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Die aktuellen Herausforderungen für pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen sind vielfältig: Neben Personalmangel und unbesetzten Stellen sehen sie sich mit steigenden Krankenzahlen konfrontiert.
Hinzu kommen gestiegene Ansprüche an die Qualifikation angesichts zunehmender Anforderungen in der Betreuung und Erziehung von Kindern mit Migrationshintergrund oder erhöhtem Betreuungsbedarf. Globale gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Umbrüche beeinflussen diese Situation zusätzlich.
Neue Aufgabe der pädagogischen Fachkraft ist es, sich für die sinnzentrierte Beziehung zu den Kindern bewusst mit der Idee des Guten auseinanderzusetzen und feinfühlig zu handeln.
Der Autor knüpft in diesem Buch Neue Herausforderungen der pädagogischen Fachkraft erneut an das bewährte Wirken des Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak an und bietet Orientierung, Stabilität und Kontinuität in diesen herausfordernden Zeiten.
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Seitenzahl: 161
1. Auflage
© WALHALLA Fachverlag, Regensburg
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Die aktuellen Herausforderungen für pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen sind vielfältig: Neben Personalmangel und unbesetzten Stellen sehen sie sich mit steigenden Krankenzahlen konfrontiert.
Hinzu kommen gestiegene Ansprüche an die Qualifikation angesichts zunehmender Anforderungen in der Betreuung und Erziehung von Kindern mit Migrationshintergrund oder erhöhtem Betreuungsbedarf. Globale gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Umbrüche beeinflussen diese Situation zusätzlich.
Neue Aufgabe der pädagogischen Fachkraft ist es, sich für die sinnzentrierte Beziehung zu den Kindern bewusst mit der Idee des Guten auseinanderzusetzen und feinfühlig zu handeln.
Welche Tendenzen der Zeit gefährden die Erziehung in Kindertageseinrichtungen? Welche entwicklungsförderlichen Bedingungen brauchen Kinder und ihre Familien, um vorhandene Ressourcen auszuschöpfen? Wie unterstützt der Situationsorientierte Ansatz, die Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz von Kindern auf- und auszubauen? Welche Hilfen eignen sich für kommunikationsbeeinträchtigte Kinder in der Kindertageseinrichtung? Wie gelingt die therapeutische Erziehung für Kinder mit schwerer Behinderung und in der Kinderhospizarbeit?Der Autor knüpft in diesem Buch Neue Herausforderungen der pädagogischen Fachkraft erneut an das bewährte Wirken des Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak an und bietet Orientierung, Stabilität und Kontinuität in diesen herausfordernden Zeiten.
Ferdinand Klein, Prof. Dr. phil. Dr. paed. et Prof. h. c., Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik, arbeitete 20 Jahre als Erzieher, Heilpädagoge und Logotherapeut, lehrte und forschte an sechs Universitäten in Deutschland, Ungarn und der Slowakei im Geiste des polnischen Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak.
Vorwort
1. Tendenzen der Zeit gefährden die Erziehung in Kindertageseinrichtungen
2. Der „Situationsorientierte Ansatz“ – eine zukunftsweisende Perspektive
3. Die Liebe zum Leben achtet die Würde des Kindes
4. Das Erinnern an Klassiker der Pädagogik
5. Hilfe für kommunikationsbeeinträchtigte Kinder in der Kindertageseinrichtung
6. Zur Kultur des Spiels in Kindertageseinrichtungen
7. Therapeutische Erziehung für Kinder mit schwerer Behinderung und in der Kinderhospizarbeit
8. Autorenporträt
9. Literaturverzeichnis
„Unsere Kindertageseinrichtungen stecken in einer Krise“ – Dieses trübe Bild zeichnen Presseberichte und Studien. Sie weisen auf große Versäumnisse der deutschen Bildungspolitik (Personalmangel, unbesetzte Stellen, gestiegene Krankenzahlen) hin und lassen die enormen Herausforderungen für die pädagogischen Fachkräfte erkennen.
Es geht mir nicht um das Analysieren dieser These oder ein Denken in Kategorien, sondern um das Verstehen der Wirklichkeit des Erziehens, das den pädagogischen Fachkräften Orientierung für ihr Handeln in Kindertageseinrichten gibt. Die folgenden Texte sind in sechs Beiträgen im ZUKUNFTS-HANDBUCH Kindertageseinrichtungen erschienen. In einer Zeit, in der sich Krisen häufen und gegenseitig verstärken, möchte ich mit diesem Buch Orientierung, Stabilität und Kontinuität bieten. Dazu knüpfe ich an das Wirken des Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak an.
Der folgende Einblick in meine Professionalität kann als persönlicher Bericht eines Zeitzeugen verstanden werden, der seine berufliche Tätigkeit unter den Bedingungen der von ihm erlebten Zeit beschreibt und sein Denken und Handeln, sein Forschen und Lehren als Einheit sieht.
Man könnte einwenden, dass der Darstellung der Geruch des Narzissmus, der Selbstverliebtheit und Selbstbewunderung anhafte. Doch in neueren Beiträgen zur Forschung und Lehre wird der Selbstdarstellung des Wissenschaftlers Raum gegeben, da sie zu einem nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn beitragen kann.
Als 1944 meine Eltern und ich – damals als Zehnjähriger – aus meinem geliebten Dorf Schwedler (Slowakei) vertrieben wurden, waren wir plötzlich heimatlos … ein Jahr Flucht folgte. Wir konnten unser Leben noch retten. Mein Vater, ein geschätzter Schneidermeister, starb an den Folgen des 1. Weltkrieges. Meine Mutter und ich waren sehr arm. Ich arbeitete in den Ferien.
Mit 18 Jahren führte mich der Weg in die Heil- und Pflegeanstalt Bruckberg bei Ansbach, eine Einrichtung der bayerischen Diakonie Neuendettelsau. Dort betreute ich in den Sommerferien eine heterogene Gruppe mit 18 schwer mehrfachbehinderten Jugendlichen und Erwachsenen, die zum Teil erheblich traumatisiert und psychisch beeinträchtigt waren. Diese Menschen hatte mir der Anstaltsleiter anvertraut. Ich wollte sein Vertrauen nicht enttäuschen, strampelte wie ein Frosch im Butterfass und machte prägende pflegerische und erzieherische Erfahrungen. Mit diesen Menschen lebte ich einen Monat lang Tag und Nacht zusammen. Ich versuchte, mich auf jeden Einzelnen einzustellen, und war bemüht, den vielen, oft völlig überraschenden problematischen Situationen möglichst angemessen zu begegnen. Dabei lernte ich ihre liebenswürdigen Seiten, aber auch ihre weniger guten näher kennen. Ich versuchte, mich von der oft schwierigen Pflege- und Erziehungssituation zu distanzieren, aus ihr etwas Positives herauszufiltern und sie zum Guten zu wandeln. Gespräche mit anderen Betreuenden waren hilfreich.
Mich ermutigte das Handeln der Diakonissinnen, die mir mit einem bejahenden Lächeln begegneten und trotz ihres hohen Alters unermüdlich arbeiteten. Ihr von Herzen kommender pflegepädagogischer Dienst motivierte mich. Ihr Beispiel bewegt mich noch heute und ermutigt zum Handeln. Inzwischen ist die Pflegepädagogik ein interdisziplinäres Forschungs- und Studiengebiet geworden.
Schon als Lehrer der einklassigen Dorfschule in Pommer1 (Landkreis Forchheim) und später als Leiter der Erlanger Lebenshilfe-Schule und des zweijährigen Lehrgangs für heilpädagogische Fachkräfte2 im Regierungsbezirk Oberfranken entdeckte ich die Pädagogik Janusz Korczaks, in einer Zeit, in der die im Reichsschulpflichtgesetz vom 06.07.1938 getroffene Abgrenzung noch galt: Kinder mit geistiger Behinderung waren schulbildungsunfähig. Ihr Grundrecht auf Bildung musste erkämpft werden. Erst der zivile Ungehorsam, nämlich die Initiative von Eltern und Fachleuten, wies die politisch Verantwortlichen auf die ungeheuerlichen Versäumnisse hin: Wir nahmen die schulbefreiten Kinder ohne hinreichende gesetzliche Grundlage in die Bildungseinrichtung auf und ließen unser Handeln nicht von politischen Rahmenbedingungen bestimmen, sondern von Entscheidungen, die wir mit unserem Gewissen verantworteten. Wir hatten der Schulpolitik gezeigt, dass den Kindern großes Unrecht geschah.3
In den Schulkonferenzen dachten wir über Korczaks Satz nach: „Wer nicht in einer Schule für geistig behinderte, taubstumme oder blinde Kinder gelernt hat, Geduld und die Grundlagen der Didaktik zu üben, der wird niemals ein richtiger Lehrer werden können.“ (Klein 1982, S. 162) Für diese Kinder trifft in besonderer Weise zu, dass sie aus der Tiefe ihres Herzens fühlen und empfinden. Von 1980 an folgte ich einige Male mit polnischen Freunden – auf teils steinigen Wegen – Korczaks Spuren in Warschau.
Beim 1. Wuppertaler Kolloquium der Deutschen Korczak-Gesellschaft legte ich Zeugnis ab von Korczaks lebendiger Pädagogik (Klein 1982). Als ich 1992 zum Aufbaudirektor des Instituts für Rehabilitationspädagogik an der Universität Halle-Wittenberg berufen wurde und meine Arbeit zu scheitern drohte, schenkte mir Korczaks Getto-Tagebuch Halt, Gelassenheit und innere Heiterkeit.
Schon von klein auf tut er Gutes und entdeckt das Gute beim anderen. Korczaks Güte, Weisheit und tiefes Interesse am anderen Menschen, das gerade die Schattenseiten menschlichen Verhaltens wahrnimmt und daraus die Liebe zum Nächsten entwickelt, leuchten wie ein Symbol der Menschlichkeit. Sein elementares Interesse am Menschen kann der Ausgangspunkt für weitreichende Einsichten sein – nicht nur zum Thema Pädagogik, sondern auch zur Frage der Bedingung des Menschseins und der Zukunft des Menschen. Korczak erkennt das Gute im Menschen über alle Gräben hinweg. Seine Handlungsethik verstehe ich als Kulturimpuls für die weltweite Politik.
Korczak will seine Idee retten. Er hat die Sache des Kindes und damit die Zukunft des Menschen und der Menschheit zu seiner Sache gemacht. Mit dem polnischen Korczak-Forscher Aleksander Lewin, der von 1937 bis 1939 Erzieher im Waisenhaus Dom Sierot war, ist herauszustellen: Korczak hat sein Programm aus dem Jahre 1929 nicht aus den Augen verloren: „Von der Selbstverwaltung der Kinder zu den Parlamenten der Welt.“ (Lewin 1998, S. 142) Korczaks weiß sich der Demokratie als Lebensform verpflichtet. Es achtet Kinder und Erwachsene als zwei gleichwertige Seiten im Erziehungs- und Bildungsprozess.
Fünf Jahre lang hatte ich jeden Schultag für über 30 Schüler und Schülerinnen der Jahrgänge 1 bis 8 den Unterricht vorzubereiten und zu gestalten.
2Diese Mitarbeitenden bezeichnete die Bayerische Staatsregierung als „Heilpädagogische Unterrichtshilfen“; es waren i. d. R. Erzieherinnen oder Sozialpädagoginnen.
3Der Bedeutungshorizont des Verbs „zeigen“ ist breit gefächert. Ich verstehe das Zeigen als Aufmerksammachen, das von der Achtung des Kindes geprägt ist und dem bekannten Satz Maria Montessoris folgt: „Hilf mir, es selbst zu tun.“
Der andere wird zum Objekt der eigenen Wünsche
Impulse zum Nachdenken
Erkenntnis für die Praxis in der Kindertageseinrichtung
Am Ausgang der Moderne ist der gesamte Bereich der Kultur und Bildung von einem epochalen Wandel erfasst, der zu neuen Anforderungen an die pädagogische Professionalität führt (Speck 2008, S. 23 ff.). Die Wissenschaft als Orientierungsinstanz hat an Ansehen verloren; ihre abstrakten Theorien greifen nicht mehr hinreichend. Die komplexen Veränderungen in der Wirklichkeit der Menschen werden als vielfältig vernetzt, unübersichtlich geworden und bedrohlich erlebt. Eine Sicherheit gebende Theorie wird gesucht.
Die inklusive Erziehungspraxis ist in diesen Epochenumbruch mit einbezogen. Wir stehen mitten in Prozessen globaler gesellschaftlicher, sozialer und wirtschaftlicher Umbrüche. Das Gesellschaftsmodell der neoliberalen Marktwirtschaft, das den sozialen Anspruch des Einzelnen nicht mehr hinreichend beachtet, steuert einen radikalen Kurs der Umverteilung zulasten der Menschen, die bereits benachteiligt sind. Besonders Familien mit kleinen Kindern mit Behinderungen leiden unter der herrschenden Benachteiligung und Ausgrenzung (Klein 2018, S. 47 f.).
Sie finden keinen ausreichenden Ratgeber mehr und leben in existenzieller Angst. Weit verbreitet ist die Angst vor dem anderen. Noch vor Jahrzehnten hatte man Angst vor einem bestimmten Schuldigen, den man ausmachen und bekämpfen konnte. Heute kann man die Ursachen der Angst nicht mehr dingfest machen und gezielt angehen. Es können verschiedene, miteinander verwobene Ursachen ausfindig gemacht werden. Liegen sie im Beziehungsgeflecht mitten unter uns? Sozialpsychiater sprechen von Menschen mit „Sozialphobie“ und weisen sogar auf eine sich entwickelnde „autistische Gesellschaft“ hin. Sie sehen in der autistischen Beziehungsstörung mit der ihr eigenen Gefühlskälte und Distanz zum anderen Menschen eine Gefahr für die Demokratie, für das Denken in Freiheit, für die Liebe zum Leben (Lempp 2012).
Das erkannte bereits 1974 der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm (1900–1980) in seiner sozialgeschichtlichen Studie über die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“.
Fromm beschreibt den biophilen sowie den nekrophilen Menschen:
Dieser pflegt Liebe zum Leben durch Hingabe, Freude und Kreativität,
jeder hat Destruktivität, Mechanik und Technik des Lebens im Blick, was sich in Macht, Gier und Ichbezogenheit äußert.
Bemerkenswert an Fromms Studie ist ihre Aktualität. Fromm warnt vor jenen Menschen, die ihren kühlen und berechnenden Verstand benutzen und das „Herz verhärten“. Er konstatiert Nekrophilie bei den Menschen, die mit Leidenschaft das Lebendige zerstückeln, die Welt bis ins Letzte genau kontrollieren wollen: „Die Welt des Lebens ist zu einer Welt des ‚Nicht-Lebendigen‘ geworden; Menschen sind zu ‚Nicht-Menschen‘ geworden – eine Welt des Todes.“ (Fromm 1974, S. 318)
Im Epochenumbruch am Ausgang der Moderne stellt sich der Erziehung diese Frage in aller Schärfe: Hier eine Welt des Lebendigen („eine Schule des Lebens“, wie Korczak sagt), dort eine Welt des Todes („eine Schule des Todes“, wie Korczak sagt; Klein 2018, S. 48).
Das Reflektieren der folgenden Denkanstöße, die in einem inneren Zusammenhang stehen, kann zur Schärfung des praktischen Urteils und der Bewusstseinsbildung für eine Welt des Lebendigen in Kindertageseinrichtungen beitragen. Dieser Blick über den Zaun lag dem politisch denkenden Arzt und Erzieher Janusz Korczak am Herzen. Er wies auf Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge hin, in die das Erzieherische eingebunden und hineinverwoben ist.
Diskurse über das „neue Profil des Menschen“ weisen darauf hin, dass das Ich des Menschen zur Ware zu werden droht. Schon allein durch das Internet hat sich die Definition des Ichs verändert. Der Mensch ist nicht mehr nur Person mit ein paar persönlichen Daten, sondern er ist zu einem Datensatz geworden, der durch Unternehmen wie Google oder Meta (Facebook, WhatsApp) im Netz vermarktet wird. Informatiker sprechen vom Computer als Bewusstseinsmaschine, die eine neue Form des Erkennens generiert. Doch die hergestellten Zusammenhänge sind keine Sinnzusammenhänge mehr. Sie verfeinern lediglich Muster.
Die Google-Meta-Welt besagt also, dass der einzelne Mensch für sie nicht bedeutsam ist, sondern nur die große Zahl der Ichs, von denen sie alles wissen müssen, damit der Rechner komplexe Leistungsprofile erstellen kann. „Diesseits dieser Welt aber muss ich die Bedeutung, meine Bedeutung behaupten und unvermindert verteidigen. Andernfalls wird das Ich zur bewusstlosen Ware“, über die verfügt werden kann (Graff 2010, S. 14). Und es kommt nicht mehr zu einer intersubjektiven Begegnung, zu einer Begegnung von Mensch zu Mensch.
Auf dieses Erfahrungsdefizit macht der evolutionäre Humanist und Historiker Yuval Noah Harari (geb. 1976) aufmerksam. Harari erkannte in seinem Weltbestseller HOMO DEUS – Eine Geschichte von Morgen (Harari 2017), dass der Menschheitsentwicklung eine Abkoppelung des Denkens vom Bewusstsein droht, sofern das intersubjektive Begegnen ausgeblendet wird.
Dem Menschen sind intersubjektive Begegnungen zu ermöglichen, die in seinem Bewusstsein, in seinem Gefühl und Herzen verankert sind. Dadurch verändert sich sein Wahrnehmen dahingehend, dass er den technisch zu bewerkstelligen Algorithmus in der Datenverarbeitung überwinden und sich als autonomer Mensch bewusst weiterentwickeln kann. Geboten sind ein intersubjektives Handeln und Erkennen. Harari kommt aus tiefem mitfühlenden Nachdenken über die grundlegenden Wissenschaften und Glaubensüberzeugungen, die es in der Welt gibt, zu einer Erkenntnis.
Harari widmet sich im zweiten Weltbestseller 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert (Harari 2023) den drängenden Fragen im Hier und Jetzt. In einfacher und gehaltvoller Sprache besinnt er sich auf das Wesentliche seines Lebens: Aus mitfühlendem Nachdenken in ruhiger, ja meditierender Betrachtung des eigenen Lebens findet er den Weg, den er gehen kann.
Harari fragt: Wie können wir in unserer unübersichtlichen und von bedeutungslosen Informationen überflutenden Welt moralisch handeln? Und was sollen wir unseren Kindern beibringen, da heute Biotechnologie und maschinelles Lernen immer besser darin werden, die tiefsten Emotionen und Wünsche der Menschen zu manipulieren? Schließlich wird es gefährlicher denn je, einfach dem eigenen Herzen zu folgen (ebd., S. 352). Er erkennt aus tief reflektierten Erfahrungen heraus die Werte der Wahrheit, Gleichheit und Freiheit, die für unsere demokratischen Einrichtungen grundlegend und aus der sinnzentrierten Beziehung heraus zu gestalten sind und zum Handeln aufrufen: „Bitte vermeiden Sie theoretische Fragen […] und konzentrieren Sie sich auf Fragen, die mit Ihrer tatsächlichen Praxis zu tun haben.“ (ebd., S. 413)
Er sucht aus seinen Lebenserfahrungen heraus den Sinn des Lebens zu entdecken und seinen Geist, sein Denken und Handeln, sein Fühlen und Wollen zu begründen, um die Wirklichkeit zu erfassen und über sie nachzudenken, zu meditieren, um „zu verstehen, was ringsum geschieht, und um sich im Labyrinth des Lebens zurechtzufinden“ (ebd., S. 341). Dies in einer Zeit, in der wir von Falschinformationen und Belanglosigkeiten überflutet werden. Stattdessen benötigen Menschen die „Fähigkeit, Informationen zu interpretieren, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden und vor allem viele Informationsstückchen zu einem umfassenden Bild der Welt zusammenzusetzen“ (ebd., S. 344).
Schließlich fragt Harari: „Wer bin ich? Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Worin besteht der Sinn meines Lebens?“ (ebd., S. 354) Sein Rat: „Wenn Sie sich wirklich selbst verstehen wollen, sollten Sie sich nicht mit Ihrem Facebook-Account […] identifizieren. Stattdessen sollten Sie den tatsächlichen Fluss von Körper und Geist wahrnehmen.“ (ebd., S. 396) Das erinnert an den Friedenstifter Franz von Assisi (1181–1226), der als Kind reicher Eltern sein ausschweifendes privilegiertes Leben aufgab und freiwillig in „zärtlicher Solidarität“ mit den armen, ausgestoßenen und benachteiligten Menschen lebte. Mit dieser geistigen Haltung, die seinem tiefen Bedürfnis entsprach, fühlte er Dankbarkeit, Freude und Glück. Er lebte in „Verbindung mit der Welt“ in Frieden und im Einklang mit der Natur und den Tieren (Prinz 2023, S. 81 ff.). Sein „Sprechen, Denken und Glaube“ waren für ihn eins (ebd., S. 116).
Für den Heidelberger Psychiater, Philosophen und Pädagogen Thomas Fuchs, der in der humanistischen Tradition Erich Fromms steht,4 ist die Liebe zum Leben die kostbarste Eigenschaft des Menschen. Den Leistungen des Menschen in den Wissenschaften, der Kunst, des Rechts und der Technik steht die erschreckende Seite gegenüber, nämlich „Hass, Gewalt, Krieg und Destruktion“ (Fuchs 2023, S. 8). Fuchs fragt nach dem Ausweg aus dem Schwanken zwischen Größe und Elend des Menschen und erkennt die Notwendigkeit dessen Wandels, der insbesondere einschließt: die Verabschiedung von Allmachtsfantasien, Selbstbejahung und Demut, wirkliche Beziehungen, das Einüben echter Empathie und das „eigene Einbetten in einen übergreifenden und sinnvollen Zusammenhang“ (ebd., S. 12). Entscheidend ist das sinnliche Erfahren des anderen Menschen, sein wirkliches Du: sein Blick, seine Stimme, seine leibliche Präsenz, seine körperliche Ausstrahlungskraft. Diese Zwischenleiblichkeit kann durch die virtuelle Gegenwart des anderen nicht ersetzt werden.
Für Fuchs ist das Bewusstsein einzubetten in einen übergreifenden Sinnzusammenhang, der dem (zer-)störenden Narzissmus trotzt. Diese tiefe innere Haltung mündet in die Verantwortung, die „wir füreinander als Menschen und für das Leben insgesamt übernehmen. Dann mag es uns auch gelingen, uns auf der Erde wirklich zu beheimaten. Es wird keine andere Heimat für uns geben“ (ebd., S. 15).
Thomas Fuchs hat 2023 den Erich-Fromm-Preis erhalten; seine wissenschaftlichen Arbeiten stehen ganz in der Tradition Erich Fromms. Auf seine Rede anlässlich der Verleihung des Preises „Verkörperung und Beziehung. Für einen zeitgemäßen Humanismus“ gehe ich im Folgenden näher ein.
Heute sehen sich Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler einem Denken verpflichtet, das den Einzelnen nicht mehr als Person beschreibt, sondern als Organisationssystem von Verhaltensweisen, die analysiert, gemessen, geprüft und verrechnet werden können. In diesen Theoriegebäuden ist nicht mehr der Mensch in seiner Ganzheit das Bezugssystem. Wird er in formale Kategorien aufgelöst und als Summe seiner Einzelfunktionen verstanden, wird sein Bedürfnis, nämlich aus seinem inneren Kraftzentrum heraus autonom zu handeln, ignoriert.
Das Funktionieren wurde der erfolgreichen Kommunikations- und Politikwissenschaftlerin Miriam Meckel zum Verhängnis. Sie musste sich wegen eines Burnout in stationäre Behandlung begeben. Hier wurden ihr die Grenzen des Verhaltens bewusst, nachdem sie 15 Jahre in der Perfektionsfalle herumgetappt war. Fremdbestimmung, Konkurrenz, Zwänge und Misserfolge führten zu einem Funktionieren. Meckel konnte nicht mehr aus ihrer Krankheit herausfinden. Sie hatte ihre Souveränität über das eigene Leben verloren. Sie fühlte sich entwurzelt und sehnte sich nach einem nicht entfremdeten Dasein und nach Halt gebenden Beziehungen (Meckel 2010).
Meckel hatte versäumt, die Frage nach der Sinngebung des eigenen Daseins, die eigentliche Frage nach sich selbst, nach sinnstiftender Lebensorientierung zu stellen. Lebenssinn, der tief im Menschen eingewurzelt ist, ist nicht verhandelbar.
In seinem Werk Die Seele des Menschen erkannte Erich Fromm schon 1980, dass Menschen im Zusammenleben nach ökonomischen Gesichtspunkten verwaltet werden, „als ob sie Dinge wären“; dadurch verwandeln sie sich unmerklich „in Dinge, und sie gehorchen den Gesetzen der Dinge. Aber der Mensch ist nicht zum Ding geschaffen; er geht zugrunde, wenn er zum Ding wird. […] Der homo mechanicus interessiert sich […] immer weniger für die Anteilnahme am eigentlichen Leben und für die Verantwortung, die darin liegt“ (Fromm 1980, S. 54 ff.).