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Ihre Herzen sind gebrochen. Doch es gibt eine zweite Chance für sie ...
Eurydike ist es leid, im Schatten ihrer mächtigen Familie zu stehen und ihrem Ex-Freund Orpheus nachzutrauern. Das Schicksal führt sie zu Charon, der als rechte Hand von Hades zwar alles für Olympus tun würde, aber ebenfalls endlich eigene Entscheidungen treffen will. Doch Eurydike kann ihre Vergangenheit nicht vergessen, und auch Charon merkt, dass zu ihrem Glück noch jemand fehlt: Orpheus. Als die Mauern von Olympus jedoch zu bröckeln beginnen und feindliche Truppen in die Stadt eindringen, kommt alles anders ...
»Eine große Empfehlung für alle, die sexy und von griechischer Mythologie inspirierte Romance lieben.« COURTNEY READS ROMANCE
Band 6 der DARK-OLYMPUS-Reihe
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Seitenzahl: 457
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
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Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Katee Robert bei LYX
Impressum
Katee Robert
Neon Gods
ORPHEUS & EURYDIKE & CHARON
Roman
Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer
Ganz Olympus kennt Eurydike als die jüngste Tochter von Demeter und als das unschuldige liebe Mädchen, dem Orpheus in aller Öffentlichkeit das Herz gebrochen hat. Doch die kleine Schwester von Psyche und Persephone ist es leid, ihrem Ex-Freund nachzutrauern. Das Schicksal führt sie zu Charon, der als rechte Hand von Hades zwar alles für Olympus tun würde, aber ebenfalls endlich eigene Entscheidungen treffen will. Und obwohl sie echte Gefühle füreinander entwickeln, kann Eurydike ihre Vergangenheit nicht vergessen, und auch Charon merkt, dass zu ihrem Glück noch jemand fehlt: Orpheus. Gerade als alte Wunden zu heilen und neue Gefühle zu blühen beginnen, bröckeln die Mauern von Olympus und feindliche Truppen dringen in die Stadt ein – und plötzlich steht so viel mehr für die drei Liebenden auf dem Spiel, als sie je hätten ahnen können …
Liebe Leser*innen,
Neon Gods – Orpheus & Eurydike & Charon enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für Anaïs Mitchell.
Der Keim für diese Version von Orpheus und Eurydike wurde mit dem Soundtrack von Hadestown gesät. Danke für die großartige Inspiration!
Die Musik ist ein tiefer, pulsierender Rhythmus, der jedes Molekül im Raum zu durchdringen scheint und die Anwesenden zu sündigem Verhalten inspiriert. Und wenn es sie nicht inspiriert, dann spült es zumindest den letzten Rest von Besorgnis darüber fort, wie sehr an dieser Wahrnehmung von Reinheit festgehalten wird, die die Oberstadt so überaus schätzt.
Wir sind jetzt aber nicht in der Oberstadt.
Ich blicke zum fünften Mal in zehn Minuten auf mein Telefon und fluche leise, als die Textnachricht, auf die ich warte, endlich kommt.
Ariadne: Mein Dad hat uns Ausgehverbot erteilt. Tut mir leid, aber ich kann heute Abend nicht kommen.
Ich habe in drei Wochen ein halbes Dutzend Versuche unternommen, Ariadne in Hades’ Kink-Club zu holen. Ich habe gelogen wie gedruckt darüber, dass niemand sie erkennen würde. Ich habe ein schlechtes Gewissen, sie in diese Falle gelockt zu haben, wo sie doch eine so reizende Person zu sein scheint. Aber dieses schlechte Gewissen ist verblasst dank der Ereignisse im letzten Monat.
Menschen sterben, und die Schuld liegt bei der Familie Vitalis. Bei Ariadnes Familie. Ihr Vater ist womöglich derjenige, der die Strippen zieht, aber die kleinen Hinweise, die Ariadne Apollon bei der Hausparty vor sechs Wochen gegeben hat, waren nicht genug. Sie hat es kommen sehen, und sie hat uns nicht davor gewarnt.
Das macht sie zu einer Feindin.
Einer Feindin, die heute Abend nicht in meine Falle läuft. Ich seufze. Nicht dass das eine richtige Falle wäre. Ich wurde jedenfalls damit beauftragt, sie hierher zu locken. Wenn das nicht möglich ist, dann wird sie wahrscheinlich irgendjemand schlichtweg entführen, aber ich bin in dieser Situation der Lockvogel.
Nicht dass jemand davon wüsste.
Ich sehe mich um, und mein schlechtes Gewissen rührt sich aus einem ganz anderen Grund. Ich war in den letzten beiden Monaten relativ häufig im Sex-Club meines Schwagers. Ich habe keine Zweifel, dass Hades sich dessen bewusst ist, obwohl ich darauf achte, nur dann aufzutauchen, wenn er und Persephone die Aktivitäten nicht überwachen.
Das ist das erste Mal, dass ich allein hier bin.
Es fühlt sich seltsam an, Charon nicht als meinen allgegenwärtigen Schatten zu haben. Er wäre nicht einverstanden mit meiner Anwesenheit heute Abend, weshalb ich mich hinausgeschlichen habe, ohne jemandem zu erzählen, wohin ich gehe. Der Clubmanager Hypnos hat mich inzwischen schon oft genug gesehen, sodass mich die Türsteher nicht aufgehalten haben, als ich hinausgegangen bin. Zir weiß nichts von meiner Vereinbarung mit Charon, was für mich in Ordnung ist. Charon hat mir anfänglich den Zutritt zum Club unter einer Bedingung gewährt: Ich darf nur zuschauen. Ich vermute, diese Bedingung stammt ursprünglich von meiner Schwester und meinem Schwager, aber Charon ist derjenige, der sie durchsetzt.
Allerdings ist Charon gerade nicht hier.
Der Raum ist eine wahre Lasterhöhle, und alles ist kunstvoll gestaltet, um die Sinne anzuregen. Die Lichter sind stets gedimmt, wenn der Club geöffnet ist, doch ein ausgeklügelt verborgener Wasserstrom entlang den Wänden wirft verwirrende Reflexionen an die Decke und vermittelt den Eindruck, unter Wasser zu sein. Ich habe die Möbel auf ein Dutzend unterschiedliche Weisen arrangiert gesehen, aber heute Abend herrscht die traditionelle Anordnung vor, wobei Sofas und Sessel und Kissen so aufgestellt sind, dass genug Raum für Gespräche und, nun ja, Sex bleibt.
Ich atme den Geruch nach Sex ein und streiche mit den Händen über mein hautenges Minikleid. Mein Körper pulsiert als Reaktion darauf. Es ist … ganz schön lange her. Es macht jedoch Freude, dabei zuzuschauen, und ich habe eine Menge über Formen des Verlangens und Kinks im Allgemeinen in den letzten neun Monaten gelernt. Aber das alles nur in der Theorie. Ich habe nicht teilgenommen. Ehrlich gesagt, wollte ich das nicht. Lange Zeit war ich darauf konzentriert, einfach nur einen Fuß vor den anderen zu setzen und nicht zuzulassen, dass mich Orpheus’ Verrat bricht.
Aber jetzt?
Ich blicke mich im Raum um. Ich habe einen freien Abend und keine Aufsicht. Vielleicht ist es an der Zeit, ein paar meiner Fantasien Realität werden zu lassen. Damit aufzuhören, über das Gesundwerden nachzudenken und den ersten Schritt zu wagen.
»Ich habe dich hier schon gesehen, immer nur als Zuschauerin, nie aktiv.«
Ich fahre herum und sehe, dass ein Mann den Platz neben mir an der Wand eingenommen hat. Er ist ein sehr attraktiver Asiate, ungefähr von meiner Größe und schlanker Gestalt und mit lächelnden Augen. Er sieht auch ungeheuer vertraut aus, und nicht nur, weil ich ihn bestimmt schon ein paar Mal während meiner Besuche hier gesehen habe.
Er reicht mir eine Hand. »Thanatos.«
Ich erkenne ihn wieder, als ich meine Hand in seine gleiten lasse. »Du bist Hypnos’ Bruder.« Jetzt, wo ich es ausspreche, bemerke ich die Ähnlichkeit zwischen ihm und zir. Der gleiche mittelbraune Hautton, das gleiche dichte dunkle Haar und die gleichen edlen Gesichtszüge. Beide haben auch unglaublich sinnliche Lippen. Nicht, dass ich es bemerkt hätte. Nur habe ich das doch.
»Schuldig im Sinne der Anklage.« Anstatt meine Hand zu schütteln, hebt er sie an seine Lippen, um einen zarten Kuss auf meine Fingerknöchel zu drücken. Was eigentlich kitschig ist, aber ich gebe nach.
»Schön, dich kennenzulernen.« Ich merke, wie ich lächle, während sich Erregung in meinem Unterleib rührt. Es ist schon so lange her, seit ich überhaupt nachgeben wollte … Nein, das ist eine Lüge. Jemand, mit dem ich eine fröhliche Nacht verbringen könnte, ohne mich darum zu sorgen, eine Beziehung zu zerstören, weiß ich dabei zu schätzen.
Thanatos hebt den Kopf, lässt aber meine Hand nicht los. Er hält sie mit leichtem Griff fest, dem ich mich jederzeit entziehen könnte, wobei Erregung in seinen Augen aufflackert. »Mir ist aufgefallen, dass du keine richtige Einführung in die Freuden des Clubs hattest.«
Er flirtet mit mir. Ich weiß nicht, weshalb mich das so überrascht. Wahrscheinlich habe ich mich so sehr daran gewöhnt, mich im Hintergrund zu halten, dass das für mich Normalität geworden ist. Mit Charon ist das gewiss so. Der Mann behandelt mich freundlich, aber es ist klar, dass er nie den gleichen Anflug von Verlangen verspürt hat, der mich in seiner Gegenwart plagt. Nicht nur Verlangen. Er bedeutet dir etwas. Wenn du nicht so gebrochen wärst, würdest du dir erlauben, ihn zu lieben.
Es mögen bereits neun Monate vergangen sein, seit Orpheus an den Geschehnissen beteiligt war, die zu dem Abend führten, der mir Narben auf der Seele verursacht hat, aber ich bin weit davon entfernt, mich wieder auf eine Beziehung einzulassen. Selbst wenn Charon interessiert wäre, worauf seinerseits nichts hindeutet. Doch wenn er es wäre, wäre es nicht beiläufig. Beiläufig kommt für ihn genauso wenig infrage wie für mich.
Thanatos bittet mich nicht um mein Herz. Im Augenblick bittet er mich um gar nichts. Ich atme langsam ein und inhaliere sein wohlriechendes Eau de Cologne. Er hält noch immer meine Hand. Ich stelle fest, dass ich lächle. »Dann zeig mir, wie es geht.«
Sein Lächeln ist breit und charmant. »Es wäre mir ein Vergnügen.«
Ich ignoriere das schlechte Gewissen, das ich nicht loswerden kann, als er mich zu einem leeren Sofa in der Nähe der Wand führt, die vom Eingang am weitesten entfernt ist. Ich weiß nicht, ob es Absicht ist oder nicht, aber ich weiß das bisschen Privatsphäre zu schätzen, die der Platz bietet. Es gibt die stillschweigende Übereinkunft, dass das, was hier passiert, nicht außerhalb dieser Wände erzählt wird, außer meine Schwester und ihr Mann wünschen es so. Aber das bedeutet nicht, dass ich das Risiko eingehen will, dass ihnen der Klatsch wieder zugetragen wird.
Sie würden es nicht verstehen. Oh, Hades vielleicht schon, aber Persephone? Niemals. Für sie bin ich ihre kleine Schwester, die um jeden Preis beschützt werden muss. Sie kommt gar nicht auf die Idee, dass die schützende Decke, die sie und unsere anderen Schwestern ausgebreitet haben, mich langsam erstickt. Wenn sie wüsste, dass ich allein hier bin, würde sie mit dem ganzen Zorn einer rachsüchtigen Göttin hier hereinrauschen, um jeden niederzustrecken, der es wagen würde, mich anzuschauen.
Und falls mich jemand anfassen würde?
Unvorstellbar.
Nur dass Thanatos mich jetzt anfasst. Er sitzt so dicht neben mir, dass wir aneinandergeschmiegt sind, und er dreht meine Hand um, um mit den Fingerspitzen an den zarten Adern meines Handgelenks entlangzugleiten. »Du warst in den vergangenen Monaten häufig hier.«
Ich ziehe die Brauen hoch. »Hast du mich beobachtet?«
Er zuckt die Achseln, sich seiner selbst gar nicht bewusst. »Alle beobachten dich, Eurydike, und nicht nur, weil du schön bist.« Die Finger gleiten bis zu meiner Armbeuge hinauf. »Du bist absolut faszinierend.«
Mir ist bewusst, dass er mich zu verführen versucht. Er ist vielleicht nicht derjenige, den ich will, wenn ich ehrlich zu mir bin, aber was schadet es, mich verführen zu lassen? Er hat freundliche Augen. Womöglich ist es das, was ich brauche, um endgültig über Orpheus hinwegzukommen, nicht eine große Liebe, um alles, was früher war, hinwegzufegen. Vielleicht ist das, was ich brauche, eine Reihe von freundlichen Liebhabern, die nicht mein Herz berühren, sondern dazu in der Lage sind, meinen Körper wachzurütteln.
Thanatos macht das gewiss sehr gut. Seine Berührung wäre auch in einer anderen öffentlichen Umgebung ganz und gar nicht unangemessen, aber ich ertappe mich dabei, wie ich den Atem anhalte, als er damit fortfährt, Lichtreflexen auf meiner Haut nachzufahren, was mir jedes Mal eine kleine Welle von Verlangen beschert.
Ich lasse mich langsam gegen die Sofalehne sinken und blicke zu ihm hinauf. »Du bist selbst ausgesprochen faszinierend.«
Sein Lächeln bekommt einen selbstironischen Ausdruck. »Ich bin nicht völlig armselig.« Seine Finger gleiten kaum merklich an meinem Bizeps hinauf, wobei seine Fingerknöchel meine Brust streifen. Dabei blickt er mich fortwährend an. »Darf ich?«
Mir stockt der Atem. Ich weiß nicht, worum er bittet, aber ich will es dennoch. »Ja.«
Thanatos beugt sich nach vorn, wobei er den geringen Abstand zwischen uns überwindet, und küsst mich. Es ist ein guter Kuss. Er ist leicht und absichtsvoll, ein Test und eine Verführung zusammen. Er bringt mich dazu, auf meinem Platz hin und her zu rutschen, aber mein Herz bleibt empfindungslos in meiner Brust.
Perfekt.
Jedenfalls bis sich Thanatos zurücklehnt, und mir klar wird, dass wir nicht mehr allein sind. Ein vertrauter Schatten ist auf uns gefallen und blendet das gedämpfte Licht des restlichen Clubs aus. Der Schatten gehört zu … Mein Herz macht ein schrecklich dumpfes Geräusch in meiner Brust.
Charon.
Thanatos hält als Reaktion auf meine Anspannung auf einmal still. Er folgt meinem Blick, und der Atem scheint ihm zu stocken. »Charon.«
»Thanatos. Du gehst zu weit.« Seine Stimme ist ruhig. Sie ist immer ruhig. Ich habe einmal gelauscht, wie Hades mit meiner Schwester gesprochen und seine Sorge zum Ausdruck gebracht hat, dass Charon im vergangenen Jahr seinen gewohnten Humor verloren habe. Persephone hat geantwortet, dass er wegen der Ereignisse, die Olympus noch immer destabilisieren, erwachsen geworden sei. Ich glaube, sie liegen beide falsch. Er hat noch immer Humor, aber er ist etwas trocken geworden.
Er sieht nicht aus, als wollte er in diesem Moment lachen.
Er sieht sogar ziemlich mordlustig aus.
Thanatos rückt von mir ab. »Es tut mir leid. Mir war nicht klar, dass sie deine ist.«
»Ist sie nicht.« Er rührt sich nicht vom Fleck, hält den Blick auf den anderen gerichtet. »Aber sie ist nicht leicht zu haben.«
»Mein Fehler.« Thanatos erhebt sich. »Es wird nicht wieder vorkommen.«
Es ist keine bewusste Entscheidung, mich zu bewegen. Meine Hand scheint von selbst vorzuschnellen und Thanatos’ Handgelenk zu packen. »Nein.« Er hält inne, steht vor mir, aber es ist nicht er, den ich anschaue. Ich erwidere Charons Blick. »Ich allein entscheide, wer mich haben darf.«
Thanatos ergreift erneut meine Hand und hebt sie an seine Lippen. »Das mag überall sonst wahr sein, aber das hier ist Hades’ Club und Charon der Vollstrecker seines Willens. Es tut mir leid, meine Liebe.« Eine Berührung seiner Lippen auf meiner Haut, dann wendet er sich ab und schlendert hinüber zur Bar, ohne sich noch einmal umzusehen.
Echter Zorn zuckt über meinen Rücken. Ich drehe mich mit wütendem Blick zu Charon um, der sich nicht gerührt hat. »Was willst du hier?«
»Das Gleiche könnte ich dich fragen.« Er klingt völlig locker, aber etwas Gefährliches glitzert in seinen blauen Augen. Er lässt sich auf den freien Platz mir gegenüber sinken, den sein großer Körper ausfüllt. »Wir hatten eine Abmachung. Du kommst nur mit mir hierher und nur zum Zuschauen, niemals, um mitzumachen.«
Er hat recht, aber es ist mir egal. »Bin ich ein Kind, das einen Babysitter braucht?« So fühle ich mich jedenfalls die meiste Zeit. Es war schon schlimm vor der Sache mit Orpheus, und meiner Familie geht es seither viel schlechter. Doch Charon gehört nicht zur Familie. Ich hätte vielleicht zugelassen, dass er den Babysitter gibt, weil er mir einen gewissen Grad an Freiheit gegönnt hat, aber … »Ich brauche deine Erlaubnis nicht, um mir einen Liebhaber zu nehmen.« Ich weiß nicht, woher die Worte kommen, doch sobald ich damit angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. »Wenn ich mit jeder einzelnen Person in diesem Raum vögeln wollte, dann würde ich genau das tun.«
Er hebt die Brauen. »Ist es das, was du tun willst?«
Die Frage klingt so sanft, dass sie mir beinahe den Wind aus den Segeln nimmt. Ich balle die Fäuste links und rechts von meinem Körper. Nein, natürlich nicht. Ich bin daran interessiert, Kinks zu erkunden, was nicht bedeutet, dass ich mich deswegen in einen hineinstürze, um einen Beweis zu erbringen. Doch einlenken kommt nicht infrage. »Und wenn ja?«
Charon lehnt sich langsam zurück. Es lenkt meine Aufmerksamkeit darauf, wie eng sein Jackett an seinen breiten Schultern anliegt und wie das Hemd darunter nur wenig Raum für Fantasie lässt. Sein Körperbau ist wie gemacht für die Sünde, und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht darüber nachgedacht hätte, wie er wohl ohne seine übliche Rüstung aussähe. Nicht dass ich das je zugeben würde. Ich lenke meinen Blick zurück auf sein Gesicht.
Jemand anders hätte vielleicht geschmunzelt, wenn ich ihn unter die Lupe genommen hätte. Charon betrachtet meine Miene mit derselben unerschütterlichen Ruhe. Zum ersten Mal möchte ich etwas tun, um sie zu zerstören. Er ist immer so verdammt kontrolliert. Ich fand das früher tröstlich, aber jüngst ist es zu einem Jucken geworden, und ich kann mich nicht kratzen.
Er ist mein Freund. Mein bester Freund. Er hat mich auch zu ein paar der schmutzigsten Fantasien inspiriert, denen ich mich je hingegeben habe. Aber wenn er mich ansieht, ist nichts als Sanftmut in seinen Augen. Ich muss mich davon verabschieden. Ich weiß, was passiert, wenn ich mich in jemanden verliebe, der nicht das Gleiche empfindet – oder nicht die gleiche Anziehung verspürt. Ich werde schließlich zurückgewiesen und daran zerbrechen. Ich weigere mich, das erneut durchzustehen, mich selbst gegen jene Wand zu schleudern, die das Widerstreben eines anderen darstellt.
Nein, das ist nicht fair. Ich kann ihm das nicht zum Vorwurf machen, wenn ich diejenige bin, die nur mit einem halben Herzen herumläuft. Charon verdient es, mit jemandem zusammen zu sein, der sich ganz auf ihn einlässt. Selbst wenn er mich wollte, könnte ich ihm nur Sex anbieten, was in Herzschmerz und einem Desaster für uns beide enden würde. Ich muss das beenden, und zwar gleich. »Charon …«
Charon schüttelt den Kopf und schneidet mir das Wort ab. »Das ist nicht, was du willst.«
»Sag mir nicht, was ich will.« Ich weiß wirklich nicht, was los ist mit mir. Ich rede sonst nie so mit jemandem – vor allem nicht mit ihm. Ich bin die Nette. Die Feinfühlige. Diejenige, die an einem bösen Wort zerbricht. Ich erhebe mich und versuche, auf meinen High Heels nicht zu schwanken. Sie sind höher als sonst; ich habe mich für Ariadne aufgebrezelt. Trotzdem bin ich jetzt froh, dass sie nicht gekommen ist, denn das Charon zu erklären wäre eine ganz besondere Art von Albtraum.
Ihr Götter, ich tue es schon wieder. Mich ihm zu beugen, wo ich aus eigener Kraft stark bleiben sollte. Wut auf mich selbst genauso wie auf ihn bringt mich dazu, Worte auszustoßen, die ich sonst nie sagen würde. »Falls du nicht vorhast, mich zu vögeln, geh mir aus dem Weg.«
Ich schaffe es gerade mal, vier Schritte zu gehen, als sich eine Hand auf meinen Unterleib legt und mich problemlos gegen einen festen Körper hinter mir presst. Charons Körper. In meinen High Heels bin ich genauso groß wie er, weshalb er mir direkt ins Ohr raunt. »Na schön, Eurydike. Du willst diese Unterhaltung? Dann führen wir sie. Genau hier. Genau jetzt.«
Ich sollte aufhören. Ich hätte gar nicht so weit gehen dürfen. Meine Gefühle für diese Frau sind seit unserer ersten Begegnung, als man sie schluchzend und blutend auf der falschen Seite des Flusses Styx zurückgelassen hatte, kompliziert, ein Lockmittel, dem Hades nicht widerstehen konnte. Sie war die Waffe, die der letzte Zeus benutzte, um etwas in Gang zu setzen, was zu einem Krieg hätte werden können, der die Menschen beansprucht hätte, die mir am meisten auf der Welt bedeuten. Schon aus diesem Grund hätte ich sie hassen sollen.
Wenn man in der Unterstadt aufwuchs, lernte man schnell, dass die Menschen aus der Oberstadt nicht vertrauenswürdig waren. Ihre Werte sind nicht unsere Werte, und die gesamte Geschichte von Olympus ist der Beweis, dass, wenn es hart auf hart kommt, die in der Unterstadt die Ersten sind, die als Kollateralschaden geopfert werden. Auf den ersten Blick war sie genauso wie der Rest von ihnen – wie aus dem Ei gepellt und Spielchen spielend, die anderen Leuten den Tod brachten.
Doch genügte ein Gespräch, um mich damit zu versöhnen, dass niemand Eurydike hassen könnte. Und nicht nur, weil sie wunderschön ist, obwohl sie das wirklich ist. Sie ist groß und so schlank, dass sie beinahe filigran wirkt, mit langen, welligen dunklen Haaren, großen dunklen Augen und zarter hellbrauner Haut. Aber es ist mehr als das. Ihre Schönheit reicht tief in ihre Seele. Ich hatte nicht vor, mich als ihr persönlicher Beschützer, als ihr Vertrauter, als ihr … Freund aufzuspielen. Es ist einfach passiert. Ich schätze ihre Freundschaft.
Wie ich sie jetzt berühre, ist kein bisschen freundschaftlich.
Selbst wenn ich mir befehle, sie in Ruhe zu lassen, auf Abstand zu gehen und diesen einzuhalten, tue ich es … nicht. Ich kann nicht, wenn ihre Worte in meinem Schädel widerhallen.
Falls du nicht vorhast, mich zu vögeln, geh mir aus dem Weg.
Seit ich die Textnachricht von Hypnos mit der Info bekommen habe, dass Eurydike ohne mich im Club aufgetaucht ist – eine klare Verletzung unserer Vereinbarung –, habe ich daran denken müssen. Selbst als ich hierhergekommen und durch das große Haus gelaufen bin, das Hades und Persephone gehört, hatte ich mir halbwegs eingeredet, dass sie nur aus Neugier hier sei. Sie ist eine neugierige Frau, und obwohl sie in der Vergangenheit zögerlicher war, diese zu zeigen, war es eine gute Sache, dass sie diesen Schritt ohne mich als Schmusedecke gemacht hat. Selbst wenn es mir gefällt, diese Schmusedecke zu sein.
Dann habe ich sie mit Thanatos gesehen.
Habe gesehen, wie er sie geküsst hat. Gesehen, wie er ihre Brust mit seinen Fingerknöcheln gestreift hat. Habe die Absicht gesehen, die auf jeder Linie ihrer Körper geschrieben stand.
Das war das Signal für mich, mich umzudrehen und zu gehen. Vielleicht bin ich Eurydikes inoffizieller Beschützer geworden, aber sie ist erwachsen, und wie sie gesagt hat, ist sie durchaus dazu in der Lage, sich ihre Bettgenossen selbst auszusuchen. Was das betrifft, ist Thanatos kein schlechter Kandidat. Er ist liebenswürdig und nachdenklich, und er verwöhnt seine Partnerinnen gern. Er würde ihr nicht wehtun und ihr keine Angst machen. Er ist eine solide Wahl, um sich von dem Chaos mit Orpheus zu erholen.
Ich weiß das. Aber es war, als hätte ein Dämon meinen Körper übernommen.
Ich wollte sie nicht unterbrechen. Wie ich sie auch nicht gegen meine Brust pressen wollte. Es ist … einfach passiert.
Jetzt ist es an der Zeit, sich zurückzuziehen, unsere jeweiligen Ausreden vorzubringen und diesen Moment vorbeigehen zu lassen, der aufgeladen ist mit der Möglichkeit, die Dinge zwischen uns für immer zu ändern.
Ich tue es nicht.
Stattdessen warte ich auf ihre Antwort.
Eurydike ist so angespannt, dass sie praktisch wie eine Statue in meinen Armen ist. Erst als der Verstand wieder einsetzt, um mir zu befehlen, sie loszulassen, entspannt sie sich an meiner Brust. Es fühlt sich so gut an, sie in meinen Armen zu haben, sie zu halten, dass mein Gehirn kurz ausfällt. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann kaum atmen. Ich will das und will es nicht, und ich bin so hin- und hergerissen, dass ich nicht weiß, was ich tun soll.
»Wir dürfen das nicht tun.« Ihre Stimme ist über der Musik kaum zu vernehmen, aber ich bin gerade so auf sie eingestimmt, dass sie auch flüstern könnte, und ich würde ihre Worte noch immer verstehen.
Sie hat recht. Es ist ein Fehler. Diese Frau bedeutet mir zu viel, um es zu vermasseln, und den dauerhaften Würgegriff zu lockern, den ich um mein Verlangen gelegt habe, wird alles ruinieren. Sie ist stärker, als man ihr zutraut, aber das bedeutet nicht, dass ich sie nicht vielleicht aus Versehen zerstöre. Ich habe sehr darauf geachtet, mich zurückzuhalten.
Bis jetzt.
»Das ist deine Wahl.« Ich spreche kaum laut genug, um über dem Pochen der Musik gehört zu werden. »Das war es immer.«
Sie stößt bebend die Luft aus. »Du bedeutest mir etwas, Charon. Ich will nicht, dass sich die Dinge ändern, aber nur weil wir … Freunde … sind, hast du mir nicht zu sagen, was ich tun soll. Selbst wenn wir mehr wären, würdest du solche Entscheidungen nicht für mich treffen.«
Ich weiß, dass sie recht hat, was nicht verhindert, dass ich mich bei ihren Worten anspanne. Es hält mich nicht von einer Erwiderung ab: »Wenn wir mehr wären, würdest du nicht versuchen, es mit jemand anderem zu treiben, ohne zuerst mit mir zu reden.«
Sie dreht sich um, und ich lockere meinen Griff so weit, dass sie es tun kann. Allerdings lasse ich sie nicht los. Ich bin dazu, glaube ich, gerade nicht in der Lage.
Eurydike blickt mich an. Mit zusammengezogenen Brauen. »Das bedeutet also, es würde dir nichts ausmachen, wenn ich mit anderen Sex habe, solange wir es vorher besprechen.«
Ich hatte in der Vergangenheit eine Menge alternativer Beziehungen. Ich stelle mir vor, solange alle auf der gleichen Wellenlänge und einverstanden sind, ist das alles, was zählt. Das ist bei jeder Beziehung ein wenig anders.
Mit ihr?
Ich packe sie an den Hüften. Ein Teil von mir kann kaum glauben, dass ich sie so anfasse. Darüber rede. »Du bist voreilig. Du hast noch nicht einmal mit mir Sex gehabt, und schon sprichst du davon, es mit anderen zu tun.«
Sie senkt den Blick zu meinen Lippen. »Du bist einer meiner besten Freunde geworden, und ich werde nicht so tun, als wollte ich dich nicht. Aber … das ist alles, was ich dir bieten kann. Sex. Mehr kann ich dir nicht geben.«
Ihr Götter, sie hat keine Ahnung, wie gern ich sie in meinem Bett hätte. Wenn sie mir weniger bedeuten würde, würde ich nicht zögern. Das ist allerdings das Problem. Ich bin gefangen zwischen dem, was ich will, und dem, was sie braucht. »Du liegst mir zu sehr am Herzen. Es wäre nie nur Sex zwischen uns.«
»Ich weiß.« Sie lächelt, und der Kummer in ihrer Miene bricht mir das verdammte Herz. Ich muss sie sofort loslassen, aber ich kann mich nicht dazu überwinden, den Augenblick zu zerstören. Nicht, wenn es danach aussieht, als wäre es sowohl das erste als auch das letzte Mal. Sie drückt mir die Hände gegen meine Brust. »Du bedeutest mir ebenfalls etwas. Aber …«
Ich will seinen verdammten Namen nicht aussprechen, will keine andere Person in das Gespräch einbeziehen, doch die Wahrheit ist, dass sein Schatten ihr wie ein Fluch folgt. »Orpheus.«
Sie nickt, ihre dunklen Augen sind traurig. »Orpheus. Ich weiß, es ist erbärmlich und klischeehaft, aber so wie es geendet hat, ist es unmöglich, damit abzuschließen. Ich will nicht unbedingt in die Oberstadt gehen und ein Gespräch erzwingen, weil ich das ebenfalls nicht für fair halte. Aber mein Herz ist mehr als wund, Charon. Du verdienst jemanden, der heil und gesund ist.«
Ich weiß nicht, ob ich stolz auf sie sein soll oder sie übers Knie legen möchte. »Willst du genau wissen, was ich vorhabe? Na schön.« Ich lasse meine Hände hinabgleiten, um ihren Hintern zu umfassen und ziehe sie noch fester an mich. »Ich habe mich dir gegenüber anständig verhalten, Eurydike. Ich habe dir Raum gelassen, damit du deine Sachen klärst und anfängst, zu gesunden. Ich habe dir keinen Druck gemacht, und ich habe mein Bestes getan, vor dir zu verbergen, dass ich mich zu dir hingezogen fühle.«
Sie zwinkert. »Aber?«
»Aber du hast mir diesen Fehdehandschuh vor die Füße geworfen, und jetzt hast du eine Wahl. Du entscheidest nicht, was ich verdiene. Ich bin der Einzige, der das tun darf. Ich erwarte nicht, dass du frei von Narben bist, Baby. Niemand ist das. Aber ich gebe dir alles von mir. Herz. Körper. Seele. Du hast gesagt, ich bedeute dir etwas. Wagen wir doch einen Versuch.« Ich hätte den Kosenamen nicht sagen sollen, ich halte jedoch mit nichts mehr hinterm Berg. Dafür gibt es keinen Grund.
Sie spannt sich an. »Charon, das ist zu viel. Das ist nicht fair. Du bittest um alles.«
»Es muss nicht alles sein.« Es bringt mich um, das zu sagen. Ich hätte nie gedacht, dass sie mir irgendeinen Hinweis darauf gibt, dass sie mich so sehr will wie ich sie. Jetzt hat sie es getan, und wir taumeln am Abgrund entlang. Zum Henker damit. Wenn ich meine Anziehungskraft vollständig auslöschen muss, um sie in meinem Leben zu behalten, werde ich das tun. Ich hole tief Luft und befehle mir, sie loszulassen. Doch meine Hände wollen nicht gehorchen. »Wenn du mich nicht so haben willst, wird das nicht mehr vorkommen. Dann werde ich einfach wieder dein Freund sein.«
»Einfach mein Freund«, wiederholt sie. »Einfach so. Du ziehst dich zurück und lässt mich meinen Spaß mit anderen haben.«
Es wird mich umbringen, das zu tun. »Wenn es nötig ist.« Mir wird bewusst, dass ich noch immer meine Hände auf ihrem Hintern habe, aber ich kann irgendwie nicht loslassen. Das könnte die letzte Chance sein, sie so zu berühren. »Wag den Sprung mit mir, Baby. Wir können auf dem Weg nach unten herausfinden, was Sache ist. Wir haben bereits eine echt starke Basis gegenseitigen Respekts und gegenseitiger Fürsorge. Ich liebe dich.« Ich mache einen Fehler. Das ist zu viel, zu schnell.
Trotzdem nehme ich die Worte nicht zurück.
Eurydike öffnet den Mund, hält jedoch inne. Sie nimmt einen tiefen Atemzug und lässt meinen Hals los. Mich kostet es die größte Überwindung, sie loszulassen. Der kleine Schritt, den sie von mir weg macht, fühlt sich an, als würde ein Teil meines Körpers zerfetzt.
Ich weiß, was sie sagen wird, bevor sie langsam den Kopf schüttelt. »Tut mir leid, Charon. Ich kann nicht.«
Meine Knie drohen angesichts des Verlusts weich zu werden, aber irgendwie gelingt es mir, mich aufrecht zu halten. »Ich verstehe.«
»Nein, ich glaube nicht, dass du das tust. Ich liebe dich auch.« Sie hebt die Hände, als wollte sie mich erneut berühren, hält jedoch vorher inne. »Aber ich kann nicht so mit dir zusammen sein, wie du es brauchst – wie du es verdienst. Ich bin nicht dazu in der Lage.«
Ich will nicht begreifen, was sie sagt. Es wäre so viel einfacher, es nicht zu tun. Aber ich kenne diese Frau. Nach einem Jahr werde ich nicht so tun, als könnte sie mich nicht mehr überraschen – der heutige Abend ist mehr als ein Beweis dafür –, doch ich verstehe sie. Es gibt nur eine Sache, die diese Miene hervorruft. Oder genauer gesagt, eine Person. Ich fluche. »Orpheus. Noch immer.«
Ihre Augen schimmern im gedämpften Licht des Clubs. »Tut mir leid«, sagt sie noch einmal. »Ich weiß, es ist langsam genug gejammert, aber die Sache ist noch immer … ungelöst. Es ist nicht fair, sich auf etwas Ernstes mit dir einzulassen, solange ich das nicht aus dem Kopf bekomme. Wenn ich das nach neun Monaten noch nicht abgeschüttelt habe, weiß ich nicht, ob ich das je tun werde.«
Ich frage sie nicht, was sie benötigt, um mit ihrem Ex abzuschließen. Ich frage sie nicht, wie lange sie braucht. Ich frage sie gar nichts.
Ich liebe Eurydike jetzt schon lange. Ich kann mir das selbst eingestehen, auch wenn ich es niemandem gegenüber laut aussprechen kann. Ich habe so ewig gewartet. Und wenn ich für immer warten muss, dann werde ich das tun. »Okay.«
Sie sieht völlig fertig aus. »Wenn ich einfach mit ihm sprechen könnte …«
»Nein.« Ich wollte nicht blaffen, aber ich nehme auch das nicht zurück. »Du überquerst nicht den Fluss Styx. Niemand in der Unterstadt tut das. Anweisung von Hades und Persephone.«
Sie bläht die Nasenflügel. »Meine Schwester und mein Schwager bestimmen nicht über mich.«
»Du befindest dich in der Unterstadt, also tun sie genau das.« Sie sieht noch immer trotzig aus, weshalb ich mir erlaube, mich nach vorn zu beugen und ihr direkt ins Ohr zu sprechen. Ich berühre sie dabei nicht, egal, wie sehr ich es möchte. »Du weißt, was dort los ist. Es ist nicht sicher.«
Das ist es seit Wochen nicht, seit die Bürger von Olympus erfahren haben, dass die wenig bekannte Klausel, die besagt, dass Mord an einem der Dreizehn – der Regierung von Olympus – ein Weg ist, um die Nachfolge zu überspringen.
Normalerweise werden die Posten alle paar Jahrzehnte neu besetzt, wenn der aktuelle Machthaber zurücktritt oder stirbt. In neun von zehn Fällen gehört sein Nachfolger einer der alteingesessenen Familien an. Zeus, Poseidon und Hades übergeben an ihr ältestes Kind. Diejenigen an der Macht bleiben an der Macht, und der Rest der Stadt hat keine Chance, das zu ändern.
Bis jetzt.
Das Chaos wird mit jedem Mordversuch nur noch größer. Im letzten Monat hat es Dutzende gegeben, und ihre Häufigkeit scheint zuzunehmen. Das ist an und für sich ein Problem, denn die Unsicherheit in der Stadt wächst proportional. Die Leute kümmern sich nicht um das bestehende Protokoll, um rechtmäßig den Titel der Person anzunehmen, die sie getötet haben. Es herrscht Chaos.
Vor ein paar Stunden hat jemand Poseidon mit dem Messer attackiert. Er hat überlebt, doch gleichzeitig ist jemand in Tritons Haus eingebrochen und hat ihn getötet. Er hatte nicht einmal einen Titel. Er mag so reich sein wie die Mitglieder der Dreizehn, aber das liegt nur daran, dass er Poseidons Cousin ist und seine Sippe ihm erlaubt, Leute über die Barriere zu schippern, die die Stadt umgibt. Sein Tod bringt keinem etwas. Das hat dennoch niemanden davon abgehalten, ihn kaltblütig zu töten.
Wenn Familienmitglieder nicht sicher sind, dann ist Eurydike in mehrfacher Hinsicht in Gefahr.
Ihre Mutter ist Demeter. Ihre älteste Schwester ist Hera. Ihre andere Schwester Persephone ist mit Hades verheiratet …
Es ist durchaus möglich, dass irgendein Dummkopf mit mehr Zorn und Ehrgeiz als Grips versuchen wird, sie zu verletzen, wenn sie sich in die Oberstadt wagt. Wenigstens unsere Bürger in der Unterstadt haben ihren verdammten Verstand nicht verloren. Sie ist hier sicher. »Wenn du mit ihm sprechen musst, kann er in die Unterstadt kommen.«
»Ja, klar. Als ob das je passieren würde.« Sie dreht sich um und geht weg.
Ich schaue ihr nach wie der Dummkopf, der ich bin. Ich kann das Gefühl nicht ertragen, dass ich gerade dabei bin, die Dinge zwischen uns endgültig zu ruinieren. Wenn sie Orpheus sehen muss, um mit ihm abschließen zu können, dann werde ich ihr das ermöglichen. Sogar wenn sie nach der langen Zeit noch immer Gefühle für ihn hat, sogar wenn ein Wiedersehen diese Gefühle sicherlich wieder entfacht. Leider kann sie nicht weitermachen, ohne ihn gesehen zu haben, also müssen wir gemeinsam dieses Risiko auf uns nehmen.
Ich hoffe nur, dass es kein Fehler ist.
Die Sache, die einem niemand über das Büßen erzählt …
Man kann es gar nicht, wenn diejenigen, die man verletzt hat, nicht mit einem reden wollen.
»Lass es sein, Orpheus.« Mein Bruder klingt so erschöpft, wie er aussieht. Er hat Ringe unter den Augen, das Ergebnis zu vieler schlafloser Nächte, in denen er versucht hat, Olympus zusammenzuhalten. Nur, dass es nicht funktioniert. Alles, worüber derzeit alle reden, sind die Machtverschiebungen und Angriffe auf die Dreizehn. Ich bin nicht so genau im Bilde wie früher, aber nicht einmal mir entgeht, wie schlimm alles geworden ist. Viele denken, es hat alles mit dem Fremden von außerhalb der Stadt begonnen, mit Minos, als er eingebürgert wurde, oder sogar mit Helen Kasios, die den Ares-Titel erworben hat, aber das ist nicht wahr.
In Olympus läuft schon seit einer Weile einiges ziemlich schief. Ich habe es nur so lange ignoriert, bis ich selbst davon betroffen war. Noch eine Sünde, die man mir vorwerfen kann. Ich versuche, mich zu bessern, aber wenn alle, mit denen ich mich umgeben habe, das Gleiche zu schätzen wissen wie ich, ist es schwer, die richtige Perspektive einzunehmen.
Alle bis auf meinen Bruder. Er mag Apollon sein, einer der Dreizehn, aber er ist nicht wie die anderen. Er ist ein wirklich guter Mensch.
Besorgnis befällt mich. »Geht’s dir gut? Hat jemand …«
»Nein.« Er schüttelt entschieden den Kopf. »Ich habe Ares’ Angebot, für mehr Sicherheit zu sorgen, angenommen, und ihre Leute sind ihrem Ruf mehr als gerecht geworden.«
Das hat unsere Mutter nicht davon abgehalten, sich Sorgen zu machen, doch ist ihr bevorzugtes Hobby dieser Tage sowieso, sich um ihre Jungs Sorgen zu machen. Es spielt keine Rolle, dass wir beide erwachsen sind. Wir werden immer ihre Jungs sein. Es war auch nicht hilfreich, dass ich ihr im vergangenen Jahr eine Menge Kopfzerbrechen bereitet habe. Es ist ein mühsamer Weg, von der Überzeugung, unsterblich und unantastbar und einem Gott so nah wie nur möglich zu sein, um …
Was auch immer diese Qual ist.
Alles, was mir früher Freude bereitet hat, bringt mich jetzt dazu, etwas werfen zu wollen. Ich habe seit fast einem Jahr nicht gemalt. In Gesellschaft zu sein zerrt an meinen Nerven. Nicht dass irgendjemand aktuell auf meine Gesellschaft Wert legen würde. Sobald man aufhört, die Stimmungskanone zu sein, findet man heraus, wer die wahren Freunde sind. Ich habe keine.
Aber mein Bruder will nichts von meinen belanglosen Problemen hören. Ich hole tief Luft und versuche, sie beiseitezuschieben. »Hast du Fortschritte gemacht?«
»Orpheus, der sich nach jemand anderem erkundigt? Wunder gibt es immer wieder.« Die Freundin meines Bruders kommt ins Zimmer. Kassandra ist eine weiße Plussize-Frau mit rotem Haar, das direkt ins Auge springt. Mir war nicht klar, dass mein Bruder eine Schwäche für sie hat, als ich sie vor Monaten angebaggert habe. Ich wünschte, sagen zu können, es hat etwas geändert, aber ich war damals an einem dunklen Ort. Ich wünschte allerdings, ich hätte es nicht getan.
»Kassandra.« In Apollons Stimme liegt nur ein kleiner Tadel. Er kennt meinen Egoismus mehr als jeder andere. Wenn er nicht gewesen wäre, um mir einen dringend benötigten Augenöffner zu verpassen, wüsste ich nicht, wo ich jetzt wäre.
»Ich sage nur die Wahrheit.« Sie beugt sich hinunter, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, und wirft mir einen Blick zu. »Du siehst beschissen aus.«
»Kassandra.« Apollons Tonfall ist noch immer nicht scharf, aber auch nicht glücklich. »Bitte.«
»Entschuldige.« Sie versucht nicht einmal so zu klingen, als würde sie das meinen, und entgegen jeder Vernunft wird sie mir dadurch sympathischer. Das ist eine Frau, die immer sagt, was sie denkt, und zur Hölle mit denen, die etwas anderes erwarten. Das bewundere ich an ihr. Ich wünschte, ich würde mich weniger sorgen. Das ist zumindest etwas, woran ich arbeite.
»Die Dinge sind so schlimm, wie sie in den Nachrichten dargestellt werden.« Apollon fährt sich mit einer Hand übers Gesicht. »Es spielt keine Rolle, wie wir es betrachten – die Situation ist außer Kontrolle und wird nur noch schlimmer. Es ist ihnen nicht gelungen, einen der Dreizehn zu töten, aber das ist nur eine Frage der Zeit.«
Sorge befällt mich. Mein Bruder war immer so unantastbar, doch in Wirklichkeit ist er auch nur ein Mensch. Er könnte sterben. »Vielleicht solltest du zurücktreten. Wenn wir dich verlieren würden …«
»Olympus braucht mich.« Er sagt die Worte wie jemand, der sie schon häufig benutzt hat. »Außerdem würde es nichts bringen, jetzt noch zurückzutreten. Die Öffentlichkeit schenkt Einzelheiten keine Aufmerksamkeit. Sie werden wahrscheinlich versuchen, mich umzubringen, egal, ob ich den Titel noch innehabe oder nicht. Triton hat nicht zu den Dreizehn gehört, und das hat ihn nicht gerettet.«
»Ich habe die Nachrichten gesehen.« Ich sollte wahrscheinlich etwas empfinden angesichts seines Todes – er ist tragisch, so wie es alle gewaltsamen Tode sind –, aber Triton war ein echter Scheißkerl. Seine Töchter tun mir allerdings leid. »Geht es den Mädchen gut?«
»Poseidon hat seine Leute geschickt, um das Haus zu beschützen und für ihre Sicherheit zu sorgen.«
Ich verkneife mir, ihn erneut zu fragen, ob er nicht zurücktreten will. Er wird es nicht tun, und wir würden uns nur streiten. Er hat sowieso recht, aber die Vorstellung, ihn zu verlieren, macht mich ganz krank. Mein Bruder und ich waren nicht immer einer Meinung; ehrlich gesagt, haben wir mehr gestritten als geredet, als wir heranwuchsen. Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich ihn liebe. Er gehört zur Familie.
Ich hätte ihn mit meinen Problemen nicht behelligen sollen. Nicht, wenn er gerade so viel um die Ohren hat. Ich räuspere mich. »Es gibt eine Lösung. Du wirst sie finden. Du bist viel zu intelligent, um es nicht zu tun.«
»Vielleicht.«
»Das wirst du«, sagt Kassandra von dort, wo sie sich in der Küche ein großes Glas Wein einschenkt. Sie betrachtet mich. »Aber das bedeutet, dass er keine Zeit für dein … was auch immer gerade bei dir passiert. Überlass den Erwachsenen das.«
Kassandra ist eine fiese Schlange. Jeder in Olympus lügt, wenn er den Mund aufmacht, aber sie hat die Wahrheit in eine Waffe verwandelt, die sie schwingt, und sie tut das mit einer Boshaftigkeit, die mir Respekt abnötigt. Die einzige Person, die von ihren ätzenden Kommentaren verschont bleibt, ist mein Bruder. Sie sind zwei der pragmatischsten Menschen, die ich kenne, aber wenn sie einander anschauen, werden sie ganz zärtlich.
Um die Wahrheit zu sagen, ich bin eifersüchtig. Ich hatte eine Chance auf Glück, und ich habe sie vermasselt. Was mich nicht davon abhält, sie anzustarren. »Ich bin sechsundzwanzig. Ich bin kein Kind mehr.«
»Dann hör auf, dich wie eins zu benehmen.«
Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, aber … sie hat recht. Ich hätte nicht hierherkommen sollen, um Apollon schon wieder um einen Gefallen zu bitten. Er hat genug am Hals. Alte Gewohnheiten lassen sich schwer überwinden. »Tut mir leid, dich zu behelligen.«
Mein Bruder seufzt. »Orpheus, ich weiß, dass du die Dinge wieder in Ordnung bringen willst, aber ich habe gemeint, was ich vor ein paar Wochen gesagt habe. Manchmal sieht es so aus, als würde man nichts tun, wenn man die Dinge in Ordnung bringt. Ich habe deine Nachricht Eurydike übermittelt. Wenn sie bisher keinen Kontakt zu dir aufgenommen hat, ist das wahrscheinlich Absicht.«
Er hat recht. Ich weiß, dass er recht hat. Aber der Gedanke, Eurydike loszulassen …
Ich sollte es tun. Ich weiß das. Ich habe ihr mehr Leid zugefügt, als ihr einfach das Herz zu brechen. Ich habe sie wahrhaftig in Gefahr gebracht, ohne mir dessen bewusst zu sein. Wäre ich nicht so sehr mit mir selbst und meinen ehrgeizigen Vorhaben und meiner prätentiösen Kunst beschäftigt gewesen, hätte ich natürlich gemerkt, wie hinterhältig es war, dass der letzte Zeus – ein bekannter Killer – mich gebeten hat, dafür zu sorgen, dass meine Freundin, die Tochter seines Feindes, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ist.
Unverzeihlich.
Ich fühle mich in letzter Zeit nur noch wie ein halber Mann. Mir wird klar, dass das nicht Eurydikes Problem ist, aber …
Verdammt, ich tue es schon wieder.
Ich schüttle entschieden den Kopf. »Tut mir leid. Ihr habt beide recht. Ich hätte nicht noch einmal fragen sollen.« Ich habe Apollon versprochen, mich zu bessern, und ich arbeite daran, aber ich verliere so langsam die Hoffnung, dass ich wirklich der Mann werde, der ich gerne sein möchte.
Als mein Bruder mir zum ersten Mal den Geldhahn zugedreht hat, war ich wütend auf ihn. Ich war ein selbstgerechter und privilegierter kleiner Scheißer, und am liebsten würde ich in der Zeit zurückreisen und meinem Vergangenheits-Ich ins Gesicht schlagen. Seither habe ich einen Job, mit dem ich meine Kunst nicht verkaufen kann – hauptsächlich, weil ich im Augenblick nicht dazu in der Lage bin, Kunst zu machen – und bin in eine kleinere, erschwinglichere Wohnung gezogen. Was auch immer ich sonst nicht hingekriegt habe, es war mir zumindest gelungen, mein kleines, finanzielles Polster zu bewahren, weshalb ich eine Zeit lang nicht unbedingt für meinen Lebensunterhalt arbeiten muss. Trotzdem ist es mir lieber so. Dann bin ich beschäftigt.
»Orpheus.« Apollon blickt mich direkt an. »Sei vorsichtig, wenn du heute Abend nach Hause gehst. Die Straßen sind nicht mehr so sicher.«
»Das werde ich sein.« Ich nicke Kassandra zu. »Einen schönen Abend noch.«
Kassandra seufzt. »Du musst nicht sofort verschwinden. Bleib zum Abendessen, wenn du willst.«
Obwohl ein Teil mir genau das gern täte, würde bleiben bedeuten, etwas beizuwohnen, was ich wahrscheinlich selbst niemals haben werde. Mein Bruder verdient es, glücklich zu sein, und ich bin ehrlich froh, dass er das mit Kassandra gefunden hat. Es ändert nichts an der Tatsache, dass es wehtut, mit ihnen zusammen zu sein. Vielleicht werde ich irgendwann in der Zukunft dazu in der Lage sein, Apollon anzuschauen, ohne das Gefühl zu haben, an meiner Eifersucht ersticken zu müssen.
Vielleicht.
»Mir geht’s gut. Trotzdem danke.« Ich gehe, bevor sie das Angebot wiederholen. Es ist besonders schmerzhaft, dass Kassandra es tut. Sie mag mich nicht, aber sie bemitleidet mich. Ein so erbärmliches Bild gebe ich aktuell ab.
Ich nehme den Aufzug nach unten und eile durch die Lobby, um hinaus auf die Straße zu treten. Die erste eisige Winterluft ist zu spüren. Es wird noch eine Weile dauern, bis der Winter Olympus in seinen Fängen hat, aber er wird kommen. Ich bin nicht besonders abergläubisch, doch wenn ich überlege, wie das letzte Jahr war, erschauere ich ahnungsvoll.
Die Stadt hat sich verändert.
Man sieht es daran, wie die wenigen Leute auf der Straße mit gesenkten Köpfen vorbeieilen. Apollon lebt im Zentrum der Oberstadt, und bis vor einem Monat gab es ein buntes Nachtleben. Jetzt sind die Geschäfte nicht lang nach Sonnenuntergang geschlossen. Es gibt keine stadtweite Ausgangssperre, aber es könnte genauso gut eine verhängt worden sein.
Die Ahnung von Gewalt liegt in der Luft.
Ich senke den Kopf und beschleunige meine Schritte. Es ist niemand in der Nähe, der mich beobachten könnte, trotzdem fühle ich mich so. Verfolgt. Und ich bin nicht einmal einer von den Dreizehn. Keiner hat etwas davon, einen Ritualmord an mir zu verüben. Doch galt das auch für Triton, was ihn nicht gerettet hat.
Trotz meines Unbehagens schaffe ich es ohne Probleme zurück in meine Wohnung. Was mich nicht davon abhält, den Türriegel vorzuschieben, sobald ich drin bin. Ich kann es mir auch nicht verkneifen, einen kurzen Rundgang zu machen.
Es dauert nicht lang. Ich habe mich von einer großen Penthouse-Suite auf eine Atelierwohnung verkleinert. Ich schaue hinter das Sofa und überprüfe das Badezimmer, ohne etwas zu finden. Natürlich nicht. Ich komme mir wie ein Dummkopf vor, weil ich mir vorgestellt habe, dass mir jemand auflauern könnte, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, plagt mich noch immer schwer.
Ich reibe mir den Nacken. »Was soll der Scheiß?«
Ein Klopfen an der Tür lässt mich einen Fluch ausstoßen und zusammenzucken. Ich starre einen Moment lang zur Tür und bin mir halbwegs sicher, mir das eingebildet zu haben. Es gibt für niemanden einen Grund, mich ausgerechnet jetzt zu besuchen. Ich habe so ziemlich jeden »Freund« verloren, als Apollon mich kaltgestellt hat und ich nicht mehr der Partylöwe war.
Es klopft erneut, ein leises, nachdrückliches Geräusch, bei dem meine Haut prickelt. Die Vorahnung, die mich auf dem Heimweg beschlichen hat, weicht Interesse. Ich will diese Tür wirklich nicht öffnen. Es spielt allerdings keine Rolle. Sie verschwinden offensichtlich nicht, bis ich reagiert habe. Ich gehe zur Tür, hole ein Mal tief Luft und öffne sie.
Nur um zu erstarren. »Was willst du denn hier?«
Charon Ariti steht dort mit ausdrucksloser Miene, während seine Schultern den schmalen Flur ausfüllen. Wir sind uns noch nie in offizieller Funktion begegnet, doch eine der Nebenwirkungen davon, dass Hades aufgetaucht ist – und den Liebling der Society, Persephone, geheiratet hat –, war, dass MuseWatch den hungrigen Blick auf die um ihn herum gerichtet hat. Sie haben über alle seine Untergebenen, die sie ausfindig machen konnten, Artikel verfasst, und Charon stand ganz oben auf der Liste.
Er ist ein großer weißer Mann mit einem attraktiven Gesicht, das irgendwie zeitlos wirkt, so als könnte man ihn sowohl in den finsteren Gassen der Unterstadt finden als auch dabei beobachten, wie er im Mittelalter seinen Schild einem Kerl ins Gesicht schlägt.
Es ist, als hätte der Typ das Wort Soldat auf seine Stirn tätowiert.
Ich weiche instinktiv zurück, und er betritt, ohne zu zögern, meine Wohnung. Er sieht sich mit undurchdringlicher Miene um und wartet darauf, dass ich die Tür schließe.
Ich rühre mich nicht vom Fleck. »Falls du hier bist, um mich windelweich zu prügeln, bedenke, dass ich an meinem guten Aussehen hänge und augenblicklich nachgeben werde.«
Charon stößt scharf die Luft aus. »Wenn ich dich windelweich prügeln wollte, hätte ich das bereits im Dezember getan.«
Damals, als Eurydike wegen meines Egoismus verletzt wurde.
Ich schließe die Tür. »Ich habe es verdient.«
»Das ist mir bewusst.« Er blickt sich erneut um. »Du scheinst jedenfalls zu büßen.«
Was sollte das denn bedeuten? Ich lache ohne jeden Humor. »Ja, stimmt. In einer hübschen Wohnung mit einem festen Job zu leben, ist Büßen. Sicherlich.«
Er betrachtet anscheinend die Gemälde, die ich willkürlich an die Wand gelehnt habe. Ich kann es nicht ertragen, sie wegzuwerfen, aber sie mit Sorgfalt zu behandeln, ist irgendwie … zu viel. »Also. Sie verfolgt dich genauso wie du sie.«
Verfolgt. Ja, genau so fühle ich mich. Meine Sünden sind mir hart auf den Fersen, ein Schatten, dem ich nicht entfliehen kann. Ich habe mir eingeredet, dass mit Eurydike zu sprechen, mich bei ihr zu entschuldigen, genügen wird, um meine Dämonen zu bändigen, aber je länger das weitergeht, desto unsicherer bin ich mir. »Es spielt eigentlich keine Rolle, wer wen verfolgt. Wenn du nicht gekommen bist, um mich zu verprügeln … warum bist du dann hier?«
Charon dreht sich mit kalten blauen Augen zu mir um. »Ich habe das ernst gemeint, dass du sie verfolgst. Sie kann nicht weitermachen, solange sie sich nicht mit dir versöhnt hat.«
»Weitermachen?« Ich blicke ihn an. Wieso zum Henker kümmert ihn das, wenn sie …? Oh. Oh. Schmerz durchzuckt mich, scharf und heftig. Ich möchte eifersüchtig und wütend sein, aber ich bin so niedergeschmettert, dass ich zu wanken beginne. »Sie will mit dir weitermachen.«
»Wenn du wirklich das Beste für sie willst, würde dich das nicht stören.« Er erwidert meinen Blick. »Du hast sie nachlässig behandelt und sie gebrochen. Ich werde nicht den gleichen Fehler machen.«
Ich möchte ihn beschimpfen. Möchte ihn anschreien, dass er auf der Stelle verschwinden und nie wieder herkommen soll. Ich rühre mich nicht und sage kein Wort. Er äußert nichts, was ich nicht selbst bereits gedacht habe. Oh, ich hätte mir nie vorstellen können, dass Eurydike mit jemandem wie ihm weitermachen würde, aber schlussendlich musste etwas passieren, und mit mir wäre das nie möglich gewesen. Ich hatte meine Chance, hatte die Gelegenheit, sie so zu behandeln, wie sie es verdient, und ich hab’s vermasselt.
Ich mache einen Atemzug, der sich wie Messer in meinen Lungen anfühlt. »Lass mich um Verzeihung bitten. Ich weiß, es bedeutet nicht viel, aber vielleicht können wir so den Streit endgültig begraben.«
»Es ist nicht sicher für sie in der Oberstadt. Nimm du also den Weg in die Unterstadt auf dich und bring das in Ordnung. Das schuldest du ihr.« Er wendet sich zur Tür.
Meine Überraschung verschwindet. »Warte. Es gibt eine Sperre zwischen Oberstadt und Unterstadt. Wie soll ich da durchkommen?«
»Ich bin sicher, du findest einen Weg.« Er verlässt meine Wohnung und schließt sanft die Tür hinter sich.
Ich blicke ihm lange nach und fluche. »Was zum Henker war das denn?«
Ich bin inzwischen sehr gut darin, meiner Schwester und meinem Schwager aus dem Weg zu gehen. Es ist aktuell einfacher mit ihr, weil sie mit Zwillingen hochschwanger ist, weshalb ich sie rechtzeitig kommen höre, um durch den Vordereingang hinauszuschlüpfen.
Ich will eigentlich nicht hinterlistig sein. Das hier ist die Unterstadt; es gibt nur wenige Orte, an denen mich Hades nicht finden würde. Um genau zu sein, an denen mich Charon nicht finden würde.
Aber er ist heute Abend unterwegs, um etwas zu erledigen, weshalb ich seine Abwesenheit ausnutze. Erneut. Er wird zweifellos nicht einverstanden sein, wenn er mich schließlich aufspürt, doch ich bin noch nicht bereit, ihm nach dem, was gestern Abend passiert ist, wieder zu begegnen.
Wir haben beide Dinge gesagt, die wir nicht ungeschehen machen können. Egal, was er angeboten hat, es gibt kein Zurück zu der harmlosen Freundschaft, mit der wir uns gegenseitig vorgemacht haben, dass es da nicht mehr gibt. Ich habe es ruiniert.
Nein. Ich denke nicht darüber nach. Ich muss mich konzentrieren. Ariadne schrieb mir vorhin, dass sie heute Abend Zeit hätte, weshalb wir uns auf der Brücke treffen. Nicht die Juniper Bridge. Die meide ich noch immer, sogar noch ein Dreivierteljahr danach. Es ist kein Aberglaube, dass etwas Schlimmes passieren wird, wenn ich den Ort, an dem sich alles geändert hat, erneut aufsuche, nur irgendwie ist es doch Aberglaube. Wenn ich jedes Mal, das ich die Brücke überqueren muss, den weiten Weg zur Cypress Bridge nehme, nun, dann ist das mein Problem.
Meins und Charons, weil er mich normalerweise fährt.
Ich habe Charon versprochen, ich würde in die Oberstadt gehen, aber Ariadne hat dank Hades noch eine Einladung in die Unterstadt offen. Er hat nicht ausdrücklich gesagt, dass er von der Aufgabe weiß, die mir Aphrodite gegeben hat – vielleicht ist sie auch wieder Eris, nachdem sie auf den Titel verzichtet hat –, doch geschieht nichts in der Unterstadt, was er nicht mitbekommt. Eris hat mir versichert, dass Ariadne eine Einladung hat, und ich sehe keinen Grund, warum das hätte widerrufen werden sollen. Sie dazu zu bringen, ihren Vater nicht länger zu unterstützen, ist noch immer das Ziel.
Ich bin aber auch keine Närrin. Ich hüte mich davor, allein rauszugehen, ohne jemandem Bescheid zu sagen, wo ich bin. Weil ich auf keinen Fall eine meiner Schwestern darüber ins Bild setzen will, schreibe ich Eris.
Ich: Treffe mich gleich mit Ariadne. Hab vor, zu reden und vielleicht was in der Unterstadt zu trinken.
Sie lässt mich nicht lange auf eine Antwort warten.
Eris: Ich glaube, meine Einladung in die Unterstadt ist noch immer gültig. Soll ich dazukommen?
Beinahe hätte ich Ja gesagt. Eris ist ganz schön angsteinflößend, aber das ist ein Vorteil in der Stadt und wahrscheinlich auch in dieser Situation. Sie wird ganz eisiges Lächeln und spitze Worte sein, und ich werde nichts tun müssen, als dazusitzen und hübsch auszusehen.
Was genau der Grund dafür ist, weshalb ich nicht Ja sagen kann.
Wenn ich wirklich auf eigenen Füßen stehen will, muss ich genau das auch tun.
Ich: Ich komme klar. Ich schreibe dir, wenn ich das Gespräch mit ihr beendet habe.
Eris: Wie du meinst. Sag Bescheid, wenn du dir einen Ort ausgesucht hast.
Ich blicke stirnrunzelnd auf mein Telefon. Das geht wirklich zu weit. Was tut sie wohl, wenn ich nicht innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens antworte? Zu Hilfe eilen? Meine Schwester rufen, damit sie mir zu Hilfe eilt? Bei der Vorstellung knirsche ich mit den Zähnen. Als ich bei der verhängnisvollen Hausparty zum ersten Mal von Eris angesprochen wurde, dachte ich, dass endlich jemand mein Potenzial erkennt, anstatt mich als Vogel mit gebrochenen Flügeln zu sehen, den man vor der Welt verstecken muss. Und zu Beginn stimmte das sogar. Doch inzwischen nicht mehr.
Ich: Ich habe gesagt, ich komme klar. Ich wollte dich nur auf dem Laufenden halten.
Eris: Na schön. Ich hab verstanden.
Eris: Pass auf dich auf.
Ich ziehe die Kapuze über und gehe die Straße in Richtung Brücke entlang. Es sind gut zwanzig Minuten Weg, und der Abend ist ziemlich kalt, aber es fühlt sich gut an, allein unterwegs zu sein. Vielleicht bin ich wirklich so stark, wie ich tue. Es ist noch nicht so spät, dass alle schon nach Hause gegangen wären, und ich nicke im Gehen denjenigen zu, denen ich begegne. Charon und Hades wissen bestimmt innerhalb einer Stunde Bescheid, aber ich hoffe, beide können es wertschätzen, was ich hier tue, und kommen nicht angerannt, um mich zu retten.
Ich bin die Einzige, die das tun kann.
Ariadne Vitalis ist eine angehende Waffe, die wir mehr brauchen denn je. Und es könnte tatsächlich schon zu spät sein. Als Minos’ Ziehsohn Theseus den letzten Hephaistos tötete und seinen Platz einnahm, hat das Wellen geschlagen, die sich gefährlicherweise zu einem Tsunami aus Terror und Gewalt auswachsen könnten. Ich weiß nicht, was die Gründer von Olympus geritten hat, eine Attentatsklausel in die beinahe vergessenen Gesetze aufzunehmen, aber …