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Hauptkommissar a.D. Siggi Seifferheld greift erneut im idyllischen Schwäbisch Hall der Polizei unter die Arme. Der Landtagsabgeordnete Lambert von Bellingen wird bei einer Wahlveranstaltung ermordet auf einer Herrentoilette gefunden. Die Polizei geht von einem politisch motivierten Verbrechen aus. Seifferheld jedoch verfolgt eine andere Fährte. Und so schnüffelt der Kommissar im Unruhestand ein wenig im Privatleben des Toten herum und findet heraus, dass der Politiker eine Affäre mit der ortsansässigen Souvenirladenbesitzerin hatte.Um mit der Dame ins Gespräch zu kommen, will Seifferheld ihr seine Stickkissen zum Kommissionskauf anbieten. Doch als er den Laden betritt, entdeckt er sie mit zertrümmertem Gesicht hinter der Theke. Nadel, Faden, Hackebeil von Tatjana Kruse: Spannung pur im eBook!
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Seitenzahl: 363
Tatjana Kruse
Nadel, Faden, Hackebeil
Ein neuer Fall für Kommissar SeifferheldKriminalroman
Knaur e-books
Dieser Roman spielt zwar in einer realen Stadt, nämlich Schwäbisch Hall, und basiert auch auf tatsächlichen Ereignissen, es ist aber dennoch nichts weiter als ein Roman. Alle Personen sind erfunden, der Plot ist fiktiv. Allerdings gibt es tatsächlich einen Hovawart namens Onis, und das ist auch gut so.
Thank you, Sue W.
Siegfried Seifferheld
Kommissar im Unruhestand
Aeonis vom Entenfall
kurz »Onis«, Hovawart-Rüde mit Knickrute
Susanne Seifferheld
Tochter, Bausparkassenmanagerin
Karina Seifferheld
Nichte, Aktivistin
Irmgard Seifferheld
altjüngferliche Schwester, Mitglied im Kirchenkaffeekomitee, die »Generalin«
MaC
Marianne Cramlowski, Journalistin
Lady
Berner Sennenhündin
Der rosa Teddy
Namenlos, aber glückspendend
Olaf Schmüller
Physiotherapeut, Pferdeschwanzträger
Fela Nneka
Fotograf
Kläuschen
liiert mit Gummipuppe Mimi
Bocuse
eigentlich François Arnaud, Franzose, Chefkoch
Die VHS-Männerköche:
Schmälzle (Wanderführerautor),
Arndt (Maschinengewehrklempner),
Horst (Mathelehrer),
Eduard (Buchhändler),
Günther (Pfarrer),
Gotthelf (dominant verheiratet)
Gesine Bauer
Polizeichefin
Mord-zwo-Stammtisch:
Wurster (Bärenmarkenbär),
Van der Weyden (Rudi-Carrell-Akzentler),
Bauer zwo (Minipli-Verfechter),
Dombrowski (der von der Sitte)
Biggi Boll
Seifferhelds Ex-Sekretärin
Frau Denner
Frau Bolls Nachfolgerin, Free-Tibet-Gesinnung
PO Karsten Viehoff
blonde Leckerschnitte
Olga Pfleiderer
kasachische Nicht-Putzfrau
Pfarrer Hölderlein
strafversetzter Pfarrer aus dem Rheinland
Mozes Nneka
kleiner Bruder von Fela
Sissi von Bellingen
strebt nach Höherem
Konzi von Bellingen
Sissis Schwager
Fippa von Sölln
Sissis beste Freundin
Rudolf von Sölln
Fippas Cousin und Verlobter (nicht fragen!)
Dr. Arnfried Kolb
plastischer Chirurg
Tayfun Ünsel
Verehrer und Transparentträger von Karina
Usch Meck
Frauchen von Lady
Otto
Kamerunziegenbock
Lambert von Bellingen
Unsympath, Sissis Ehemann
Kiki Runkel
Souvenirladenbesitzerin, die Geliebte von Sissis Ehemann
In memoriam: Theaterring Schwäbisch Hall
Dreister Damhirsch
Am Wochenende konnte die Polizei in einem Waldstück bei Gailenkirchen einen ungewöhnlichen Diebstahl aufklären. Dort war eine Streusalzkiste verschwunden. Die Beamten folgten den Spuren im aufgeweichten Waldboden und ertappten einen Damhirsch mit seinen Begleiterinnen auf frischer Tat dabei, wie sie sich am Salz labten. Der Hirsch hatte die Kiste mit seinem Geweih quer über die Fahrbahn in den Wald bugsiert. Die Damhirschbande entzog sich durch Flucht. Anzeige wird nicht erstattet.
Willst du Spannung auf dem Sitz,schieß die Ricke vor dem Kitz!
Lambert von Bellingen hatte das Ego nicht erfunden, aber man darf sagen, er hatte es perfektioniert.
Erhobenen Hauptes thronte er in feschem Lodengrün auf dem Hochsitz. Es war zwar offiziell Schonzeit, aber die Geldstrafe – sollte er denn angezeigt werden – zahlte er, reich, wie er war, lässig aus seiner Portokasse. Wenn er Blut sehen wollte, dann wollte er Blut sehen. Gemäß dem Motto: Was du heute kannst erlegen, musst du morgen nicht mehr hegen. Und wer konnte sich diese dämlichen Schonzeiten schon merken? Jedes Bundesland hatte seine eigenen Zeiten, und er, der Vielreisende, googelte sich doch nicht erst mühsam durch den aktuellen lokalen Schonfristkalender, wenn er Lust verspürte, in Hamburg ein Murmeltier oder einen Seehund auf der Alb zu schießen. Er rief einfach bei einem alten Jagdfreund an – und derer hatte er viele –, schnappte sich sein Gewehr und jagte, was ihm pirschend vor die Flinte kam. Großtrappe, Eiderente, Sumpfbiber oder Rehbock – da machte er keinen Unterschied. Und sollte er, wie seinerzeit US-Vizepräsident Dick Cheney, zufällig einen Hominiden, gar einen Anwalt, mit Schrot durchsieben, so wäre das eine herrliche Anekdote für seinen vierteljährlichen Stammtischabend mit den Fraktionskollegen aus dem Landtag.
In seinem bajuwarischen Trachtenoutfit von Lodenfrey, das Lambert von Bellingen immer trug, wenn er auf die Jagd ging, saß er an diesem frühen Morgen mittig auf der Holzbank eines Hochsitzes und schaute missmutig zum Waldrand.
Kein Bock.
Keine Ricke.
Nicht einmal Bambi.
Und natürlich auch kein Anwalt. Für die war es noch zu früh am Tag.
Langsam wurde die Zeit knapp. Um zehn Uhr musste er im Stuttgarter Landtag sitzen, komme, was da wolle. Heute filmte der SWR für eine Polit-Doku zur Einstimmung auf die demnächst anstehende Wahl, da durfte sein Stuhl auf keinen Fall leer bleiben.
Lambert von Bellingen hmpfte ungnädig. Dann blieb ihm wohl nichts anderes übrig als …
Er angelte sein Handy aus der Trachtenjackeninnentasche und drückte eine Kurzwahlnummer. »Meier, ich bin’s, von Bellingen. Lambert von Bellingen.«
Meier konnte selbstverständlich dem Display entnehmen, dass ihn sein Chef anrief, oder spätestens an der Bassstimme erkennen, um wen es sich bei dem Anrufer handelte, aber Lambert von Bellingen ließ sich keine Chance entgehen, seinen Namen laut auszusprechen. Insofern glich er Crane, Denny Crane. Obwohl er sich selbst natürlich eher für Bond, James Bond hielt. Bisweilen baute er sich morgens nach dem Rasieren vor dem Spiegel auf und intonierte so lange »von Bellingen, Lambert von Bellingen«, bis ihn ein wohliges Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit durchströmte.
»Meier, ich kann nicht mehr warten. Sie wissen, was Sie zu tun haben?«
»Jawohl. Waidmanns Heil.«
Meier klappte sein Handy zu, steckte es in seine Hosentasche, hauchte sich wärmend in die Hände und ließ dann die sieben Fasane aus dem Fangnetz frei. Gleich darauf trieb er sie mit lauten Hossa-Rufen in Richtung des Hochsitzes. Wobei er gewissenhaft darauf achtete, immer von Bäumen geschützt zu sein. Er trug zwar eine leuchtend orangefarbene Schutzweste, aber er kannte seinen Chef und wollte auf gar keinen Fall ein Risiko eingehen.
Und da knallte auch schon der erste Schuss.
Der Haubenbär spricht mit Bedacht:»Die Bären werden nachts gemacht!«Dann rennt er mit Gegrölein seine Bärenhöhle.Arnold Hau
Nahaufnahme. Eine laokoonische Umarmung. Will sagen, eine Umarmung, bei der man nicht mehr wusste, wem welcher Arm gehörte, welches Bein. Haut auf Haut, Atem auf Atem. Nicht heiß und wild und leidenschaftlich wie in der Nacht zuvor, sondern zärtlich, innig, verschmelzend. Die Art von Sex, die am ehesten sagt: »Ich liebe dich« – bei der zwei Körper einander ein Versprechen geben. Und es halten.
Wäre dies ein Softporno, würde man nicht mitbekommen, wie Olaf den Kopf immer leicht auf die Seite dreht, weil er fürchtet, Mundgeruch zu haben. Die Kamera würde nicht zeigen, wie Susanne ungeschickt auf Olafs langen Haaren zu liegen kommt und sie auf diese Weise aus seinem lustvollen Stöhnen ein schmerzbetontes macht. Es gäbe keine roten Allergiepickel auf der Stirn der Hauptdarstellerin und keinen fetten Stressfurunkel auf der linken Pobacke des männlichen Helden.
Aber dies war kein weichgezeichneter Softporno, dies war der ganz gewöhnliche Morgensex zweier Durchschnittsmenschen in der Unteren Herrngasse zu Schwäbisch Hall. In den Mauern eines fünfhundert Jahre alten Fachwerkhauses, die schon vieles gesehen hatten. Und jetzt sahen sie gerade, wie eine ambitionierte Karrierefrau Mitte dreißig – im Management der Bausparkasse Schwäbisch Hall tätig, Chanel-Kostüm-Trägerin, Soroptimistin – in stöhnender Verzückung (und ohne Chanel-Kostüm) einen gut zehn Zentimeter kleineren und fünf Jahre jüngeren Physiotherapeuten – Pferdeschwanzträger, Milchtrinker, Freundschaftsbandenthusiast, Grüner – auf ihren warmen, weichen Körper zog, in der Hoffnung, dass er zwar genauso warm, aber nicht so weich sein würde.
Sie stöhnte.
Er stöhnte auch.
Olaf war eigentlich bekennender Tantriker. Nein, jetzt denken wir nicht an Tom Cruise und Scientology. Tantriker sind keine fanatischen Sektenanhänger, sondern – in diesem Kontext – Menschen, die im Sex mehr sehen als flotte Lustbefriedigung, die Vertrauen und Hingabe entwickeln wollen, wozu es Zeit, viel Zeit braucht und, ja, auch neckische Sexspielchen und ausgedehnte Massageorgien und kamasutragleiche Stellungen, aber eben nicht nur. Olaf war also Tantriker, aber mit Susanne entdeckte er, dass Sex mehr war als östliche Philosophie. Mehr als ewig gleiches Zärtlichsein. Es konnte auch wild und leidenschaftlich werden. Und dann wieder blümchensexig. Oder verrucht unartig. Mit ihr war es jedes Mal neu und anders.
Susanne war noch bis vor kurzem eine stolze Frigide gewesen. Richtig Lust auf Sex hatte sie nie gehabt. Natürlich gehörte Sex dazu, aber sie konnte auch gut ohne. Hatte sie immer gedacht. In der Zeit vor Olaf. Seit der Stunde null, seit der ersten spontanen Nacht mit dem Physiotherapeuten ihres Vaters, brach sich die Leidenschaft in ihr Bahn, aber eben auch die Zärtlichkeit. Zum ersten Mal erlebte sie einen Orgasmus mit einem Mann. Ach was, Mehrfachorgasmen. Und zwar mehrfache Mehrfachorgasmen. Alles war multipel, wenn sie mit Olaf zusammen war.
Sie presste ihn fester an sich.
Olaf stöhnte.
Susanne stöhnte auch.
Die Matratze quietschte.
Das Kondom auch.
Olaf hatte – weil Susanne viel Nachholbedarf hatte und einen außerordentlichen sexuellen Appetit entwickelte – bei eBay ein Schnäppchenpaket mit Kondomen ersteigert: gemischtes Sortiment. Mit Noppen, mit Geschmack und normal.
Was er nicht wusste: Der Anbieter war ein gewisser Marco Z. aus Leipzig, der illegal zehntausend kaputte Verhüterli aus einem Ausschusscontainer des Herstellers Condomi gefischt hatte. Die Kondome waren bei einer der regelmäßigen Belastungsproben extremer UV-Strahlung ausgesetzt worden und dadurch porös geworden. Marco Z. glaubte, sich damit ein schönes Zubrot verdienen zu können, flog jedoch schon sehr bald auf, weil sich ein eBay-Nutzer beim Herstellerwerk in Thüringen erkundigte, ob es sich bei diesen Kondomen tatsächlich um echte Markenware handelte, auch wenn sie nicht in der üblichen Verpackung ausgeliefert worden waren, sondern immer zu zehnt in Tiefkühltüten mit Gefrierbrandschutz. Gummi-Gauner Marco Z. aus Leipzig wurde zu einer empfindlichen Geldbuße verurteilt. Aber das bekam Olaf im weit entfernten Baden-Württemberg nicht mit. Und selbst wenn, es war schon zu spät.
In diesen frühen Morgenstunden wurde im zweiten Stock des Seifferheldhauses in der Unteren Herrngasse zu Schwäbisch Hall neues Leben gezeugt.
Das Wunder der Schöpfung!
Für die einen ist es Klopapier,für die anderen die längste Serviette der Welt.
Katharina Runkel – Kiki für ihre Freundinnen – sah in den Spiegel. Sie fühlte sich wie eine zerfetzte Fliege auf der Windschutzscheibe des Lebens.
In drei Monaten wurde sie vierzig. Und die Zeit hatte es nicht gut mit ihr gemeint. Schön, die grauen Haare konnte man dank L’Oreal färben – das war sie sich wert. Aber das Gesicht? Ihre Stirn erinnerte ganz allmählich an eine Reliefkarte der Anden. Und ihre Mundwinkel hingen tatsächlich nach unten. Dabei war sie doch ständig am Lachen. Ihr Spitzname lautete »die Kichererbse«.
Kichererbse Kiki zog einen Schmollmund. So konnte das nicht weitergehen.
Es war ja nicht nur ihr Gesicht. Es war alles.
Fast vierzig – und was hatte sie vorzuweisen?
Ja gut, den Souvenirshop in der Blockgasse, den sie in fünf Minuten aufschließen würde. Aber der war ihr mehr oder weniger wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen, als ihre Tante, die den Laden aufgebaut hatte, an einem hässlichen Lungenleiden starb und ihr alles vermachte – nicht aus Liebe zu ihrer Nichte, sondern um die anderen Hinterbliebenen zu ärgern, die auf ein Erbe spekuliert hatten. Kiki war gewissermaßen in ein gemachtes Bett gekrochen. Und sie lebte gut davon. Der Nippes aus dem Laden – Solebonbons, Siederpuppen, Schwäbisch-Hällische Stofftierferkel – fand, zumindest in der Saison, also von Pfingsten bis zum Ende der Freilichtspiele, reißenden Absatz bei den Touristen.
Aber sonst? Sie hatte keinen Mann. Und auch keine Kinder. Nicht einmal einen Schoßhund.
Gut, sie hatte Lambert. Er rief sie nach Lust und Laune an, lud sich in ihre Drei-Zimmer-Wohnung über dem Laden ein und zog dann seine bewährte Macho-Nummer durch. Für ihn gab es nur eine einzige Stellung. Wie pflegte er zu scherzen? Liege ich oben, habe ich Höhenangst, liege ich unten, kriege ich Platzangst, liege ich auf der Seite, sehe ich nix im Fernseher! Folglich gab es ausnahmslos immer die Hündchenstellung. Variiert wurde nur die Stoßintensität. Er hatte ihr extra die Wände im Schlafzimmer mit Spiegeln auskleiden lassen, damit er sich dabei zusehen konnte. Und manchmal rief er mitten im Akt »von Bellingen, Lambert von Bellingen«. Früher einmal hatte sie das süß gefunden.
Früher hatte sie auch noch geglaubt, er würde seine Frau verlassen. Ja, das hatte sie wirklich und wahrhaftig geglaubt. Das Leben ist eben ein Klischee.
Und dann … war es irgendwann Gewohnheit geworden. Etwas, was man macht, weil man sich nichts anderes mehr vorstellen kann. Glücklich war sie damit nicht. Doch wer würde sie jetzt noch haben wollen, so, wie sie aussah? So alt?
Kiki zog mit den Daumen die Wangen und mit den Mittelfingern die Stirn nach hinten.
Schon besser. Wenn sie sich dazu noch die Lippen aufspritzen ließ? Hm. Sie drehte sich vor dem Spiegel. Ihre Figur ging noch als die einer Mittzwanzigerin durch, nicht zuletzt wegen der regelmäßigen Besuche im Ladyfitness-Studio. Nur das Gesicht fiel total ab. Da musste sie dringend was unternehmen.
Dringend!
Und danach würde sie Lambert in den Wind schießen und sich endlich etwas Wahrhaftiges suchen. Jemand, der vielleicht nicht ganz so reich und nicht ganz so prominent im Landkreis Hall war, der ihr aber ganz allein gehörte. Nicht nur privatim, auch öffentlich.
Aus Frosch Lambert würde niemals ein Prinz werden. Es war höchste Zeit, aus seinem Tümpel zu verschwinden und sich als strahlende, magisch verjüngte Prinzessin auf den Weg zu neuen Froschteichen zu machen.
Jawohl!
Lieber viele Schulden als gar kein Geld
Er fühlte sich, als sei er beim Eisfischen im Eishockeystadion von der Eisputzmaschine platt gewalzt worden.
»Herr von Bellingen, haben Sie mich verstanden?« Der Anwalt legte die Stirn in Falten. »Es geht nicht länger um mangelhafte Liquidität. Wir sprechen von akuter Zahlungsunfähigkeit!«
Konstantin von Bellingen, von allen nur Konzi genannt, schien über seinem Nespresso Livanto Grand Cru mit Maronencremearoma in eine tiefe Zen-Meditation gefallen zu sein.
Da war er also, der Moment, den er seit Monaten gefürchtet hatte. Nun ja, nicht gefürchtet – wovor auch fürchten, ein von Bellingen fiel wie eine Katze immer auf die Beine. Aber er hatte diesem Moment doch mit einem gewissen säuerlichen Magenbrennen entgegengesehen.
»Herr von Bellingen, haben Sie gehört, was ich gesagt habe?« Der Anwalt sah ungeduldig auf seine Armbanduhr. Zwar wurde er nach Stunden bezahlt, aber so, wie es aussah, würde Konstantin von Bellingen ihn demnächst gar nicht mehr bezahlen können.
»Ich habe doch Außenstände …«, fing Konzi an.
»Die aber in absehbarer Zeit nicht hereinkommen werden. Ab übernächstem Monat können Sie Ihren Zahlungsverpflichtungen nicht länger nachkommen. Wir haben keine andere Wahl – wir müssen Insolvenz anmelden.«
Konzi grummelte. Wieso passierte das ausgerechnet ihm? Warum dankte ihm das Schicksal nicht, dass er sich in Erfüllung seiner Pflicht selbstlos aufopferte? Er hatte den Familienforst weitergeführt, obwohl er sich seit frühester Jugend zum Maler berufen fühlte. Sein älterer Bruder Lambert, dessen Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, den Familienbetrieb zu leiten, tummelte sich ja lieber im Landtag. Es reichte eben nicht, dumm zu sein – man musste auch in die Politik gehen.
Und so hatte Konzi dem Vater auf dem Totenbett schwören müssen, dass er sich um die Verwaltung der Bellingschen Ländereien und des Forstbetriebes kümmern würde. Was Unsinn war. Er fühlte sich an diesen Schwur auch nicht gebunden, aber mittlerweile hatte er den Anschluss an die Kunstwelt verloren. Er musste zweigleisig fahren, bis er für seine großformatigen Öl- und Aquarellbilder einen, besser zwei gute Galeristen gefunden hatte. Ab nächster Woche hatte er eine Einzelausstellung im Hällisch-Fränkischen Museum, kurz HFM. Im dortigen Wintergarten würde er sechs Wochen lang seine neuesten Werke der Öffentlichkeit präsentieren. Vielleicht kam auch der hiesige Schraubenmilliardär und Kunstmäzen Reinhold Würth vorbei und kaufte ein Bild für seine legendäre Kunstsammlung. Dann endlich würden die Medien auf KonziBel aufmerksam werden, wie er seine Werke zu signieren pflegte. Diese Ausstellung stellte einen wichtigen Schritt in Richtung seiner neuen, seiner eigentlichen Karriere dar. Sie läutete eine Zeitenwende ein. Darüber hatte er allerdings ein wenig das Geldeintreiben vernachlässigt. Würden ihm diese Außenstände jetzt das Genick brechen? So kurz vor seinem Durchbruch als Künstler?
»Ich finde Insolvenz nicht so gut«, bemerkte Konzi.
Die Augen des Anwalts, zwei schwarze Briketts, verrieten nicht, welche Gedanken durch die Windungen seines Gehirns schossen. Ist der als Kleinkind auf den Kopf gefallen? Wurde der versehentlich lobotomiert? Nein, es waren einfach nur zwei ausdruckslose schwarze Augen über einem Mund, der jetzt sagte: »Sie haben natürlich recht, eine Insolvenz ist bedauerlich. Aber sie ist auch eine Chance. Mit Hilfe eines Insolvenzberaters kommt Ihr Betrieb vielleicht noch einmal auf die Beine.«
»Aber es fehlen doch nur fünfzigtausend Euro«, hielt Konzi dagegen. Das waren doch gerade mal zehn TAG-Heuer-Carrera-Uhren oder eine fette Patek Philippe Nautilus mit Brillantziffernblatt. So etwas trug sein Bruder Lambert täglich am Handgelenk. Sein Bruder, der gemäß dem Motto lebte: Spare in der Schweiz, dann hast du in der Not. Sein Bruder, der sich von der Wirtschaft schmieren ließ, um bei Abstimmungen im Landtag zu wissen, wie er zu wählen hatte, weil er von allein nicht darauf kommen würde. Sein Bruder, der diese verdammte Forstwirtschaft, die seine Familie nun schon in x-ter Generation betrieb, nur insofern mitbekam, als er hin und wieder zu nachtschlafender Zeit – zuletzt an diesem Morgen – Konzi am Handy anbrüllte, er solle diesen oder jenen Baum fällen lassen, und zwar pronto, kein normaler Mensch könne sonst Fasane schießen.
Genau. Dieser sein Bruder Lambert. Der könnte ihm das Geld doch vorschießen.
»Und wenn ich in den nächsten Tagen an fünfzigtausend Euro herankäme?«, fragte Konzi den Anwalt mit den Brikettaugen.
»Dann ließe sich eine Insolvenz fürs Erste umgehen. Ich denke aber dennoch …«
»Sehr gut, dann verbleiben wir so!« Konzi freute sich. Fürs Erste genügte ihm vollends. Er musste nur bis zum Ende seiner Ausstellung im HFM durchhalten. Mit jeder Faser seines Körpers spürte er, dass er dort als Künstler entdeckt werden würde. Von einem Sammler. Einem Galeristen. Einem Kunstjournalisten. Das HFM war nur der erste Schritt, dann kam die Stuttgarter Staatsgalerie und anschließend das Metropolitan Museum of Modern Art in New York. Konzi strahlte verklärt.
»Die Banken werden Ihnen nichts mehr vorschießen«, warnte der Anwalt.
»Das ist auch nicht nötig.« Konzi lächelte ihn von oben herab an. Gleich darauf lächelte er in sich hinein. »Ich kriege das Geld von Lambert. So oder so …«, murmelte er in seinen nicht vorhandenen Bart.
Womöglich lag es an ebendiesem nicht vorhandenen Bart, dass der Anwalt jedes seiner Worte mitbekam und in seinem Herzen bewahrte, wo er sie einige Tage später herausholte und sie gegen seinen Mandanten verwendete.
Anwaltsehre – auch nicht mehr das, was es noch nie war.
Ein Mammaplastiker packt aus.
Vorsichtig entfernte er die weiße Gaze. Höchstselbst wickelte er die beiden Kugeln aus: gigantisch, prall, zum Reinbeißen! Und unwillkürlich stockte ihm der Atem, als er die beiden rosigen Weltwunder, die er geschaffen hatte, schlussendlich freilegte. Ja, diese Brüste waren Perfektion in Vollendung. Superb. Das Beste vom Besten.
Und er hatte sie geschaffen, er, Dr.Arnfried Kolb, plastischer Chirurg. Die Götter waren in diesem Moment bestimmt neidisch. Solch eine Vollkommenheit gab es in der Natur nicht.
»Sieht sehr gut aus«, sagte er folglich zu seiner Patientin. Ihren Namen wusste er nicht. Er hätte auf dem Krankenblatt nachsehen können, aber wozu. Es reichte, dass er diesen beiden vollkommenen Busen einen Namen gegeben hatte: Der linke hieß Adam, der rechte Eva. Die Ersten ihrer Art.
»Sie haben mich zu einer glücklichen Frau gemacht«, flötete der Kopf über den Brüsten.
Kolb sah nicht hoch, nickte nur, wie man angesichts einer Selbstverständlichkeit nickt.
Es war wirklich das erste Mal gewesen. Ein Akt der Schöpfung aus dem Nichts heraus.
Nach gefühlten einhunderttausend Silikonimplantaten hatte Kolb an dieser Namenlosen mit der Blockflötenstimme zum ersten Mal eine Brustvergrößerung unter Verwendung körpereigenen Fettgewebes durchgeführt. Eine Sensation. Aus ihrem Knochenmark isolierte Stammzellen hatte er in einer Schablone aus biologisch verträglichem Material zum Wachstum stimuliert. Das so entstandene Gebilde aus gepflanztem Fettgewebe stellte eine sichere Alternative zu Silikonimplantaten dar und barg nicht das Risiko eines Implantatbruchs.
Genial, wenn es denn schon legal wäre. Aber bislang war es in Deutschland nur an Mäusen getestet worden. Und das auch nicht am Diakoniekrankenhaus zu Schwäbisch Hall, wo er als plastischer Chirurg tätig war und in erster Linie irgendwelchen Hohenloher Bauern die bei der Feldarbeit abhandengekommenen Daumen wieder annähen musste, sondern in der Charité in Berlin, wo man seine Bewerbung seinerzeit abgelehnt hatte.
Kolbs brillanter Versuch an einem Menschen weiblichen Geschlechts würde daher vorerst geheim bleiben müssen. Zu schade. Er sah sein Konterfei schon auf allen relevanten Wissenschaftsmagazinen. Und auf der BILD-Zeitung, neben dem Nackedei des Tages, dessen Brüste selbstverständlich er, Arnfried Kolb, modelliert haben würde.
»Wie schön!«, seufzte er unwillkürlich bei diesem herrlichen Zukunftsgedanken.
»Ja, das findet mein Detlef auch«, frohlockte die Namenlose.
Kolb sah ihr ins Gesicht. An einem Tag wie heute war er gewillt, selbst niedrigen Kreaturen das Gefühl der Existenz zu vermitteln. »Das freut mich«, log er daher nonchalant.
Was für ein wunderbarer Tag, dachte er. Nichts, dachte er weiter, konnte an einem solch spektakulären Tag schiefgehen.
Und ganz bestimmt haben die Götter in diesem Moment sehr fröhlich über diesen Gedanken gelacht …
Ist Ihr IQ eine Primzahl?
Die beiden dunkelhaarigen Männer saßen tief über ihre Teller gebeugt und führten die Löffel mit ihrem Nationalgericht zum Mund. Sie hatten einen Migrationshintergrund und waren in dieser Gegend nicht gern gesehen. Das wussten sie, aber es kümmerte sie nicht. Für den Fall, dass es Ärger geben sollte, hatten sie ihre Bodyguards dabei. Diese blöden Berliner konnten sie mal kreuzweise.
Anfangs löffelten die beiden CDU-Politiker aus dem Schwäbischen ihre Maultaschensuppe noch schweigend, kümmerten sich einen Dreck um die Blicke der schwabenhassenden Berliner Anwohner, die in ihrer Stammkneipe lieber unter sich geblieben wären. Schwaben waren gerade hier im Helmholtzkiez nicht gut gelitten. Auch das Stadtmagazin Zitty hatte in seiner neuesten Ausgabe mal wieder dem Antischwabismus gefrönt, hatte für schlichte Gemüter ausgiebig das Feindbild »Schwabe« aufgebaut und die Angst vor »Überfremdung durch pietistische Spätzleschaber« geschürt. Es sprach scheinbar so viel gegen diese Äquatorflüchtlinge: Wo Berliner mühsam Häuser besetzten, kauften die Schwaben sie einfach. Die Schwaben frönten außerdem einem Sauberkeitsfimmel, waren schaffige Workaholics und redeten höchst eigenartig. Wenn ein Berliner zwischen einem Schwaben und einem Türken wählen dürfte, dann würde er jederzeit den Türken nehmen. Ganz klar. Aber diese Frage stellte sich im Moment nicht. Es war nämlich weit und breit kein Türke in Sicht. Nicht einmal ein Österreicher, was ja nahe dran gewesen wäre. Nein, es gab nur diese beiden Schwaben am hinteren Ecktisch.
Der ältere der beiden Schwaben – mit beachtlichem Bierbauch unter dem Hugo-Boss-Anzug – legte den Löffel beiseite und schwäbelte: »D’r Lambert von Bellingen isch undragbar worda.« (Übersetzung für Nicht-Schwaben: Dieser Lambert von Bellingen ist untragbar geworden.)
Der Jüngere – feingliedrig, aber auch in Hugo Boss – nickte und löffelte weiter. Gut, dass sie hier nicht in China waren, wo man mit dem Essen aufhören musste, sobald der Älteste am Tisch fertig war.
Der Ältere fuhr fort (hier gleich in übersetzter Fassung): »Wie Sie wissen, will ich mich demnächst der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden stellen, bis dahin muss dieses Problem aus der Welt geräumt sein. Ich will mich nicht vor der Presse dafür verantworten müssen, warum so einer wie dieser von Bellingen, so ein korrupter, gewissenloser Hurenbock, nicht schon längst aus der Partei ausgeschlossen worden ist. Was ich mich im Übrigen selbst frage, wann immer ich diesen Saudackel, diesen Lumpensack, diesen Jenseitsbachel zu Gesicht bekomme.« Er tupfte sich mit der Leinenserviette den Mund ab.
Der Jüngere zerteilte seine letzte Maultasche mit dem Löffel. Etwas Brühe spritzte auf die Krawatte mit dem Emblem seiner Tübinger Burschenschaft. Er rieb sie sofort mit seiner Serviette sauber.
»Ich kann mich doch auf Sie verlassen?«, fragte der Ältere.
»Absolut. Ich habe da so meine Methoden. Meine Lufthansamaschine nach Stuttgart geht um vier. Heute Abend bin ich bereits mit ihm verabredet.«
»Gut. Sehr gut. Je eher das geklärt wird, desto besser!« Der Ältere winkte dem Kellner. »Noch zwei Schorle weiß-sauer.«
Der Wirt, der in Personalunion auch der einzige Kellner der Eckkneipe war, nickte freundlich. Er kam aus Halle an der Saale. Preußen. Junkerland. Wenn das Trinkgeld stimmte, bediente er auch Schwaben und setzte sogar Maultaschen auf die Speisekarte.
Da war er tolerant.
Wie bringt man Fruchtfliegen den Formationsflug bei?
Als Normalmensch denkt man ja immer, reiche Erben gebe es nur im Film. Oder in Monaco. Weit gefehlt. In Schwäbisch Hall wimmelte es von ihnen: Kinder, Enkel, Urenkel von Unternehmern und Erfindern und Häuslebauern, die sich der lästigen Aufgabe widmen mussten, sich eine berufstätige Fassade aufzubauen, damit keiner merkte, dass sie reiche Erben waren. Ein reicher Erbe zu sein hat im Schwäbischen ein Gschmäckle. Man hatte sich sein Vermögen gefälligst selbst zu erschaffen. Deswegen hatten reiche Erben irgendwie auch immer ein schlechtes Gewissen.
Aber wenn man lange genug an der Fassade feilte und regelmäßig jammerte, wie schwer im Job alles war – wobei man den Job nie näher definierte –, dann glaubten es einem die Leute mit der Zeit und waren bass erstaunt, wenn die Tarnung doch irgendwann aufflog. Falls dieser Tag kam, konnte man immer noch jammern, wie aufwendig es beispielsweise war, die vielen Mietshäuser zu verwalten oder der Verwaltungsgesellschaft, die sich um die Mietshäuser kümmerte, auf die Finger zu schauen. Das Leben war für niemand ein Zuckerschlecken!
Klaus – 45, lockenköpfig, dauerlächelnd – den alle Kläuschen nannten, weil sein Lebenszweck nicht Borstenvieh und Schweinespeck, dafür aber Päuschen waren – kümmerte derlei nicht. War er eben ein reicher Erbe, so what? Die musste es auch geben. Im Tierreich hatte ja auch alles und jedes seine Existenzberechtigung. Es gab Nasenaffen, Anglerfische, Würgefeigen und ihn, Klaus.
Klaus besaß ein Loft mit Blick auf das Globe-Theater und die dahinterliegende malerische Altstadtkulisse von Schwäbisch Hall. Seit er Vollwaise war, also seit ungefähr fünf Jahren, teilte er sein Leben nur noch mit Mimi, der aufblasbaren Gummipuppe.
Als Haustiere hielt er sich Fruchtfliegen – den Gegebenheiten folgend, nicht ursprünglich aus freiem Willen –, und sein hehres Ziel war es, diesen possierlichen Tierchen den Formationsflug beizubringen. Er wusste natürlich, dass der durchschnittlichen Fruchtfliege nur ein äußerst kurzes Leben beschieden war, aber er hegte die feste Überzeugung, dass sich irgendwann das Wissen um den Flug in Pfeilformation von der Schale mit den gammeligen Äpfeln zum überquellenden Mülleimer mit den heraushängenden Bananenschalen ins genetische Material der Fliegen einbrennen und dann auf ewig in allen nachfolgenden Generationen als Ur-Wissen vorhanden sein würde.
Da die Tierdressur anstrengend war, sah man Klaus tagsüber des Öfteren in Haller Cafés herumhängen, wo er als selbsternannter Espressotester lässig an den Theken lehnte: im Amici, in Harrys Bar, in der Suite 21.
Nein, es war wirklich kein Zuckerschlecken, sein Dasein als reicher Erbe zu fristen, aber einer musste es ja tun.
Ich rede nicht zu schnell, du hörst zu langsam zu!
Ärger im Paradies.
Jahrzehntelang war Ex-Kommissar Siegfried Seifferheld verheiratet gewesen, nicht glücklich, aber in Freundschaft verbunden. Nachdem seine Frau an Krebs gestorben war, hatte er sich in seiner Arbeit als leitender Ermittler der Schwäbisch Haller Mordkommission vergraben. Dann kam der verhängnisvolle Schuss in die Hüfte bei einem Banküberfall – dabei war er damals gar nicht im Dienst gewesen, hatte den Überfall nur zufällig als Privatmensch miterlebt. Und dann, als Vorruheständler, hatte er lange Zeit geglaubt, sein Leben sei gelaufen. Er war alt und invalide. Das war’s. Abgehakt. Aus und vorbei.
Doch dann war MaC in sein Leben getreten. Marianne Cramlowski, Österreicherin. Arbeitete als Journalistin für das Haller Tagblatt, daher das Kürzel MaC. Eine Frau, mit der man Pferde stehlen konnte. Aber nicht wollte, weil es sehr viel schöner war, bei ihr zu Hause auf der Couch zu sitzen und ihre Hand zu halten. Oder sie einfach nur anzuschauen, während sie fernsah und dabei Nougatpralinen naschte, was sie ungeheuer gern tat und an ihrem Körper zu den entzückendsten Rundungen geführt hatte. Seifferheld liebte jedes einzelne Kilo an ihr. Ein spätes Glück.
Manche Menschen treten in unser Leben und sind schnell wieder daraus verschwunden. Andere bringen unsere Seele zum Tanzen. Durch ihr Dasein wird die Sonne strahlender, die Sterne werden funkelnder, das Leben wird sinnträchtiger. Wir hoffen, dass sie lange – sehr lange – in unserem Leben bleiben und ihre Fußspuren auf unserem Herzen hinterlassen. Und sollten sie doch eines Tages nicht mehr Teil unseres Lebens sein, werden wir nie mehr so sein wie zuvor.
Für Seifferheld war MaC so ein Mensch. Er wähnte sich im Paradies auf Erden. Es machte ihm daher nicht einmal etwas aus, als sie vorschlug, gemeinsam eine Busreise zu unternehmen.
»Ich sehe dir doch an, was du denkst. Du denkst, es wäre so eine Abzocke, wo man in einem allzu engen Bus mit unbequemen Sitzen für wenig Geld an den Gardasee gekarrt wird, um dort drei Tage am Stück einem Heizdeckenverkäufer zu lauschen, und erst dann etwas zu essen bekommt, wenn man ein vierundzwanzigteiliges, blattvergoldetes Fischbesteck erstanden hat.« MaC strich ihm eine widerspenstige Haarlocke aus dem Gesicht.
Seifferheld war sehr stolz auf sein noch weitgehend volles Haupthaar. »Also …«, fing er an.
»Heutzutage ist das ganz anders«, unterbrach sie ihn. »Äußerst bequeme Busse, pfiffige Reiseleitung, ungemein schöne Hotels.« MaC hielt ihm drei Prospekte von Haller Busunternehmen vor die Nase.
»Aber meine Hüfte«, hielt er dagegen, »ich kann nicht so lange sitzen.«
»Das ist ja der große Vorteil: Im Bus kannst du jederzeit aufstehen und ein paar Schritte auf und ab gehen!«
Seifferheld zierte sich noch ein wenig. »Das machen doch nur alte Leute.« Und alt waren ja immer nur die anderen.
»Hast du eine Ahnung! Bustouren gibt es heute zu den angesagtesten Locations! Ich wette, du wirst mit Abstand der Älteste im Bus sein. Wir kommen auch an der Villa von George Clooney vorbei. Der Bus wird also brechend voll mit Clooney-Anbeterinnen sein. Willige Geschöpfe, die Trost suchen werden, wenn sie ihren Helden doch nicht zu Gesicht bekommen sollten. Du wirst dir jede Menge Appetit holen können, aber gegessen wird bei Mama!« MaC hauchte ihm einen anzüglichen Kuss auf die Stirn. »Denn um Geld zu sparen, nehmen wir uns im Hotel selbstverständlich ein Doppelzimmer.«
Das gab den Ausschlag.
Von da an herrschte nur noch Vorfreude. Auf den Gardasee. Mehr aber auf MaC. Im Doppelbett.
Alles war eitel Sonnenschein.
Bis sie vor dem Reisebüro standen, direkt neben der Bushaltestelle. In einer Viertelstunde würde das Reisebüro schließen, aber MaC brauchte dringend einen Kaffee. Sie war ein Hardcore-Kaffeejunkie: Wenn sie sich schnitt, floss Dallmayr Prodomo aus ihren Adern, kein Blut. »Soll ich dir aus der Bäckerei ein Croissant mitbringen?«, fragte MaC, weil sie wusste, wie sehr er Croissants liebte. Und weil sie wollte, dass er im Reisebüro den Mund voll hatte und mit Kauen beschäftigt war, dann würde er beim Arrangieren der Reise nicht mit Zwischenrufen stören.
Seifferheld nickte.
Und sah ihr nach, wie sie die paar Schritte zur Bäckerei ging. Ihre derzeit kastanienbraunen Locken wippten bei jedem Schritt. Unter der Strickjacke wogte ihr praller Po.
Seifferheld seufzte wohlig auf.
Und wurde urplötzlich von zwei Händen mit langen roten Fingernägeln gepackt, die seinen Kopf nach unten zogen. Fleischige rote Lippen, die nach Zucker schmeckten, pressten einen Kuss auf seinen erstaunt aufklappenden Mund.
»Du sein mein Held!«, hauchte eine mädchenhafte Stimme. Weit aufgerissene philippinische Augen blinzelten ihm verschwörerisch zu. »Du gefunden Mörderin von Rudi. Du wunderbar! Wenn du einmal zu mir kommen, du kriegen Rabatt. Ehrewort!«
Die junge Philippinerin in dem hautengen roten Minikleid trug nicht nur eine Blume im Haar, sie war auch eine Blume. Eine Blume der Nacht, um genau zu sein. Rudi war ihr Lieblingsfreier gewesen, und Seifferheld hatte die Frau überführt, die nicht nur Rudi, sondern noch eine Handvoll weiterer Haller Männer im besten Alter – also potenzielle Kunden der grazilen Philippinerin – ermordet hatte. So eine Tat durfte nicht unbelohnt bleiben! Das exotische Wesen drückte ihm noch einen Kuss auf den Mund. »Du kommen bald, ja?«
Sie lag zwar mit der Staatsmacht im Clinch und ärgerte sich sehr, dass Hotels für Übernachtungseinnahmen jetzt weniger Mehrwertsteuer zahlen mussten als sie – da sie doch auch Übernachtungsgäste hatte, und wo war da bitte der Unterschied? –, und nicht zum ersten Mal nahm sie sich vor, nicht weiter als einzige Nutte der Stadt Mehrwertsteuer abzuführen, aber wenn es einen Vertreter der Exekutive gab, dem sie sich zu gern in Naturalien erkenntlich zeigen wollte, dann ihn hier, diesen nicht mehr ganz jungen, aber markant aussehenden und selbstlos agierenden Ex-Kommissar Seifferheld. »Ich mich freuen auf dich!«
Kichernd zog sie ab. Seifferheld sah ihr nach, wie sie mit gekonntem Hüftschwung zwischen Fischgeschäft und Schmuckladen in die Sporersgasse bog.
Als er sich wieder umdrehte, stand sie vor ihm: die Göttin der Rache. Nicht in der altgriechischen, sondern in der modernen österreichischen Variante. Mit finster funkelnden Augen und fest zusammengepressten Lippen.
MaC!
»Ich kann dir das erklären«, stammelte Seifferheld und merkte noch beim Reden, dass reden hier nicht half. Er musste MaC in seine Arme reißen und ihr mit einem Kuss beweisen, dass seine ganze Hingabe nur ihr galt, ihr allein. Er streckte die Arme aus.
Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ihm die Gehhilfe weggekickt. »Bäh, du hast den Lippenstift einer Fremdfrau auf den Lippen. Desinfiziere dich erst mal!« MaC hielt ihn auf Armeslänge von sich entfernt.
»Ich kenne diese Frau rein beruflich«, verteidigte sich Seifferheld.
»Schon klar«, zischelte MaC. »Rein beruflich. Deswegen hat sie dich auch nur rein kollegial mit Zunge geküsst.«
Die Zungen waren nun wirklich nicht zum Einsatz gekommen, aber einen sinnstiftenden Dialog würde es jetzt und hier nicht geben können. Seifferheld suchte und fand eine Ablenkungsfrage. »Hast du mein Croissant?«
»Croissants waren alle.« MaC verschränkte die Arme vor der Brust.
Hinter ihr, in der Auslage der Bäckerei, türmten sich die Croissants. Seifferheld sagte nichts.
MaC blies sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht. »Ich spüre, wie meine Migräne kommt. Außerdem muss ich in die Redaktion. Unser Neuer, der Kalle, hat zum ersten Mal Wochenenddienst. Wir buchen die Busreise ein anderes Mal. Einen schönen Tag noch.« Sie stapfte in Richtung Milchmarkt davon. Extrem schnell, weil sie wusste, dass er ihr mit seiner Gehhilfe so schnell nicht würde folgen können.
Seifferheld sah ihr nach und verstand die Welt nicht mehr.
Da klopfte ihm eine feiste Männerhand markig auf die Schulter. »Siggi, alter Kumpel. Lust auf einen Espresso? Geht auf mich!«
Kläuschen lud ihn zu einem Päuschen ein.
Seifferheld seufzte.
Man kann nie zu reich, zu dünn oder zu gut verheiratet sein.
Sissi von Bellingen räkelte ihren makellosen Körper auf einer der Liegen am Pool des Shiseido Day Spa, hoch über den Dächern von Stuttgart.
Um ein paar Runden zu schwimmen, für Pediküre und Maniküre und Thalasso-Gesichtspackung hätte sie nicht extra in die Landeshauptstadt fahren müssen. Das gab es in Schwäbisch Hall alles auch. Aber sie gehörte zur Crème de la Crème der Stadt, zu den oberen Zehntausend (auch wenn es genauer gesagt nur die oberen Fünfzig, allenfalls Hundert waren), und da legte man sich nicht im heimischen Solbad auf die Liege neben die Fachverkäuferin von der Wursttheke der Bäuerlichen Erzeugergenossenschaft, wenn die ihren freien Tag hatte. Man wollte auch tunlichst vermeiden, dass die Fußpflegerin in einem schwachen Moment, womöglich unter Einfluss von Räucherstäbchengasen, Gott und der Welt und den Pedikürebedürftigen der Stadt von den eingewachsenen Zehennägeln und dem hartnäckigen Hornhautproblem an der Bellingschen Ferse erzählte. Nein, man fuhr in die nächste Großstadt und genoss die Anonymität.
»Hier ist Rauchen verboten«, warnte Fippa von Sölln auf der Liege neben ihr mit Piepsstimme.
Sissi warf ihr einen müden Blick zu. »Ja und?«
Das Leben meinte es nicht gut mit Sissi. Und das wollte sie dem Leben heimzahlen. Oder doch wenigstens den Betreibern des Shiseido Day Spa.
»Ich bin deprimiert«, erklärte sie ihrer besten Freundin. Fippa hieß eigentlich Philippa und war eine echte Adlige. Wohingegen sie, Sissi, als Elisabeth Klemmnagel auf die Welt gekommen war und nur durch Verehelichung mit Lambert von Bellingen zum »von« gekommen war. Allerdings kein echtes »von«, sondern ein von Lamberts Ururgroßvater vom Kaiser erkauftes. Na ja, danach fragte heutzutage keiner mehr.
»Wieso deprimiert?«, fragte Fippa und fächelte mit der flachen Hand die Zigarettenrauchschwaden an sich vorbei.
»Mein Mann ist ein Depp!«, erklärte Sissi.
Das war ja nun nichts Neues und auch nichts wirklich Weltbewegendes. Das sprach Fippa aber natürlich nicht aus. Sie mimte Überraschung. »Echt? Nein!«
»Doch! Seit Jahren verspricht er mir, dass wir demnächst nach Berlin ziehen. Aber ich sitze immer noch in der Provinz fest.« Sissi paffte Rauchzeichen.
Die hauseigene Kosmetikerin kam angelaufen und wedelte mit den Händen Sissis Rauchzeichen auseinander. »Gnädige Frau, bitte verzeihen Sie, aber zum Rauchen müssen Sie auf den Balkon hinaus.«
»Keine Lust«, grummelte Sissi.
Sie und die Kosmetikerin starrten sich an.
Die Blicke zogen sich in die Länge.
Kein Trinkgeld, besagte der Blick von Sissi.
Ich lass meinen Chihuahua in dein Fußbad pinkeln, frohlockten die Augen der Kosmetikerin.
»Sonst noch etwas?«, klirrte Sissi mit eisiger Stimme. »Nein? Dann dürfen Sie gehen. Ich komme zur Pediküre, sobald ich so weit bin.«
»Wie Sie wünschen, gnädige Frau.« Die Kosmetikerin zog ab. Unterm Strich würde sie gewinnen. Sie und Chichi.
Und während sich draußen ein Miniaturhund – bis zum Bauch in lauwarmem Schaumwasser stehend – erleichterte, jammerte sich Sissi von Bellingen ihren Kummer von der Seele.
»Wieso habe ich Lambert nur geheiratet? Ich bin Luft für ihn. Er lebt ausschließlich für seine Politikerkarriere. Die kommt aber nicht in die Gänge. Weil er nämlich nicht mit Menschen kann. Für den wird das Wort Loyalität doch zum Fremdwort, sobald er sich vom Spiegel wegdreht. Den Sprung nach Berlin kann er sich abschminken. Der dilettiert bis zu seinem Ende hier im Landtag herum. Ich krieg’ das Kotzen.«
Letzteres glaubte Fippa ihr sofort. Es hatte einen Grund, warum Sissi Kleidergröße 34 trug. Und die Schwielen an Sissis rechtem Zeige- und Mittelfinger sprachen Bände.
Aber dass Sissi trotz ihrer Magerkeit Körbchengröße D besaß und sie sowohl am Ringfinger als auch im Bauchnabel und in den Ohrläppchen die Mehrkaräter eines angesagten Pforzheimer Luxusjuweliers trug, hatte sie allein Lambert zu verdanken, weswegen diese Tirade ganz sicher nicht mit den Worten »Ich verlasse ihn!« enden würde.
So wie Lambert Sissi nie verlassen würde – in seiner Partei war Scheidung immer noch eine böse Sache und nur im alleräußersten Notfall gerechtfertigt, will heißen, wenn die Geliebte schwanger wurde.
»Vielleicht schafft er es ja hier im Ländle zum Minister«, versuchte Fippa, ihre Freundin zu trösten. »Womöglich gar zum Ministerpräsidenten.«
»Ach hör doch auf«, fauchte Sissi. »Und selbst wenn, was habe ich davon? Dann wohnen wir einfach nur auf dem Killesberg in Stuttgart anstatt auf dem Klingenberg in Schwäbisch Hall. Und auf diese lächerliche Ministerpräsidentenvilla auf der Solitude pfeif ich doch! Soll es das etwa schon gewesen sein?«
Sissi strebte nach Höherem. Kanzleramt, besser noch Villa Bellevue. Oder am besten das Weiße Haus. Ziemlich verwegen, fand Fippa, der alles Ehrgeizige fremd war und die den Charme einer Kleinstadt wie Schwäbisch Hall sehr viel verlockender fand als die kalte Seelenlosigkeit einer angesagten Metropole.
»Weißt du, ich habe Angebote …« Sissis Stimme verlor sich.
»Angebote?«, hakte Fippa nach und konnte endlich ihre Hand sinken lassen, weil Sissi ihren Zigarettenstummel in hohem Bogen in den Pool geschnippt hatte und es folglich keine Rauchschwaden zum Wegwedeln mehr gab.
»Von Männern.« Sissi zuckte mit den knochigen Schultern. Gegen sie war Victoria Beckham ein draller Moppel. »Von äußerst interessanten Männern.«
Fippa nickte. Sissi und sie waren das typische Freundinnenpaar: die aufregende Society-Schönheit und ihre mausgraue, hässliche beste Freundin, die sie sich nur deshalb ausgesucht hatte, weil sie neben ihr umso mehr glänzen konnte.
Fippa hatte keine Angebote, nie gehabt. Auf einer Familienfeier auf Schloss Sölln hatte sie einst die Trunkenheit eines Cousins dritten Grades ausgenutzt und ihm mehr oder weniger gegen seinen Willen ihre Jungfräulichkeit geschenkt. Und seit drei Jahren war sie nun mit Rudolf verlobt, einem weiteren Cousin x-ten Grades, der eine wandelnde Aknenarbe war und stotterte, für den sie aber die Liebe seines Lebens verkörperte – und es ist für eine Frau nicht das Schlechteste, mehr geliebt zu werden, als selbst zu lieben. Vor allem, wenn sie von einem stinkreichen Adligen mit mehreren Aufsichtsratssitzen geliebt wurde. Fürs Herz hatte sie ja ihren heimlichen Gelegenheitslover, der sie schon beglückte, wenn sie nur an ihn dachte.
Sissi klagte ununterbrochen weiter. »Weißt du noch, auf der letzten Vernissage in der Kunsthalle Würth? Dieser Frankfurter Banker? Mit dem habe ich mich schon zwei Mal getroffen. Der würde seine Frau sofort für mich verlassen. Und der Medienfuzzi aus Potsdam? Ich kriege täglich eine SMS von ihm.« Sissi seufzte. Blöderweise war es ihr größter Traum, Ministergattin zu werden. Aber von Politikern bekam sie nie Angebote. Man schlief nicht mit der Frau eines Kollegen. Das kam in der Presse total schlecht, falls es je auffliegen sollte.
Nein, wenn sie einen neuen Politiker wollte, einen anderen und besseren und aussichtsreicheren, musste zuerst Lambert weg.
Aber wie?
Sissi seufzte.
Die ganze Welt ist eine Bühne – aber manche von uns spielen auf den Brettern, die die Welt bedeuten, keine Hauptrolle, auch keine Nebenrolle, sondern fegen die Bretter nach der Vorstellung nur sauber …
»Also, Leute, wir brauchen einfach mehr Abonnenten, sonst sieht es mau aus. Gebt alles!«
El Presidente, wie der Chef des Theaterrings von allen genannt wurde, nickte seinen Freiwilligen aufmunternd zu.
Die TMG, die Touristik- und Marketinggesellschaft Schwäbisch Hall, hatte sich zur Bespaßung der Bürger mal wieder etwas einfallen lassen und einen Mittelaltermarkt in die Stadt gelockt. Gaukler und Stelzenläufer und Spielleute und viel fahrendes Volk tummelten sich zwischen Schulgasse, Hafenmarkt und Sparkassenplatz, boten Waren feil oder ergötzten das Volk neben lodernden Feuerkörben mit allerlei närrischen und akrobatischen Kunststücken.
Und zwei Stunden lang würden sich Freiwillige des Theaterringes unter die Menschenmassen mischen, um Werbung für das anstehende Stück Doktor Faustus zu machen, mit dem das Theaterschiff Dresden derzeit auf Tournee durch ganz Deutschland war und dabei auch Station im Schwäbisch Haller Neubausaal machen wollte. Leider wussten immer noch viel zu wenig Haller, was für spannende und unterhaltsame Stücke der Theaterring auf die Bühne holte. Wer in Hall an Theater dachte, dachte an die Freilichtspiele. Dem musste abgeholfen werden!