Neurodiversität und Autismus -  - E-Book

Neurodiversität und Autismus E-Book

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Beschreibung

Der Auftakt-Band der Reihe "Pädagogik im Autismus-Spektrum" befasst sich zunächst mit sozial- und erziehungswissenschaftlichen Perspektiven auf das Konzept Neurodiversität. Darauf aufbauend wendet er sich dann pädagogischen und didaktischen Anschlüssen zu und bezieht sich anschließend auf partizipative (Autismus-)Forschung als eine Hauptforderung der Neurodiversitätsbewegung. Ferner wird ein Einblick in erste interdisziplinäre Neurodiversitätsforschungen gegeben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Autismus-Spektrum sind in dem Band zahlreich vertreten. Ihnen ist es zu verdanken, dass das Thema im deutschsprachigen Raum endlich Fuß zu fassen beginnt.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

I Sozial- und erziehungswissenschaftliche Perspektiven

Einführung in das Paradigma der Neurodiversität

Grundlegende Begriffe: Neurodiversität, Neurotypik, Neurodivergenz

Neurodiversität als Kontrast zum Pathologie-Paradigma

Neurodiversität als politischer Begriff

Neurodiversität im Anschluss an soziale Dynamiken menschlicher Diversität

Neurodiversität als Begriff der performativen Wirksamkeit des verkörperten Denkens und Handelns

Die Bedeutung der Diskursmacht Medikalisierung für Neurodiversität

Fazit – Neurodiversität als Paradigma, Identitätspolitik, soziale Dynamik und performative Wirksamkeit divergierenden Denkens, Wahrnehmens und Handelns

Literatur

Neurodiversität und Wissen über Autismus im pädagogischen Fachdiskurs – eine historisch vergleichende Perspektive

1 Autismus als Störung mit Verhaltensdefiziten und Autismus als neurologische Variation mit Wahrnehmungsbesonderheiten

a) Behandlung von Verhaltensdefiziten bei Autismus seit den 1950er-Jahren

b) Autismus im Kontext neurologischer Vielfalt

2 Zeitschriftenanalyse: Autismus im pädagogischen Fachdiskurs

a) Pädagogisches Handeln als therapeutisches Handeln – pädagogische Bezugnahmen auf Psychiatrie, Psychologie und Verhaltenstherapie

b) Pädagogisches Handeln als Befähigung und Orientierung an Stärken vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Bezugnahmen

3 Fazit

Literatur

Neurodiversität und Autismus aus Sicht der Pädagogik der Nicht_Behinderung

Einleitung

Das Theorieprinzip Differenz und Neurodiversität

Ableismus und Neurodiversität

Othering und Neurodiversität

Pädagogik der Nicht_Behinderung und Neurodiversität als Gesellschaftskritik

Fazit: Neurodiversitätsbewusste Pädagogik der Nicht_Behinderung

Literatur

Neurodiversität – Ein inklusiveres, gendergerechtes Konzept?

1

2

3

4

5

Literatur

Neurodiverses In-der-Welt-Sein

Autistische Denkstile

a) Sprachnähe bzw. Sprachferne

b) Nachvollziehbarkeit einer Erzählendenperspektive

c) Objekt und Struktur

d) Hören und Sehen

Was ist Denken, was ist Wirklichkeit?

Literatur

II (Schul-)‌Pädagogik und Neurodiversität

Gelingensbedingungen für eine neurodiversitätssensible Schule – Eckpunkte für pädagogisches Handeln

Einleitung

Grundlegende Modellverständnisse und Neurodiversität

Schule als Ort sozialer Begegnungen

Schule als Ort professionellen Handelns

Schule als Ort des Lernens

Schlussfolgerungen – wie lässt sich eine neurodiversitätssensible Schule gestalten?

Literatur

Neurodiversität als pädagogische Grundhaltung

Tiefe Schulstrukturen und Autism Inclusion Disorder

Schule als neurodiversitätsunsensibler Raum?

Die Quadratur des Kreises

Neurodiversität als pädagogische Grundhaltung

Literatur

Mathematischer Anfangsunterricht unter der Berücksichtigung von Neurodiversität. Die Grenzen der Kraft der Fünf und die Notwendigkeit der Pluralisierung von Lernwegen

1 Simultanerfassung in Menschheitsgeschichte und Unterricht

1.1 Mengendarstellungen mit Fünferbündelung

1.2 Von der Kraft der Zehn zur Kraft der Fünf

1.3 Blitzrechnen

2 Die Kraft der Fünf schließt Lernende aus

3 Alternativen zur Kraft der Fünf

4 Pädagogische Innovation wagen

Literatur

»Also ich glaube, dass da noch viel zu tun ist. Also sehr, sehr viel zu tun ist, ehrlich gesagt.« Über diversitätssensiblen Unterricht mit autistischen Schüler*innen

Eine Einschätzung von Sekundarschullehrkräften in Deutschland

Literatur

III Partizipative Autismusforschung und interdisziplinäre Neurodiversitätsforschung

Autistische Selbstvertretung

Literatur

Wege hin zu partizipativer Autismusforschung: Das Projekt Heureka! an der LMU München und dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie

1 Ausgangssituation

1.1 Ungleichgewicht in der traditionellen Autismusforschung

1.2 Partizipative Forschung

2 Das Projekt Heureka!

2.1 Struktur und Ziele

2.2 Grundhaltung, Kerneigenschaften und Vorgehen

3 Aktivitäten

3.1 Empirische Forschung

3.2 Aufklärung von Berufsgruppen, die mit Autismus zu tun haben

4 Kritische Reflexion

5 Fazit

Literatur

Partizipative Autismusforschung und das Partizipative Forschungsnetzwerk Autismus in der Schweiz (PFAU)

Einleitung

1 Partizipative Forschung

2 Partizipative Forschung in der Heil- und Sonderpädagogik

3 Partizipative Autismusforschung

4 Partizipative Autismusforschung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich

5 Das „Partizipative Forschungsnetzwerk Autismus in der Schweiz (PFAU)“

5.1 Entstehungsgeschichte

5.2 Gegenwärtige Aktivitäten und Forschungsbestrebungen (Frühjahr 2022)

6 Fazit

Literatur

Ein Zentrum für Neurodiversitätsforschung (ZNDF) in Hamburg

1 Außensicht

2 Innensicht

3 Messung des Umfangs der Aufmerksamkeit

4 Messung der artikulatorischen Suppression

5 Berufliche Eingliederung

Literatur

Verzeichnisse

Autor:innenverzeichnis

Pädagogik im Autismus-Spektrum

Herausgegeben von Christian Lindmeier

Die Herausgebenden

Prof. Dr. Christian Lindmeier leitet die Arbeitsbereiche »Pädagogik bei kognitiver Beeinträchtigung« und »Pädagogik im Autismus-Spektrum« im Institut für Rehabilitationspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.Dr. Marek Grummt und Dr. Mechthild Richter sind dort wissenschaftliche Mitarbeitende.

Christian Lindmeier, Marek Grummt, Mechthild Richter (Hrsg.)

Neurodiversität und Autismus

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-041266-8

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041267-5epub: ISBN 978-3-17-041268-2

Vorwort

In der Buchreihe »Pädagogik im Autismus-Spektrum« beschäftigt sich der erste Band mit dem für die gesamte Reihe grundlegenden Thema »Neurodiversität und Autismus«. Der Begriff der Neurodiversität entstammt autistischen Selbstvertretungsorganisationen und hat, auch wenn er viel weiter greift, weiterhin eine große Relevanz für die autistische Bevölkerung. Die kritische Diskussion vollzieht sich auf politischer, wissenschaftlicher und aktivistischer Ebene – so setzt sich die Neurodiversitätsbewegung auch für die Inklusion, Partizipation und die Rechte von Personen im Autismus-Spektrum ein.

Das Konzept der Neurodiversität impliziert zum einen die unendliche Variabilität menschlicher neuronaler Strukturen; zum anderen wird Neurodiversität als eine weitere Diversitätsdimension neben Dimensionen wie Geschlecht, Klasse und ethnische Zugehörigkeit verstanden. Dem Neurodiversitäts-Paradigma folgend werden verschiedene Neuro-Minoritäten, die sich als neurodivergent verstehen, unter einem ›gemeinsamen Banner‹ vereint betrachtet und die neurotypisch geprägte und dominierte Gesellschaft kritisch hinterfragt. Unter diesem Banner werden mittlerweile neben der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) nicht nur Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), Dyskalkulie, Legasthenie und Dyskalkulie fokussiert, sondern auch medizinisch-psychiatrische Diagnosen wie intellektuelle Beeinträchtigung, Tourette-Syndrom, Schizophrenie, bipolare Störung, schizoaffektive Störung und antisoziale Persönlichkeitsstörung.

Die zugehörigen Querschnittsthemen, die historisch große Veränderungen erfahren haben, werden in diversen Wissenschaftsdisziplinen beleuchtet. Diesem interdisziplinären Charakter verschreibt sich auch der vorliegende Band, der Beiträge aus verschiedenen Disziplinen (z. B. Soziologie, Psychologie, Pädagogik) vereint. Der Band beschränkt sich vor allem auf das Thema Neurodiversität und Autismus, denn der wissenschaftliche Diskurs steht in Deutschland – anders als im englischsprachigen Ausland – insgesamt erst am Anfang und umfasst bislang fast ausschließlich die Neuro-Minderheit autistischer Personen.

Der erste Teil des Bandes befasst sich mit sozial- und erziehungswissenschaftlichen Perspektiven auf das Konzept Neurodiversität sowie mit der Ein-‍, An- und Abgrenzung zu und von verwandten Konzepten. Der zweite Teil wendet sich pädagogischen und didaktischen Themen zu, die bisher im deutschsprachigen Raum wenig bzw. fast ausschließlich in Form von Ratgeberliteratur für Lehrkräfte Beachtung fanden. Der dritte und letzte Teil gibt Raum für Bestandsaufnahmen zur partizipativen Forschung als einer Hauptforderung der Neurodiversitätsbewegung, die im deutschsprachigen Raum auch an Bedeutung gewinnt. Ebenso wird ein Einblick in erste interdisziplinäre Neurodiversitätsforschungen gegeben, die ein Zeichen dafür sind, dass die Idee der Neurodiversität immer breiter anerkannt wird.

An diesem Buch haben zahlreiche Wissenschaftler:innen mit einer Autismus-Diagnose mitgewirkt. Ihnen gebührt unser besonderer Dank, denn ohne sie wäre das Buch in dieser Form nicht möglich gewesen.

Halle an der Saale, Oktober 2022Christian Lindmeier, Marek Grummt und Mechthild Richter

I Sozial- und erziehungswissenschaftliche Perspektiven

Einführung in das Paradigma der Neurodiversität

Marek Grummt

Der Neurodiversitätsbegriff ist mittlerweile auch im deutschsprachigen Diskurs zu finden. Allerdings ist seine Vielschichtigkeit noch nicht in der Breite angekommen. Ziel dieses Beitrages ist es, die unterschiedlichen Facetten des Begriffs Neurodiversität sowie die Diskurse rund um die Neurodiversitätsbewegung aufzuzeigen, um eine Grundlage für die weiteren Themen des Bandes zu legen und eine Anschlussfähigkeit an andere Diskurse rund um Autismus herzustellen.

Grundlegende Begriffe: Neurodiversität, Neurotypik, Neurodivergenz

Neurodiversität ist eine Theorieperspektive, die sich auf die Vielfalt von neuronalen Strukturen stützt (u. a. Singer 1997, 1998, 2017, 2020; Kapp 2020; Hughes 2018; Liu 2017; Walker 2014, 2021). Mit ›Neuro‹ sind nicht nur die Verbindungen des Gehirns gemeint, sondern alle Nervenverbindungen des gesamten Körpers (Walker & Raymaker 2021). Neurodiversität bezieht sich also nicht nur auf Denkprozesse, sondern auf alle Wahrnehmungs-‍, Handlungs- und Denkweisen. Neuronale Strukturen sorgen für den Zusammenhang von Geist und Körper, weshalb die Vielfalt neuronaler Verbindungen auch in ihrer Verkörperung sichtbar wird.

Neurodiversität ist damit nicht nur als die Vielfalt von Gehirnen zu verstehen, sondern als eine neue Art der Theoretisierung, die bestrebt ist, einerseits die identitätsbeeinflussenden neuronalen Bedingungen und andererseits die Abweichungen von normaler Wahrnehmung und Reaktion auf die Welt zu bearbeiten (Rosquist, Chown & Stenning 2020a).

Neurodiversität ist als Fakt menschlicher Vielfalt zu sehen – menschliche Nervenbahnen und Hirnstrukturen unterscheiden sich von Individuum zu Individuum. Die Vielfalt von neuronalen Verbindungen impliziert damit alle Menschen: »everyone has a different mind, a different way of being« (Aktivist Vincent Camley auf einem Poster; Camley, 2005).

Dennoch wird in der Debatte um Neurodiversität auch eine Differenz begrifflich gerahmt, die bedeutsam für das Begriffsverständnis ist: die zwischen neurotypisch und neurodivergent.

Während die Begriffe neurodivers und neurodivergent oft verwechselt werden (nur eine Gruppe kann neurodivers sein, Individuen entsprechen dagegen einer Typik oder divergieren, sie ›diversieren‹ nicht), dreht sich ein bedeutsamer Teil der Neurodiversitätsdebatte um die Frage, warum die Grenze zwischen neurotypisch und -divergent gezogen wird und wie die Grenzziehung stattfindet (Walker 2014, 2021; Walker & Raymaker 2021).

»While the extension from this concept to group-based identity politics that distinguish between the neurodivergent and neurotypical may at first seem contradictory, the neurodiversity framework draws from reactions to existing stigma- and mistreatment-inducing medical categories imposed on people that they reclaim by negotiating their meaning into an affirmative construct« (Kapp 2020, 2 f.).

Die Differenzziehung mag also auf den ersten Blick verwirren, da man davon ausgehen könnte, dass es sich um eine Ersetzung des Begriffspaares ›gesund – krank‹ handelt – es steckt aber mehr dahinter als nur eine begriffliche Unterscheidung. Einerseits geht es darum, auf die hegemonialen Strukturen und Praktiken hinter der Neurotypik aufmerksam zu machen. Dies impliziert die gesellschaftlich bedingten Klassifikationen von neuronaler Normalität ebenso wie die Kontexte, Räumlichkeiten und Praktiken, die einer bestimmten Vorstellung von Neurotypik entsprechen (z. B. typische bunte und sensorisch anregende Klassenzimmer; Warteräume mit Radiountermalung, TV mit Informationen & Werbung und Stimmengewirr; Unterrichtsstunden ohne angemessene Differenzierung). Das beinhaltet dementsprechend auch professionelle klassifikatorische Rahmungen:

»NeuroDivergent People aren't in control of our own narrative & the diagnostic manuals are one way the NeuroTypicals control the narratives around NeuroDivergent People« (Holmans 2021).

Andererseits geht es darum, die Grenzziehung zwischen neurotypisch und neurodivergent selbst zu beeinflussen. Um sich als neurodivergent wahrzunehmen, bedarf es damit keiner medizinischen Diagnose.

Menschen, die sich als neurodivergent wahrnehmen und bezeichnen, implizieren, dass ihre Denk-‍, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen von einem dominanten sozialen Standard (Neurotypik) abweichen, was weder wünschenswert noch nicht-wünschenswert, weder negativ noch positiv zu verstehen ist (Walker 2014, 2021). Neurodivergenz kann damit ein breites Spektrum umfassen; die Ursachen können genetischer, traumatischer oder unklarer Natur sein.

Während es für einige Neurodivergenzen Diagnosen bzw. Bezeichnungen gibt (Autismus, Epilepsie, Dyslexie), zeichnet sich die Erfahrung der Neurodivergenz meist durch eine veränderte Resonanz mit der Welt (Rosa 2016) aus. Der Aspekt der Resonanz ist hier im Sinne der Erwartung an ein ›Vertrautwerden‹, eine ›Beziehung‹ mit Anderen, Dingen und der Welt zu verstehen, als ein ›Schwingen‹ mit sozialen, materialen und strukturellen Elementen der Welt, als ein Aufbau einer Weltbeziehung (Rosa 2016). In diesem Verständnis wird die Welt mit der Zeit immer ›lesbarer‹, wie ein Buch (ebd., 699 ff.). Genau wie ein:e Leser:in Antworten im Buch sucht, so sucht der Mensch seine Antworten in der sozialen und materialen Welt. Während alle Menschen Schwierigkeiten haben, die immer komplexer und widersprüchlicher werdende Welt zu lesen (Kinder noch mehr als Erwachsene), so gelingt es ihnen doch meist, eine Weltbeziehung durch Erfahren, Erkennen und somit auch ›Lesen‹ sozialer, materialer und weltlicher Strukturen aufzubauen. Neurodivergenz würde in diesem Verständnis bedeuten, dass einerseits der Prozess des Lesens schwerfällt, teils misslingt oder von einer Typik differiert, andererseits dass das Buch der Welt so geschrieben ist, dass es einige Menschen demotiviert, überfordert oder diskriminiert. Wie ein:e Leser:in eine Beziehung zu einer Geschichte, einer Erzählung oder einer Biografie aufbauen oder auch daran scheitern kann, so kann es Menschen gelingen, eine Weltbeziehung in einer »institutionell gestalteten kapitalistischen Wirklichkeit« (Rosa 2016, 706) aufzubauen – oder ihnen wird genau durch die Art und Weise, wie die Welt gestaltet ist, die Herausforderung, »körperliche und symbolische beziehungsweise sinnvermittelte Weltbeziehungen« (Rosa 2016, 153) zu erwerben, erschwert. Und zwar potentiell auf allen drei Achsen der Weltbeziehung: die des Sozialen (u. a. Familie, Freunde), die der Dingwelt (u. a. Arbeit, Schule, Objekte) und die des Weltlichen (u. a. Natur, Religion, Kunst).

Eine Divergenz – wie auch immer man sie versteht – ist allerdings immer nur unter der Rahmung einer wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Typik zu verstehen.

Für die Debatte um Neurodiversität sind vor allem jene Formen der Neurodivergenz von Relevanz, die das gesamte Wesen, die Identität und Persönlichkeit eines Menschen durchdringen. Neurodivergenz wird explizit nicht als Pathologie verstanden – Therapien und Heilungsansätze, die eine Abschaffung von Neurodivergenz verfolgen, werden explizit abgelehnt. Ansätze, die sich auf die Heilung von Neurodivergenzen richten, die nicht identitätsprägend sind (z. B. Epilepsie oder Unfallfolgen), werden dagegen nicht kritisiert – es sei denn sie gehen mit Diskriminierungen einher (Kapp 2020).

Werden bestimmte Gruppen zusammengefasst, die eine ähnliche Form der Neurodivergenz aufweisen, so lässt sich mit Blick auf die mit Neurodivergenz einhergehenden Benachteiligungen von Neuro-Minoritäten sprechen (Walker 2014, 2021). Beispielhaft wären hier Menschen mit Schizophrenie oder bipolarer Störung zu nennen, unter bestimmten Umständen aber auch autistische Menschen.

Neurodiversität ist damit primär ein soziologischer, aber auch identitätspolitischer Begriff. Im Folgenden werden die prägenden Diskurse getrennt bearbeitet, um bilanzierend eine zusammenführende Modellierung vorzunehmen: Der Diskurs um das Pathologie-Paradigma, Neurodiversität als politischer Begriff und Anschlüsse an Biodiversität und soziale Dynamiken menschlicher Diversität werden aufgegriffen, um schließlich das Neurodiversitäts-Paradigma durch Ansätze der Performativität sowie sozialstrukturell zu begründen. Exemplifiziert wird dieses Paradigma über den Einfluss der Medikalisierung, also der zunehmenden Dominanz medizinischer Deutungsmuster in der westlichen Kultur.

Neurodiversität als Kontrast zum Pathologie-Paradigma

An manchen Stellen wird Neurodiversität als ›Umbrella-Term‹ (Clouder et al. 2020; Skelling 2019; Graby 2015) oder ›Container-Term‹ (Arnold 2004) genutzt, als Sammelbegriff für verschiedene Schädigungsbilder – ähnlich wie Begriffe wie ›psychische Störung‹ oder ›Unfallfolgen‹. Eine begriffliche Rahmung wie diese geht mit einer Grenzziehung einher, die vor allem über medizinische Diagnosen geführt wird. So lehnte beispielsweise die britische Developmental Adult Neurodiversity Association (DANDA) die Mitgliedschaft einer Person, die eine Hirndurchblutungsstörung durch einen Unfall erlitt, ab, da die Divergenz nicht angeboren war (Arnold 2017).

Neurodiversitätsaktivist:innen lehnen eine solche Begriffsbestimmung und Grenzziehung über medizinische Diagnosen ab (u. a. Arnold 2017; Walker 2014, 2021; Singer 2020; Lindmeier & Grummt in diesem Band), da sich in ihnen medikalisierende hegemoniale Strukturen (s. u.) sowie eine Diversitätsinterpretation als Störung reproduzieren, anstatt auf die gesellschaftliche Dimension der Diversität von neuronalen Strukturen zu fokussieren. Zudem, so lässt sich aus einer kritischen gesellschaftstheoretischen Perspektive hinzufügen, bleibt in einem solchen Begriffsverständnis das Tertium Comparationis – die Neurotypik – unbestimmt.

Nick Walker verweist 2014 auf zwei Paradigmen, die die Neurodiversitätsdebatte bestimmen: das Pathologie-Paradigma und das Neurodiversitäts-Paradigma.

»The pathology paradigm starts from the assumption that significant divergences from dominant sociocultural norms of cognition and embodiment represent some form of deficit, defect, or pathology. In other words, the pathology paradigm divides the spectrum of human cognitive/embodied performance into ›normal‹ and ›other than normal,‹ with »normal« implicitly privileged as the superior and desirable state« (Walker & Raymaker 2021).

Das Pathologie-Paradigma basiert damit auf einer protonormalistischen Interpretation (Link 2013) von Neurodivergenzen, also Abweichungen von einer wie auch immer definierten neurologischen Normalität (Abb. 1).

Abb. 1:Pathologie-Paradigma (eigene Darstellung)

Diese Zweiteilung der Menschheit, in normal und nicht-normal, gerät empirisch schnell an ihre Grenzen – da je nach Kontext, Raum und Zeit alle Menschen normal oder nicht-normal sein können. Zudem wird in einem solchen Verständnis das Konstrukt der Normalität nicht weiter hinterfragt. Dennoch findet es sich in medizinischen Diskursen durchaus so wieder, was weiter unten genauer expliziert wird.

In den 1990er Jahren wurden diesem Paradigma soziologische Perspektiven, gerade in Bezug auf ›neurologische Pathologisierung‹, entgegengesetzt, die anfingen, die machtvollen Dynamiken aufzudecken, die die Benachteiligung von neurodivergenten Menschen bedingten.

Neurodiversität als politischer Begriff

Dieser Diskurs um Normalität und Pathologisierung führte auch zum Begriff der Neurodiversität, der von der Soziologin Judy Singer und dem Journalisten Harvey Blume (Blume 1997, 1998) in gemeinsamen Gesprächen in Abgrenzung zu ähnlichen Begriffskonstruktionen zum ersten Mal öffentlich publiziert wurde (Silberman 2015). Man kann allerdings davon ausgehen, dass er innerhalb der Autismus-Selbstvertretungsszene schon vorher diskutiert wurde (Walker 2021).

Eine erste sozialwissenschaftliche Begriffsnutzung findet sich in Judy Singers Abschlussarbeit (Singer 1997), die adaptiert ein Jahr später im Rahmen eines wissenschaftlichen Papers republiziert wurde:

»For me, the key significance of the ›Autistic Spectrum‹ lies in its call for an anticipation of a politics of Neurological Diversity, or ›Neurodiversity‹. The ›Neurological Different‹ represent a new addition to the familiar political categories of class/gender/race and will augment the insights of the social model of disability« (Singer 1998, 64).

Schon in dieser ersten Begriffsdiskussion wird die Politisierung der neurologischen Diversität in den Mittelpunkt gerückt, wie Singer 22 Jahre später bestätigt:

»And like biodiversity, it's not really intended as a scientific descriptor because it's quite obvious that no two humans are alike. It's actually coined like biodiversity for a political purpose, to argue for the conservation of biota – animals and plants. Because it's known that biodiversity is important for sustainable environments. And so, I thought well humans are a subset of that. And it can be used to argue for the importance of allowing human diversity to flourish and the importance of society in allowing human diversity to flourish« (Singer 2020).

Als erster wichtiger Aspekt ist Neurodiversität damit im Anschluss an Debatten um Biodiversität, also Bedeutsamkeit und Anerkennung der Vielfalt biologischer Gegebenheiten, zu verstehen. Eine zentrale Prämisse des Neurodiversitäts-Paradigmas ist es, dass es natürliche Unterschiede in der neurologischen Entwicklung und Funktionsweise bei Menschen gibt. Diese Differenzen sind natürlicher und wertvoller Teil der menschlichen Variation und daher nicht notwendigerweise pathologisch. Anders ausgedrückt: Eine Störung zu haben bedeutet, man kann sich nicht normal entwickeln und voll entfalten – Neurodivergent zu sein bedeutet, man entspricht nicht der Wahrnehmung eines typischen Geistes, das heißt aber nicht, dass man sich nicht voll entfalten könnte.

Neurodiversität ist somit immer auch ein Begriff, der politische Zielstellungen verfolgt. Die ›Logik des Politischen‹ (Meyer 2010) lässt sich dabei in drei Dimensionen herausarbeiten: Polity (die Grundordnung, die jeweils geltenden geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungen, also die geltende Grundlage, auf der politische Prozesse stattfinden), Policy (die Inhalte, also die Gegenstände, Ziele und Aufgaben der Politik sowie die Programme, um mit diesen umzugehen) sowie Politics (die Dynamik und Prozesse politischer Auseinandersetzung; die machtvolle Vertretung und Durchsetzung von Interessen; Konflikte, Konsens und Kompromisse) (vgl. Alemann 1995; Jahr 2022; Petrik 2013; Meyer 2010).

Während die Grundordnung, auf der politische Diskurse aufbauen, für die Debatte um Neurodiversität nur von kleiner Relevanz ist, sind es die Ebenen der (1) Policy und die der (2) Politics umso mehr.

(1) Auf der Ebene der Policy, und damit der Ebene der politischen Programme, werden die gegenwärtigen Umgangsweisen mit neurodivergenten Menschen hinterfragt. Neurodiversität verweist darauf, dass ein standardisierter Umgang, der sich vor allem an medizinischen Schädigungsbildern orientiert, vielen Individuen nicht gerecht werden kann. Die Kritik an der Therapieform ABA im Autismus-Spektrum ließe sich als ein Beispiel anführen – ist doch die Finanzierung einer langjährigen Maßnahme, die darauf zielt, sich möglichst unauffällig anzupassen, durchaus als politische Entscheidung zu deuten. Das Motiv der ›Anpassung vor Anerkennung‹ als politisches Programm zu hinterfragen, ließe sich als Folge des Diskurses um Neurodiversität formulieren (z. B. Kirkham 2017).

(2) Die Ebene der Politics als die Art und Weise, in der politische Diskurse geführt werden, findet sich in Bezug auf Neurodiversität im Neurodiversitäts-Aktivismus. Während es durchaus partei- und politiker:innenbezogene Aktivitäten in Bezug auf Neurodiversität gibt (Craine 2020), sind die primären Aktivitäten, die sich unter dem ›Banner‹ der Neurodiversitätsbewegung vereinen, aktivistischer Natur. Interessant ist die Art und Weise der aktivistischen Einflussnahme, die nicht durch Straßenprotest, Streiks oder andere etablierte Techniken sozialer Bewegungen vorgehen (Rodgers 2018), sondern primär den Weg des Cyberaktivismus wählen. Diese Vorgehensweise ist vor allem durch den Boom sozialer Netzwerke begünstigt. Viele Neurodiversitätsaktivist:innen können mittlerweile mehrere zehntausende Menschen mit ihren Botschaften erreichen – und die Follower:innenzahlen steigen stetig.

Bedeutsam für diese politischen Botschaften ist die Dialektik von natürlicher Variation und Behinderung, die Neurodivergenz innewohnt (den Houting 2018). Da einige kritische Stimmen argumentieren, dass bei einer natürlichen Variation neuronaler Verbindungen keine zusätzliche Unterstützung notwendig wäre (Jaarsma & Welin 2012), ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass mit einer Abweichung von einem neurotypischen Standard oftmals Behinderungserfahrungen einhergehen.

»Advocates therefore concurrently campaign for acceptance and respect for autistic people as valuable members of society and also fight for appropriate support and services to meet the needs of the autistic community« (den Houting 2018).

Während im Pathologie-Paradigma Interventionen unterstützt werden, die auf Anpassung und Reduktion autistischer Wesensmerkmale zielen (Jaarsma & Welin 2015; French & Kennedy 2018), werden im Neurodiversitäts-Paradigma Interventionen, Unterstützungsangebote, Innovationen und Novellierungen gefordert und unterstützt, die im Einvernehmen mit den neurodivergenten Menschen auf Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens und der wahrgenommenen Lebensqualität zielen. Gleichzeitig werden neurodivergierende Wesenszüge nicht problematisiert, sondern unterstützt.

Neurodiversität im Anschluss an soziale Dynamiken menschlicher Diversität

Als zweiter wichtiger Aspekt der Idee der Neurodiversität, der von Anfang an in der Debatte eine Rolle spielte, ist der Anschluss an andere politische Diversitäts-Kategorien wie Klasse, Gender und Ethnie. Er verweist damit auf die gleichen Macht-Dynamiken, impliziert aber auch ähnliche Paradoxien.

»The neurodiversity paradigm starts from the understanding that neurodiversity is an axis of human diversity, like ethnic diversity or diversity of gender and sexual orientation, and is subject to the same sorts of social dynamics as those other forms of diversity – including the dynamics of social power inequalities, privilege, and oppression. From this perspective, the pathologization of neurominorities can be recognized as simply another form of systemic oppression which functions similarly to the oppression of other types of minority groups« (Walker & Raymaker 2021).

Walker deutet Neurodiversität hier im Gespräch mit Raymaker als eine weitere ›Achse menschlicher Diversität‹. Der Begriff der Achse ist im deutschsprachigen Bereich in verschiedenen Kontexten genutzt worden, so im Sinne der ›Achsen der sozialen Ungleichheit‹ (Klinger, Knapp & Sauer 2007), bei Knapp & Wetterer (2003) als ›Achsen der Differenz‹ sowie bei Dackweiler (2001) als ›Achsen sozialer Differenz‹. In Bezug auf Intersektionalität wird er durch Walgenbach (2017) kritisiert, da der Begriff der ›Achse‹ eine affirmative und weniger eine kritische Perspektive impliziert. Die Konstruktion ›Achsen der Diversität‹ findet sich im deutschsprachigen Raum nur in Bezug auf die ›Achsen der Ungleichheit‹ (Klinger, Knapp & Sauer 2007) – dies scheint die Bedeutung zu sein, die auch Walker ihr zuschreibt – das Konstrukt der ›axis of human diversity‹ selbst scheint im englischsprachigen Diskurs nicht etabliert zu sein1.

Es geht also vor allem um die Strukturen und Dynamiken, die ähnlich denen der anderen Diversitätsdimensionen sind. Wie bei diesen geht eine Differenzziehung meist mit soziologisch bedingten Abwertungen oder Benachteiligungen Einzelner einher – meist jenen, die am Rande eines Diversitätskontinuums stehen. Die Idee der Neurodiversität impliziert damit, ebenso wie Diskurse um Klasse, Ability oder Gender, Kritik an hegemonialen Deutungen, Strukturen und Praktiken – vor allem an den Strukturen und Praktiken der Neurotypik. Das führt auch dazu, dass im Diskurs um Neurodiversität die Zwei-Gruppen-Differenz von neurotypisch und neurodivergent aufrechterhalten wird (Abb. 2). Gleichzeitig wird Neurodiversität als Kontinuum verstanden, das sich je nach Kontext, Raum und Zeit flexibel verändert (vgl. hierzu Lindmeier & Grummt in diesem Band).

Abb. 2:Hinführung zum Neurodiversitäts-Paradigma (eigene Darstellung)

Neurodiversität als Begriff der performativen Wirksamkeit des verkörperten Denkens und Handelns

So wie in den anderen Diversitätsdimensionen lässt sich neben Benachteiligung und Behinderung auch Neurodivergenz als performativ hervorbracht verstehen. Grob umrissen ist damit gemeint, dass Benachteiligung und Divergenz im Handeln, in der Praxis entstehen und nicht naturgegeben schon vorher bestanden. Ein solcher post-strukturalistischer und praxeologischer Zugang, der im Grunde genommen fast alle Studies (Gender Studies, Cultural Studies, Black Studies usw.) prägt, ist auch auf Debatten um Neurodiversität anwendbar – allerdings wird der Zugang bisher nur selten gewählt (Rosquist, Stenning & Chown 2020a).

Mit dieser Perspektive geht diejenige der ›performativen Wirksamkeit des verkörperten Denkens und Handelns‹ (Butler 2016) einher, die sich unter anderem im Diskurs um die Verkörperung der neuronalen Strukturen ausdrückt. Walker macht dies deutlich an der Differenz von »mind«, was mehr oder weniger passend mit ›Geist‹ zu übersetzen wäre, und »brain«, also ›Gehirn‹. Während über viele Jahre Neurodiversität als die Vielfalt von Gehirnen diskutiert wurde, so ist es doch die Vielfalt des Geistes und deren Verkörperung, die für die Debatte prägend ist:

»Neurodiversity, simply put, is the diversity among human minds. For 15 years or so after the term was coined, it was common for people to speak of neurodiversity as ›diversity among brains‹. There still are plenty of people who talk about it that way. I think this is a mistake; it's an overly reductionist and essentialist definition that's decades behind present-day understandings of how human bodyminds work« (Walker & Raymaker 2021).

Mit ›Neuro‹ sind – wie man denken könnte – eben nicht nur die Strukturen des Gehirns gemeint. ›Neuro‹ steht für neuronale Verbindungen, was nicht nur die Verbindungen im Gehirn, sondern auch die Nervenverbindungen im gesamten Körper impliziert. Neurodiversität meint nicht eine andere Form zu Denken – Diversität in neuronalen Verbindungen meint die komplexe Beziehung von kognitiven Vorgängen und Verkörperung:

»So neurodiversity refers to the diversity among minds, or among bodyminds« (Walker & Raymaker 2021).

Der dritte schon bei Singer vorkommende Aspekt ist der Anschluss an das soziale Modell von Behinderung. Auch wenn sie selbst diesen mittlerweile relativiert (Singer 2017), findet sich die Idee der sozialen Konstruktion von Behinderung durchaus in vielen Begriffsbestimmungen (Walker 2014, 2021; Hughes 2016; den Houting 2018) und hängt damit auch mit der Vorstellung einer performativen Hervorbringung von Neurodivergenz zusammen.

Neurodiversität schließt damit auch an Diskurse um Disability Rights an; so schreibt Kapp mit Bezug auf Neurodiversität:

»[T]‌he term implicitly refers to a tenet of inclusion based on universal rights principles, with an emphasis on those with neurological disabilities. This includes aspirations of full inclusion in education, employment, and housing; freedom from abuse (e. g. abolition of seclusion and both chemical – that is, overmedication to control behavior – and physical restraint); and the right to make one's own decisions with support as needed« (Kapp 2020, 4).

Auch im Rahmen von Neurodiversität wird ein Gedanke des sozialen Modells von Behinderung diskutiert: Behinderungserfahrungen könnten durch Veränderungen der Umwelt und angemessene assistive Technologien und Unterstützungen vermindert oder ganz vermieden werden.

»Providing a non-speaking autistic person with an alternative method of communication may give them a voice, but they will only truly stop being disabled when others listen« (den Houting 2018).

Es ist vor allem die (nicht gelingende) Passung von individueller Neuronalität und gesellschaftlichen neurotypischen Anforderungen, die für neurodivergente Menschen zu Behinderungserfahrungen führen kann – ein Gedanke, der weder dem sozialen noch dem medizinischen Modell von Behinderung in ihren ursprünglichen Lesarten entspricht (vgl. Waldschmidt 2020; Bilgeri & Lindmeier 2020). Es scheint eher, dass Neurodiversität im Anschluss an relationale Modelle und vor allem das kulturelle Modell von Behinderung zu verstehen ist, auch wenn verbindende Arbeiten bisher noch ausstehen. Trotzdem kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass es im Diskurs um Neurodiversität das Element der Neurotypik ist, das die machtvollen sozialen Dynamiken hervorbringt, die zu Diskriminierung, Benachteiligung und Behinderungserfahrungen führen können – unabhängig davon, ob Neurotypik kulturell, gesellschaftlich und/oder sozialstrukturell zu verorten ist (Abb. 3).

Abb. 3:Neurodiversitäts-Paradigma (eigene Darstellung)

Mit dem Fokus auf die Macht der Neurotypik wird auch die Kritik entschärft, dass sich der Diskurs um Neurodiversität nur auf Menschen mit geringem Unterstützungsbedarf beziehen würde (Jaarsma & Welin 2012; Fenton & Krahn 2007). Bestimmte neurotypische Kontexte können je nach Raum, Zeit, aber auch individueller Fähigkeit zu hochfunktionalen und niedrigfunktionalen Erfahrungen ein und derselben Person führen, weshalb diese Differenz sich auch empirisch nicht bestätigen lässt. Zudem geht mit den Begrifflichkeiten des ›Hochfunktionalen‹ und ›Niedrigfunktionalen‹ die Tendenz der Über- und Unterschätzung einher, die einerseits Unterstützungsbedarfe negiert, anderseits Potentiale unerkannt bleiben lässt (den Houting 2018). Aus der Grundannahme des Neurodiversitäts-Paradigmas, dass alle neurologischen Variationen wertvoll sind, geht hervor, dass alle neurodivergenten Menschen explizit inkludiert werden – auch jene mit hohem Unterstützungsbedarf. Dass die niedrige Repräsentanz von Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf (Sequenzia 2012) in der Forschung und in aktivistischen Kontexten damit zusammenhängt, dass ihnen die aktivistischen Fähigkeiten abgesprochen werden und sie nur wenig Unterstützung erhalten, aktivistisch tätig zu werden, ließe sich als Hypothese formulieren.

Diese grundlegenden Elemente der Neurodiversität wurden und werden primär durch die Neurodiversitätsbewegung in den Diskurs eingebracht und werden von dieser weiterhin aktivistisch vertreten.

Die Neurodiversitätsbewegung tritt, ähnlich wie vergleichbare soziale Bewegungen, für die Inklusion, Partizipation und Diskriminierungsfreiheit von Menschen ein, die sich selbst als neurodivergent bezeichnen. Sie setzt sich explizit gegen diskriminierende neurotypische Strukturen und für eine anerkennende und diverse Gesellschaft ein.

»I'd define the neurodiversity movement as the movement to shift the prevailing culture and discourse away from the pathology paradigm and toward the neurodiversity paradigm. The neurodiversity movement is by no means monolithic; there are a lot of different ways that people are working to bring about this shift in different realms and contexts, and of course there's some variation in how the neurodiversity paradigm is interpreted by different groups and individuals within the movement« (Walker & Raymaker 2021).

Die Bedeutung der Diskursmacht Medikalisierung für Neurodiversität

Der Diskurs um Neurodiversität wird nun durch die Debatte um Medikalisierung exemplifiziert. Die sozialwissenschaftliche Bedeutung der Zunahme des medizinischen Einflussbereichs wird gerade für Menschen, die sich als neurodivergent wahrnehmen, immer sichtbarer.

»Mit dem Begriff Medikalisierung ist ein sozialer Prozess gemeint, der erstens auf die historische Etablierung medizinischer Institutionen verweist, der zweitens die Expansion medizinischer Einflussbereiche durch die Bedeutungszunahme medizinischer Denkweisen umfasst, und drittens eine zunehmende Entgrenzung der medizinischen Handlungsfelder umfasst« (Karsch 2019, 89).

Diagnosen und Pathologisierungen werden durch die medizinische Deutungshoheit – man könnte vom medikalisierenden Monopol sprechen – in einer dualisierenden Normalisierung erzeugt. Es zeigt sich in der Grenzziehung von behandlungsbedürftig und nicht behandlungsbedürftig, gesund und krank, typisch und autistisch. Und auch wenn die Grenze empirisch nicht klar zu ziehen ist, was sich schließlich auch im Diskurs um einen flexiblen Normalismus (Link 2013; Karsch 2019) zeigt, so ist die Grenzziehung weiterhin sehr relevant als sozialer Differenz-Mechanismus. Dies zeigt sich sowohl (1) praxeologisch als auch in (2) Objektivierungstendenzen moderner Gesellschaften.

(1) Praxistheoretisch lässt sich eine Veränderung der Grenzen der Normalisierung empirisch beobachten. Historische Beispiele wären hier (durchaus auch protonormalistisch wirkend2) die Normalisierung des Frauenwahlrechts und der Homosexualität (Liebig & Übel 2020; Arndt 2020). Aktuell sind Verschiebungen beispielsweise in Bezug auf den Umgang mit Natur und Umwelt oder ein verändertes Bewusstsein für Lebensstile, Ernährung und persönliches Gesundheitsmanagement zu beobachten – die allerdings bisher noch eher als flexible Normalisierungen interpretierbar sind. Das Neurodiversitäts-Paradigma lässt sich strukturell ähnlich verstehen: es geht um ein Hinterfragen und Aufweichen der protonormalistischen Grenze zwischen neurotypisch und pathologisch, die damit verbundene Verringerung der Dominanz des medikalisierenden Monopols und schlussendlich eine flexible Normalisierung neurologischer Divergenz.

(2) Ein anderes Phänomen der Modernisierung ist die Objektivierung bestimmter Zonen, im Sinne der Vermessung der Welt, die zu einer Normalisierung dieser führen kann. Dies ist vor allem die Folge evidenzbasierter Forschung, die nicht mehr nur für wissenschaftliche Schlussfolgerungen Relevanz hat, sondern tief in die Alltagswelt eingedrungen ist. Einerseits bestimmen wissenschaftliche Empfehlungen auf bewusster handlungspraktischer Ebene den Alltag in vielen gesellschaftlichen Dimensionen – sehr offensichtlich in den Folgen der Gesundheitspolitik im Falle einer Pandemie, aber auch Statistiken zur E-Mobilität oder Stressempfinden beeinflussen Denk- und Handlungsmuster vieler Menschen. Andererseits sind es auch unbewusste Vermessungen des Menschen, die zu gesellschaftlichen Normalisierungsprozessen führen können, beispielsweise jene durch die Großkonzerne hinter sozialen Netzwerken, Smartphones und Wearables, die nicht nur Schrittzahlen und Aktivitätslevel beeinflussen und normalisieren, sondern auch Nutzungsverhalten, Interessen und Kontakte (Lanier 2013, 2018). Auf der Basis objektivierender Normalisierungen weitet sich der Einfluss von standardisierender Wissenschaft sowie der Medizin weiter aus. Menschen mit ADHS werden auf Grund objektiv messbarer Handlungen als faktisch »anders« definiert, Autismus durch standardisierende medizinische Tests immer stärker mit einer Störung als einer Seinsweise verbunden. Durch standardisierte Verfahren hervorgebrachte Diagnosen, wie Lernbehinderung, Lese-Rechtschreibstörungen oder andere Entwicklungsstörungen, scheinen zudem nur schwer umkehrbar, eine Zurücknahme erfolgt sehr selten. Was die Objektivierung und Protonormalisierung der Wissenschaft und vor allem der Medizin hervorbringt, kann hier nur vermutet werden, doch in jedem Fall ist die Anschlussfähigkeit an die Systeme der Politik und der Bildung dadurch gut herstellbar. Auch wenn eine identitätsbezogene Diagnose entlastend für Individuen, das soziale Umfeld und Institutionen sein kann, so sind es genau solche Komplexitätsreduktionen, die durch Bewegungen wie die Neurodiversitätsbewegung und Perspektiven wie die des ›Doing Difference‹ bzw. die der Cultural Studies hinterfragt werden.

Neurodiversität ist damit immer auch als Begriff einer sozialen Bewegung zu verstehen, die durch Identitätspolitik jene objektivierenden Zuschreibungen informiert dekonstruiert und gleichsam eigene Interessen vertritt. Ebenso wie anderen sozialen Bewegungen geht es um die Aufdeckung der Interessen und Diskurse hinter den etablierten Praktiken, die als machtvoll bzw. hegemonial verstanden werden – bspw. die Praktiken von Professionellen und Institutionen.

Identitätspolitik im Neurodiversitätsverständnis ist dabei multiperspektivisch – so differieren auch die politischen Forderungen und Botschaften.

»ADHS Deutschland e.V. fordert daher: Die Möglichkeit der Anerkennung der ADHS als Behinderung im Sinne des SGB IX« (Positionspapier ADHS Deutschland e.V.; Neuy-Bartman, Skrodzki & Streif 2013).

Während im zitierten Positionspapier vor allem Ressourcen fokussiert werden, die durch eine Anerkennung als Behinderung impliziert wären, geht es in Forderungen der Autismus-Selbstvertretungen nur peripher um materielle und symbolische Unterstützung, sondern eben um Themen wie Paradigmenwechsel, Trennung von Krankheit und Behinderung, Abschaffung degradierender Therapieverfahren sowie Anerkennung und Respekt divergenter Weltwahrnehmungen und Weltresonanz (vgl. hierzu u. a. die Beiträge von Aspies, Seng, Heureka in diesem Band).

Die politischen Forderungen um Neurodiversität sind dabei als De-Pathologisierung einzuordnen. Die Diversität neurologischer Voraussetzungen und Strukturen ist somit durchaus kategorial klassifizierbar, doch diese Klassifikationen automatisch als Störungen im negativen Sinne zu interpretieren, wird abgelehnt. Diese Ablehnung beinhaltet allerdings Feinheiten: Es ist durchaus möglich, bestimmten Aspekten oder Teilen einer Neurodivergenz einen Krankheitswert zuzuschreiben und diese anzuerkennen – gleichzeitig aber mit Blick auf eine allgemeine Diagnose explizit zu statuieren: »›ADHS ist keine Krankheit« (Wittwer 2019) und »Autismus ist keine Störung, keine Krankheit, kein Systemfehler« (auticon 2022).

Eine medizinische oder auch selbstgegebene Diagnose bedeutet nicht automatisch, sich krank zu fühlen. Problematisch ist nicht die kategoriale Zuweisung, sei sie fremd- oder selbstbestimmt, sondern die gesellschaftliche Interpretation dieser Kategorie als problematisch. Die Neurodiversitätsbewegung setzt damit ein Gegenmodell zur reinen Diagnostik durch Expert:innen im Sinne eines ko-konstruktiven Kategorisierungsprozesses. Neurodivergenz entsteht aus einer Konvergenz von Selbst- und Fremdzuschreibungen. Mit steigender Bewusstheit über die Grenzen von Neurotypik und Neurodivergenz übernehmen Menschen immer mehr Verantwortung für kategoriale Differenzbestimmung – nicht nur im Rahmen von Selbstdiagnosen, sondern durch Kontextualisierung der erlebten, beobachteten, prozessierten und wahrgenommenen Zustände, Einschätzungen und Ereignisse. Jene Selbst‍(re)‌kontextualisierungen sind unabhängig und in Wechselwirkung zu standardisiertem Vorgehen zu verstehen – was allerdings mit der Fähigkeit zusammenhängt, sich von Fremdbestimmungen durch Dritte lösen zu können. Dies kann nicht nur für Kinder und Jugendliche sehr schwer sein. Eine Sensibilität für diesen Prozess zeichnet die Idee der Neurodiversität aus: Eine wie auch immer gewonnene Diagnose wird erst im individuellen Umgang – also in Selbst‍(re)‌kontextualisierung – zu einem spezifisch individuellen Wahrnehmen, Verstehen und Handeln und somit identitätsprägend. Eine Diagnose resultiert nicht automatisch in einem diagnosebezogenen Habitus. Die Neurodiversitätsbewegung steht damit auch für eine vergemeinschaftende diskursive Bearbeitung und Reflexion diverser neurodivergenter Ausgangslagen.

Mit dem Ausgang von Neurodivergenz als Selbst‍(re)‌kontextualisierung kann auch die Absprache einer Diagnose bearbeitet werden. Wird durch diagnostizierende Expert:innen eine Diagnose ausgeschlossen, kann es sein, dass für eine:n Betroffene:n die Zugehörigkeit zur konstruierten Gemeinschaft der Menschen mit eben jener Diagnose verweigert wird. Der Zugang zu einer Gruppe, die sich in einer neurotypisch dominierten Welt als neurodivergent versteht, kann damit durch Logiken der Neurotypik verhindert werden. Neurodiversität ernst zu nehmen, müsste auch dies hinterfragen – sonst müsste man wohl von Neurodifferenz sprechen.

Diagnosen sind allerdings nur ein Puzzleteil – wenn auch ein hegemonial stark aufgeladenes. Bedeutsam sind vor allem die Erfahrungen, die bestätigend oder widersprechend wirkend die persönliche (neuronale) Identität prägen. Es braucht keine Diagnose, um sich ›einfach anders‹ zu fühlen. Diagnosen sind nur ein Teil des Ko-Konstruktionsprozesses, der auch Neuro-Minoritäten performativ hervorbringt – doch gesellschaftliche Prozesse der Benachteiligung und Diskriminierung wirken auch ohne Diagnostik. Neurodiversität bedeutet damit immer auch, die neurotypische Gesellschaft genauer zu verstehen.

Fazit – Neurodiversität als Paradigma, Identitätspolitik, soziale Dynamik und performative Wirksamkeit divergierenden Denkens, Wahrnehmens und Handelns

Wie dargestellt, ist Neurodiversität mehr als nur die Vielfalt von Gehirnen. Neurodiversität ist als Begriff, Weltsicht und Selbstverständnis erstens als ein neues Paradigma zu verstehen, das sich gegen pathologisierende Zuweisungen richtet. Damit wird auf die identitätsstiftende Wirkung der Benennung als ›krank‹ im Vergleich zu ›neurodivergent‹ verwiesen. Das Neurodiversitäts-Paradigma (Walker 2014, 2021) steht für die Gleichwertigkeit der natürlichen Vielfalt neuronaler Strukturen.

Zweitens ist Neurodiversität ein politischer Begriff, der vor allem auf Identitätspolitik, Inklusion, Partizipation, Diskriminierungsfreiheit und ›Anerkennung vor Anpassung‹ zielt.

Drittens wird mit der Perspektive der Neurodiversität an die sozialen Dynamiken menschlicher Diversität angeknüpft. Diese Perspektive schließt an die Diskurse um Klasse, Gender, Ability, Ethnie, Alter usw. an, die kritisch auf die Praktiken und Strukturen hinweisen, die zur Abwertung und Benachteiligung einzelner Mitglieder der Gesellschaft, die meist am Rande eines Diversitätsspektrums stehen, führen. Das kritische Bewusstsein darüber, dass gesellschaftliche Mechanismen – hier die der ›Neurotypik‹ – einzelne Menschen benachteiligen und minorisieren, führt dazu, eine Zwei-Gruppen-Theorie aufrecht zu erhalten, nämlich die zwischen neurotypisch und neurodivergent. Gleichzeitig ist die Grenze zwischen den beiden Polen dynamisch, fließend und vor allem kontextabhängig zu verstehen.

Schließlich verweist Neurodiversität viertens auf die Performativität neuronaler Strukturen. Diese Perspektive, die im Anschluss an die Cultural Studies, die Praxeologie und den Post-Strukturalismus zu verstehen ist, verweist darauf, dass Benachteiligung und Divergenz einerseits im Handeln, also durch Praxis, und andererseits durch Verkörperung, also auch den Zusammenhang von Geist und Körper, entstehen – und nicht zwangsläufig naturgegeben sind.

Diese vier Ebenen des Neurodiversitätsbegriffs wirken gleichzeitig und sind interdependent zu verstehen (Abb. 4). Sie verweisen auf die komplexe Ausgangslage, die immer wieder zu Behinderungserfahrungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen führt, die Menschen erleben, die nicht einem neurotypischen Bild entsprechen.

Abb. 4:Neurodiversität als multiperspektivischer Begriff

Ein solch multiperspektivischer Begriff eröffnet eine Verschiebung des Fokus von Neurodivergenz auf die Strukturen, Praktiken und Diskurse der neurotypischen Gesellschaft. Es ist nicht die Klarheit über die Neurodivergenz, die ein Verstehen von Neurodiversität ermöglicht, sondern ein Streben nach einem Verstehen von Neurotypik. Was ist das überhaupt, eine typische neurologische Entwicklung, Wahrnehmung, Verarbeitung und Verkörperung? Genau dies zu erkunden ist Ziel der sich gerade erst entwickelnden Neurodiversity Studies – ein Forschungsbereich, der nicht nur das Wohlbefinden neurotypischer Menschen im Blick hat, sondern vor allem eine ›kognitive Dekolonialisierung‹ (Rosquist, Stenning & Chown 2020b) der Gesellschaft anstrebt. Erste theoretische Fundamente liegen vor (unter anderem angefangen bei Singer 1997 über Walker 2014, hin zum ersten Sammelband Rosquist, Stenning & Chown 2020a), doch hier sind noch viele offene ›Baustellen‹ auf empirischer als auch theoretischer Ebene zu identifizieren.

Einerseits ist somit weiterhin von Bedeutung, Perspektiven der Neurodiversitätsbewegung ernst zu nehmen und Stimmen Gehör zu verschaffen, denen noch eine Plattform fehlt. Andererseits braucht es für eine weitere Fundierung eine Bedeutungszunahme neurodiversitätssensibler und kritischer Neurotypik fokussierter Forschung, sowohl durch pädagogische, psychologische, neurowissenschaftliche und soziologische Forschungsrichtungen, also auch durch die emergierenden Neurodiversity Studies. Dies impliziert schlussendlich in jedem Fall eine Zunahme partizipativer, oder besser inklusiver, Forschung – und damit mehr Forschung aus ›Innensicht‹. Es braucht die Insider-Perspektive von Menschen, die das Neurodiversitäts-Paradigma täglich leben und Neurotypik deutlicher identifizieren können, und nicht nur die der Menschen, die mit dem Privileg geboren wurden, von den hegemonialen Strukturen der Neurotypik zu profitieren.

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