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Norman Liebold

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Beschreibung

Verrückte werden durch Bluetooth-Headsets resozialisiert. Förster führen zum Schutz der Wälder die Politik Jahrzehnte in die Irre. Eine neue Sklavenschicht vegetiert in unsichtbaren Stadtteilen Kölns. Priester verwandeln sich in fliegende Zombie-Racheengel oder führen geistig verwirrt Atheisten zum Glauben zurück. Datenmessis brechen auf der Suche nach konfiszierten Rechnern ins Polizeipräsidium ein und finden Erleuchtung, und alte Professoren nehmen zur Rettung des letzten Magisters den Kampf mit der Megamaschine auf. Neun Novellen, zeitkritisch, spitzzüngig und humorvoll, versammeln sich zu einem Plädoyer für den Menschen im entmenschten System.

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Norman Liebold

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Neun Sozionautische Novellen

The heresy of heresis was common sense.

George Orwell. Nineteen Eighty-Four.

Forstokratie

Als Schriftsteller und das, was man Person des öffentlichen Lebens nennt, wird man oft die absonderlichsten Dinge gefragt. Wie man zum Schreiben gekommen sei, und warum. Woher man die Ideen nähme – und eben auch, wie man denn über die aktuelle Politik denke. Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich gestehen, dass ich keine erschöpfenden Antworten darauf habe. Zumindest keine, die ich jedem auf die Nase binden würde. Und so komme ich immer mehr dazu, mit einer Geschichte zu antworten, wenn man nach meiner Meinung zur Politik fragt – und vielleicht beantworte ich mit ihr gleich mehrere dieser Fragen, die mir zuweilen ein wenig auf die Nerven fallen. Die kleine Anekdote ist im Übrigen weder erfunden, noch habe ich irgendetwas hinzugedichtet. Sie ist tatsächlich der nüchterne Bericht einer Begegnung, die mir bei einem Ausflug mit einem Freund im Hessischen widerfuhr, vielleicht ein ganz klein wenig literarisch ausgeschmückt. Von diesem Freund wäre vielleicht an anderer Stelle durchaus das eine oder andere Interessante, Merkwürdige und Skurrile zu berichten, aber für die kleine Geschichte nur, dass er zu ritualisierten Gewohnheiten neigt. Eine dieser Gewohnheiten war, mit Freunden, die ihn in der Abgeschiedenheit von Tiefenbach bei Braunfels besuchten, zu seinem erklärten Lieblingsplatz hinauf zu fahren und zuzuschauen, wie die Sonne über dem Lahntal versank. Sein Lieblingsplatz war eine Bank mit Blick über die Felder, die zur Lahn hin steil abfallen. Ein wirklich schöner Platz, besonders wenn die Linien der Berge auf der anderen Seite des Flusses pastellfarben ausblassen, der Nebel im Tal wie eine luftig-wattige Flut steigt und die Sonne durch Wolkenbänke hinabsinkt, um schließlich als rotglühender Ball in die fernen Wälder zu tauchen. Oft sind wir mit seiner schrottreifen Klappermühle die Feldwege zu dieser Bank hinauf geröhrt, und er hatte seine Ritual-Utensilien aus dem Wagen gekramt, um sich dort häuslich einzurichten. Mit still seligem Lächeln pflegte er selbstversunken seine Wasserpfeife aufzubauen, das große Fernglas griffbereit neben sich zu drapieren, die Tafel Herrenschokolade in mundgerechte Stücke zu zerbrechen und auf ein spezielles Tellerchen zu legen – kurzum, alles für den perfekten Sonnenuntergang vorzubereiten, einschließlich der zum Atmen geöffneten Flasche französischen Weins, die er auf verschlungenen verwandtschaftlichen Wegen aus Südfrankreich zu besorgen wusste.

Dieses Mal allerdings entgleisten seine Züge in einer kaum zu beschreibenden, fassungslosen Hilflosigkeit, als er den weißen, rostzerfressenen Peugeot hoch über die letzte Steigung des staubigen Feldwegs prügelte und sich das atemberaubend kitschige Panorama des sommerabendlichen Lahntals samt Lieblingsschauplatz zeigte. Seine geliebte Bank nämlich war zu seinem Erschrecken besetzt. Als die weiße Rostlaube röhrend zum Stehen kam, wie nur ein fünfzehn Jahre alter Peugeot mit durchlöchertem Auspuff röhrend in einer Staubwolke zum Stehen kommen kann, fand ich das allerdings im Gegensatz zu ihm ganz wunderbar.

Denn die Bank mit dem unerwarteten Besetzer war noch viel malerischer, als sie es unbesetzt immer schon gewesen war. Dort saß ein Wunder von einem Mann: ganz in Jägergrün und krachledernen kurzen Hosen, dicken Socken und Wanderschuhen, mit Filzhütchen, Knotenstock und einem Fernglas, größer noch als die mächtige Optik meines gern in die Ferne schweifenden Freundes. Aber das Großartigste: Ihm wallte ein weißer Bart bis auf die Brust, und sein ebenso schlohweißes Haar lag vom Wind sanft bewegt wie ein Wasserfall auf den Schultern. Möglicherweise eigensüchtig waren mir die Irritationen meines Freundes angesichts der ihn überfordernden Situation in diesem Moment herzlich gleichgültig – diese unglaubliche Erscheinung auf der Parkbank interessierte mich mehr als gestörte Rituale, die die Grenze von liebenswerter Schrulligkeit zur neurotischen Zwangshandlung möglicherweise schon längst überschritten hatten. Ich stieg aus und umrundete mit derselben Begeisterung die Bank, wie ich auf einen versteckten Waldsee zugehe, den ich unerwartet entdecke. Mit jedem Schritt mehr wuchs meine Freude: In dem weißen Bart saß ein lächelnder Mund mit dampfender Pfeife im Winkel, darüber leuchteten zwei ungemein klare und in ihrem Blau außerordentlich jugendliche Augen, umgeben von einem Kranz allerliebster Lachfältchen. Gemessen an Haar und Erscheinung war der Wandersmann hoch in den Siebzigern, vielleicht älter, aber sein Gesicht strahlte mit seiner gesunden Farbe und dem erstaunlichen Mangel jeglicher Gramfaltigkeit eine Frische aus, die ihn viel jünger wirken ließ. Ein Gesicht, das man sich zu sehen wünscht, wenn man in vierzig, fünfzig Jahren in einen Spiegel schaut: verschmitzt mit viel Güte, gelassen und heiter, ja auf eine humorige Weise weise.

»Grüß Gott!«, rief ich begeistert, und der Alte beantwortete mein Strahlen über seine Erscheinung mit einem offenen Lächeln, lupfte sein Jägerhütchen und grüßte ebenso zurück, nicht ohne eine gute Portion herzlichster, wohlwollendster Ironie, die ihn mir noch einmal so sympathisch machte.

Mit seiner Hand deutete er einladend neben sich auf die Bank. Ich setzte mich und verdrängte die Gedanken an den Freund, der ein paar Meter weiter geräuschvoll in der Rostlaube rumorte. Ich streckte meinem wunderlichen Alten die Hand hin und stellte mich vor, als er sie mit erstaunlich kräftigem Griff umfasste. Es waren die Hände eines Mannes, der seinen Lebtag hart gearbeitet hatte. Seinen Namen habe ich leider nicht behalten, auch wenn ich mich erinnere, dass er genauso wunderbar war wie seine ganze Erscheinung. Wir saßen eine Weile schweigend vor uns hin, der Alte blies Rauchringe, die langsam über das Gold des Weizenfeldes schwebten, und irgendwo hinter uns rappelte und wühlte es im Peugeot.

Der Alte hob das Fernglas an die Augen und schaute, weiterhin rauchringproduzierend, über die Landschaft. Die tiefe Zufriedenheit, mit der er das tat, ist nicht in Worte zu fassen – eine seltene Kombination aus innerer Ruhe, Selbstbeweihräucherung und schelmischem Schmunzeln.

»Erlauben Sie mir die Frage, was Sie sich anschauen?«, fragte ich schließlich. Mit jedem verstreichenden Moment, den die Optik irgendetwas auf der anderen Seite der Lahn fixierte, war meine Neugier gestiegen – bis über das erträgliche Maß hinaus, wie ich gestehen muss. Der Alte setzte das Fernglas ab, schaute mich mit tausend Lachfältchen um die Augen an und zeigte blitzend weiße Zähne. »Aber mit dem größten Vergnügen, mein junger Freund!« Er schaute über die Schulter und zog ein wenig die weißbuschigen Augenbrauen in die Stirn. Ich folgte seinem Blick und sah meinen Freund neben seinem Wagen stehen – zu seinen Füßen die blauglasbauchige Wasserpfeife, in der Hand sein geliebtes Fernglas. Mit leicht hochgezogenen Schultern und unsicher-gequälter Miene wirkte er wie bestellt und nicht abgeholt. Der Süßholz-Stengel in seinem Mundwinkel, ohne den er kaum denkbar war, wanderte und ruckelte wie die Nadel in einem Tachometer für Nervosität. »Komm rüber!«, rief ihm der Alte aufmunternd zu und deutete auf den freien Platz auf der Bank. Für einen Moment war ich an ein Hündchen erinnert, das nur auf Zuruf gewartet hatte. Nur dass mein Freund natürlich nicht mit dem Schwanz wedelte, sondern sich seine Shisha nahm, schnell zu uns herüber kam und sich anschickte, mit seligem Lächeln sein Genussarangement aufzubauen. Seine ab und zu hinübersuchenden, unsicheren Blicke beantwortete der Alte mit soviel freundlichem Interesse, dass er schnell alle Unsicherheit verlor, und seine gewöhnte Lustinsel mit bekannter und geliebter Hingabe um sich herum errichtete. Er schien sogar noch mehr Vergnügen als sonst daran zu haben, denn er summte versonnen vor sich hin. Während er mit seinem Taschenbunsenbrenner die Kohle für die Shisha in Brand setzte, wandte sich der Alte mit einem zweideutigen Lächeln voll liebevoller Anerkennung aller harmlosen Schrulligkeit dieses Planeten wieder mir zu. »Wenn du auf die andere Seite rüber schaust«, erklärte er und deutete auf die bewaldeten Hänge im Abendlicht, »dann siehst du, wenn du ganz genau hinguckst, ein paar Bäume die ... ein wenig ... nun, größer sind.« Er grinste zufrieden und paffte einen unglaublichen Rauchring in die Richtung, in die er wies. Ich strengte meine Augen an und sah zuerst nichts besonderes, bis der Alte neben mich rutschte und ich an seinem knotigen Zeigefinger entlang schielte. Tatsächlich ragte aus dem einheitlichen Dunkelgrün einer Fichtenforstung ein einzelner Baum heraus. Und das ist eine schwache Formulierung, denn dieser Baum stand wie ein Erwachsener in einer Krabbelgruppe. Und als er mir das Fernglas reichte, war ich noch beeindruckter, denn das war keine Schonung dort am Hang, sondern ein ausgewachsener Fichtenwald.

»Sequoiadendron giganteum«, sagte er und knuffte mich vor lauter Begeisterung in die Schulter. Und mein Freund, andächtig die Kohle auf der Alufolie des Shisha-Kopfes drapierend, fügte aus dem unglaublichen Wust an Wissen, den er mit derselben Akkuratesse in seinen Hirnwindungen ansammelte wie er auch Bücher, CDs und Filme in unüberschaubaren Mengen und unfassbaren Ordnungssystemen hortete, hinzu: »Riesenmammutbaum.«

Der Alte bedachte ihn mit einem anerkennenden Augenzwinkern. Sein Zeigefinger wanderte, während der Wasserpfeife dichte Minzwolken entdampften. Immer, wenn der Finger innehielt und ich angestrengt schaute, entdeckte ich einen solchen Riesen im Wald. Zehn Mal folgte mein Auge dem Finger des Alten. Wieder knuffte er mich und schaute erwartungsvoll. Als ich einen fragenden Gesichtsausdruck an den Tag legte, neigte er sich verschwörerisch herüber: »Verbinde die Bäume mit Linien!« Ich tat es im Geiste und am Aufleuchten meiner Augen erkannte er, dass ich begriff.

»Ein Pentagramm!«, rief mein Freund aus den dichten Schwaden auf der anderen Seite der Bank. »Das ist ja faszinierend! Ich hab das noch nie zuvor bemerkt!« Die tiefstehende Sonne blitzte in den riesigen Linsen seines Fernglases. »Wie alt sind die?«

Der rüstige Greis kicherte in sich hinein und blies einen großen Rauchring über die Felder. »Siebzig Jahre«, sagte er schmunzelnd. »Ich habe sie in meiner Lehre gepflanzt. Und je älter sie werden, um so höher werden sie aus den Wäldern heraus ragen.« Er lächelte zu seinen Baumkindern hinüber, ein Bild solcher Selbstzufriedenheit, dass es beinahe an Selbstverliebtheit grenzte. Nein, es war definitiv Selbstverliebtheit, aber eine liebenswerte. »Ich komme gern hier hinauf, um sie mir anzuschauen. Es ist ein wenig, als blickte ich auf mein Leben zurück.« Er schmauchte hingebungsvoll seine Pfeife, und neben ihm blubberte und gluckerte die Shisha. »Die Wälder da habe ich nämlich auch gepflanzt. Über siebzig Jahre war ich hier Förster, zuerst Stift, am Ende dann der Oberwaldmensch.« Ein leises Ploppen von links verriet, dass der gute Franzose geöffnet worden war. Unwahrscheinlich eigentlich bei vanillearomatisiertem Pfeifentabak und minzgurgelnder Shisha, aber dennoch wahr: Das feine Aroma zehn Jahre alten Bordeaux kitzelte in der Nase. Der Alte zog genießerisch den Duft ein, und mein Freund offenbarte eine der vielen wunderbaren Eigenschaften, die ihn so liebenswert und erfreulich machen, so schrullig und eckig er auch in anderen Beziehungen sein mochte. Aus seinem Köfferchen brachte er drei Rotweinkelche zum Vorschein, reichte sie uns und schenkte ein. Der Klang der Gläser war volltönend unter dem Gesang sonnenuntergangsverliebter Lerchen. Der Alte gab ein genüssliches Schmatzen von sich und nickte anerkennend Glas und Spender zu. Dieser glühte vor Freude wie der Wein im abendlichtdurchfluteten Glaskelch. Der Alte deutete auf die Wälder, in denen jetzt für uns unübersehbar sein gigantischer Drudenfuß prangte. »Ohne mich gäbe es das da nicht«, sagte er bedeutungsvoll. »Wenn es eines gibt, auf das ich stolz bin, dann das.« Er wurde redselig. »Nach dem Krieg wollte man alles neu machen. Zumindest, was die Forstwirtschaft anging. Gute Förster waren Mangelware, ich war mit mehr Glück als Verstand und vor allem mit allen Gliedern aus dem Krieg zurückgekommen, und so hatte ich mit knappen zwanzig Lenzen die Verantwortung für den ganzen Landkreis. Vom Ministerium kam ein paar Monate nach den letzten Bomben etwas, das für mich wie eine Bombe war – eine Bombe komprimierter Schwachsinn.« Er schüttelte in der Erinnerung den Kopf und nahm einen großen Schluck. »Ihr müsst euch vorstellen, Jungens, da oben saßen Sesselpupser auf ihren fetten Ärschen, die vom Tuten und Blasen keinen blassen Schimmer hatten. Abgesehen vom Sonntagsspaziergang im Park hatten die wahrscheinlich noch keinen Wald von innen gesehen. Und die schickten mir einen Beforstungsplan für die ganze Gegend.« Er stieß ein Lachen aus, in dem sowohl Verachtung als auch eine regelrecht hinterhältige Heiterkeit lag. »Kiefern, zum Beispiel, brauchen Sand. Sie wurzeln verdammt tief, und wenn das Erdreich nicht atmen kann, werden es Krüppeldinger, wenn sie nicht gleich ganz eingehen. Und Buchen fühlen sich in guter, fetter Erde wohl, genau wie Eichen. Und bei Fichten muss man aufpassen, dass der Wind nicht in diese verdammten Monokulturen hinein fegen kann. Die wurzeln so flach, dass ein Sturm sie umreißt – und dann fällt der Wald zusammen wie ein Kartenhaus.« Er nickte mir zu und strich sich den Bart. »Und der Beforstungsplan – einfach hirnverbrannter Schwachsinn durch und durch.«

»Aber der Wald dort drüben sieht gut aus. Ich kenne ihn. Da wachsen Pilze, und die Bäume sind gesund«, erklärte mein Freund.

Der Alte begann irgendwo ganz tief drinnen zu gluckern. Es stieg langsam in ihm hoch, wurde zu einem Kichern, und schließlich lachte er ein so gesundes, freies Lachen, dass ich davon angesteckt wurde und mich freute, dass jemand so herzlich lachen konnte. Er nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel, wischte sich eine Lachträne von der Wange und erklärte: »Ja, junger Freund, das ist er: so gesund wie ich und fast so alt.« Mit verschwörerischer Miene fügte er hinzu: »Ich habe nämlich nicht im Traum daran gedacht, diesen Irrsinn mitzumachen.« Er legte eine bedeutungsschwangere Pause ein und ließ wieder Rauchringe über die Felder treiben. Ich schwieg, auch wenn mir allerlei Fragen auf der Zunge lagen, schaute ins Lahntal hinunter, das bereits im Schatten lag, und genoss die Abendsonne. Mein Freund hüllte sich ebenfalls in Schweigen und blickte von seiner persönlichen Wolke hingebungsvoll und lächelnd auf sein Lieblingspanorama hinunter. Ab und zu hob er das Fernglas, ließ es über die Landschaft schweifen und nippte zufrieden am Rotwein. Schließlich fuhr der Alte fort: »Ich bin ein Verfechter natürlicher Autorität, die sich auf Kompetenz, und nicht auf Willkür und Zufall gründet. Was haben irgendwelche Stadtaffen über meinen Wald zu entscheiden, den sie nie gesehen haben, und von dem sie auch dann nichts verstanden hätten, wenn ich sie zwei Wochen lang darinnen eingesperrt hätte? Die können keine Fichte von einer Lärche unterscheiden. Für die ist ein Wald nur ein Feld mit Bäumen statt Blumenkohl.« Er schnaubte verächtlich. »Also habe ich die Bäume so gepflanzt, wie ich es für richtig hielt.«

»Sie haben meine Hochachtung!«, rief es von links.

»Nun, Jungens, ich weiß, wo welche Bäume sich wohl fühlen. Ich bin hier aufgewachsen, krieche seit budenbauender Kinderzeit durch diese Wälder, habe Forstwirtschaft studiert, und vor allem habe ich ein Gefühl dafür – und verdammich – ich liebe den Wald! Warum soll man Kiefern in fetten Mutterboden setzen, wo sie kaputt gehen und dort der herrlichste Buchenwald stehen könnte? Und das Übelste: Ich hätte alte Baumbestände abholzen sollen, die für Auge und Herz und die Tiere eine Weide sind – wo andernorts die Bomben schon riesige Löcher gefetzt hatten und man nur noch forsten musste.«

»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, ich stehe ganz auf ihrer Seite«, sagte ich.

»Papperlapapp, Jungchen!« Der Alte lachte. »Ich rechtfertige mich nicht, das haben ganz andere schon für mich getan!« Er zog einen Brief aus der Kordjacke, wedelte damit herum, vielleicht, um den Pfefferminzgeruch zu vertreiben, der mittlerweile selbst unter freiem Himmel recht penetrant geworden war. Ich konnte nur einen kurzen Blick auf etwas erhaschen und sah irgendeinen offiziell wirkenden Stempel, der den Bundesadler zu zeigen schien, denn er steckte ihn ebenso schnell wieder ein, wie er ihn hervorgezogen hatte. Ich vermutete allerdings, dass er ihn am Ende seiner Geschichte nicht nur wieder hervorholen, sondern ihn auch genüsslich und langsam entfalten und vielleicht sogar vorlesen würde – und, ohne vorgreifen zu wollen, ich sollte darin nicht enttäuscht werden. Für dieses Mal verschwand er aber wieder im grünen Kord der Försterjacke. »Ich pflanzte hektarweise Buchen in die fetten Böden, Fichten in den windgeschützten Tälern, Eichen unten am Lahnhang, wo’s viel Sonne gibt und kalkreichen Boden. Das lieben auch die Steinpilze.«

»In der Tat«, rief mein Freund aus. »In der Tat!«

»Und die Kiefern drüben, wo der Boden tief und locker und sandig ist.«

»Pfifferlinge wachsen da jetzt, da drüben, nicht wahr?« Der Freund, der seine ganze Scheu verloren hatte und in seinem neurotischen Genussarrangement vor zufriedener Begeisterung brodelte, deutete nach rechts, wo, wie um ihn dramatisch zu unterstützen, ein Bündel rötlich goldener Lichtstrahlen durch das Loch einer Wolkenbank stach.

Der Alte strahlte zurück und hieb ihm freundlich mit seiner Riesenpranke auf die schmächtigen Schultern, dass er einen dicken Strahl Rauch ausspie. »Du bist goldrichtig, mein Junge, goldrichtig! Richtig nette Leute trifft man hier oben! Und ich dachte, Ihr Jungen hängt nur noch hinter euren Fernsehern und Computern!«

Ich verkniff mir den Kommentar, dass mein Freund, wenn er nicht liebe Besucher zu seiner Lieblingsbank bei Sonnenuntergang nötigte, ganze Nächte Zombies in digitalen Dschungeln jagte, und seine Filmesammlungen die Zimmerwände reihum und in mehreren Reihen hintereinander bedeckten. Ich freute mich zwar über seine Freude, und ich hatte ein großes Vergnügen an der Vorstellung, dass er die Vorschriften inkompetenter Opportunisten mit Vierjahresgewissen in den Wind schlug, um nach bestem Wissen das Rechte zu tun. Aber ich hatte schon genug Erfahrungen mit dem System gesammelt, dass mir das alles etwas zu locker-flockig klang. »Und damit sind Sie durchgekommen?«, fragte ich vorsichtig. Der Alte lachte wieder sein tiefes, volltönendes Lachen und schlug sich auf die krachledernen Schenkel. »Man ist doch bestimmt gekommen, um das zu kontrollieren. So etwas kostet doch Millionen!«, fügte ich hinzu. Er lachte noch lauter.

»Und ob, Junge, und ob! Alle paar Jahre kam so ein Sesselpupser daher. Fett und satt und diätengepäppelt oder jung und forsch und karrieregeil. Mal in Anzug und Lackschühchen, mal, als wollte er ein Jahr im Urwald überleben.« Noch ehe ich etwas sagen konnte, brachte er mich mit einem Augenzwinkern zum Schweigen. Die sinkende Sonne ließ die Lachfältchen um seine Augen hervortreten, und das Wasserblau seiner Iris leuchtete wie Saphir. »Wenn die sich überhaupt ihren albernen Beforstungsplan auf den Messblättern angeschaut haben, verstehst du, dann kannten sie doch noch lange nicht meinen Wald und mein Hessenland. Ich lud sie in meinen Jeep und fuhr sie kreuz und quer durch die Pampa. Selbst die, die mal auf der Lahn gepaddelt oder hier oben auf Schusters Rappen geritten sind, wussten nach drei Runden nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand. Und schon gar nicht, wo sie sich befanden. Ich bretterte durch das Labyrinth der Forstwege, fuhr ein paarmal im Kreis und quasselte sie dabei die ganze Zeit mit forstwirtschaftlichen Gegebenheiten voll, der Schönheit meiner Wälder und mit allerlei Anekdoten voll Jägerlatein und Geschichten von Füchsen und Hasen, die sich gute Nacht sagen.« Von links tönte Gluckern – nicht nur von der Shisha, sondern vor allem auch von einem überaus amüsierten Neurotiker mit lebhafter Fantasie. Und obwohl ich nicht minder amüsiert war als mein Freund, konnte ich dem Ganzen doch nicht recht glauben und hörte mit einer gewissen Skepsis zu. Der Alte sah es mir wohl an, seinem Grinsen nach zu urteilen und dem wahrhaft schelmischen Blick unter weißbuschigen Brauen und Jägerhutkrempe. »Wenn ich dich eine halbe Stunde durch meine Wälder kutsche, mal links, mal rechts in einen der Forstwege brettere, Berge hoch und runter, im Kreis herum und dann in irgendeinem Waldstück anhalte, dann hätte auch unser junger einheimischer Freund hier keine Ahnung mehr, in welchem Waldstück wir gerade sind.«

»Wenn ich keinen Ausblick habe und sehe, wo die Lahn oder einer der Berge ist, bestimmt nicht«, stimmte der Angesprochene vergnügt zu. »Keine Chance, da drüben ist ein riesiges Waldgebiet.«

»Jedenfalls stellte ich die Schreibtischtäter dann in den Wald und erklärte ihnen, das sei Planquadrat soundso mit Baumbestand Nummer Blablabla. Und sie schauten in einen vorzüglich gepflegten Baumacker, der nur so vor Gesundheit strotzte. Sie werden woanders mit Sicherheit die kläglichsten Zustände gesehen haben, wenn die Förster dort den Irrsinn umsetzten, den ihnen diese inkompetenten Bürohengste vorschrieben. Und ich fuhr sie kreuz und quer und zeigte ihnen ihre Planquadrate in pflichtschuldigster Beflissenheit, und alle wunderbar gewachsen. Sie machten ihre Häkchen, schrieben ihre Berichte und fuhren wieder zu ihren Sesseln, um sie rundum zufrieden mit ihren Ärschen weiter platt zu sitzen. Und die Berichte, das könnt Ihr mir glauben, Jungs, waren überaus wohlmeinend und lobten mich über den Klee. Ich führte sie planvoll in die Irre und rutschte von einer Beförderung und Belobigung zur nächsten. Und mein Wald wuchs und gedieh.«

»Und das kam nie heraus?«, warf ich mit Restskepsis ein. »Ich meine, heute macht man das alles doch mit Satellitenbildern ...«

»Doch, es kam raus«, erklärte der Alte. Offenbar rhetorisch geschult von Jahrzehnten gezielter Beamtenblendung klopfte er seine Pfeife aus, säuberte sie auf das umständlichste und stopfte sie neu, während wir nach dieser Eröffnung voller Neugier wie auf heißen Kohlen saßen. Und er schien ein nicht geringes Vergnügen daraus zu ziehen. Schließlich, als wir sichtlich unruhig wurden und das Blubbern der Shisha auf hektische Weise empört zu klingen begann, fuhr er endlich fort: »Das war nicht so, wie Ihr vielleicht denkt ...« Umständlich paffte er seine Pfeife an, stieß Wolken aus, betrachtete eingehend die Glut im Pfeifenkopf, nickte dann zufrieden, um sich wohlig zurückzulehnen und erst einmal etliche Züge genussvoll schweigend vor sich hin zu räuchern. »Ich bekam kein mahnendes Schreiben, weil man herausgefunden hatte, dass die Baumbestände ganz woanders standen, als sie Plan und Berichten zufolge hätten stehen müssen.«

»Sondern?«, fragte ich, wohl mit einem ungeduldigen, leicht gereizten Unterton, der ihn zum Lachen brachte. Er amüsierte sich wirklich königlich.

»Ich bekam einen neuen Beforstungsplan.« Er hob die Pfeife und zitierte: »Aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse – blabla – und durch satellitengestützte Untersuchungen der Bodenverhältnisse – blabla – wurde ein neuer Beforstungsplan ausgegeben. Der lag denn auch bei. Und ich war angehalten, ihn schnellstmöglich umzusetzen. Und dabei – ist ja nichts weiter – mal eben alle Wälder, die deren neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und irgendwelchen EU-Richtlinien widersprachen – einfach abzuholzen.« Sein Amüsement kippte in Entrüstung um. »Ein Baum lebt nicht in Legislaturperioden. Wenn man deren hirnverbrannte Kacke mitmachen würde, müsste man alle vier Jahre alles mit Planierraupen plattmachen und neu pflanzen! In den ganzen Jahren kamen immer wieder irgendwelche dämlichen sogenannten Beforstungsplan-Revisionen.«

»Die Sie natürlich nicht umgesetzt haben ...«, vermutete ich, von der Selbstgefälligkeit des Alten nun doch ein wenig angefressen. Aber vielleicht auch weniger davon als von der blauäugig-begeisterten Bewunderung seitens meines Freundes, der von soviel zivilem Ungehorsam schlichtweg hingerissen war.

»Natürlich setze ich all diese Revisionen mit dem größten Pflichtbewusstsein um.« Er feixte. »Auf dem Papier, versteht sich. Tatsächlich änderte ich natürlich nur den Streckenverlauf der Sesselfurzer-Sightseeing-Tour für unsere liebenswürdigen Volksvertreter, die spätestens alle vier Jahre ganz andere Gesichter hatten. Wobei die Gesichter bei denen genauso austauschbar sind wie der Rest – nur ein Gedächtnis hätte mir unter Umständen Schwierigkeiten machen können. So kutschierte ich sie halt in ein anderes Waldstück, benannte es mit der entsprechenden Planquadrat-Registrierungsnummer und alles war in schönster Ordnung. Bei dem riesigen Waldgebiet, das ich unter mir hatte, gab es immer genug Forstungen, Rodungen und Waldungen mit dem richtigen Bestand im annähernd richtigen Alter.«

Wider Willen konnte ich meine skeptisch-nörgelige Haltung nicht beibehalten und bemerkte in mir eine zunehmend stärkere, diebische Freude an diesem Halunken und seinen Umtrieben.

»Und dieser letzte Beforstungsplan?«, fragte es zwischen Shisha-Blubbern. »Die mit den wissenschaftlich fundierten Analysen?«

»Tja ...«, schmatzte der Alte. »Die änderte alles. Das Ganze war mir unheimlich. Ich meine, wenn die Bodenstrukturen aus dem Weltall erkennen können, können die garantiert auch sehen, was da wächst. Und wenn nicht jetzt, dann dauert es bestimmt nicht mehr lange, dachte ich. Und diese ganze GPS-Geschichte – heute kann dir dein Telefon auf ein paar Meter genau sagen, wo du dich befindest.« Er kaute auf dem Pfeifenstiel herum. »Das fing damals langsam an. Nicht mit Telefonen, aber die ersten liefen schon mit GPS-Geräten herum. Es gab in den Berichten keine Unstimmigkeiten, aber mir war klar, dass ich kaum durchkommen würde, wenn die mal genauer hingucken sollten. Und bei dem Plan, den die mir geschickt hatten ... ich hätte riesige Flächen abholzen müssen. Sowas fällt auf.« Er stieß einen riesigen Rauchring aus, um die Dramatik der Situation zu unterstreichen. »Außerdem ...« – und nun grinste er – »... außerdem hatte ich nur noch ein paar Wochen zur Rente. Ich wartete also ab, bis ich meine Beamtenpension im Kasten hatte und schrieb einen sehr ausführlichen Brief an das Ministerium.«

»Sie haben alles zugegeben?«, fragte ich erstaunt.

Er griente. »So würde ich das nicht sagen. Du musst das so sehen: Was bei denen ein Vorgänger verbockt, am besten noch von einer anderen Partei, ist nicht nur nicht deren Fehler, es ist sogar etwas, über das sie sich freuen. Im Gegensatz zu den Bäumen, Tieren und normalen Menschen. Und ein gesunder Baumbestand, über siebzig Jahre alt und älter, ist natürlich besser für die Statistiken sesselpupsender Schaumschläger als tausende Hektar gerodete Flächen. Stellt euch mal vor, was die Bürger für Aufstände, Demos und Unterschriftenaktionen veranstaltet hätten, wenn man die halbe Lahnregion abholzt!«

»Geil!«, rief mein Freund, sprang auf und ergriff die Hand des Alten, um sie mit einer Mischung aus aufrichtiger Bewunderung und Dankbarkeit zu schütteln. »Sie sind ein Held! Sie sind mein Held!« Er liebte die Wälder, das wusste ich, aber es genügte auch, sich vorzustellen, was das für seine geliebte Aussicht bedeutet hätte. Der Alte streckte seine haarigen, für sein Alter ganz erstaunlich muskulösen Waden genüsslich aus und paffte eine Weile besonders kunstvolle Rauchkringel. Die letzten Strahlen der Sonne, hinter seinem Vermächtnis von geretteten Wäldern versinkend, ließen Bart und Haare regelrecht glühen. Ein aus Versehen gealterter Engel oder ein magischer Weiser, der sich im Sonnenuntergangslicht nicht weniger als in der Bewunderung meines Freundes sonnte. Und als dieser mit erwartungsfreudiger Atemlosigkeit fragte, was dann geschehen sei, und wie das Ministerium auf die unglaubliche Dreistigkeit dieses jahrzehntelangen Schelmenstreichs zivilen Ungehorsams reagiert hätte, tat der Alte das, was ich bereits am Beginn seiner Geschichte erwartet hatte. Er griff in seine Jägerjacke und zog jenen Brief hervor, mit dem er schon einmal bedeutungsvoll gewedelt hatte. Er entfaltete ihn mit Andacht, und ja, das Siegel im Briefkopf war der Bundesadler, wenn er auch in der immer weiter fortschreitenden grafischen Abstraktion der Moderne mittlerweile weniger wie ein majestätischer Adler als vielmehr wie eine zerrupfte Krähe aussah. Was, wie mir völlig unpassend durch den Kopf ging, in gewisser Weise angemessener war, hatten wir unser edles Wappentier doch schon längst ausgerottet. Mein Nachdenken darüber, wie bezeichnend das Führen eines solchen ausgerotteten Wappentieres für sein Land ist, zumal wenn es für Unsterblichkeit, Mut, Weitblick und Kraft steht, wurde von der Stimme des Alten unterbrochen, der das Schreiben nun tatsächlich laut vorlas. Ich will nicht mit dem gesalbten Schwall hohler Phrasen langweilen, vielleicht, weil dem geneigten Leser bereits klar sein dürfte, was sie enthielten. Dass man dem Alten keine Bundesverdienstmedaille verliehen hatte, war das einzige, was fehlte. Und vielleicht hatte man das nur deswegen nicht getan, weil man nicht abschätzen konnte, was solch ein zivil ungehorsamer alter Kauz bei der Verleihung vom Stapel lassen würde. Und meiner bescheidenen Meinung nach waren bei der Abfassung dieser papierenen Ehrung geschulte Psychologen am Werk. Der Alte bekam seine Rente und eine Prämie für seine Verdienste am Nutzholz des Vaterlandes, die nur an Aufsichtsratsgehältern gemessen gering zu nennen wäre – und er war geschmeichelt, fühlte sich geehrt und fand das Unrecht wieder gut gemacht, um jetzt – seit ich weiß nicht wie vielen Jahren – hier herauf zu spazieren, sich auf meines Freundes Lieblingsbank zu setzen, sein Pfeifchen zu schmauchen und sich als stiller Held zu fühlen. Er mochte dann das bundesministeriale Schreiben hervor ziehen und im köstlichsten Moment die Zeilen trinken, wie jetzt den guten Bordeaux. Unter Umständen schimpfte er auch rohrspatzend über die Bürohengste und lachte in der Erinnerung, wie er sie an der Nase herumgeführt hatte. Und vielleicht, wenn Leute wie mein Freund und ich daher kamen, erzählte er seine Geschichte. Und im zufriedenen Sonnenuntergangslicht seines Lebensabends, mit Lachfältchen im gebräunten Ruhestandsgesicht, glaubte er seine Welt gerettet. Seine Wälder rauschten gesund im Wind, die Lahn plätscherte wie eh und je in ihrem Bett.

Ich verzichtete darauf, ihn mit sarkastischem Unterton zu fragen, ob er glaube, dass die Satelliten und Computer die Gefahr der sesselfurzenden Horde inkompetenter Bürokraten für immer gebannt habe und die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse länger vorhalten würden als das Vierjahresgewissen der Abgeordnetenseele. Ich ließ dem weißhaarigen Helden seinen wohlverdienten Frieden, denn was immer auch der Skeptiker in mir herummosern mochte – für mich war er tatsächlich eine Art Held. Ein Robin Hood der Nutzholzwälder, der am Ende eines langen, mutigen Lebens sogar noch der Rechtfertigung, wenn nicht eines Richard Löwenherz, so doch satellitengestützter Wissenschaft und zerrupfter Bundeskrähe teilhaftig wird. Und den leisen Geschmack von Bitterkeit schluckte ich hinunter, dass es vielleicht weniger die Anerkennung der Wälderrettung war, als vielmehr die Sorge um die eigene Reputation als hehrer Adler der Gerechtigkeit, die die eine Krähe daran hinderte, der anderen ein Auge auszuhacken, auch wenn sie von ihr ein halbes Jahrhundert und mehr mit erfrischender Frechheit am Schnabel herumgeführt worden war.

Der leise bittere Geschmack hielt auch nicht lange vor an diesem Abend. Dafür sorgte der gute Franzose, funkelnd in den letzten Strahlen der Sonne, die in den geretteten Wäldern unseres weißhäuptigen Helden so malerisch versank, dass man gar nicht anders konnte, als die Welt wunderbar und zauberhaft zu finden. Und unter den blinzelnden Sternen, klar und hell hier draußen am Arsch der Welt in Tiefenbach bei Braunfels, als ich im klappernden und knatternden Peugeot meines Freundes den Feldweg zurück gerumpelt wurde, wurde mir bewusst: An diesen Abend wirst du noch oft denken, ihn erzählen und vielleicht auch irgendwann aufschreiben. Als Geschichte. Als eine Geschichte, die ich erzählen könnte, wenn wieder einmal irgendjemand diese eine Frage stellt. Die Frage nach meiner Meinung und Haltung zur Politik im Allgemeinen und zur aktuellen im Speziellen. Um damit nicht nur diese eine Frage zu beantworten, sondern vielleicht sogar gleich mehrere weitere, für die ich auch nach Jahren keine einfache oder erschöpfende Antwort zu geben weiß. Denn was die Bedeutung, die Aussage, die Moral dieser Geschichte in diesem Kontext bedeuten mag, damit möchte ich es eigentlich genauso halten wie mit meinen anderen Geschichten – suchen Sie es sich selbst aus! Finden Sie für sich eine Antwort! Sie müssen sie mir auch wirklich nicht erzählen. Um ehrlich zu sein, hoffe ich viel mehr als etwas Schlaues gesagt zu haben, dass ich Sie gut unterhielt, Sie zum Schmunzeln brachte und vielleicht, aber auch nur vielleicht, ein wenig zum Nachdenken.

Die Verrückte vom Auensee

In der Landeshauptstadt gibt es einen sehr schönen Park mit alten Bäumen, der sich um einen kleinen See herum erstreckt. In nächster Nähe befindet sich sowohl das Geschäftsviertel mit seinen wolkenkratzenden Bürogebäuden, wie auch, etwas abseits, ein privates Sanatorium für psychisch Kranke. Eine überaus gepflegte Einrichtung, untergebracht in einer großen Villa, deren Gäste mit höchster Aufmerksamkeit, Höflichkeit und Fürsorge behandelt werden. Einigen, die weder für gefährlich gehalten werden, noch die Sorge aufkommen lassen, dass sie sich ver- oder gar weglaufen könnten, wird gerne zugestanden, dass sie sich spazierenderweise im Park ergehen, wann immer und so oft sie mögen. So kam es, dass eine Zeitlang – wir reden hier von nicht weniger als annähernd zwei Jahrzehnten – den Spaziergängern, jungen Müttern und entenfütternden Pensionären ein ebenso regelmäßiges wie harmloses Schauspiel geboten wurde.

Frau O., Offizierswitwe aus gutem Hause mit einer sowohl dramatischen als auch traurigen Geschichte, pflegte mehrmals am Tage zu festgelegter Stunde einen ausgedehnten Spaziergang im Park zu machen. Wobei Spazieren nicht ganz der treffende Ausdruck dafür sein mag. Vielleicht ist Marschieren treffender, denn sie eilte im Geschwindschritt dahin, auf dem gepflegten Kiesweg immer um den kleinen See herum. Sie wirkte auch nicht in jener Weise entspannt, die müßig dahin wandelnden Spaziergängern eigen ist, sondern wirkte immer ein wenig gehetzt. Sie wurde schnell zum Parkgespräch und zog die – wenn auch höflich zurückhaltende – Aufmerksamkeit auf sich, nicht zuletzt deswegen, weil sie die Gewohnheit hatte, mehr oder minder lautstark mit sich selbst zu sprechen. Nennen wir es ruhig beim Namen. Sie sprach mit eingebildeten Personen, diskutierte und stritt sich oft auch laut schreiend. Zuweilen blieb sie stehen und brüllte, man solle sie endlich in Ruhe und allein lassen. Dabei starrte sie wild gestikulierend einen Punkt direkt vor ihr mit der ganzen Vehemenz an, die eine entrüstete ältere Dame aufbringen kann.