem Meer nicht aus? Ich habe schon als Kind in diesen Gewässern gefischt.«

Mein Handgelenk pocht. Als der Schmerz über mich hereinbricht, rollt eine Hitzewelle über mich hinweg. Meine Knie knicken unter dem Gewicht meines Bauches und dem Druck seiner Finger ein.

Ich greife mit meiner freien Hand nach der Tischkante. »Ich weiß. Es ist das Baby. Es kommt bald. Ich bin nur nervös. Tut mir leid …«

Sobald der Schmerz in mir aufsteigt, finde ich nicht die richtigen Worte und plappere unsinnige Dinge daher. Hauptsache, er lässt mich … uns … los. Ich will verhindern, dass es eskaliert, dass Schlimmeres dabei herauskommt als Blutergüsse an meinem Handgelenk.

Tom murmelt: »Frauen.« Dann entlässt er mich aus seinem Griff.

Mein Handgelenk schmerzt.

Er lenkt seine Aufmerksamkeit auf das Essen, das ich für ihn zubereitet habe. Energisch schaufelt er die Pfannkuchen aus Maisgrütze in sich hinein, der Zorn ist für einen Moment vergessen.

Während er isst, gehe ich meiner morgendlichen Routine nach und räume die Küche auf. Ich schlüpfe in einen Tagtraum hinein wie in ein abgetragenes Kleid.

Auf einmal reißen mich Geräusche heraus. Seine Gabel kratzt über den Teller, der Stuhl rutscht über den Boden, seine schweren Schritte stapfen in Richtung Tür, und dann bin ich wieder allein in dem Häuschen auf Stelzen.

***

Ich gehe von unserem Haus zu dem Restaurant, in dem ich als Kellnerin arbeite, meine Füße beschreiten den vertrauten sandigen Weg. Unterwegs komme ich an langen Reihen von Männern vorbei, die versuchen, Arbeit für den Tag zu ergattern. Ich habe das Glück, dass ich meinen Job bei Ruby behalten konnte, obwohl die Depression andauert und die Menschen kaum Arbeit finden, gerade die Frauen. Aber Ruby ist ein loyaler Mensch, und sie hat in guten wie in schlechten Zeiten zu mir gehalten.

Als »südlichste Stadt« der Vereinigten Staaten liegt Key West auf der gleichnamigen Insel, dem allerletzten Zipfel Land. Weiter kann man nicht gehen, sonst steht man im Wasser. Die besondere geographische Situation lockt alle Arten von Menschen an: Herumtreiber und Kriminelle. Menschen, die sich verlaufen wollen. Menschen, die gefunden werden wollen. Es scheint ganz so, als wäre hier unten am Rande der Welt alles möglich – für die meisten jedenfalls.

Früher musste man ein Boot haben, um hierherzukommen. Jetzt gibt es die Eisenbahn, die über das Meer und die kleinen Inseln führt, die die Florida Keys bilden. Die Bahn verbindet sie mit dem Festland und Miami. Die gesamte Strecke beträgt über 150 Meilen, die man in ein paar Stunden zurücklegt.

Henry Flagler, zu Lebzeiten einer der reichsten Männer des Landes, war verspottet worden, als er das Projekt vor Jahrzehnten ankündigte. Aber Mr. Flagler machte unverdrossen weiter, und die Eisenbahn wurde gebaut.

Leute wie mein Vater, ein einheimischer Conche, und die Männer, die auf der Suche nach Arbeit auf die Keys kamen, legten mit bloßen Händen die Gleise für die Key West Extension. Die Eisenbahn ist eines der tollsten Dinge, die der Mensch jemals gebaut hat, sagte Daddy immer. Kannst du dir das vorstellen? In einer dieser großen Maschinen über das Meer zu fliegen?

Nein, das konnte ich nicht.

Was für Menschen träumten davon, Dinge wie Eisenbahnen über das Meer zu bauen? Was für Menschen setzten sich dort hinein?

Daddy sagte, es gäbe zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: Die Menschen, die Dinge bauten, und jene Menschen, die sich daran erfreuten, was die anderen bauten. Dann kam die Depression und wurde zum großen Gleichmacher.

Vor langer Zeit, lange bevor ich geboren wurde, war Key West die größte und reichste Stadt in Florida. Doch noch bevor der Rest des Landes die Auswirkungen des großen Zusammenbruchs, des Börsencrashs im Jahr 1929, spürte, wurde es für Florida schwierig. Geld und Kredite wurden knapp. Die Zitrusfrüchte gediehen nicht mehr.

Inzwischen sind die Menschen arbeitslos, hungrig und verzweifelt. Die Stadt ist pleite, unser Schicksal alles andere als sicher. Tausende ziehen in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Norden.

Es gibt ein Hilfsprogramm von der Regierung, das meiner Meinung nach besser ist als gar keine Hilfe, aber es reicht einfach nicht aus. Sie versuchen, die Stadt zu unterstützen, und schicken Veteranen aus dem Weltkrieg auf die Keys, um an einem neuen Stück Autobahn zwischen Grassy Key und Lower Matecumbe zu arbeiten.

An der Ecke Trumbo Road und Caroline Street komme ich am Bahnhof vorbei, so wie fast täglich in den letzten neun Jahren. Dahinter liegen die neuen Fähranleger. Die Florida East Coast Car Ferry Company bietet tägliche Verbindungen von und nach Havanna, Kuba. Sie laden Dutzende von Waggons auf die Boote und bringen sie samt Autos und Passagieren über das Meer. Flaglers Vision, New York City mit Havanna zu verbinden, kann heute in die Tat umgesetzt werden – durch ein paar Tage Fahrt mit seiner Eisenbahn und einer mehrstündigen Überfahrt mit der Fähre von Key West aus.

Das vertraute, abgenutzte Schild rückt in mein Blickfeld, als ich auf dem Parkplatz von Rubys Restaurant ankomme.

Unsere Nähe zum Bahnhof und zum Fährterminal zieht nicht nur auswärtige Gäste an. Auch Einheimische bestaunen die Neuankömmlinge und essen für wenig Geld bei Ruby. Ruby hält nichts von Extravaganzen, und das sieht man. Das Mobiliar ist einfach, das Essen herzhaft. Hier wird jedem Gast schnell klar, dass die Speisen wichtiger sind als die Einrichtung.

Von meinem Schichtbeginn bis zum Mittag bediene ich viele Gäste, eile von Tisch zu Tisch. Der Schmerz in meinem Rücken ist immer da, das Baby drückt mich im Unterleib. In den kurzen Momenten, in denen ich eine Pause einlegen kann, begebe ich mich in den hinteren Teil des Restaurants und lehne mich an die Wand, um den Druck zu verringern. Von den Gerüchen aus der Küche wird mir beinahe schlecht, aber zu diesem Zeitpunkt der Schwangerschaft bin ich so sehr darauf bedacht, etwas Gewicht zu verlieren, dass mir das nichts ausmacht.

Die Tür öffnet sich mit einem lauten Klingeln der Glocke und einem unangenehmen Krachen. Der Lärm übertönt die Geräusche der Küche, die Gespräche der Gäste. Das dünne Holz der Tür ist zu schwach für den großen Mann, dessen Hand auf der Klinke ruht. Die Köpfe der Leute drehen sich, und die Wangen des Neuankömmlings röten sich leicht, als er durch die Tür schlendert und sie sanft hinter sich schließt.

Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, welchen Tisch er genommen hat. In den letzten Monaten ist er zum Stammgast geworden, auch wenn er für sich und in seiner Ecke bleibt. Das Einzige, was ich über ihn weiß, ist sein Vorname. John. Selbst den hat er mir vor Monaten nur ungern verraten.

»Dein Lieblingsgast ist wieder da«, bemerkt Ruby augenzwinkernd von ihrem Beobachtungsposten in der Küche und wischt sich die Hände an der Schürze ab.

Ruby und ihren Mann als Chefs zu haben ist ziemlich angenehm. Sie zahlen sogar in diesen Zeiten einen fairen Lohn und kümmern sich gut um ihre Mitarbeiter. Wenn ein Gast allzu aufdringlich oder unfreundlich wird, stehen Ruby und Max immer bereit. Ruby ist nicht gerade ein geselliger Mensch, hält sich lieber in der Küche auf und überlässt es mir und Sandy, der anderen Kellnerin, die Gäste zu begrüßen und zu bedienen. Im Laufe der Jahre ist sie für mich aber mehr als nur meine Arbeitgeberin geworden, eher eine Art Freundin.

»Muss Zahltag sein, wenn man bedenkt, wie viele an diesem Wochenende zu uns gekommen sind. Er scheint heute hungrig zu sein«, sagt sie.

»Er sieht immer hungrig aus«, erwidere ich und ignoriere die Belustigung in ihrer Stimme und das Funkeln in ihren Augen.

»Seltsam, dass er ständig hier isst, oder?«, leiert Ruby in ihrem schwerfälligen Südstaaten-Tonfall. »Wirklich komisch.«

»Wahrscheinlich schwärmt er für den Key Lime Pie«, entgegne ich bemüht gelassen. »Jeder weiß doch, dass du den besten Limettenkuchen von Key West backst.«

Der Key Lime Pie ist nicht nur beliebt, weil er so gut schmeckt. Die Leute müssen ja etwas essen, und Kuchen ist so ungefähr das Günstigste auf der Speisekarte.

Ruby lächelt. »Ich bin sicher, das ist es – der Key Lime Pie.«

John ist immer höflich, immer ruhig, aber man merkt ihm an, dass er schlimme Dinge erlebt hat und nicht darüber hinweg ist. Für ihn ist der Krieg noch nicht vorbei. Eigentlich ist er ein angenehmer Kerl. Er gibt mehr Trinkgeld als die meisten anderen Gäste und hat mir noch nie Probleme bereitet. Doch irgendetwas an ihm erinnert mich so sehr an Tom, dass es mir fast den Atem verschlägt, wenn ich in seiner Nähe bin.

Sobald ich sein Essen vor ihm auf den Tisch stelle, ist mir, als säße ein anderer an seiner Stelle. Ein Mann mit derselben immensen Größe und mit der Kraft, diesen physischen Vorteil dafür einzusetzen, um mich zu verletzen. Instinktiv warte ich darauf, dass seine fleischige Hand mein Handgelenk ergreift. Dass er den Teller mit dem Essen umkippt, weil es ihm nicht heiß genug war. Dass er mir sein Essen entgegenschleudert, weil er es satthat, jeden Tag das Gleiche zu essen. Ob ich denn nicht weiß, wie hart er arbeitet, wie es dort draußen auf dem Wasser ist. Ob ich das Essen, das er auf den Tisch bringt, denn nicht schätze. Wo so viele so wenig haben, wo Leute sogar hungern, wie kann ich bloß so undankbar sein, so …

Plötzlich befinde ich mich nicht mehr in dem kleinen Häuschen, in dem die menschlichen Abgründe von den Mangroven verborgen werden, sondern bei Ruby. Vor lauter Aufregung atme ich heftig und stoßweise.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Ruby.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken. »Ja.«

»Wenn die Arbeit in deinem Zustand zu viel für dich wird, verstehe ich das. Ich könnte für dich übernehmen. Oder vielleicht könnte Max es versuchen.«

Ich habe Glück, dass sie mich nicht gefeuert haben, als meine Schwangerschaft sichtbar wurde. Ich kann es mir nicht leisten, diesen Job zu verlieren. Kein anderer würde eine Frau in meinem Zustand einstellen.

»Nein danke, mir geht es gut. Außerdem brauchen wir das Geld.«

Einerseits ist es schwierig genug, zwei hungrige Mäuler zu stopfen, und ich weiß nicht, wie wir es mit einem dritten schaffen sollen. Andererseits scheint es sinnlos, sich deswegen zu quälen. Das Leben geht seinen Gang, ob man sich darüber Sorgen macht oder nicht. Wir überschätzen gern unseren Einfluss darauf.

Ich stapfe auf den Neuankömmling zu, fülle unterwegs ein oder zwei Kaffeetassen nach und zögere die Begegnung so lange wie möglich hinaus.

Erneut überkommt mich eine Welle der Übelkeit, beinahe beginne ich zu schwanken.

»Möchten Sie sich setzen?«

Ich bin völlig perplex.

Alles, was John, abgesehen von seinem Namen, bisher zu mir gesagt hat, bezog sich auf seine Bestellung. Ganz so, als hätte Gott ihm nur eine bestimmte Anzahl von Wörtern für jeden Tag geschenkt, die er bereits verbraucht hatte.

John ist ein massiger Mann mit einem kräftigen Hals und breiten Schultern. Er ist groß, wirklich riesig. Sein abgenutztes weißes Hemd und sein zerlumpter Overall spannen über seinem Körper. Seine großen Hände umklammern das Besteck und lassen es direkt zierlich erscheinen. Seine Tischmanieren stehen jedoch im Widerspruch zu seinem derben Aussehen.

Seine Stimme klingt für einen so großen Mann überraschend sanft. Die Sprache mutet kühl und klar an, sein Dialekt fremd.

»Mir geht es gut«, erwidere ich und lasse den Tisch sofort los. »Trotzdem danke.«

Er errötet wieder und lehnt sich zurück. Während seiner Wochenendausflüge zu Ruby habe ich ihn nie in Begleitung eines der anderen Veteranen gesehen, die an der Autobahn arbeiten. Sie grüßen ihn zwar mit einem Kopfnicken oder dem Lüpfen des Hutes, gehen aber an ihm vorbei, als gäbe es eine Barriere um ihn herum. Er ist einer von ihnen und dann doch wieder nicht.

Viele Einwohner der Stadt machen einen weiten Bogen um die Veteranen, klagen über die üblichen Besäufnisse und das zügellose Benehmen, wenn die Männer an den Wochenenden nach Key West kommen. In den verschworenen Gemeinschaften der Bewohner von Matecumbe und Windley Key, wo die Orte kleiner, die Tage und Nächte ruhiger sind, heißt man sie wahrscheinlich noch weniger willkommen.

Es sind schwierige Zeiten. Wenn es den Menschen schlecht geht, stehen sie eng zusammen und betrachten Außenstehende mit Argwohn, selbst wenn sie sich damit ins eigene Fleisch schneiden. Wir brauchen die Eisenbahn und die Autobahn, damit Touristen zu uns kommen. Da sollten die Einheimischen vielleicht ein bisschen netter zu den Leuten sein, die dort arbeiten.

Ich habe es mittlerweile aufgegeben, die Menschen verstehen zu wollen. Sie sind ein großes Rätsel, und wenn man glaubt, sie zu durchschauen, überraschen sie einen.

»Wann ist es denn so weit?«, fragt John und richtet sich auf. Sein Blick ist auf meinen dicken Bauch unter der fadenscheinigen Schürze gerichtet. Seine Augen sind tiefbraun, dunkler als sein Haar, eingerahmt von langen Wimpern, um die ihn die meisten Frauen beneiden würden.

Ich erröte, obwohl er die Frage sehr beiläufig stellt. Wenn man schwanger ist, zeigt man der Welt seine intimsten Seiten, ganz egal, ob man das möchte oder nicht.

»In ein paar Wochen«, antworte ich.

Das Baby tritt mich wieder.

Johns Augen verengen sich leicht, als würde er im Kopf etwas nachrechnen. »Sie sollten nicht so viel auf den Beinen sein.«

Ich kann es mir nicht leisten, viel darüber nachzudenken. Ruby hat mich gern, aber sie führt ein Geschäft. Mein Job hat uns oft gerettet, wenn Tom zu betrunken war, um hinauszufahren, oder seinen Lohn versoffen hatte.

»Darf ich Ihre Bestellung aufnehmen?«, frage ich und überspiele die Intimität des Augenblicks.

»Ich hätte gerne Eier mit Speck«, antwortet er nach einer Weile. »Und einen schwarzen Kaffee, bitte.«

Er bestellt jedes Mal dasselbe.

»Kommt in ein paar Minuten«, antworte ich. Ich beuge mich vor, um einen Krümel vom Tisch zu fegen. Dabei rutscht mein Ärmel hoch und entblößt die dunkelvioletten Blutergüsse, die meine Haut zieren. Fünf blaue Flecken in Fingerabdruckgröße, um genau zu sein. Ich ziehe den Ärmel herunter. Meine Wangen werden heiß.

»Was ist passiert?«, fragt er leise.

»Nichts«, lüge ich.

Daran erkennt man, dass er kein Einheimischer ist. Ob es irgendjemanden in Key West gibt, der nicht weiß, dass Tom Berner seine Frau hart anfasst, wenn er getrunken hat? Und auch wenn er völlig nüchtern ist?

»Darf es sonst noch etwas sein?« Ich bemühe mich, ohne Zittern in der Stimme zu sprechen und ein höfliches Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern.

Ich will weder seine Missbilligung noch sein Mitgefühl. Ich habe keine Verwendung für gut gemeinte Worte, die mehr schaden als nutzen. Was zwischen einem Mann und seiner Frau ist, geht nur den Mann an, so heißt es. Ich bin Toms Frau, Toms Besitz. Er kann damit machen, was er will. Das Baby wird ihm gehören, ob es mir gefällt oder nicht.

John schüttelt den Kopf. Er möchte nichts weiter. Sofort ist er wieder der stillschweigende Fremde, an den ich mich gewöhnt habe.

Die Glocke über der Tür läutet, und im Raum wird es deutlich stiller als sonst, wenn Neuankömmlinge hereinspazieren.

Die Frau ist weitaus eleganter, als wir es gewohnt sind, trägt ein Kleid, das sicher aus Paris oder einer ähnlich schicken Stadt kommt. Sie ist auf fast unwirkliche Weise wunderschön und wirkt, als wäre sie direkt von den Seiten des Photoplay oder eines dieser anderen Hollywood-Magazine heruntergestiegen. Ihr Haar ist schwarz, ihr Lippenstift knallrot, ihre Haut makellos. Der dunkelhaarige Mann neben ihr benimmt sich, als gehöre ihm der Laden, während sie so aussieht, als würde sie mühelos durchs Leben gleiten.

Das sind sicher Eisenbahnleute. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie ein Kleid wie das der Frau gesehen.

Sie setzen sich an einen der leeren Tische in meinem Bereich, und ich gehe zu meinen nächsten Gästen.

Schon ist der Tagtraum wieder da. Ich stelle mir Tom da draußen in seinem Boot auf dem Meer vor. Der Wind peitscht um ihn herum, die Wellen werden höher. In der Ferne braut sich ein Sturm zusammen. Ein Blitz fährt krachend nieder, der Donner grollt, und der Himmel entfesselt seine ganze Wut. Ich schließe für einen Moment die Augen und denke an das Gebet, das mir während meiner neunjährigen Ehe so oft durch den Kopf gegangen ist.

Ich bete, dass das Meer meinen Mann bei sich behält und er nicht zurückkehrt.

2

Mirta

»Milch?«

Ich schaue zu der blonden Kellnerin hoch und bemühe mich, eine Antwort auf ihre Frage zu finden.

Was für eine Frau weiß nicht, wie ihr Mann gerne seinen Kaffee trinkt?

Von dem Moment an, als Anthony mich in Ruby’s Café führte, waren alle Augen auf uns gerichtet. Mein Kleid ist zu aufwendig für einen so einfachen Ort, mein Schmuck zu kostspielig, meine Hautfarbe dunkler als die der anderen Gäste. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so fehl am Platze gefühlt.

»Ich bin mir nicht sicher«, erwidere ich und kämpfe mit dem ungewohnten Englisch.

Mein Magen rebelliert. Das Frühstück, das ich Stunden zuvor auf der Fähre von Havanna nach Key West gegessen habe, hat einen metallischen Geschmack in meinem Mund hinterlassen. Die gesamte Reise über befürchtete ich, meinen Kampf gegen die Übelkeit zu verlieren, Eier und Obst auf Anthonys schicke schwarze Lederschuhe zu spucken.

Schlafen konnte ich auf der Fähre auch nicht richtig. Die ganze Zeit quälte ich mich nämlich mit der Frage, ob mein Mann diese Gelegenheit wählen würde, um unsere Ehe zu vollziehen. Am Ende hatte ich mich jedoch umsonst verrückt gemacht. Wo auch immer Anthony die Reise verbringen wollte, es war nicht in meinem Bett.

Die Brauen der Kellnerin heben sich bei meiner Antwort, der Milchkrug bleibt in der Luft stehen. Ihre Augen weiten sich, als ihr Blick auf meinen Ringfinger fällt. Ihre Reaktion auf den Diamanten ist nicht weit weg von meiner eigenen, als Anthony ihn mir vor ein paar Wochen überreichte.

»Milch, bitte«, beschließe ich mutig, während Anthony draußen telefoniert.

Die Kellnerin beugt sich vor, um die Milch in Anthonys Kaffeetasse zu gießen. Eine Strähne ihres fast weißblonden Haares hat sich aus dem Dutt auf ihrem Kopf davongestohlen. Sie ist schwanger, ihr Bauch ragt so aus ihrem zierlichen Körper heraus, dass man jeden Moment mit der Niederkunft rechnen kann. Die Kaffeekanne scheint zu schwer für ihre schlanken Handgelenke und zarten Hände zu sein. Ihre Haut sieht rissig und rot, stellenweise fast wund aus.

Sie ist ungefähr in meinem Alter, schätze ich. Anfang zwanzig oder wenige Jahre älter. Viel zu jung für so müde Augen, so gebeugte Schultern.

Trotzdem sieht sie sehr hübsch aus.

Sie erinnert mich an die Aquarelle, die früher in meinem Elternhaus in Havanna an der Wand hingen. Gedämpfte, verblasste Farben, die ihrer Schönheit etwas Vergängliches verliehen. Da ist jedoch ein Zucken in ihren Gliedmaßen, eine Nervosität in ihren Bewegungen, die im Widerspruch zu ihrer ruhigen Mimik stehen.

Mit Verspätung drehe ich den Diamanten an meinem Ringfinger herum, damit er nicht mehr sichtbar ist. Ein Anflug von Scham überkommt mich wegen des protzigen Steins, wegen des Kleides, das er bezahlt hat. Wäre mein Schicksal anders verlaufen, wäre ich dann so geworden wie diese Frau: die Kleidung abgenutzt, die Augen müde und voller Verzweiflung?

»Wir sind frisch verheiratet«, versuche ich meinen Milch-Fauxpas zu erklären, obwohl das ja auch nichts erklärt. Sogar neu Vermählte teilen eine Beziehungsgeschichte, lassen gegenseitige Zuneigung und Verständnis erkennen.

Der Mund der Kellnerin öffnet sich, als wollte sie etwas sagen, schließt sich aber gleich wieder. Ihre Aufmerksamkeit ist nicht mehr auf mich gerichtet, sondern auf Anthony, der gerade durch die Tür schreitet, der Inbegriff von Selbstvertrauen und Kraft.

Er ist ein attraktiver Mann, mein frisch angetrauter Ehemann, so schillernd wie der Diamant an meinem Finger. Ein Mensch, den die Frauen bewundern und die Männer in zwielichtigen, verrauchten Clubs bei einem Glas Rum um Aktientipps bitten. Falls man so etwas heutzutage überhaupt noch tut. Sein Wiederauftauchen im Restaurant beschert ihm viele neugierige Blicke, denn sein schicker Anzug ist genauso fehl am Platze wie mein Kleid.

Er ist ein gut aussehender Gatte und, was zumindest für meine Eltern am wichtigsten ist, ein wohlhabender und gut vernetzter Mann noch dazu. Selbst wenn es Gerüchte darüber gibt, woher sein Vermögen stammt. Mal wird ihm Dekadenz unterstellt, mal kriminelle Machenschaften.

Doch in diesen Tagen spielt das kaum eine Rolle. Mit seinem Geld hat er sich eine Frau gekauft, deren Familie von den schweren Zeiten hart getroffen wurde. Ich habe nie erfahren, ob mein Vater Gold, Land oder eine andere Art der Bezahlung für seine einzige Tochter bekommen hat. Was ich darüber denke, ist sowieso nicht von Belang.

»Hast du das Mittagessen bestellt?«, fragt Anthony. Die Sprache ist eine weitere Barriere zwischen uns.

Ich fühle mich im Spanischen zu Hause, er bevorzugt das Italienische. Deshalb müssen wir uns mit Englisch behelfen, der einzigen Sprache, die wir beide beherrschen.

Wie sollen wir uns ein Leben aufbauen, wenn so viele Unterschiede zwischen uns stehen?

»Nein, ich habe noch nicht bestellt. Ich war mir nicht sicher, was du möchtest. Dein Kaffee ist da.« Ich zeige auf die Tasse und warte darauf, wie er auf das Getränk reagiert. Ich weiß so wenig über ihn, seine Vorlieben, seine Persönlichkeit, sein Temperament.

Die Kellnerin verlässt unseren Tisch. Ihre Hüften wackeln, während sie das Tablett in den Händen balanciert.

»Ich habe mit meinem Freund telefoniert«, sagt Anthony. »Wir fahren ein Stück die Autobahn hoch und nehmen eine Fähre, die uns nach Islamorada bringt. Das Personal hat alles für uns vorbereitet.«

Ich drehe den Ring wieder um den Finger. Sein Gewicht ist ungewohnt. Die scharfen Zinken der Fassung, die den Diamanten an Ort und Stelle halten, bohren sich manchmal in meine Haut. Welcher Mann kauft seiner Frau in Zeiten wie diesen einen solchen Ring?

Anthonys dunkle Brauen ziehen sich zusammen, er blickt auf meine Hände. »Ist er zu groß?«

»Wie bitte?«

»Der Ring.«

Ich höre auf, mit meinen Fingern zu spielen.

»Ist er zu groß für deinen Finger?«, präzisiert er. »Wenn wir in New York sind, können wir ihn zu meinem Juwelier bringen, falls du die Größe geändert haben möchtest.«

New York wird unser endgültiges Reiseziel sein, das wir mittels der Florida East Coast Railway in ungefähr einer Woche erreichen werden. Vorher verbringen wir unsere Flitterwochen bei Anthonys Freund in Islamorada.

Ich war noch nie in New York, kenne dort keine Menschenseele, aber irgendwie soll es jetzt mein Zuhause sein. Dort soll ich seine Kinder gebären und den Rest meiner Tage verbringen. Wie oft ich mir auch sage, dass dies meine Zukunft sein wird: Ich komme nicht mit der Tatsache zurecht, dass sich mein Leben so plötzlich und so endgültig verändert hat. Ich kann mir nicht vorstellen, wie unser Leben aussehen wird oder wie ich lernen soll, die Ehefrau dieses Mannes zu sein.

Wird meine Familie mich besuchen? Meine Eltern? Mein Bruder? Wird mein neuer Mann mich jemals nach Kuba zurückbringen? Seine Geschäftsinteressen brachten ihn nach der Revolution im Jahr 1933 auf die Insel, aber er hat nichts darüber gesagt, ob er langfristig dorthin zurückkehren will.

Werde ich mein Zuhause jemals wiedersehen?

»Der Ring ist völlig in Ordnung. Wirklich schön. Ich glaube nicht, dass ich dir richtig dafür gedankt habe«, füge ich hinzu und denke an den Rat meiner Mutter, dass die Ehe angenehmer werden würde, wenn wir Gemeinsamkeiten zwischen uns suchten. Wenn er mich mögen würde.

Mächtige Männer sind sehr beschäftigt, Mirta. Sie möchten nicht mit häuslichen Problemen, den Banalitäten deines Tages, deinen Launen oder Stimmungen belästigt werden. Dein Ziel sollte es sein, deinen neuen Ehemann glücklich und stolz zu machen, seinen Stress zu lindern.

Diese Worte richtete sie an mich, während sie die Knöpfe meines weißen Spitzenkleides schloss. Die Nadeln, die das Kleid in Form hielten, stachen in meine Haut.

Meine Mutter drückte mir einen Strauß elfenbeinweißer Blumen in die Hand und erteilte mir weitere Last-Minute-Anweisungen für die überstürzte Hochzeit. Für die Hochzeitsnacht dagegen erhielt ich keinen Rat.

»Als ich ihn sah, wusste ich sofort, dass er perfekt für dich ist«, sagt Anthony.

Ich unterdrücke den Drang, das Gesicht zu verziehen.

Es ist kaum die Art von Schmuck, die ich mir selbst ausgesucht hätte. Der Ring ist zu wuchtig, zu auffällig, von allem zu viel. Bei dem aktuellen politischen Klima in Kuba haben wir gelernt, nicht unnötig auf uns aufmerksam zu machen. Ich kann ihm kaum einen Vorwurf deswegen machen, aber insgeheim setze ich seinen Fauxpas auf die Liste der kleinen Widrigkeiten, die ich in dieser Ehe schon aushalten musste.

»Ich mag das Restaurant«, sage ich plötzlich. Ich will nicht mehr über den Ring sprechen.

»Ja, wirklich?« Er sieht sich im überfüllten Sitzbereich um. »Ich hatte befürchtet, dass es dir zu gewöhnlich sein könnte. In Havanna warst du sicher elegantere Etablissements gewohnt. Aber ich fand es einfach praktisch, weil es so nahe am Fähranleger liegt. Du hast während der Reise ja kaum etwas gegessen.«

»Nein, es ist nicht die Art von Restaurant, die ich früher besucht habe«, gebe ich zu. Genau das macht dieses Lokal so faszinierend.

Als mein Vater Präsident Machado unterstützte, waren wir fest in der gesellschaftlichen Welt von Havanna verwurzelt.

Vor zwei Jahren veränderte sich alles.

Die Kubaner wurden der Diktatur von Machado überdrüssig. Die wirtschaftlichen Sorgen, die durch die Krise in den Vereinigten Staaten und eine Studentenrevolte ausgelöst wurden, führten zu Spannungen und Gewalt im Land. Als die Probleme zunahmen, griffen die Amerikaner auf diplomatischem Wege ein. Schließlich wurde Machado von einer Gruppe seiner Offiziere vertrieben und ins Exil gezwungen. Seine Anhänger, die Machadisten, wurden nach dem Militärputsch verfolgt. Ihre Leichen fand man in ganz Kuba. Sie hingen an Laternenpfählen, wurden an Straßenrändern abgeladen und auf Marktplätzen verbrannt.

Durch die Gnade Gottes oder eine andere glückliche Fügung überlebte mein Vater. Doch er machte den Fehler, den falschen Kandidaten zu unterstützen. Nun zieht Fulgencio Batista, zum Oberst befördert, die Fäden in Kuba und ist derjenige, bei dem wir uns einschmeicheln müssen.

Mein älterer Bruder Emilio wurde mit der Aufgabe betraut, unser Zuckerunternehmen zu führen, eine bessere Beziehung zum neuen Regime aufzubauen und sich mit Batista gut zu stellen. Die enge Beziehung unseres Vaters zu Machado hatte dafür gesorgt, dass er selbst in Ungnade fiel. Dabei hat er mehr Glück gehabt als viele seiner Freunde, die ihr Leben lassen mussten. Jetzt muss Emilio die Weichen für unsere Familie neu stellen.

»Früher hatten wir vielleicht in der besseren Gesellschaft verkehrt«, formuliere ich vorsichtig. »Zuletzt haben wir ziemlich viel Zeit zu Hause verbracht. Es gab einen Kreis von Familien, die wie wir ihre Position verloren. Nach der Revolution von 1933, die Batista an die Macht brachte.«

Anthony und ich haben die letzten paar Jahre auf derselben Insel, aber eigentlich nicht im selben Land gelebt. Dank Batistas neuer Beziehungen zu den Amerikanern blühte das Casino- und Hotelgeschäft auf. Das hatte ihn nach Kuba gelockt. Er war jedoch kaum mehr als ein Besucher, geschützt vor den Schrecken, denen sich alle anderen ausgesetzt sahen.

»Ich habe mich schon gefragt, wie du deine Tage und Nächte verbracht hast«, sagt er. »Ich habe dich oft in Havanna gesehen, aber nur beim Kommen oder Gehen. Ich habe nie mitbekommen, wo du letztlich hingegangen bist.«

Ich werde rot. »Zweifellos waren meine Aufenthaltsorte weit weniger interessant als deine.«

»Vielleicht.« Er lächelt. »Ich hätte nicht gedacht, dass Damen gerne Nachtclubs und Casinos besuchen möchten.«

»Es ist schwierig herauszufinden, was man möchte, wenn einem so viele Türen verschlossen sind.«

Ein Hauch von Verständnis spiegelt sich in seinem Blick.

Es ist zwar weitaus einfacher, ein Mann zu sein als eine Frau. Aber eine Kleinigkeit haben wir gemeinsam: Es ist etwas anderes, sein Geld verdient zu haben, als damit geboren worden zu sein. Zweifellos weiß mein Ehemann mit seinem aus dubiosen Quellen stammenden Vermögen sehr gut, wie es sich anfühlt, wenn einem bestimmte Türen verschlossen bleiben.

Und trotzdem – irgendwie kreuzte sich sein Weg mit dem meines Vaters. Sie spielten zusammen Karten, und Anthony schlug ihm die Ehe zwischen uns vor. Ich hege so viele brennende Fragen in meinem Inneren, aber die mahnende Stimme meiner Mutter siegt. Anstatt die Antworten zu verlangen, nach denen ich mich sehne, entscheide ich mich für höfliche Plauderei.

»Machst du viele Geschäfte auf den Keys?«, frage ich ihn.

»Einige, wenn auch nicht mehr so viele wie früher. Die Fähre und die Eisenbahn waren sicherlich nützlich für die Region. Es werden bald wichtige Handelsrouten über Key West führen. Aus der Nähe zum Rest der USA, zu Lateinamerika und zu Kuba ergibt sich ein unermessliches wirtschaftliches Potenzial.«

Glaubt man den Gerüchten über die Geschäfte meines Mannes, scheint er tatsächlich ein Händchen für Chancen zum Geldverdienen zu haben. Man munkelt, dass Anthony Alkohol aus Kuba geschmuggelt hatte, bevor die Regierung der Vereinigten Staaten vor zwei Jahren die Prohibition beendete.

Mein neuer Ehemann soll ein Freund von Batista sein, wie so viele dieser Amerikaner, die gerade in Havanna ihren Claim abstecken. Eine Tatsache, die sicher ein starkes Argument für unsere Hochzeit gewesen sein muss. In diesen Zeiten ist es ein großer Vorteil, einen Schwiegersohn mit gutem Draht zum mächtigsten Mann in Kuba in der Familie zu haben.

»Unternimmst du viele Geschäftsreisen?«, frage ich in einem weiteren Versuch, etwas über unsere Zukunft herauszubekommen. Nach meiner Erfahrung sprechen die meisten Männer enorm gerne über sich selbst, aber mein Mann ist erstaunlich verschlossen, was sein Leben betrifft. So viel wie im Augenblick haben wir wahrscheinlich noch nie miteinander gesprochen.

»Durchaus.«

Ich warte. Als mir klar wird, dass er nicht näher darauf eingehen wird, versuche ich es erneut. »Reist du gerne?«

Einen Moment lang wirkt er fast verwirrt. »Mein Geschäftsfeld hat sich im Laufe der Jahre erweitert, und es ist wichtig, dass ich alles im Auge behalte. Man kann gute Leute einstellen, aber es ist hilfreich, sich persönlich um die Dinge zu kümmern und seine Mitarbeiter daran zu erinnern, worum es geht.«

»Und deine Interessen in Kuba? Hast du vor, dorthin zurückzugehen?«

»Ich habe dort natürlich geschäftliche Interessen – durch das Hotel und das Casino. Du möchtest deine Familie besuchen. Du vermisst sie sicher.«

Es ist nicht nötig, das als Frage zu formulieren. Er hat ein sehr gutes Gespür dafür, wie viel mir meine Familie bedeutet und wie weit ich gehen würde, um sie zu beschützen. Mein Vater wollte, dass ich Anthony heirate. Also tat ich es, weil ich dazu erzogen wurde, den Wünschen meiner Familie ohne Widerrede zu folgen.

Ich beneide die Männer um die Freiheit, ihren Ehepartner zu wählen. Sie nehmen sich uns, als würden sie ein Stück Obst auf dem Markt kaufen. Wir haben in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht.

Anthony erzählt von dem Haus, in dem wir unsere Flitterwochen verbringen werden. Ich sitze da und beobachte, wie sich seine vollen Lippen bewegen, höre aber nichts. Ich kann bloß nicken, als verstünde ich. Als wäre ich hier bei ihm, während ich in Wirklichkeit auf offener See treibe, ertrinkend die Arme hochrecke und um Hilfe flehe, während die Leute an mir vorbeigehen.

»Wie klingt das?«, fragt Anthony, und ich zucke mit dem Kopf wie eine Marionette.

Wie soll ich diese seltsame Ehe überleben?

3

Elizabeth

»Nenn mich Eliza«, säusele ich. »Alle meine guten Freunde nennen mich so.«

Das ist nicht ganz wahr. Jeder sagt Elizabeth zu mir, oder sogar Elizabeth Anne Preston. Das sagt meine Mutter, wenn sie wütend auf mich ist, was oft vorkommt. Im Augenblick spielt das jedoch kaum eine Rolle. In diesem Zug kann ich Eliza sein, wenn ich das will. Außerdem hat der Spruch seinen Zweck erfüllt.

Der Collegejunge, der mir in einem Abteil der Florida East Coast Railway gegenübersitzt, errötet, als ich mich in meinem Sitz zurücklehne. Die blassen Kurven meiner Schenkel blitzen für einen Augenblick auf, bevor ich meine Beine wieder kreuze. Seine Aufmerksamkeit wird für einen Moment von meinem Gesicht abgelenkt.

Wer hat behauptet, dass die Reise nach Key West langweilig werden muss?

In der Penn Station habe ich die über fünfzehnhundert Meilen lange Reise begonnen, und seitdem ist eine deprimierende Kleinstadt nach der anderen am Zugfenster vorbeigezogen. Irgendwann änderte sich jedoch die Landschaft. Braun und Grau wurden zu Aquamarin und Saphir. Mr. Flaglers Eisenbahn hielt am Ende, was ihr Ruf versprach. Flagler und mein Großvater waren zu Lebzeiten Freunde – na ja, eher Bekannte, wenn ich ehrlich bin.

Egal, wie sehr sich meine Mutter etwas anderes wünscht, selbst in unseren besten Zeiten gehörten wir nicht zu den Öl-Milliardären. Der Nachname Preston mag in diesem Land etwas bedeuten, aber er ist erheblich weniger wert, wenn man bloß eine entfernte Verwandte ist und nur alle paar Jahre zu Hochzeiten und Beerdigungen eingeladen wird.

Der Collegejunge und ich spielen dieses Spielchen seit mindestens fünf Staaten. Er fährt nach Hause. Seine schicke Universität in Connecticut macht in den Semesterferien zu, und ich kann es kaum erwarten, dass die Reise endlich vorbei ist.

Wir begannen unseren Flirt, als der Zug die Penn Station in New York City verließ. Mein Unmut über die Dauer der Zugfahrt wurde durch den Anblick seiner breiten Schultern und seines eleganten Anzugs sofort gelindert. Zuerst tauschten wir Höflichkeiten aus, unterhielten uns darüber, mit welchen Familien wir beide bekannt waren. Ich zählte die Jungs aus seiner Studentenverbindung auf, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe.

In unserem Wagen ist mehr los als erwartet, wahrscheinlich aufgrund des Feiertagswochenendes rund um den Labor Day und der Werbeaktion, mit der die Eisenbahn versucht, mehr Fahrgäste anzulocken. Trotzdem haben wir uns sofort gefunden, fast wie zwei Magnete. Nun teilen wir uns Zigaretten und Whisky, während der Zug weiter voranrollt.

Kurz vor Key Largo erlaube ich ihm einen winzigen Blick in mein Dekolleté. Mein Kleid ist seit mehreren Saisons aus der Mode und weiß Gott nicht das einzige veraltete Stück in meinem Schrank.

Es gibt Menschen, die sagen würden, ich solle mich unauffälliger verhalten, aber ich habe nie viel darauf gegeben, was andere Leute sagen. Das ist vermutlich Teil des Problems. Darum trage ich also ein rotes Kleid, passend zu meinem Haar und meinen Lippen. Die Farbe zieht die Aufmerksamkeit jedes Mannes in unserem Waggon auf sich, abgesehen von einem.

Dem Mann im grauen Anzug.

Er fiel mir auf, als er in Miami in den Zug stieg und ohne großes Aufsehen den Sitz schräg gegenüber einnahm. Er fiel mir umso deutlicher auf, weil ich ihm während der nächsten Stunden überhaupt nicht auffiel. Wer war er?

Wir näherten uns Key West. Die anderen Passagiere sahen aufgeregt aus dem Fenster. Welch herrliche Aussicht! Der majestätische Atlantik auf der einen Seite der Bahnlinie und der ebenso atemberaubende Golf von Mexiko auf der anderen … Im Gegensatz zum Rest der Mitreisenden blieb der Mann in seine Lektüre vertieft – kein Interesse an der Landschaft.

»Hast du das gesehen?«, fragt mich der Collegejunge begeistert. »Schau dir die Fische da unten an.«

Ein Mundwinkel des Mannes im grauen Anzug zuckt. Das ist beinahe ein Lächeln.

»Erstaunlich«, säusele ich und schaue nicht auf den Schwarm Fische, der ein paar Meter weiter unten im Wasser schwimmt, sondern auf den Mann, der schräg gegenübersitzt. Dieses halbe Lächeln ist das, was einer menschlichen Regung am nächsten kommt, seit er in den Zug gestiegen ist.

Er macht sich jedoch nicht die Mühe, von seinen Akten aufzublicken.

Was kann an ein paar staubigen alten Seiten so interessant sein?

»Ich schaue mal, ob ich im Panoramawagen eine bessere Sicht habe«, kündigt der Collegejunge an.

Ich entlasse ihn mit einer Handbewegung. Ihn hatte ich mühelos für mich eingenommen, jetzt richte ich meine Aufmerksamkeit fest auf den Mann im grauen Anzug. Die Herausforderung ist zu reizvoll, um sie zu ignorieren. Die Reise geht dem Ende zu, sicher wird er bald aufschauen.

Schon beuge ich mich in meinem Sitz vor, schiebe mein Buch vom Schoß und bemühe mich in keiner Weise, meine Absicht zu verbergen. Das Buch trifft mit einem dumpfen Knall auf dem Abteilboden auf.

Etwas, das sehr nach einem Seufzer klingt, entweicht dem Mann im grauen Anzug.

Ich warte.

Er bewegt sich endlich. Sein großer Körper faltet sich auseinander, als er sich vorbeugt, um das Buch aufzunehmen. Ich rutsche auf meinem Sitz herum und lehne mich im selben Moment vor wie er. Mir ist vollkommen bewusst, dass ich mein beeindruckendes Dekolleté in sein Blickfeld rücke.

Jetzt macht er ein Geräusch– irgendetwas zwischen einem scharfen Einatmen und einem Prusten. Ich schürze die Lippen.

Grauer Anzug gibt mir wortlos meinen Roman von Patricia Wentworth zurück. Seine Augen sind von einem schönen, vertrauenerweckenden Braun. Sein Haar ist ordentlich kurz geschnitten, blond mit braunen Strähnen und vielleicht einem Hauch von Stahlblau. Bestimmt ist er schon dreißig.

Er sieht nicht auf herkömmliche Weise gut aus, eher wie ein Soldat, ein aufrechter Typ mit kantigem Kinn.

»Ich habe darauf gewartet, dass Sie mich bemerken«, hauche ich, klimpere mit den Wimpern und versuche, möglichst sichtbar zu erröten. Aber meine Fähigkeiten sind eingerostet. Mein soziales Leben ist dieser Krise zum Opfer gefallen, meine Technik nicht mehr so ausgefeilt wie früher, als die Männer in Scharen um mich herumscharwenzelten und mir zu Füßen lagen.

Grauer Anzug antwortet nicht, richtet sich aber etwas in seinem Sitz auf und durchbohrt mich mit seinem Blick.

»Haben Sie mich denn bemerkt?«, frage ich.

Seine Lippen zucken. »Durchaus.«

Ich zwinkere wieder. »Und was genau haben Sie bemerkt?«

Er schnaubt. »Dass es Scherereien bringt, sich mit Ihnen einzulassen.«

Ich warte auf den Rest. Trotz ihrer Proteste habe ich gelernt, dass die meisten Männer nichts gegen ein paar Scherereien haben. Wenn man so will, könnte man sagen, ich habe eine Studie dazu durchgeführt.

Als er nicht antwortet, beuge ich mich vor und erlaube ihm, einen Hauch von meinem französischen Parfum zu erhaschen. Die letzten Tropfen habe ich sorgfältig mit Wasser verdünnt, um alle verfügbaren Duftpartikel herauszukitzeln. »Und wie stehen Sie zu Scherereien?«

»Ich habe keine Zeit für Scherereien.« Er schmunzelt. »Schon gar nicht für solche am Rande der Legalität.«

»Ich bin dreiundzwanzig.«

»Das meine ich ja.«

»Wie alt sind Sie denn?«, gebe ich zurück.

»Viel älter als dreiundzwanzig. Ich habe keine Zeit für verwöhnte Mädchen mit mehr Zeit als Verstand.« Er deutet auf seine Lektüre. »Es gibt genügend Probleme auf dieser Welt. Zwecklos, sich noch mehr aufzuladen.«

Wenn ich mich leicht abschrecken ließe, würde ich nicht in diesem Zug sitzen. Außerdem habe ich noch keinen Mann kennengelernt, der schönen Beinen und einem vielversprechenden Dekolleté widerstehen konnte.

Jeder weiß, dass wir in schlimmen Zeiten leben, und in schlimmen Zeiten geht man gerne ein Risiko ein – in meinen Kreisen zumindest. Wenn man alles verloren hat, weiß man ganz gut, dass es nur wenig zu gewinnen gibt, befolgt man strikt die Regeln und geht stets auf Nummer sicher.

Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich mich wieder nach vorne beuge, auf der Sitzkante balanciere, die Lippen nur Zentimeter von seinem Ohr entfernt. Als mir eine maskuline Duftnote von Seife und Haut in die Nase steigt, verbreitet sich Gänsehaut über meinen ganzen Körper.

»Es könnte Ihnen gefallen«, necke ich.

Grauer Anzug schreckt nicht zurück. Stattdessen bleibt er ruhig, die einzige erkennbare Bewegung seines Körpers ist ein Zucken des Kinns.