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Er ist ein Mythos. Doch vom ersten Augenblick an gehört er ihr ...
Als ihre Mutter Persephone auf einem Ball überraschend Zeus verspricht, bleibt der jungen Frau keine Wahl: Sie flieht über die Brücke des Styx in die Unterstadt, wo sie plötzlich dem geheimnisvollen Hades gegenübersteht. Seit Jahren hat ihn niemand mehr gesehen, er ist ein Mythos, ein Monster - und ihre einzige Chance, Zeus und ihrer Mutter zu entkommen. Vom ersten Augenblick an übt Hades eine Faszination auf Persephone aus, der sie sich nicht entziehen kann. Und so bietet sie ihm einen Deal an, der ihrer beider Leben für immer verändern wird ...
"Wunderbar originell und unfassbar heiß!" PUBLISHERS WEEKLY
Auftaktband der DARK-OLYMPUS-Reihe von Bestseller-Autorin Katee Robert
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Seitenzahl: 567
Titel
Widmung
Zu diesem Buch
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Katee Robert bei LYX
Impressum
Katee Robert
Neon Gods
HADES & PERSEPHONE
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anika Klüver
Für Erin und Melody –
euer Podcast hat mir im Verlauf der letzten paar Jahre so viel Freude gemacht, und ich hoffe, dass euch Hades’ überhebliches Gehabe im Gegenzug ebenfalls ein wenig Freude bereiten wird.
Seit ihre Mutter in die Runde der mächtigen Dreizehn aufgestiegen ist und die Rolle der Demeter innehat, bewegt sich Persephone Dimitriou in den schillernden Kreisen der Oberstadt von Olympus. Sie ist der Liebling der Presse, nach außen hin strahlend und unbeschwert, doch eigentlich hat sie nur ein Ziel: Sie will aus Olympus verschwinden und alles hinter sich lassen. Nur noch neunzig Tage stehen zwischen ihr und der Freiheit. Nur noch neunzig Tage, bis sie auf ihren Treuhandfonds zugreifen kann, um nach Kalifornien zu ziehen und in Berkeley zu promovieren. Doch dann – völlig aus dem Nichts – verspricht ihre Mutter sie auf einem Ball Zeus, dem Herrscher über Olympus. Um diesem Schicksal zu entgehen, flieht Persephone und findet sich auf der Brücke wieder, die in die Unterstadt führt, das Reich des geheimnisvollen Hades. Für die meisten ist er ein Mythos, ein Monster – doch er ist ihre einzige Chance, Zeus und ihrer Mutter zu entkommen. Vom ersten Augenblick an übt Hades eine Faszination auf Persephone aus, der sie sich nicht entziehen kann. Und so bietet sie ihm einen Deal an, der ihrer beider Leben für immer verändern wird …
»Ich hasse diese Partys echt.«
»Lass das Mutter bloß nicht hören.«
Ich schaue über meine Schulter zu Psyche. »Du hasst sie doch auch.« Ich habe den Überblick darüber verloren, auf wie viele Veranstaltungen unsere Mutter uns im Laufe der Jahre mitgeschleppt hat. Sie hat immer den nächsten Preis im Blick und weiß bereits im Vorfeld, welche Figur sie bei diesem Schachspiel bewegen muss, für das nur sie die Regeln kennt. Das wäre vermutlich leichter zu ertragen, wenn ich nicht ständig das Gefühl hätte, einer ihrer Bauern zu sein.
Psyche tritt neben mich und stupst mich mit ihrer Schulter an. »Ich wusste, dass ich dich hier finden würde.«
»Das hier ist der einzige Raum an diesem Ort, den ich ertragen kann.« Obwohl die Statuenhalle der Inbegriff der Überheblichkeit ist. Sie ist ein relativ schmuckloser Ort – sofern man glänzende Marmorfußböden und geschmackvolle graue Wände als schmucklos bezeichnen kann –, an dem sich dreizehn Ganzkörperstatuen befinden, die in einem lockeren Kreis im Raum aufgestellt sind. Eine für jedes Mitglied der Dreizehn, der Gruppe, die über Olympus herrscht. Ich benenne sie stumm, während ich den Blick über jede einzelne Statue wandern lasse – Zeus, Poseidon, Hera, Demeter, Athene, Ares, Dionysos, Hermes, Artemis, Apollon, Hephaistos, Aphrodite. Dann drehe ich mich herum, um die letzte Statue zu betrachten. Sie ist vollständig mit fließendem, schwarzem Stoff bedeckt, der sich auf dem Boden zu ihren Füßen sammelt. Trotzdem kann man unmöglich die breiten Schultern und die stachelige Krone übersehen, die seinen Kopf schmückt. Es juckt mir in den Fingern, den Stoff zu packen und wegzuzerren, damit ich endlich einmal sein Gesicht sehen kann.
Hades.
In nur ein paar Monaten werde ich von dieser Stadt frei sein. Ich werde ihr entkommen und niemals zurückkehren. Ich werde keine weitere Chance erhalten, einen Blick auf das Gesicht der Schreckgestalt von Olympus zu werfen. »Ist es nicht seltsam, dass sie ihn nie ersetzt haben?«
Psyche schnaubt. »Wie oft haben wir diese Unterhaltung geführt?«
»Komm schon. Du weißt, dass es seltsam ist. Sie sind die Dreizehn, aber eigentlich gibt es nur zwölf. Es gibt keinen Hades. Bereits seit sehr langer Zeit nicht mehr.« Hades, der Herrscher der Unterstadt. Oder zumindest war er das mal. Es ist ein vererbter Titel und die gesamte Familie ist lange ausgestorben. Nun steht die Unterstadt technisch gesehen unter Zeus’ Herrschaft, genau wie der Rest von uns. Aber nach allem, was ich weiß, setzt er nie einen Fuß auf jene Seite des Flusses. Den Styx zu überqueren, ist aus dem gleichen Grund schwierig, aus dem es schwierig ist, Olympus zu verlassen. Soweit ich gehört habe, erzeugt jeder Schritt durch die Barriere ein Gefühl, als würde der eigene Kopf explodieren. Niemand setzt sich einer solchen Erfahrung freiwillig aus. Nicht einmal Zeus.
Vor allem nicht, weil ich bezweifle, dass die Leute in der Unterstadt genauso vor ihm kriechen werden, wie es alle in der Oberstadt tun. All diese Unannehmlichkeiten, ohne eine Belohnung dafür zu erhalten? Da ist es keine Überraschung, dass Zeus die Überquerung des Flusses ebenso meidet wie der Rest von uns. »Hades ist der Einzige, der nie Zeit in der Oberstadt verbracht hat. Das lässt mich vermuten, dass er anders als die anderen war.«
»Das war er nicht«, sagt Psyche tonlos. »Nun, da er tot ist und der Titel nicht länger existiert, fällt es leicht, so zu tun. Aber jeder Einzelne der Dreizehn ist gleich, sogar unsere Mutter.«
Sie hat recht – ich weiß, dass sie recht hat –, doch ich kann die Vorstellung einfach nicht abschütteln. Ich greife nach oben, halte aber inne, bevor meine Finger das Gesicht der Statue berühren können. Das, was mich zu diesem toten Vermächtnis hinzieht, ist nichts als morbide Neugier. Allerdings ist die den Ärger nicht wert, den ich mir einhandelte, wenn ich der Versuchung nachgeben und den dunklen Schleier von der Statue zerren würde. Ich lasse meine Hand sinken. »Was hat Mutter heute Abend vor?«
»Keine Ahnung.« Psyche seufzt. »Ich wünschte, Kallisto wäre hier. Wenn sie etwas sagt, gibt es Mutter wenigstens hin und wieder zu denken.«
Meine drei Schwestern und ich haben alle unterschiedliche Methoden gefunden, um uns anzupassen, als unsere Mutter zu Demeter wurde und wir schlagartig in die schimmernde Welt versetzt wurden, die nur für die Dreizehn existiert. Diese Welt ist so funkelnd und extravagant, dass es ihr beinahe gelingt, einen von dem Gift abzulenken, das in ihrem Kern schlummert. Wir konnten uns entweder anpassen oder untergehen.
Ich zwinge mich dazu, die Rolle der strahlenden und fröhlichen Tochter zu spielen, die immer folgsam ist. Das ermöglicht es Psyche, sich gelassen und ruhig zu geben und unbemerkt zu bleiben. Eurydike klammert sich mit grenzwertiger Verzweiflung an jeden noch so winzigen Fetzen Leben und Aufregung, den sie finden kann. Und Kallisto? Kallisto bekämpft Mutter mit einer Wildheit, die sich gut in einer Arena machen würde. Sie würde eher zerbrechen, bevor sie sich fügen würde, was der Grund dafür ist, dass Mutter sie von diesen verbindlichen Veranstaltungen ausschließt. »Es ist besser, dass sie nicht hier ist. Falls sich Zeus an Kallisto heranmachen sollte, würde sie vermutlich versuchen, ihn auszuweiden. Und das wäre dann wirklich ein unangenehmer Zwischenfall.«
Die einzige Person in Olympus, die ohne Konsequenzen mordet – mutmaßlich –, ist Zeus selbst. Von uns anderen erwartet man, dass wir die Gesetze achten.
Psyche erschaudert. »Hat er bei dir irgendwas versucht?«
»Nein.« Ich schüttle den Kopf und starre dabei immer noch Hades’ Statue an. Nein, Zeus hat mich nicht angerührt. Aber während der letzten paar Veranstaltungen, die wir besuchten, konnte ich spüren, wie mir sein Blick durch den Raum folgte. Aus diesem Grund habe ich versucht, mich mit Betteln aus dem heutigen Abend herauszuwinden, aber Mutter zerrte mich regelrecht hinter sich her zur Tür hinaus. Zeus’ Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, verheißt nichts Gutes. Es endet immer gleich – die Frauen sind emotionale Wracks, während Zeus davonspaziert und nicht einmal eine negative Schlagzeile fürchten muss, die seinen Ruf ruinieren könnte. Vor ein paar Jahren gab es ein einziges Mal einen Vorfall, bei dem offiziell Anklage gegen ihn erhoben wurde. Und das war so ein Theater, dass die Frau verschwand, bevor der Fall überhaupt vor Gericht gehen konnte. Die optimistischste Version ist, dass sie irgendwie eine Möglichkeit fand, Olympus zu verlassen. Realistischer ist jedoch, dass Zeus sie zu der Liste mit seinen mutmaßlichen Morden hinzufügte.
Nein, es ist definitiv besser, ihm so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.
Was deutlich einfacher wäre, wenn meine Mutter nicht eine der Dreizehn wäre.
Das vertraute Klappern von eleganten Absätzen auf dem Marmorboden sorgt dafür, dass mein Herz schneller schlägt. Mutter marschiert immer durch die Gegend, als würde sie in die Schlacht ziehen. Für einen Augenblick spiele ich tatsächlich mit dem Gedanken, mich hinter der verhüllten Statue von Hades zu verstecken. Doch ich verwerfe diese Idee wieder, bevor Mutter in der Tür zur Statuenhalle erscheint. Würde ich mich verstecken, würde ich das Unvermeidliche damit nur hinauszögern.
»Da seid ihr ja.« Heute Abend trägt sie ein tiefgrünes Kleid, das ihren Körper umschmeichelt und perfekt zu ihrer Rolle als Erdmutter passt. Sie hat beschlossen, dass sie damit am besten die Marke der Frau repräsentiert, die dafür sorgt, dass niemand in der Stadt hungert. Sie zeigt gerne das freundliche Lächeln und die helfende Hand her. Denn sie geht davon aus, dass die Leute so die Tatsache ignorieren werden, dass sie allzeit bereit ist, jeden niederzumähen, der versucht, sich ihrem Ehrgeiz in den Weg zu stellen.
Sie bleibt vor der Statue ihrer Namensvetterin Demeter stehen. Die Statue weist großzügige Kurven auf und trägt ein fließendes Kleid, das mit den sprießenden Blumen zu ihren Füßen verschmilzt. Die Blumen passen zu dem Blütenkranz auf ihrem Kopf, und sie lächelt gelassen, so als würde sie alle Geheimnisse des Universums kennen. Ich habe meine Mutter schon öfter dabei erwischt, wie sie versuchte, genau diesen Gesichtsausdruck nachzuahmen.
Mutter verzieht die Lippen, aber das Lächeln erreicht ihre Augen nicht, als sie sich uns zuwendet. »Ihr sollt euch doch unter die Leute mischen.«
»Ich habe Kopfschmerzen.« Das ist die gleiche Ausrede, mit der ich versucht hatte, den heutigen Abend zu umgehen. »Psyche hat nur kurz nach mir gesehen.«
»Mm-hmm.« Mutter schüttelt den Kopf. »Ihr zwei werdet so hoffnungslos wie eure Schwestern.«
Wäre mir bewusst gewesen, dass hoffnungslos zu sein die sicherste Möglichkeit darstellt, Mutters Einmischung zu vermeiden, hätte ich mich für diese Rolle entschieden anstatt für die, die ich nun spiele. Jetzt ist es zu spät, um den Weg, den ich eingeschlagen habe, noch zu ändern. Aber die vorgetäuschten Kopfschmerzen entpuppen sich beim Gedanken daran, zur Party zurückkehren zu müssen, als ein echter Ausweg. »Ich werde heute früh gehen. Ich denke, dass sich diese Kopfschmerzen zu einer Migräne entwickeln könnten.«
»Das wirst du definitiv nicht tun.« Mutter sagt es recht freundlich, aber die Härte in ihrem Tonfall ist nicht zu überhören. »Zeus will mit dir sprechen. Es besteht absolut kein Grund, ihn warten zu lassen.«
Spontan würde mir ein halbes Dutzend Gründe einfallen, doch ich weiß, dass sich Mutter keinen einzigen davon anhören wird. Trotzdem kann ich nicht anders, als es zu versuchen. »Du weißt schon, dass man munkelt, dass er seine drei Ehefrauen alle ermordet hat, oder?«
»Das ist zweifellos deutlich weniger chaotisch als eine Scheidung.«
Ich blinzle. Ich kann wirklich nicht beurteilen, ob sie scherzt oder nicht. »Mutter …«
»Oh, entspann dich. Du bist immer so angestrengt. Vertraut mir, Mädchen. Ich weiß, was am besten für euch ist.«
Meine Mutter ist wahrscheinlich die klügste Person, die ich kenne, aber ihre Ziele sind nicht meine Ziele. Dieser Situation kann ich allerdings nicht so leicht entkommen, also laufe ich brav neben Psyche her und folge ihr aus dem Zimmer. Für einen Augenblick habe ich den Eindruck, dass ich den durchdringenden Blick von Hades’ Statue auf meinem Rücken spüren kann, aber das ist reine Einbildung. Hades ist ein toter Titel. Und selbst wenn er das nicht wäre, hat meine Schwester vermutlich recht. Er wäre genauso schlimm wie der Rest von ihnen.
Wir verlassen die Statuenhalle und gehen durch einen langen Flur, der zurück zur Party führt. Der Flur ist wie alles andere im Dodona Tower – gewaltig, ausschweifend und kostspielig. Er ist locker doppelt so breit, wie er sein müsste, und jede Tür, an der wir vorbeigehen, ist mindestens dreißig Zentimeter höher als normalerweise. Tiefrote Vorhänge reichen von der Decke bis zum Boden und sind auf beiden Seiten der Türen zurückgezogen – ein zusätzlicher Aufwand, den der Ort definitiv nicht gebraucht hätte. Das alles erweckt den Eindruck, als würde man sich durch einen Palast bewegen und nicht durch einen Wolkenkratzer, der hoch über der Oberstadt aufragt. Als bestünde die Gefahr, dass irgendjemand vergessen könnte, dass sich Zeus selbst zu einem modernen König ernannt hat. Ich bin ehrlich überrascht, dass er nicht mit einer Krone auf dem Kopf herumläuft, die zu der passt, die seine Statue trägt.
Der Bankettsaal ist ebenso prunkvoll eingerichtet. Es ist ein gewaltiger, weitläufiger Raum, in dem eine Wand komplett von Fenstern eingenommen wird. Ein paar Glastüren führen auf den Balkon hinaus, von dem aus man die Stadt überblicken kann. Wir befinden uns im obersten Stock des Turms und die Aussicht ist wirklich herausragend. Von hier aus kann man einen großen Teil der Oberstadt sowie das gewundene schwarze Band sehen, das der Styx bildet. Und auf der anderen Seite? Dort liegt die Unterstadt. Von hier oben betrachtet unterscheidet sie sich nicht besonders stark von der Oberstadt, aber sie könnte ebenso gut auf dem Mond liegen, denn die meisten von uns können sie nicht erreichen.
Heute Abend sind die Balkontüren fest verschlossen, um zu verhindern, dass der eisige Winterwind irgendjemandem Unbehagen bereitet. Statt der Aussicht auf die Stadt herrscht Dunkelheit hinter dem Glas, die ein verzerrtes Spiegelbild des Raums erschafft. Jeder hat sich perfekt herausgeputzt. Überall sieht man Designerkleider und -smokings. Immer wieder blitzen entsetzlich teure Juwelen und Accessoires auf. Das alles bildet ein Übelkeit erregendes Kaleidoskop aus Prunk, während sich die Leute durch die Menge bewegen, sich unter die anderen Gäste mischen, sich untereinander vernetzen und betörendes Gift von ihren rot geschminkten Lippen tropfen lassen. Es erinnert mich an einen Zerrspiegel. Nichts in dem Spiegelbild ist so, wie es scheint, obwohl es wunderschön aussieht.
An den verbleibenden Wänden hängen riesige Porträts der zwölf aktiven Mitglieder der Dreizehn. Es sind Ölgemälde, eine Tradition, die bis zu den Anfängen von Olympus zurückgeht. Als würden die Dreizehn wirklich denken, dass sie wie die alten Monarchen der Vergangenheit wären. Bei ein paar von ihnen hat sich der Künstler eindeutig einige Freiheiten erlaubt. Besonders die jüngere Version von Ares sieht dem tatsächlichen Mann kein bisschen ähnlich. Alter verändert eine Person vielleicht, aber sein Kiefer war nie so kantig und auch seine Schultern nie so breit. Dieser Künstler stellte ihn außerdem mit einem riesigen Breitschwert in der Hand dar, dabei weiß ich ganz sicher, dass Ares seine Stellung nicht im Krieg erhielt, sondern indem er in der Arena aufgab. Allerdings gäbe das vermutlich kein so majestätisches Bild ab.
Man muss schon eine ganz spezielle Art von Person sein, um zu tratschen und sich unters Volk zu mischen und Leuten in den Rücken zu fallen, während das eigene Abbild auf einen herunterstarrt, aber unter den Dreizehn befinden sich eine Menge derartiger Monster.
Mutter bahnt sich einen Weg durch die Menge und fühlt sich in der Gesellschaft der anderen Haie eindeutig wohl. Sie dient nun schon fast zehn Jahre lang als Demeter. Damit gehört sie zu den neuesten Mitgliedern der Dreizehn, aber sie bewegt sich in diesen Kreisen, als wäre sie dafür geboren anstatt vom Volk gewählt worden, so wie es bei der Demeter-Rolle immer der Fall ist.
Die Menge teilt sich für sie, und ich kann spüren, wie uns alle anstarren, während wir ihr in die grellbunte Mischung folgen. So wie sich diese Leute für Veranstaltungen wie diese herausputzen, mögen sie Pfauen ähneln, aber ihre Augen sind kalt und gnadenlos. Ich habe in diesem Raum keine Freunde – hier gibt es nur Leute, die darauf aus sind, mich als Tritthocker zu benutzen, um sich den Weg zu mehr Macht zu erkämpfen. Diese Lektion habe ich schon sehr früh und auf die harte Tour gelernt.
Zwei Leute machen meiner Mutter Platz, und ich erhasche einen Blick auf die Ecke des Raums, die ich jedes Mal so gut wie möglich zu vermeiden suche, wenn ich hier bin. Sie beherbergt einen waschechten Thron, ein protziges Ding aus Gold, Silber und Kupfer. Die stabilen Beine wölben sich nach oben und gehen in Armlehnen über, und die Rückenlehne des Throns ist so beschaffen, dass das Ganze wie eine Gewitterwolke aussieht. Eine Gewitterwolke, die so gefährlich und spannungsgeladen wie ihr Besitzer ist – und er will sichergehen, dass das niemand je vergisst.
Zeus.
Wenn die Dreizehn über Olympus herrschen, dann herrscht Zeus über die Dreizehn. Es ist eine vererbte Rolle, die von einem Elternteil an ein Kind weitergegeben wird. Die Blutlinie reicht bis zur ersten Gründung der Stadt zurück. Unser aktueller Zeus hat seine Stellung seit Jahrzehnten inne, seit er sie damals mit dreißig übernahm.
Mittlerweile ist er weit über sechzig. Ich vermute, dass er einigermaßen attraktiv ist, wenn man auf breitschultrige weiße Männer mit einem lauten Lachen und einem längst ergrauten Bart steht. Bei mir löst er Gänsehaut aus. Wann immer er mich mit diesen blassblauen Augen anschaut, fühle ich mich wie ein Tier bei einer Versteigerung. Eigentlich sogar wie etwas, das noch weniger wert ist als ein Tier. Eine hübsche Vase oder vielleicht eine Statue. Etwas, das man besitzen kann.
Wenn eine hübsche Vase zerbricht, kann man problemlos einen Ersatz dafür kaufen. Zumindest wenn man Zeus ist.
Mutter wird langsamer, zwingt Psyche damit ein paar Schritte zurück und nimmt meine Hand. Sie drückt sie fest genug, um mir ihre stumme Warnung zu vermitteln, dass ich mich benehmen soll, aber für ihn lächelt sie breit. »Schau mal, wen ich gefunden habe!«
Zeus streckt eine Hand aus und mir bleibt nichts anderes übrig, als meine hineinzulegen und ihm zu gestatten, meine Knöchel zu küssen. Seine Lippen streifen meine Haut nur für einen winzigen Augenblick, doch die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. Als er mich endlich loslässt, muss ich gegen den Drang ankämpfen, mir den Handrücken an meinem Kleid abzuwischen. Jeder Instinkt in mir schreit mich an, dass ich in Gefahr bin.
Ich muss meine Füße fest auf den Boden stemmen, damit ich nicht kehrtmache und die Flucht ergreife. Ich würde ohnehin nicht weit kommen. Nicht, solange mir meine Mutter im Weg steht. Nicht, solange die funkelnde Menge aus Leuten die Entwicklung dieser kleinen Szene beobachtet wie Geier, die im Wind Blut gewittert haben. Dieser Pulk liebt nichts so sehr wie Drama. Und wenn ich jetzt vor Demeter und Zeus eine Szene mache, wird das Konsequenzen nach sich ziehen, denen ich mich nicht stellen will. Bestenfalls wird es meine Mutter verärgern. Schlimmstenfalls gehe ich das Risiko ein, zu einer Schlagzeile in den Klatschzeitschriften zu werden, und das wird mir sogar noch mehr Schwierigkeiten einbringen. Ich sollte das hier besser einfach aussitzen, bis ich fliehen kann.
Zeus’ Lächeln ist ein klein wenig zu warm. »Persephone. Du siehst heute Abend bezaubernd aus.«
Mein Herz tobt wie ein Vogel, der versucht, aus seinem Käfig zu entkommen. »Danke«, murmle ich. Ich muss mich beruhigen, meine Emotionen unter Kontrolle bringen. Zeus hat den Ruf, die Art von Mann zu sein, die das Unbehagen einer Person, die schwächer als er ist, genießt. Ich werde ihm auf keinen Fall Genugtuung verschaffen, indem ich ihn wissen lasse, dass er mir Angst einjagt. Das ist die einzige Macht, die ich in dieser Situation habe, und ich weigere mich, sie aufzugeben.
Er kommt näher, drängt sich viel zu dicht an mich heran und senkt die Stimme. »Es ist schön, endlich einmal Gelegenheit zu haben, mit dir zu sprechen. Ich versuche schon seit Monaten, dich zu erwischen.« Er lächelt, doch es erreicht seine Augen nicht. »Man könnte fast meinen, dass du mir aus dem Weg gehst.«
»Natürlich nicht.« Ich kann nicht zurückweichen, da ich sonst gegen meine Mutter stoßen würde … Aber ich denke mehrere Sekunden lang ernsthaft über diese Option nach, bevor ich sie verwerfe. Mutter wird mir niemals vergeben, wenn ich vor dem allmächtigen Zeus eine Szene mache. Sitz es aus. Du kannst das schaffen. Ich ringe mir ein strahlendes Lächeln ab und bete innerlich das Mantra herunter, das mich durch das letzte Jahr gebracht hat.
Drei Monate. Nur noch neunzig Tage stehen zwischen mir und der Freiheit. Nur noch neunzig Tage, bis ich auf meinen Treuhandfonds zugreifen und ihn benutzen kann, um aus Olympus zu verschwinden. Ich kann das überleben. Ich werde das überleben.
Zeus strahlt mich förmlich an und vermittelt warmherzige Aufrichtigkeit. »Ich weiß, dass das hier nicht die übliche Herangehensweise ist, aber es ist an der Zeit, eine Ankündigung zu machen.«
Ich blinzle. »Eine Ankündigung?«
»Ja, Persephone.« Meine Mutter rückt näher, und ihre Augen funkeln wie gezückte Dolche. »Die Ankündigung.« Sie versucht, irgendein Wissen direkt in meinen Kopf zu projizieren, aber ich habe keine Ahnung, was hier vorgeht.
Zeus greift erneut nach meiner Hand, und meine Mutter schiebt mich regelrecht hinter ihm her, als er sich zum vorderen Bereich des Raums aufmacht. Ich werfe meiner Schwester einen panischen Blick zu, aber Psyche wirkt ebenso überfordert, wie ich mich gerade fühle. Was geht hier vor?
Die Leute verstummen, als wir an ihnen vorbeigehen. Ihre Blicke sind wie tausend Nadeln in meinem Nacken. Ich habe in diesem Raum keine Freunde. Mutter würde sagen, dass das meine eigene Schuld ist, weil ich mich nicht so mit den anderen vernetzt habe, wie sie es mir immer wieder aufgetragen hat. Ich habe es versucht. Wirklich. Ich brauchte bloß einen Monat, um zu begreifen, dass die grausamsten Beleidigungen stets mit einem süßen Lächeln und schmeichelnden Worten verbunden sind. Nachdem die erste Einladung zum Mittagessen damit endete, dass meine falsch zitierten Worte in den Schlagzeilen der Klatschpresse landeten, gab ich auf. Ich werde dieses Spiel nie so gut beherrschen wie die Vipern in diesem Raum. Ich hasse das hinterlistige Getue und die versteckten Beleidigungen und die Messer, die hinter Worten und Lächeln verborgen sind. Ich will ein normales Leben, aber das ist das Einzige, was unmöglich ist, wenn die eigene Mutter ein Mitglied der Dreizehn ist.
Zumindest ist es in Olympus unmöglich.
Zeus bleibt im vorderen Bereich des Raums stehen und schnappt sich ein Champagnerglas. In seiner großen Hand sieht es absurd aus, so als könnte er es mit einer groben Berührung zerbrechen. Er hebt das Glas an, und auch das letzte Gemurmel im Raum verstummt. Zeus grinst die Menge an. Man kann leicht erkennen, wie es ihm gelingt, so viel Ergebenheit hervorzurufen – trotz der Gerüchte, die über ihn kursieren. Der Mann verfügt über so viel Charisma, dass es ihm praktisch aus jeder Pore quillt. »Freunde, ich bin nicht ganz ehrlich zu euch gewesen.«
»Das wäre ja mal was Neues«, ruft jemand vom hinteren Ende des Raums, woraufhin leises Gelächter ertönt.
Zeus lacht ebenfalls. »Obwohl wir eigentlich hier sind, um über die neuen Handelsabkommen mit Sabine Valley abzustimmen, habe ich auch noch eine kleine Ankündigung zu machen. Es wird dringend Zeit, dass ich mir eine neue Hera suche und unsere Anzahl damit wieder vollständig werden lasse. Ich habe endlich eine Wahl getroffen.« Er schaut mich an, und das ist die einzige Warnung, die ich bekomme. Dann spricht er die Worte aus, die meine Träume von Freiheit so gnadenlos in Flammen aufgehen lassen, dass ich nichts weiter tun kann, als zuzuschauen, wie sie zu Asche verbrennen. »Persephone Dimitriou, willst du mich heiraten?«
Ich kann nicht atmen. Seine Anwesenheit hat die ganze Luft im Raum weggesaugt, und die Lichter scheinen viel zu grell. Ich wanke auf meinen Absätzen und bleibe nur dank reiner Willenskraft auf den Beinen. Stürzen sich die anderen auf mich wie ein Rudel Wölfe, wenn ich jetzt zusammenbreche? Ich weiß es nicht und weil ich es nicht weiß, muss ich stehen bleiben. Ich öffne den Mund, aber nichts kommt heraus.
Meine Mutter drückt sich von der anderen Seite an mich heran. Sie lächelt strahlend und trällert fröhlich: »Natürlich will sie das! Es wird ihr eine Ehre sein.« Sie bohrt ihren Ellbogen in meine Seite. »Ist es nicht so?«
Nein zu sagen, ist keine Option. Wir reden hier von Zeus, der quasi ein König ist, auch wenn er diesen Titel nicht trägt. Er bekommt, was er will, wann immer er es will. Und wenn ich ihn jetzt vor den mächtigsten Leuten in Olympus demütige, wird er dafür sorgen, dass meine ganze Familie dafür bezahlt. Ich schlucke schwer. »Ja.«
Jubelrufe werden laut, und von dem Lärm wird mir schwindelig. Ich entdecke jemanden, der das Ganze mit seinem Handy aufzeichnet, und weiß ohne den geringsten Zweifel, dass das, was sich hier gerade abgespielt hat, innerhalb einer Stunde überall im Internet zu finden sein wird. Und morgen früh werden alle Nachrichtensender darüber berichten.
Leute treten vor, um uns zu gratulieren – eigentlich um Zeus zu gratulieren –, und die ganze Zeit über behält er meine Hand fest in seinem Griff. Ich starre auf die Gesichter, die alle miteinander verschwimmen, und in meinem Inneren steigt eine Flutwelle aus Hass auf. Diesen Leuten bin ich vollkommen egal. Das weiß ich natürlich. Das weiß ich schon seit meinem ersten Kontakt mit ihnen, seit dem Augenblick, in dem wir aufgrund der neuen Stellung meiner Mutter in diesen erhabenen gesellschaftlichen Kreis aufgestiegen sind. Aber das hier ist eine ganz andere Ebene.
Wir alle kennen die Gerüchte über Zeus. Wir alle. In seiner Zeit als Anführer der Dreizehn hatte er drei Heras – drei Ehefrauen.
Drei mittlerweile tote Ehefrauen.
Wenn ich zulasse, dass mir dieser Mann einen Ring an den Finger steckt, könnte ich ebenso gut zulassen, dass er mir ein Halsband mit einer Leine anlegt. Ich werde niemals selbstbestimmt sein, ich werde niemals etwas anderes sein als sein Anhängsel, bis er auch von mir genug hat und das Halsband durch einen Sarg ersetzt.
Ich werde niemals frei von Olympus sein. Das wird mir erst möglich sein, wenn er stirbt und der Titel auf sein ältestes Kind übergeht. Das könnte Jahre dauern. Wahrscheinlich sogar Jahrzehnte. Und das auch nur, wenn man von der ungeheuerlichen Annahme ausgeht, dass ich ihn überleben werde, anstatt unter der Erde zu enden wie der Rest der Heras.
Um ehrlich zu sein: Meine Chancen gefallen mir nicht besonders gut.
Die Party geht um mich herum weiter, aber ich kann mich auf nichts konzentrieren. Die Gesichter verschwimmen miteinander, die Farben verschmelzen, die Geräusche der überschwänglichen Komplimente klingen in meinen Ohren wie statisches Rauschen. In meiner Brust braut sich ein Schrei zusammen, ein Laut des Verlusts, der zu groß für meinen Körper ist, aber ich kann ihn nicht rauslassen. Wenn ich jetzt anfange zu kreischen, werde ich mit Sicherheit nie wieder aufhören.
Mit tauben Lippen nippe ich Champagner und meine freie Hand zittert so heftig, dass die Flüssigkeit im Glas umherschwappt. Wie durch Zauberhand taucht Psyche vor mir auf. Obwohl ihre ausdruckslose Miene um keinen Millimeter verrutscht, schießt sie mit den Augen regelrecht Laserstrahlen auf unsere Mutter und Zeus. »Persephone, ich muss mal auf die Toilette. Kommst du mit?«
»Natürlich.« Ich klinge kaum wie ich selbst. Ich muss meine Finger beinahe mit Gewalt aus Zeus’ Griff zerren und kann nur noch daran denken, wie er mit diesen fleischigen Händen meinen Körper berühren wird. Oh Götter, mir wird übel.
Psyche scheucht mich aus dem Bankettsaal und benutzt ihren üppigen Körper, um mich abzuschirmen. Sie weicht Gratulanten aus, als wäre sie meine persönliche Leibwächterin. Doch der Flur fühlt sich nicht viel besser an. Die Wände kommen näher. Ich kann Zeus’ Stempel auf jedem Zentimeter dieses Ortes sehen. Wenn ich ihn heirate, wird er auch mir seinen Stempel aufdrücken. »Ich kann nicht atmen«, keuche ich.
»Geh weiter.« Sie drängt mich an den Toiletten vorbei, um eine Ecke herum und in Richtung des Aufzugs. Das klaustrophobische Gefühl wird sogar noch schlimmer, als sich die Türen schließen und mich in der mit Spiegeln verkleideten Kabine einsperren. Ich starre mein Spiegelbild an. Meine Augen wirken in meinem Gesicht zu groß, und meiner blassen Haut fehlt jegliche Farbe.
Ich kann nicht aufhören zu zittern. »Ich werde mich übergeben.«
»Wir haben es fast geschafft, wir haben es fast geschafft.« Sobald sich die Türen öffnen, trägt sie mich förmlich aus dem Aufzug und führt uns durch einen weiteren breiten marmornen Flur, bis wir eine Seitentür erreichen. Wir schlüpfen auf einen der Vorhöfe hinaus, die das Gebäude umgeben. Es handelt sich um einen sorgfältig gepflegten Garten, der inmitten der Stadt wie eine kleine Oase wirkt. Momentan wächst dort nichts. Auf den schlafenden Pflanzen liegt eine puderige Schicht aus Schnee, der offenbar gefallen ist, während wir uns im Gebäude aufgehalten haben. Die Kälte schneidet in meinen Körper wie ein Messer, und ich heiße den beißenden Schmerz willkommen. Alles ist besser, als auch nur für einen Augenblick länger oben in diesem Raum zu sein.
Der Dodona Tower befindet sich genau in der Mitte der Innenstadt von Olympus und ist eines der wenigen Gebäude, das den Dreizehn gemeinschaftlich gehört und nicht nur einem von ihnen allein. Wenngleich letzten Endes alle wissen, dass er in allen Belangen, die wirklich wichtig sind, Zeus gehört. Es ist ein gewaltiger Wolkenkratzer, den ich beinahe magisch fand, als ich zu jung war, um es besser zu wissen. Psyche führt mich zu einer Steinbank. »Musst du deinen Kopf zwischen die Knie klemmen?«
»Das wird nicht helfen.« Die Welt will einfach nicht aufhören, sich zu drehen. Ich muss … Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe meinen Weg immer vor mir gesehen. Er hat sich über die Jahre hinweg bis zu meinem endgültigen Ziel erstreckt. Er ist immer so klar gewesen. Ich würde meinen Masterabschluss hier in Olympus machen – das ist ein Kompromiss mit meiner Mutter, auf den ich mich eingelassen habe. Anschließend würde ich bis zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag warten, weil ich Zugriff auf meinen Treuhandfonds erhalten würde. Und dann würde ich das Geld benutzen, um mich von Olympus zu befreien. Sich einen Weg durch die Barriere zu erkämpfen, die uns vom Rest der Welt trennt, ist schwer, aber es ist nicht unmöglich. Nicht wenn man Hilfe von den richtigen Leuten erhält. Und mein Geld wird dafür sorgen, dass das der Fall sein wird. Und dann werde ich frei sein. Ich kann nach Kalifornien ziehen und meinen Doktor in Berkeley machen. Eine neue Stadt, ein neues Leben, ein neuer Anfang.
Jetzt kann ich gar nichts mehr sehen.
»Ich kann nicht fassen, dass sie das getan hat.« Psyche läuft auf und ab. Ihre Bewegungen sind ruckartig und wütend. Ihr dunkles Haar, das dem unserer Mutter so sehr ähnelt, schwingt bei jedem Schritt. »Kallisto wird sie umbringen. Sie wusste, dass du nichts mit alldem zu tun haben wolltest, und sie hat dich trotzdem dazu gezwungen.«
»Psyche …« Meine Kehle fühlt sich heiß und zugeschnürt an, und meine Brust ist sogar noch enger. Als hätte man mich aufgespießt, und ich würde es jetzt erst bemerken. »Er hat seine letzte Ehefrau getötet. Seine letzten drei Ehefrauen.«
»Das weißt du nicht.« Ihre Erwiderung kommt ganz automatisch, aber sie ist nicht so recht bereit, mir in die Augen zu schauen.
»Auch wenn ich es nicht sicher weiß … Mutter ist sich bewusst, wozu ihn alle für fähig halten, und es ist ihr egal.« Ich schlinge die Arme um meinen Körper. Es hilft nicht gegen das Zittern. »Sie hat mich verkauft, um ihre Macht weiter zu festigen. Dabei ist sie doch eine der Dreizehn. Warum ist das nicht gut genug für sie?«
Psyche hockt sich neben mich auf die Bank. »Wir werden eine Lösung für dieses Problem finden. Wir brauchen nur Zeit.«
»Er wird mir keine Zeit geben«, entgegne ich dumpf. »Er wird auf eine baldige Hochzeit drängen, genauso wie er mir diesen Antrag aufgedrängt hat.« Wie lange habe ich noch? Eine Woche? Einen Monat?
»Wir sollten Kallisto anrufen.«
»Nein.« Ich schreie das Wort beinahe und bemühe mich, leiser zu sprechen. »Wenn du ihr jetzt davon erzählst, wird sie sofort herkommen und eine Szene machen.« Immerhin reden wir von Kallisto; das könnte einerseits bedeuten, dass sie unsere Mutter angiften würde. Andererseits bestünde die Möglichkeit, dass sie einen der Schuhe mit den spitzen Absätzen ausziehen würde, um dann zu versuchen, ihn Zeus in die Kehle zu rammen. Auf jeden Fall hätten ihre Handlungen Konsequenzen, und ich kann nicht zulassen, dass meine ältere Schwester die Bürde trägt, mich zu beschützen.
Ich muss selbst einen Ausweg aus dieser Situation finden.
Irgendwie.
»Vielleicht wäre es unter den aktuellen Umständen ganz gut, eine Szene zu machen.«
Psyche meint es gut, aber sie versteht es immer noch nicht. Als Demeters Töchter haben wir zwei Möglichkeiten – wir können nach den Regeln von Olympus spielen oder die Stadt komplett hinter uns lassen. Das ist alles. Wir können uns dem System nicht widersetzen, ohne den Preis zu zahlen, und die Konsequenzen sind zu schwerwiegend. Wenn auch nur eine von uns aus der Reihe tanzt, wird das einen Welleneffekt auslösen, der Auswirkungen auf alle haben wird, die mit uns in Verbindung stehen. Selbst die Tatsache, dass Mutter eine der Dreizehn ist, wird uns nicht retten, falls es dazu kommt.
Ich sollte ihn heiraten. Das würde dafür sorgen, dass meine Schwestern weiterhin geschützt sind – oder zumindest so geschützt, wie es in dieser Schlangengrube möglich ist. Es ist das Richtige, selbst wenn mir beim bloßen Gedanken daran übel wird. Als würde mein Magen darauf reagieren, rebelliert er plötzlich, und ich schaffe es gerade noch so zu den nächstgelegenen Büschen, um mich zu übergeben. Mir ist vage bewusst, dass Psyche mir das Haar aus dem Gesicht hält und mit beruhigenden kreisenden Bewegungen über meinen Rücken streicht.
Ich sollte das tun … aber es geht nicht.
»Ich kann das nicht tun.« Es laut auszusprechen, sorgt dafür, dass es sich echter anfühlt. Ich wische mir den Mund ab und zwinge mich dazu, mich aufzurichten.
»Wir übersehen etwas. Mutter würde dich auf keinen Fall zu einer Ehe mit einem Mann zwingen, der dir etwas antun könnte. Sie ist ehrgeizig, aber sie liebt uns. Sie würde uns nicht in Gefahr bringen.«
Es gab mal eine Zeit, in der ich Psyche zugestimmt hätte. Nach dem heutigen Abend weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll. »Ich kann das nicht tun«, wiederhole ich. »Ich werde das nicht tun.«
Psyche wühlt in ihrer winzigen Handtasche herum und fördert einen Streifen Kaugummi zutage. Als ich das Gesicht verziehe, zuckt sie mit den Schultern. »Es bringt nichts, sich von Kotzeatem ablenken zu lassen, während du lebensverändernde Absichtserklärungen verkündest.«
Ich nehme den Kaugummistreifen entgegen und der Pfefferminzgeschmack hilft mir tatsächlich ein wenig dabei, mich zu sammeln. »Ich kann das nicht tun«, wiederhole ich erneut.
»Ja, das hast du erwähnt.« Sie legt mir nicht dar, wie unmöglich es sein wird, aus dieser Situation herauszukommen. Sie zählt auch nicht all die Gründe auf, aus denen ich niemals gewinnen kann, wenn ich dagegen ankämpfe. Ich bin nur eine einzelne Frau gegen all die Macht, die Olympus aufbringen kann. Aus der Reihe zu tanzen, ist keine Option. Bevor sie mich gehen lassen, werden sie mich auf die Knie zwingen. Aus dieser Stadt herauszukommen, hätte mir auch so schon alle Ressourcen abverlangt, die ich aufbringen konnte. Nun zu verschwinden, nachdem Zeus Anspruch auf mich erhoben hat? Ich weiß nicht mal, ob das überhaupt möglich ist.
Psyche nimmt meine Hand. »Was wirst du tun?«
Panik rauscht durch meinen Kopf. In mir keimt der Verdacht, dass ich dieses Gebäude nie mehr verlassen werde, wenn ich es jetzt wieder betrete. Es fühlt sich paranoid an, aber Mutters verstohlenes Verhalten in den letzten Tagen kam mir schon seltsam vor. Und jetzt weiß ich, was dahintersteckte. Nein, ich kann es mir nicht leisten, meine Instinkte zu ignorieren. Nicht mehr. Oder vielleicht vernebelt mir die Angst auch den Verstand. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Ich weiß nur, dass ich auf gar keinen Fall in dieses Gebäude zurückgehen kann.
»Kannst du mir meine Tasche holen?« Ich habe sowohl meine Handtasche als auch mein Handy oben gelassen. »Und Mutter mitteilen, dass ich mich nicht gut fühle und nach Hause gehen werde?«
Psyche nickt bereits. »Natürlich. Brauchst du sonst noch etwas.«
Nachdem sie weg ist, benötige ich zehn Sekunden, um zu begreifen, dass ich keins dieser Probleme lösen kann, indem ich nach Hause gehe. Mutter wird einfach kommen und mich einsammeln, um mich an meinen neuen Verlobten auszuliefern, zur Not auch gefesselt. Ich reibe mit den Händen über mein Gesicht.
Ich kann nicht nach Hause gehen, ich kann nicht hierbleiben, ich kann nicht denken.
Ich rappele mich auf und drehe mich zum Eingang des Vorhofs herum. Ich sollte darauf warten, dass Psyche zurückkommt. Ich sollte zulassen, dass sie so lange auf mich einredet, bis ich mich einigermaßen beruhigt habe. Sie ist ebenso gerissen wie Mutter. Mit der Zeit wird sie eine Lösung finden. Aber ich darf nicht zulassen, dass sie in diese Sache verwickelt wird. Denn damit gehe ich das Risiko ein, dass Zeus sie genau wie mich bestrafen wird, sobald er erkennt, dass ich seinen Ring auf gar keinen Fall an meinem Finger haben will. Falls es eine Chance gibt, meinen Schwestern die Konsequenzen meiner Handlungen zu ersparen, werde ich sie ergreifen. Mutter und Zeus werden keinen Grund haben, sie zu bestrafen, wenn sie mir nicht dabei geholfen haben, mich dieser Ehe zu verwehren.
Ich muss von hier verschwinden, und ich muss es allein tun. Jetzt sofort.
Ich mache einen Schritt und dann einen weiteren. Als ich den dicken steinernen Torbogen erreiche, der auf die Straße hinausführt, bleibe ich beinahe stehen. Ich lasse beinahe zu, dass meine wachsende Angst mein Vorhaben vereitelt. Beinahe mache ich kehrt, um mich dem Halsband zu ergeben, das mir Zeus und meine Mutter so dringend anlegen wollen.
Nein.
Das einzelne Wort fühlt sich wie ein Schlachtruf an. Ich stürme vorwärts, vorbei am Eingang und auf den Bürgersteig hinaus. Ich werde schneller, bewege mich mit zügigen Schritten und wende mich instinktiv Richtung Süden. Weg vom Zuhause meiner Mutter. Weg vom Dodona Tower und all den Raubtieren, die sich darin befinden. Wenn ich nur ein wenig Abstand gewinnen kann, kann ich denken. Das brauche ich. Wenn ich meine Gedanken ordnen kann, kann ich mir einen Plan überlegen und einen Weg aus diesem Schlamassel finden.
Der Wind nimmt zu, während ich gehe. Er schneidet durch mein dünnes Kleid, als würde es gar nicht existieren. Ich laufe schneller. Meine Absätze klappern auf dem Asphalt. Das Geräusch erinnert mich an meine Mutter, und das erinnert mich wiederum daran, was sie getan hat.
Mir ist egal, ob Psyche wahrscheinlich recht damit hat, dass Mutter zweifellos einen Plan verfolgt, bei dem mein Kopf nicht buchstäblich auf dem Hackklotz landen wird. Ihre Pläne ändern nichts an meiner Entscheidung. Sie hat nicht mit mir geredet, sie hat mir keinen Vertrauensbonus geschenkt. Sie hat einfach diesen Bauern geopfert, um Zugang zum König zu erhalten. Das ist widerwärtig.
Die hohen Gebäude der Innenstadt von Olympus halten den Wind ein wenig ab, aber wann immer ich eine Straße überquere, kommt er von Norden her angerauscht und weht mir mein Kleid um die Beine. Da er vom Wasser der Bucht kommt, fühlt er sich besonders eisig an. Die Luft ist so kalt, dass meine Nebenhöhlen schmerzen. Ich muss aus diesem Wetter raus, aber die Vorstellung, umzudrehen und zum Dodona Tower zurückzukehren, ist zu schrecklich, um sie auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Ich würde lieber erfrieren.
Angesichts des absurden Gedankens entfährt mir ein heiseres Lachen. Ja, damit würde ich es ihnen zeigen. Ein paar Zehen und Finger zu verlieren, weil sie mir abfrieren, wird meiner Mutter und Zeus definitiv mehr schaden als mir. Ich weiß nicht, ob es an der Panik oder an der Kälte liegt, aber ich drehe langsam durch.
Die Innenstadt von Olympus ist genauso sorgfältig herausgeputzt wie Zeus’ Turm. Sämtliche Fassaden bilden einen einheitlichen Stil, der elegant und minimalistisch ist. Metall und Glas und Stein. Es sieht hübsch aus, ist letztendlich aber seelenlos. Die einzigen Hinweise darauf, was für Geschäfte sich hinter den zahlreichen Glastüren verbergen, bestehen aus geschmackvollen vertikalen Schildern, auf denen die Namen der Unternehmen prangen. Je weiter man sich vom Stadtzentrum entfernt, desto individueller wird die Umgebung. Aber so dicht am Dodona Tower kontrolliert Zeus alles.
Falls wir heiraten sollten, wird er dann Kleidung für mich bestellen, damit ich seinen ästhetischen Vorstellungen entspreche? Wird er meine Friseurbesuche überwachen, um mich zu dem Abbild zu formen, das er haben will? Wird er kontrollieren, was ich tue, was ich sage, was ich denke? Der Gedanke lässt mich erschaudern.
Ich bringe drei Blocks hinter mich, bevor ich bemerke, dass meine Schritte nicht die einzigen sind, die ich höre. Ich werfe einen Blick über meine Schulter und entdecke einen halben Block hinter mir zwei Männer. Ich gehe schneller, und sie passen ihr Tempo mühelos an meins an. Sie versuchen nicht unbedingt, die Entfernung zwischen uns zu überbrücken, aber ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass sie mich jagen.
Um diese Uhrzeit haben die Geschäfte und Unternehmen in der Innenstadt alle geschlossen. Ein paar Blocks entfernt erklingt Musik, die aus einer Bar kommen muss, die noch geöffnet hat. Vielleicht kann ich sie darin abschütteln – und mich gleichzeitig aufwärmen.
Ich biege bei der nächsten Gelegenheit links ab und halte auf die Richtung zu, aus der die Musik kommt. Ein weiterer Blick über meine Schulter zeigt mir, dass mich nun nur noch ein Mann verfolgt. Wohin ist der andere verschwunden?
Ich erhalte meine Antwort ein paar Sekunden später, als er an der nächsten Kreuzung links von mir auftaucht. Er versperrt die Straße zwar nicht, aber sämtliche Instinkte raten mir, mich so weit wie möglich von ihm fernzuhalten. Ich weiche nach rechts aus und bewege mich weiter in Richtung Süden.
Je weiter ich mich vom Zentrum der Innenstadt entferne, desto weniger entsprechen die Gebäude dem vorgegebenen Muster. Ich entdecke immer mehr Abfall auf der Straße. Mehrere Geschäfte haben ihre Schaufenster mit Gittern gesichert. Ich entdecke sogar ein oder zwei Zwangsvollstreckungsbescheide, die an schmutzigen Türen kleben. Zeus kümmert nur das, was er sehen kann. Und ganz offensichtlich erstreckt sich sein Blick nicht bis zu diesem Block.
Vielleicht beeinträchtigt die Kälte meinen Verstand, aber ich brauche viel zu lange, um zu begreifen, dass mich meine Verfolger in Richtung Styx treiben. Echte Angst schlägt ihre Zähne in mich. Falls sie mich am Flussufer umzingeln, werde ich wahrhaftig in der Falle sitzen. Zwischen der Ober- und der Unterstadt gibt es nur drei Brücken, aber niemand benutzt sie – nicht mehr, seit der letzte Hades starb. Den Fluss zu überqueren, ist verboten. Falls man der Legende glauben kann, ist es auch gar nicht möglich, ohne einen schrecklichen Preis zu zahlen.
Allerdings müsste es mir dafür erst einmal gelingen, eine Brücke zu erreichen.
Das Entsetzen verleiht mir Flügel. Ich mache mir nicht länger Gedanken darüber, wie sehr meine Füße in diesen lächerlich unbequemen Absatzschuhen schmerzen. Die Kälte nehme ich kaum noch wahr. Es muss eine Möglichkeit geben, meinen Verfolgern zu entkommen und Leute zu finden, die mir helfen können.
Ich habe nicht mal mein verdammtes Handy bei mir.
Verflucht, ich hätte mich nicht von meinen Gefühlen überwältigen lassen sollen. Wenn ich einfach darauf gewartet hätte, dass mir Psyche meine Handtasche bringt, würde das alles jetzt nicht passieren … Oder?
Zeit hat keinerlei Bedeutung mehr. Ich zähle die Sekunden mit jedem keuchenden Atemstoß, der sich meiner Brust entringt. Ich kann nicht denken, ich kann nicht stehen bleiben, ich renne fast. Götter, meine Füße schmerzen.
Zuerst bemerke ich das Rauschen des Flusses kaum. Es ist mir beinahe unmöglich, es zu hören, weil meine eigenen schnaufenden Atemzüge alles übertönen. Doch dann ist er plötzlich vor mir – ein nasses, schwarzes Band, das viel zu breit ist und viel zu schnell fließt, um es sicher zu durchschwimmen, selbst wenn gerade Sommer wäre. Im Winter ist der Fluss ein Todesurteil.
Ich wirbele herum und stelle fest, dass die Männer näher gekommen sind. Ich kann ihre Gesichter in den Schatten nicht richtig erkennen. In diesem Moment wird mir klar, wie still die Nacht geworden ist. Die Geräusche der Bar, in die ich fliehen wollte, sind kaum mehr als ein fernes Murmeln.
Niemand kommt, um mich zu retten.
Niemand weiß überhaupt, dass ich hier bin.
Der Mann zu meiner Rechten, der größere der beiden, lacht auf eine Weise, die dafür sorgt, dass mein Körper gegen Schauer ankämpft, die nichts mit der Kälte zu tun haben. »Zeus würde sich gerne mit dir unterhalten.«
Zeus.
Hatte ich mir eingebildet, dass diese Situation nicht noch schlimmer werden könnte? Wie dumm von mir. Das sind keine zufälligen Raubtiere. Sie wurden auf meine Fährte gesetzt wie Hunde, die einen entlaufenen Hasen aufspüren sollen. Ich hatte doch nicht wirklich geglaubt, dass er einfach tatenlos dastehen und mich entkommen lassen würde, oder? Offenbar schon, denn der Schock sorgt dafür, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Wenn ich stehen bleibe, werden sie mich einsammeln und zu meinem Verlobten zurückbringen. Er wird mich einsperren. Ich hege absolut keinen Zweifel, dass ich keine weitere Gelegenheit zur Flucht erhalten werde.
Ich denke nicht. Ich plane nicht.
Ich schüttele meine Schuhe ab und laufe um mein Leben.
Hinter mir fluchen sie und dann donnern ihre Schritte über den Boden. Sie sind mir zu nah. Der Fluss beschreibt hier eine Biegung, und ich folge dem Uferverlauf. Ich weiß nicht mal, wo ich hinlaufe. Weg. Ich muss einfach nur weg. Mir ist egal, wie das wirkt. Ich würde mich in den eisigen Fluss werfen, um Zeus zu entkommen. Alles ist besser als das Monster, das über die Oberstadt herrscht.
Die Cypress Bridge ragt vor mir auf. Sie ist eine alte Steinbrücke mit Säulen, die breiter sind, als ich groß bin und doppelt so hoch. Sie bilden einen Bogen, der den Eindruck erweckt, dass man diese Welt hinter sich lässt, wenn man ihn durchschreitet.
»Halt!«
Ich ignoriere den Ruf und stürze durch den Bogen. Es tut weh. Verdammt, alles tut weh. Meine Haut brennt, als würden unsichtbare Hindernisse sie aufreißen, und meine Füße fühlen sich an, als würde ich über Glassplitter laufen. Doch es kümmert mich nicht. Ich kann jetzt nicht stehen bleiben, nicht wenn mir diese Männer so dicht auf den Fersen sind. Ich bemerke kaum den Nebel, der um mich herum aufsteigt. Er zieht in Schwaden vom Fluss heran.
Ich habe die Brücke zur Hälfte überquert, als ich den Mann entdecke, der am anderen Ufer steht. Er trägt einen schwarzen Mantel und hat die Hände in den Taschen. Nebel wabert um seine Beine herum wie ein Hund, der seinen Herrn umschmeichelt. Ein abstruser Gedanke, der nur beweist, dass es mir nicht gut geht. Es geht mir nicht im Mindesten gut.
»Hilfe!« Ich weiß nicht, wer dieser Fremde ist, aber er muss besser sein als das, was mich verfolgt. »Bitte hilf mir!«
Er regt sich nicht.
Meine Schritte wanken. Mein Körper hat keine Kraft mehr und bricht unter der Kälte, der Angst und dem seltsamen, schneidenden Schmerz, den das Überqueren der Brücke auslöst, zusammen. Ich stolpere, sacke fast auf die Knie und schaue dem Fremden direkt in die Augen. Flehend.
Er starrt auf mich herab. Eine gefühlte Ewigkeit lang steht er einfach nur still wie eine in Schwarz gehüllte Statue da. Dann scheint er eine Entscheidung zu treffen. Er hebt eine Hand und streckt sie mit der Handfläche nach oben in meine Richtung aus. Er winkt mich über die Brücke, über den Teil des Styx, den es noch zu überqueren gilt. Endlich bin ich ihm nah genug, um sein dunkles Haar und seinen Bart zu sehen, um mir auszumalen, wie mich sein finsterer Blick durchbohrt. Die seltsame, summende Anspannung in der Luft um mich herum scheint nachzulassen und gestattet es mir, die letzten paar Schritte zur anderen Seite ohne Schmerzen hinter mich zu bringen.
»Komm«, sagt er schlicht.
Irgendwo in den Tiefen meiner Panik schreit mich mein Verstand an, dass ich gerade einen schrecklichen Fehler begehe. Es ist mir jedoch egal. Ich kratze den letzten verbliebenen Rest meiner Kraft zusammen und laufe auf ihn zu.
Ich weiß nicht, wer dieser Fremde ist, aber jeder ist mir lieber als Zeus.
Egal um welchen Preis.
Die Frau gehört nicht auf meine Seite des Styx. Das allein sollte ausreichen, damit ich mich abwende. Aber ich kann nicht umhin, ihre humpelnden Schritte zu bemerken. Oder die Tatsache, dass sie mitten im Januar barfuß ist und nicht mal einen verdammten Mantel trägt. Oder den flehenden Ausdruck in ihren Augen.
Ganz zu schweigen von den zwei Männern, die sie verfolgen und versuchen, sie zu erwischen, bevor sie diese Seite erreichen kann. Sie wollen nicht, dass sie die Brücke überquert – und das verrät mir alles, was ich wissen muss. Sie unterstehen einem der Dreizehn. Normale Bürger Olympus vermeiden es, den Fluss zu überqueren. Sie ziehen es vor, auf ihren jeweiligen Seiten des Styx zu bleiben, obwohl sie nicht so recht verstehen, weshalb genau sie kehrtmachen, wenn sie eine der drei Brücken erreichen. Aber diese beiden Männer verhalten sich so, als wüssten sie, dass die Frau außerhalb ihrer Reichweite sein wird, sobald sie dieses Ufer betritt.
Ich gestikuliere mit den Händen. »Schneller.«
Sie schaut hinter sich, und ihr ganzer Körper strahlt eine so heftige Panik aus, dass es beinah scheint, als hätte sie laut aufgeschrien. Sie hat mehr Angst vor ihnen als vor mir, was eine Offenbarung sein könnte, würde ich zu lange darüber nachdenken. Sie hat mich fast erreicht, nur noch ein paar Meter trennen uns.
Das ist der Moment, in dem ich sie erkenne. Ich habe diese großen grünbraunen Augen und dieses hübsche Gesicht auf sämtlichen Klatschseiten gesehen, die den Dreizehn und ihren Freundes- und Familienkreisen mit Begeisterung folgen. Diese Frau ist Demeters zweitälteste Tochter Persephone.
Was macht sie hier?
»Bitte«, japst sie erneut.
Sie kann nirgendwohin. Ihre Verfolger befinden sich auf der einen Seite der Brücke. Ich bin auf der anderen. Sie muss wirklich verzweifelt sein, um den Fluss zu überqueren, sich an diesen unsichtbaren Barrieren vorbeizuzwängen und in Bezug auf ihre Sicherheit auf einen Mann wie mich zu setzen. »Lauf«, dränge ich sie. Der Vertrag sorgt dafür, dass ich nicht zu ihr gehen kann, aber sobald sie mich erreicht hat …
Hinter ihr werden die Männer immer schneller und sprinten schließlich los, um sie zu erwischen, bevor sie mich erreicht. Sie ist langsamer geworden und humpelt nun mehr, als dass sie läuft. Möglicherweise ist sie verletzt. Oder vielleicht ist es auch bloß reine Erschöpfung. Trotzdem wankt sie fest entschlossen weiter.
Ich schätze die Entfernung ein, während sie sie überwindet. Sechs Meter. Viereinhalb. Drei. Anderthalb.
Die Männer sind ihr dicht auf den Fersen, kommen ihr verdammt nah. Aber Regeln sind Regeln, und nicht einmal ich kann sie brechen. Sie muss es aus eigener Kraft ans Ufer schaffen. Ich schaue an ihr vorbei zu ihren Verfolgern und verspüre ein scheußlich vertrautes Gefühl. Ich kenne diese Männer. Ich habe Akten über sie, die über Jahre zurückreichen. Es sind Vollstrecker, die hinter den Kulissen für Zeus arbeiten. Sie kümmern sich um Dinge, die er vor der Öffentlichkeit, die ihn verehrt, lieber geheim halten würde.
Die Tatsache, dass sie hier sind und sie verfolgen, bedeutet, dass etwas Großes vor sich geht. Zeus spielt gern mit seiner Beute, aber diese Nummer würde er ganz sicher nicht mit einer von Demeters Töchtern abziehen, oder? Es spielt keine Rolle. Sie hat sein Territorium fast verlassen … und meins erreicht.
Und dann gelingt es ihr wie durch ein Wunder.
Sobald Persephone diese Seite der Brücke berührt, packe ich ihr Handgelenk, wirbele sie herum und presse sie mit dem Rücken an meine Brust. In meinen Armen fühlt sie sich sogar noch kleiner an, noch zerbrechlicher, und Wut steigt langsam in mir auf, als ich spüre, wie sie zittert. Diese Mistkerle haben sie bereits eine ganze Weile lang gejagt und sie auf seinen Befehl hin terrorisiert. Das ist zweifellos irgendeine Art Bestrafung. Zeus trieb schon immer gern Leute in Richtung Styx, damit ihre Angst stetig weiterwuchs, mit jedem Block, den sie hinter sich brachten, bis sie am Ufer des Flusses schließlich in der Falle saßen. Persephone ist eine der wenigen, die tatsächlich versucht haben, eine der Brücken zu überqueren. Die Überquerung ohne Einladung zu wagen – ganz zu schweigen davon, sie dann auch noch erfolgreich hinter sich zu bringen –, spricht für innere Stärke. Das respektiere ich.
Aber wir alle haben heute Nacht unsere Rollen zu spielen, und selbst wenn ich dieser Frau nichts antun will, ist sie nun einmal ein Trumpf, der mir direkt in die Hände gefallen ist. Das ist eine Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen werde. »Halt still«, murmle ich.
Sie erstarrt, atmet aber weiterhin keuchend ein und aus. »Wer …?«
»Nicht jetzt.« Ich tue mein Bestes, um ihr Zittern für den Moment zu ignorieren. Ich umfasse ihre Kehle mit einer Hand und warte darauf, dass die zwei Männer zu uns aufholen. Ich tue ihr nicht weh, aber ich übe ganz leicht Druck aus, damit sie stillhält – damit es überzeugend aussieht. Sie erstarrt an meinem Körper. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir instinktiv vertraut oder ob ihre körperliche Reaktion ihrer Angst oder ihrer Erschöpfung geschuldet ist, aber es spielt keine Rolle.
Die Männer kommen stolpernd zum Stehen. Sie sind nicht bereit, den verbliebenen Abstand zwischen uns zu überwinden. Ich befinde mich am Flussufer der Unterstadt. Ich habe keine Gesetze gebrochen, und sie wissen es. Der auf der rechten Seite starrt mich finster an. »Die Frau, die du da hast, gehört Zeus.«
Persephone versteift sich in meinen Armen, aber ich ignoriere es. Ich konzentriere mich auf meine Wut und lasse sie als eisigen Unterton in meine Stimme einfließen. »Dann hätte er seinen kleinen Liebling nicht so weit von seinem sicheren Zuhause fortspazieren lassen sollen.«
»Du machst einen Fehler. Einen großen Fehler.«
Falsch. Das hier ist kein Fehler. Es ist eine Gelegenheit, auf die ich dreißig verdammte Jahre lang gewartet habe. Eine Chance, Zeus in seinem strahlenden Reich direkt ins Herz zu treffen. Ihm jemanden wegzunehmen, der ihm etwas bedeutet, genau wie er mir die zwei wichtigsten Personen in meinem Leben wegnahm, als ich ein Kind war. »Sie befindet sich jetzt in meinem Territorium. Ihr könnt gerne versuchen, sie euch zurückzuholen, aber die Konsequenzen für den Verstoß gegen den Vertrag werdet ihr tragen müssen.«
Sie sind klug genug, um zu wissen, was das bedeutet. Egal wie sehr Zeus diese Frau zurückhaben will, nicht einmal er kann gegen diesen Vertrag verstoßen, ohne den Rest der Dreizehn gegen sich aufzubringen. Sie wechseln einen Blick. »Er wird dich umbringen.«
»Er kann es gern versuchen.« Ich starre sie unerschrocken an. »Sie gehört jetzt mir. Ihr solltet Zeus auf jeden Fall mitteilen, wie sehr ich vorhabe, sein unerwartetes Geschenk zu genießen.« Daraufhin setze ich mich in Bewegung. Ich werfe Persephone über meine Schulter und marschiere die Straße hinunter, tiefer in mein Territorium hinein. Was auch immer dafür gesorgt hat, dass sie bis zu diesem Moment wie erstarrt war, lässt schlagartig nach, und sie wehrt sich und trommelt mit ihren Fäusten auf meinen Rücken.
»Lass mich runter.«
»Nein.«
»Lass mich los.«
Ich ignoriere sie und biege schnell um eine Ecke. Sobald wir außer Sichtweite der Brücke sind, setze ich sie ab. Die Frau versucht, mir einen Schlag zu verpassen, was mich unter anderen Umständen amüsieren könnte. Sie hat mehr Feuer, als ich es von einer von Demeters Schickeriatöchtern erwartet hätte. Ich hatte vor, sie allein weitergehen zu lassen, aber nach dieser Konfrontation noch länger draußen in der Nacht zu verweilen, ist ein Fehler. Sie ist dafür nicht richtig angezogen und außerdem besteht immer die Möglichkeit, dass Zeus Spione in meinem Territorium hat, die ihm alles berichten werden.
Schließlich habe ich Spione in seinem Territorium.
Ich entledige mich meines Mantels und lege ihn ihr um. Ich ziehe den Reißverschluss zu, bevor sie Gelegenheit hat, sich zu wehren, und halte ihre Arme seitlich an ihrem Körper fest. Sie flucht, aber ich bin bereits wieder in Bewegung und hebe sie erneut über meine Schulter. »Sei still.«
»Das kannst du vergessen.«
Mein Geduldsfaden, der ohnehin schon recht dünn ist, reißt beinahe. »Du bist halb erfroren und humpelst. Halt den Mund und sei still, bis wir drinnen sind.«
Sie hört nicht auf, leise vor sich hin zu grummeln, aber sie wehrt sich nicht länger. Das genügt. Vom Fluss wegzukommen hat momentan oberste Priorität. Ich bezweifle, dass Zeus’ Männer dumm genug sein werden zu versuchen, den Rest der Brücke zu überqueren, aber heute Nacht ist schon eine Menge Unerwartetes passiert. Ich weiß nur zu gut, dass man nichts als selbstverständlich annehmen sollte.
Die Gebäude hier in der Nähe des Flusses sind absichtlich heruntergekommen und leer. Das hilft dabei, die Geschichten aufrechtzuerhalten, die man sich in der Oberstadt gerne über meine Seite des Flusses erzählt. Solange diese funkelnden Arschlöcher denken, dass es hier unten nichts Wertvolles gibt, lassen sie meine Leute in Ruhe. Der Vertrag hat nur so lange Bestand, wie sich die Dreizehn einig sind. Sollten sie sich je dazu entschließen, sich zusammenzutun und die Unterstadt einzunehmen, würde das die übelste Art von Ärger bedeuten. Deswegen ist es besser, wenn man dem Ganzen einfach komplett aus dem Weg geht.
Und bis heute Nacht war das auch ein toller Plan. Aber jetzt habe ich ins Wespennest gestochen und kann es nicht mehr rückgängig machen. Die Frau auf meiner Schulter wird entweder das Werkzeug sein, das ich benutze, um Zeus endlich zu Fall zu bringen, oder sie wird meinen Untergang bedeuten.
Fröhliche Gedanken.
Ich habe kaum das Ende des Blocks erreicht, als sich auf beiden Seiten der Straße zwei Schatten von den Gebäuden lösen und mir mit ein paar Schritten Abstand folgen. Minthe und Charon. Ich habe mich schon vor langer Zeit an die Tatsache gewöhnt, dass ich auf meinen nächtlichen Spaziergängen nie wirklich allein bin. Selbst als ich noch ein Kind war, versuchte keiner, mich je aufzuhalten. Sie sorgten einfach nur dafür, dass ich nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geriet, mit denen ich nicht umgehen konnte. Als ich schließlich die Unterstadt übernahm und mein Vormund abdankte, überließ er mir die Kontrolle über alles bis auf das.
Eine weichherzigere Person würde davon ausgehen, dass meine Leute es aus Fürsorglichkeit tun. Vielleicht stimmt das zum Teil. Aber letztendlich steht fest: Wenn ich jetzt sterbe, ohne einen Erben zu hinterlassen, wird die sorgfältig aufgebaute Ordnung in Olympus ins Wanken geraten und zusammenbrechen. Die Narren in der Oberstadt wissen nicht einmal, was für ein wichtiges Rädchen ich in ihrem Getriebe bin. Man erwähnt mich nicht, man erkennt mich nicht an … Aber das ist mir auch lieber so.
Wenn die anderen Dreizehn ihre goldenen Augen hierher richten, kann das zu nichts Gutem führen.
Ich biege in eine Gasse und dann in eine weitere ein. Manche Teile der Unterstadt sehen wie der Rest von Olympus aus, aber dieser hier gehört nicht dazu. Die Gasse stinkt zum Himmel, und unter meinen Schuhen knirscht bei jedem Schritt Glas. Jemandem, der lediglich einen oberflächlichen Blick auf die Gegend wirft, würden die sorgfältig verborgenen Kameras entgehen, die so ausgerichtet sind, dass sie den Ort aus allen Winkeln im Blick haben.
Niemand nähert sich meinem Zuhause, ohne dass meine Leute davon erfahren. Nicht einmal ich, auch wenn ich schon vor langer Zeit ein paar Tricks gelernt habe, die ich anwenden kann, wenn ich wirklich mal allein sein will. Ich biege nach links ab und marschiere auf eine unauffällige Tür in einer ebenso unauffälligen Ziegelmauer zu. Ich werfe einen kurzen Blick zu der winzigen Kamera über der Tür und schon klickt das Schloss unter meiner Hand auf. Ich schließe die Tür leise hinter mir. Minthe und Charon werden die Gegend überprüfen und meinen Weg zurückverfolgen, um sicherzugehen, dass die beiden Beinahe-Eindringlinge nicht auf dumme Gedanken kommen.
»Wir sind jetzt drinnen. Lass mich runter.« Persephones Stimme ist so eisig wie die einer jeden Prinzessin am Hof.
Ich steige eine schmale Treppe hinunter. »Nein.« Es ist dunkel. Das einzige Licht kommt aus schwach schimmernden Leuchtleisten, die in die einzelnen Stufen eingelassen sind. Als ich das Ende der Treppe erreiche, wird die Luft schlagartig kalt. Wir befinden uns jetzt vollkommen unter der Erde und in den Tunneln machen wir uns nicht die Mühe, Geräte zur Klimaregelung zu installieren. Die Tunnel dienen dem leichten Vorankommen oder als Fluchtweg in letzter Minute. Sie müssen nicht gemütlich sein. Sie zittert auf meiner Schulter, und ich bin froh, dass ich mir die Zeit genommen habe, ihr meinen Mantel umzulegen. Ihre Verletzungen werde ich mir erst ansehen können, wenn wir in meinem Zuhause sind, und je schneller das passiert, desto besser ist es für alle.
»Lass. Mich. Runter.«