Neue Gartengeschichten - Eva Demski - E-Book

Neue Gartengeschichten E-Book

Eva Demski

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Beschreibung

Fünfzig Jahre ist Eva Demski nun mit ihrem Garten zusammen. Zeit zu überlegen, wie es weitergehen sollte. In den Neuen Gartengeschichten erzählt sie von Herausforderungen, die sie sich nicht hätte träumen lassen. Nicht nur der Klimawandel und der Umgang mit Virusängsten, sondern auch das eigene Alter und rausgerissene Buchsbaumhecken machen ihr zu schaffen. Da hilft nur Erzählen, und wenn man sich an fernen Gärten nicht mehr ergötzen darf, muss man eben in der Nähe suchen. Es gibt auch gleich um die Ecke unbekannte grüne Welten.

Davon und von vielem anderen in Fauna und Flora berichtet Eva Demski in ihrem Buch. »Freu dich über alles, was du kriegen kannst«, ist der Schluss, den Gärtnerinnen und Gärtner zusammen mit ihr aus großen, kleinen und ganz kleinen Katastrophen ziehen können.

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Seitenzahl: 170

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Titel

Eva Demski

Neue Gartengeschichten

Über Buchsbaumzünsler, Akeleien, das Alter

und ein Jahr wie keins zuvor

Mit Bildern von Michael Sowa

Insel Verlag

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Kapitulation

Auf Reisen

Geburt eines Gartens

Hauptsache bunt

Schöner Stechapfel

Magische Pilze

Über naive und sentimentalische Gärten

Was gross war

Ja, mach nur einen Plan

Der pandemische Frieden

Fliegen, kriechen, warten

Nachtleben

Blüten lesen

Die Sache mit der Lebenszeit

Grüne Versuche

Wieder Frühling

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Kapitulation

Ich sehe seit einer Zeit,

wie alles sich verwandelt.

Etwas steht auf und handelt

und tötet und tut Leid.

Von Mal zu Mal sind all

die Gärten nicht dieselben;

von den gilbenden zu der gelben

langsamem Verfall:

wie war der Weg mir weit

Rainer Maria Rilke

Es war der sechzehnte August im heißen Sommer 2020, in dem sich nichts mehr anfühlte wie zuvor. Ich schaute im Garten auf meine Buchsumrandungen und beschloss, sie aufzugeben. Schon vor Jahren hatten imperiale Gärten wie die von Hannover oder Seligenstadt die bittere Prozedur durchgemacht. Da ging es um Tausende von Metern und jede Menge Kulturgeschichte, denen Buchsbaumzünsler und Pilze den Garaus gemacht hatten. Was waren da schon meine gut dreißig Meterchen, die jetzt trotz allen Widerstands braun und krümelig wurden? Lang hatten wir versucht – wir, das heißt der Gärtner Herr D. und ich – Zünsler und Pilz zu bekämpfen. Allerdings wollte ich nicht, dass auch anderes kriechendes und fliegendes Getier zugrunde gehe. Schließlich hörte man viel vom Insektensterben und hatte sich daran gewöhnt, die ganz großen Sünden der Zeit auch auf die eigene Kappe zu nehmen.

’s ist Krieg! ’s ist wieder Krieg! […]

’s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

Das alte Lied.

Manchmal schien es, als ob der Zünslerkrieg zu gewinnen sei, dann winkten die Buchse mit ein paar grünen Ärmchen und schienen sich für die Hilfe zu bedanken. Wie alle Kriege hat auch dieser viel Kraft vergeudet. Wie in allen Kriegen wurde auch in diesem gut verdient und viel gelogen. Aber im August des Corona-Sommers 2020 sollte Schluss damit sein. Ende. Ohne Bedingungen oder Friedensverhandlungen.

Vorausgegangen war diesen Überlegungen ein Frühjahr, das so trügerisch hübsch begonnen hatte wie die meisten, Zwiebelblümchen und steigende Sonne. Ohne dass sie es zunächst wahrzuhaben schien, ohne irgendein wahnsinnig knirschendes, kreischendes, weltweit ohrenbetäubendes Bremsgeräusch war die Welt zum Stillstand gekommen. Am 3.März mochte ich meinen Gastgeberinnen bei einer Lesung – es sollte für lange Zeit meine letzte sein – nicht die Hand geben.

Sorry, sagte ich verlegen und machte dieses affige Namaste-Ding, als sei ich in einem Tempel.

Hätten wir nicht gedacht, dass Sie so ein ängstlicher Typ sind!, sagten die Gastgeberinnen munter. Dann fing die Zeit gleichzeitig an zu rasen und stillzustehen.

Hast du ein Glück, dass du den Garten hast!, sagten wenig später die gartenlosen Freunde.

Hast du ein Glück.

Das wusste ich, auch ohne diese unheimliche Geschichte. Beängstigende Infektionsnachrichten aus Amerika und Brasilien, Italien und Indien, Nordrhein-Westfalen und von der österreichischen Grenze, Orte wie Heinsberg oder Ischgl wurden zu düsteren Beispielen, die bald jeder kannte. Offenbar hatte das Virus besonders die fröhliche und innige Menschheit im Visier. Die Stunde einer ganz neuen Art von Puritanismus schlug. Er erfasste viele, mich ebenfalls. Manche verfielen in eine Art Gehorsamsrausch. Alarmierende Fallzahlen und Verlaufskurven bestimmten den Alltag, ein diabolischer Börsenkurs für jeden. In seinem Schatten versteckten sich Dutzende von politischen Skandalen und Katastrophen. Und ich dachte über Buchse nach.

Da, wo ich lebte, in den Zonen der älteren Mittelschicht, hatte eine stumme, fast wütende Art der Innenschau begonnen. Wir mussten keine Kinder mehr beschulen und beschäftigen, Besuche bei den noch Älteren waren nicht mehr erlaubt. Also wurden Bücher, Briefe, Fotos, Porzellan, Möbel, Servietten aus Schränken und Kommoden, Kellern und Speichern geklaubt, besichtigt und auf Brauchbarkeit überprüft. Und darauf, ob sich aus dem Zeug schöne Erinnerungen an gesunde Zeiten würden herausschütteln lassen, wenn man es zur Hand nahm.

Die Wertstoffhöfe füllten sich schnell und blieben tageweise wegen Überlastung geschlossen. Sperrmüllberge wurden gesellschaftsfähig und eroberten auch die feineren Viertel. Ein stummes Umwälzen fand statt, ein Umkrempeln, ein Auf-den-Kopf-Stellen, und alles wegen einer unsichtbaren, von den Orakelsprüchen der Virologen begleiteten Bedrohung. Was brauchte man? Was war überflüssig geworden? Entscheidungen wurden nicht selten revidiert. Notwendige Vorräte für das Seelenleben waren schwerer zu erkennen und anzulegen als die für die Körperhygiene.

Hast du ein Glück mit deinem Garten!

Das eingewachsene Stückchen Land mit viel Luft nach oben, von Vergissmeinnicht und frühen kurzbeinigen Iris verschwenderisch geschmückt, schien der einzige Ort zu sein, an dem keine Gefahr drohte. Die dunkellila Iris waren im Corona-Frühling zum ersten Mal bei mir aufgetaucht, wie ein kleiner Trost von wo auch immer. Ich war gerührt, hielt mein unmaskiertes Gesicht in die Sonne und nahm mir vor, dieser verfluchten Pandemie in einer einsamen, efeugeschützten Ecke einfach standzuhalten. Was ich nicht wusste: Was andere in dem, was als Lockdown in die Geschichte einging, in ihren Regalen und Schränken veranstalteten, wohl auch in ihren Ehen, Büros, Studiengängen und Reiseplänen – eine erzwungene Bestandsaufnahme –, das machte ich in den Sommer- und Herbstmonaten mit meinem kleinen Garten.

Zunächst fiel es mir gar nicht auf. Ich sah ihn mit anderen Augen. Ich erinnerte mich an seine Geschichte. Andere förderten papierene Glücksmomente aus längst vergangenen Zeiten zutage, Briefe, Tagebücher oder Fotos. Das tröstete ein wenig über das brutale Ausgebremstsein hinweg. Man konnte den Trost auch digital teilen, manche haben Blogs und Wohnzimmerauftritte ersonnen, die vielleicht sogar ein wenig Geld brachten, aber vor allem eine gleich gesinnte und gleich betroffene Gesellschaft im Netz. Das hätte ich ebenfalls machen können, ich bin aber gar nicht draufgekommen. Im Lockdown waren wir völlig allein, mein Garten und ich. Er hatte meine ganze Aufmerksamkeit, auch weil das Schreiben derzeit nicht recht funktionieren wollte. Es schien so beliebig geworden zu sein.

Teilen? Teilen wollte ich ihn trotz schlechtem Gewissen nicht, weder analog noch digital. So sah ich Woche für Woche, im Grundrauschen der Ansteckungszahlen, ohne dass das jemand von mir gewollt hätte, seine Stärken und Schwächen anders und genauer als vorher. Ebenso wie meine eigenen. Ein allmähliches, fürs Erste von keinem sichtbaren Ergebnis begleitetes Aufräumen. Ich würde sehen, was für ihn und mich überflüssig, abgenutzt, vielleicht sogar schädlich war. Ich hielt still, um ihn zu hören, und schaute viel in ihm spazieren.

Nicht nur das Virus hatte sich über uns hergemacht, sondern auch Hitze und Trockenheit, das abgenutzte Wort Klimawandel füllte sich mit ganz konkreten Erfahrungen.

Warum wollte ich damals, vor Jahrzehnten, als ich den Garten anlegte, unbedingt Buchse haben? Sie waren in meinen Augen die beste Möglichkeit, diesem Briefmärkchen von Garten eine Anmutung von Kloster oder Schloss zu geben. Es ist wahr, sie stehen für gewaltsame Zurichtung, sie lassen sich furchtbar viel gefallen, eigentlich weiß niemand, wie es aussieht, wenn man den Buchs Buchs sein lässt.

Vor wenigen Jahren musste ich ein paar große Buchskugeln aufgeben, über die hatte das neuartige Gezücht gesiegt. Bösartig bunte Raupen wurden zu hübsch gezeichneten Faltern, wie über Nacht waren die artig frisierten Kullern ruppig und braun geworden. Im ganzen Viertel sah man die Verheerungen, und meine eiserne Tierliebe ging in Mordlust über. Eine kleine Stimme in mir hielt dagegen: Die können doch nichts anderes sein, als sie sind. Vielleicht sind sie die Rache der Buchse? So wie Corona die Rache der Tiere sein könnte?

Diese Ideen behielt ich aber für mich, sie waren spooky und nutzten niemandem.

Bei meiner ersten großen Buchskugel, die rausgerissen werden musste, habe ich geheult. Wie bei anderen Gelegenheiten wurde bei mir auch diesmal aus Kummer Wut. Meine schönen Umrandungen wollte ich behalten, basta, Rache hin oder her. Die Spritze des Gärtners D., die er auf dem Rücken trug wie ein Soldat sein MG, kam oft zum Einsatz. Es sei bienen- und schmetterlingsschonend, das Zeug, wurde mir versichert. Ich wollte das glauben und hütete mich, genauer nachzufragen.

Schon lang vor den Extremsommern und dem Virus war mir der Gedanke gekommen, ob dieser Kampf nicht für den Erhalt einer Gartenlüge geführt wurde. Mein pseudoitalienisches, pseudoklösterliches, pseudoaristokratisches Hinterhausidyllchen war offenbar nur mit Gewalt durchzusetzen. Das ging im Grunde gegen meine Überzeugungen, aber ich hörte nicht auf die leisen Mahnungen meiner anarchistischen Seele.

An diesem Augusttag kapitulierte ich. Das hatte mit ihr zu tun, aber auch mit dem Virus, das seit einem halben Jahr seine unheimliche Macht zeigte. Und mit der Erkenntnis, dass dieser nicht der letzte trockene Sommer sein würde nach dreien davon, wenn die Jahreszeiten irgendwann wieder normal abrollen würden und das Wetter unser einziges Problem wäre. Schon jetzt, nach einem lächerlichen halben Jahr der Pandemie, kam mir das unvorstellbar vor. Außerdem war ich alt, damit musste ich samt Garten klarkommen. Wenn einst das Virus verschwinden und der Regen wiederkommen würde – schön und gut. Das Alter bleibt und wächst.

Noch durften wir hier gießen, in manchen Nachbargemeinden war es schon verboten. Nach fünf, sechs geschleppten Kannen schien mir klammheimlich ein Verbot verlockend. Ich musste also herausfinden, wie wir in meinen nächsten Lebensjahren miteinander auskommen könnten, der Garten und ich. Eine Bestandsaufnahme innerer und äußerer Bedingungen schien notwendig, um zu einer klugen Strategie zu finden. Und deswegen telefonierte ich Ende August mit dem treuen R., der meinen Garten gut kennt, seufzte tief am Telefon und sagte:

Die Buchse müssen raus!

Er überhörte den dramatischen Ton, wahrscheinlich ist er schon lang der Meinung, ich hätte sie nicht alle beisammen.

Das war sowieso ein Kampf gegen Windmühlen, sagte er sachlich, und wir vermieden beide, über seinen ehemaligen Meister, den Krieger mit dem Spritzen-MG, zu reden. Es passt gut, dass der liebe R. einen spanischen Nachnamen hat. Sancho Pansa war von dem Duo sowieso der Gescheitere.

Machen Sie die Reise mit mir zusammen?, fragte ich kläglich.

Ich bin dabei, sagte er.

Bevor sie rausgerissen wurden, war jetzt erst einmal Zeit, sie sich wegzudenken und sich einzugestehen, was diese bröseligen Umrandungen einfassten und schützten: Chaos. Wildwuchs. Vernachlässigung, aber auch winzige schöne Überraschungen. Indessen war es September geworden, mit einer sanften Spätsommersonne nach der wütenden Hitze. Es war immer noch viel zu trocken, aber an die alte Klage hatte man sich schon gewöhnt. Die Corona-Börsenkurse zeigten eine trügerische Ruhe, bei uns, nicht in der weiten Welt.

Wartet nur, bis der Herbst kommt, bis alle wieder drin sind, bis sich alle selbstmörderisch in den Armen liegen und einander die Aerosole in die Gesichter blasen!

In tausend Varianten war das zu lesen und zu hören. Täglich wurden Karnevals- und Faschingsveranstaltungen abgesagt, vom Oktoberfest hatte man sich schon lang verabschiedet. Schausteller standen vor dem Ruin, aber nicht nur sie.

Ich hatte nichts anderes zu tun, als herauszufinden, wohin es mit mir und meinem Garten gehen sollte. Nicht nur, was ich wollte und mir wünschte, war wichtig, sondern viel mehr noch, was wir miteinander zustande brächten, ohne Zwang, ohne zu viel Arbeit und ohne ihn der Hässlichkeit preiszugeben. Die will man ja auch für den eigenen Leib nicht, diese traurige Gleichgültigkeit, wenn Wildwuchs und Stacheligkeit siegen.

Hinter der trügerischen Ordentlichkeit der Buchse war es in meinem Garten damit schon ziemlich weit gekommen, der Herbst zeigte es ganz ohne die Verhüllungen, die mir vom Frühling und vom Sommer geschenkt worden waren. Schneeglöckchen, Vergissmeinnicht und Rosen ließen über vieles hinwegsehen. In diesem Herbst, beim Blick hinter die todgeweihte kleine Hecke, war kein Platz mehr für Illusionen.

Ach, ist es hier schön!, hatten die wenigen Besucher, die während der Stillstandsmonate hier waren, gesagt. Sie würden das sicher auch jetzt noch sagen, in der silbernen Herbstsonne, die auf ausgebleichte Hortensien und knallfarbige Buntnesseln schien. Sie würden es nicht nur mir zu Gefallen sagen, denn sie ist ja wirklich schön, diese kleine Spiegelwohnung mit ihren lebendigen Mauern.

Ich wollte unter keinen Umständen, dass mir mein Garten zu schwierig, zu anspruchsvoll würde. Das sah ich bei vielen Freundinnen und Freunden, das hatte ich bei meiner Mutter gesehen und betrauert. Man kann nicht helfen, wenn jemandem eine jahrzehntelange große Liebe allmählich oder buchstäblich mit einem Schlag zur Last wird. Meistens will man es sich nicht einmal eingestehen. Ich denke an Frau E., die aus dem Rollstuhl heraus ihren Mann wüst beschimpft. Er macht im Garten alles verkehrt. Sie beherrscht ihren Garten nicht mehr, deshalb versucht sie jetzt, ihren Mann zu beherrschen, damit der ihren geliebten Garten im Zaum hält. Sie lässt beide dabei nicht aus den Augen und verzweifelt.

Wir wollten endlich anfangen, es einander leicht zu machen, mein Garten und ich.

Wie er wohl aussehen würde, frei, ohne sein Korsett aus Buchsen?

Ich hatte eine kleine Angst. Befreiungen machen immer Angst, ich war alt genug, das zu wissen.

Auf Reisen

»Glauben Sie, man könnte aus diesem Hof einen schönen Garten machen?«

»Unmöglich, Monsieur, Ihr Hof ist so groß wie die Hand.«

»Das stimmt, ich hätte aber dennoch gerne einen schönen Garten.«

Alphonse Karr, Reise um meinen Garten

Ein Roman in Briefen

Die Ermordung Kennedys oder der elfte September sind Ereignisse, die fest im eigenen Gedächtnis oder in den Erzählungen der Menschen verankert sind. Nicht ihre Analyse, natürlich nicht. Wie einst die Mondlandung können diese historischen Paukenschläge sehr unterschiedlich interpretiert werden, der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Aber wenigstens auf die betreffenden Daten kann man sich einigen, sie sind unverschiebbar. Mit der Pandemie ist das anders. Je nach Alter, Temperament, Herkunft und nicht zuletzt Ängstlichkeit hat sie für jeden und jede einen eigenen Beginn – zum ersten Mal das komische Wort Corona gehört? Schulschließung? Kurzarbeit? Sonderbar böse Träume? Stammkneipe zu? Abstrakte Totenzahlen? Konkrete Särge im Fernsehen, die abtransportiert wurden? Das eigene Gesicht in der Webcam ertragen lernen? Masken im Supermarkt?

Es war auf jeden Fall Frühling, schon oder noch, je nach Wahrnehmung, je nach Abflauen der jeweiligen Betäubung, die sich sehr unterschiedlich anfühlte. Ein schöner Frühling, wie immer. Auf einem kleinen Platz ganz in meiner Nähe hatte sich ein blauer Teppich von Scilla ausgebreitet, wie jedes Jahr. Aber diesmal reagierten die Menschen anders. Sie blieben an dem schütteren Stückchen Erde, das nur wenige Tage im Jahr so prachtvoll war, lang stehen. Viele taten das, früher war das nie so gewesen. Masken trug noch niemand, aber man hielt Abstand, jeder war mit sich und dem blauen Wunder allein. Ich hätte gern in die Köpfe schauen mögen, aber ich schaffte es ja nicht einmal, meinen eigenen zu ergründen. Die unschuldigen blauen Blümchen schienen mir wie Vorboten der Apokalypse, das war Quatsch, aber auch nicht.

Bald nahm sich der Buchmarkt dieser sonderbar gelähmten Situation an. Sie versuchten, einen mit literarischen Ausgrabungen zu trösten. Reise um mein Zimmer von Xavier de Maistre hieß so ein aus der Vergessenheit emporgestiegener Titel, zeitweilig war das kleine Buch aus dem achtzehnten Jahrhundert vergriffen. Was verhieß der Titel? Alles schon mal da gewesen, seid getrost, ihr unversehens Eingesperrten? Es gibt im eigenen vernachlässigten Mikrokosmos eine Menge zu entdecken, wenn man schon nirgendwo anders hindarf? Ich kaufte es natürlich, aber es half mir zunächst wenig. Zur Reise um meinen Garten würde auch ein Buch erscheinen, ein Briefroman von Alphonse Karr, aber das kam viel zu spät, da hatte ich die eigene Rundreise um meinen Garten längst angetreten. Beendet ist sie noch nicht, wahrscheinlich wird sie das auch nie sein. Es brauchte die Pandemie, um mir das klarzumachen.

Ich trat sie eher zufällig an, aus Frust. Eigentlich war um diese Jahreszeit der erste Pflanzenkaufrausch fällig, aber mein Lieblingsladen hatte coronabedingt geschlossen. Also ein kleiner Gang durch den Garten, um nachzuschauen, welche Pflanzen es von allein, ohne Asyl im Treppenhaus oder wo sonst noch Platz gewesen war, über den Winter geschafft hatten. Über ein kleines, grünes Etwas in einem Topf, das ich nicht erkannte, freute ich mich. Außerdem war aber leider ein anderes Gewächs wiedergekommen, ein Gedanke, ziemlich unangenehm und deswegen immer wieder rausgejätet – meine allmähliche Entdeckung der Langsamkeit. Die Armee der Kübel und Töpfe im Treppenhaus, in der Waschküche, auf sämtlichen einigermaßen hellen Kellerplätzen und sogar in der Küche einer Freundin hatte bedrohlich zugenommen, und ja – sie war bedrohlich geworden. Hilfe hatte ich für die ganz schweren Brocken immer schon gebraucht, das war normal. Aber es ließ sich nicht leugnen – auch die kleineren Töpfe, die ich früher in Dreierpacks auf die Fensterbänke schweben ließ, waren indessen schwere Brocken geworden. Wie konnte das passieren?, dachte ich und gleichzeitig, wie blöd diese Frage war. Eine gute Freundin hatte nach der schwungvollen Anhebung eines Kübels sechs Monate lang ein Korsett tragen müssen. Die Sache würde keinen und keine verschonen, und wie beide Geschlechter damit umgingen, war auf höchst unterschiedliche Weise gleich verstockt.

Natürlich steig ich auf die Leiter! (Er)

Wir hatten IMMER elf Sorten Tomaten! (Sie)

Und so dachte ich beim Beginn der Reise durch meinen Garten, auf der mich die apokalyptischen Reiter Pandemie, Alter und Klimawandel treu begleiten würden, dass es vernünftig wäre, nicht mehr das ganze Haus mit schwergewichtigen Versprechen vollzustopfen. Denn das waren sie ja, diese Kübel und Töpfe, Versprechen. Noch wohnten sie im Winterquartier in diesem Corona-Februar, einige sahen nicht gut aus. Früher – es schien gar nicht lang her – hatte ich ein ausgeprägtes botanisches Helfersyndrom und päppelte geduldig manche Kröpel durch die Jahre. Während ich im Garten immer noch überlegte, was das hübsche grüne Ding, das ohne meine Hilfe ausgekommen war, wohl werden würde, dachte ich an Vita Sackville-Wests Satz vom Gärtner, der grausam sein müsse. Ich freute mich über meine unzähligen Schneeglöckchen und dachte über notwendige Grausamkeiten nach. Das war gut so.

Ich beschloss, mir den Satz zu Herzen zu nehmen. Keine Kröpel mehr. Keine Versprechen mehr. Keine Wetten mehr auf irgendeine Zukunft. Die ist eh eine unsichere Bank. Wann hatte man das je so deutlich gemerkt wie in diesem stummen Frühling?

Das kleine grüne Ding im Topf konnte ich später als Fuchsie identifizieren. Ich würde nun gern behaupten, eine Fuchsienkennerin zu sein, wie fast alle Pflanzen hat auch sie eine Gruppe eiserner und allwissender Experten um sich. Das kann jeder googeln und sich davon einschüchtern lassen. Sie und ihre Schwestern, die im späteren Frühjahr an immer mehr Stellen in meinem Garten auftauchten, hatte ich im seligen letzten Sommer als Lückenbüßer bei Aldi gekauft, das Achterpäckchen für drei Euro oder so. Ich hatte sie überall da hingestopft, wo sich kahle Stellen zeigten. Zu viel Sonne mögen sie nicht, war das Einzige, was ich über sie wusste. Das traf sich gut, weil eins der Probleme meines Gartens in zu wenig Sonne besteht.

Ja, in dem Schattengarten dürfen Sie nicht zu viel erwarten!

Das war so ein typischer Expertensatz, wie ich sie schon vor Jahren gehasst habe. Als wäre man selber schuld am Schatten, und nicht Bäume, andere Häuser oder Gott.

Die Fuchsien gingen gut an, sie machten sich nicht wichtig, manche gerieten lang und schlank, andere klein und dick, je nachdem, wo ich sie hingesteckt hatte. Sie schienen ein Bewusstsein für ihre Umgebung zu haben und passten sich auch farblich an. Hellrosa, creme, dunkellila, weiß, die Blüten immer zweifarbig –

Wir tanzen Ballett, daß die Röckchen fliegen

die weißen und rosa Röckchen aus Tüll.

Der Wind dirigiert, und wir schmiegen und wiegen

und biegen uns, wie der Kapellmeister will.

So beschreibt sie Erich Kästner in seinem Gedicht Die Fuchsien. Für seine Verhältnisse ganz unhintersinnig liebenswürdig – oder?

Wir tanzen auf Spitze. Wir drehn Pirouetten.

Wir bewegen uns unbewegten Gesichts

wie Ballerinen aus alten Balletten.

Von modernen Tänzen halten wir nichts.

Mag sein, dass diese Beschreibung auch auf meine widerstandsfähigen Aldi-Blumen aus der billigen Achterpackung zutrifft.

In meinen Erinnerungen taucht immer wieder ein endloser Zaun aus Schmiedeeisen auf, mit Spitzen, die aber nicht feindselig sind. Hunderte von Metern Zaun, an denen man entlanglief und immer neue Gartenbilder sah, ohne sich nur einmal zu wünschen, hineinzukönnen. Es genügte vollkommen, zu schauen. Der Regensburger Schlosspark vereinte alle nur denkbaren Gärten in sich, auch wenn man nur einen winzigen Teil davon zu Gesicht bekam. Irgendjemandem gehörte das alles. Beim Beginn meiner Reise durch meinen Garten dachte ich wieder an die Wunder von damals hinter dem endlosen Zaun und dass ich von meinem kleinen Stück Erde genauso wenig wusste wie der Fürst von seinen unermesslichen Latifundien. Es war noch ziemlich still um einen herum, und wenn man so für sich allein anfing, wunderlich zu werden, störte das keinen. Das Virus schrumpfte Menschen und Pläne und Wünsche, und alle möglichen Statussymbole waren mit einem Mal obsolet.