Niemand wird zurückgelassen - Anne Klein - E-Book

Niemand wird zurückgelassen E-Book

Anne Klein

4,8

Beschreibung

Wir brauchen ein Bildungssystem, das Kinder nicht frühzeitig sortiert, sondern möglichst lange optimal fördert. Wer gegen solche Reformen argumentiert, treibt die Spaltung der Gesellschaft weiter voran. In Finnland hat man das dreigliedrige Schulsystem bereits in den 70er Jahren abgeschafft. Statt Rankings durchzuführen, wird die Schule dort regelmäßig den Bedürfnissen der Schülerschaft angepasst. Rainer Domisch, der jahrelang den Reformprozess in Finnland mitgestaltet hat, berichtet aus der Praxis, wo längst funktioniert, was uns in Deutschland noch als Utopie erscheint. Ein Buch, das Lehrern, Eltern, Politik und Verwaltung Argumente für eine fruchtbare Bildungsdebatte liefert.

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Hanser eBook

Rainer Domisch / Anne Klein

Niemand wird zurückgelassen

Eine Schule für Alle

Carl Hanser Verlag

Einleitung, Kapitel VI, VIII: Rainer Domisch und Anne Klein

Kapitel I, V, VII: Anne Klein

Kapitel II, III, IV, Anhang: Rainer Domisch

ISBN 978-3-446-23929-6

© Carl Hanser Verlag München 2012

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Rainer Domisch

(6. 12. 1945–16. 8. 2011)

für Maila

Timo, Nina, Mika und Sami

denn ohne euch wäre dieses Buch nicht entstanden

Inhalt

Einleitung

I    Sieben Thesen für eine adäquate Bildungspolitik

II   PISA-»Schock«? Finnland und Deutschland, 2000–2010

Situation nach der ersten PISA-Studie

Deutschland: Fünf Problemfelder

PISA-Sieger Finnland: Ganz einfach!

III  Blick zurück: Das finnische Bildungssystem

Die Strukturreform in den 1970er Jahren – und ihre Vorgeschichte

1990er Jahre: Evaluationen, Rahmenlehrpläne und das Zentralamt für Unterrichtswesen

PISA re-visited: Erfolgreiches Lernen

IV   Wie funktioniert Bildung in Finnland?

Alltag in der Schule

Selbstanalyse der Schulen

Berufsbild Lehrer

V    Plädoyer für ein Umdenken

Lernkultur

Teilhabe

Nachhaltigkeit

VI   Deutschland: Keine Schule für alle – und die Alternativen?

Blockaden

Weichenstellungen

Systemisches Denken und Handeln

VII  Die Schule der Demokratie

Inklusion/Exklusion

Sprache und Verstehen

Bildung als Ressource

VIII Schulreform – ganz einfach! Wenn man nur will …

Graphik: Das finnische Schulsystem der Gegenwart

Anhang

Die am häufigsten gestellten deutschen Fragen – und finnische Antworten

Stimmen aus Finnland: Warum ist die Schule, so wie sie ist, sinnvoll und wichtig?

Anmerkungen

Einleitung

Schlecht steht es um die (Schul-)Bildung in Deutschland. Alle reden inzwischen davon, dass sich etwas ändern muss, aber wenig geschieht, außer kleineren Reformen, die kaum verhohlene Finanzeinsparungen sind. Staatliche Sparmaßnahmen erfolgen in den meisten europäischen Ländern nach einem ähnlichen Schema: der Verteilung von unten nach oben. Das gilt auch für die Bildung: Neben den Konsens, das Beste zu wollen (und dem Dissens, was jeweils das Beste sei) tritt eine handfeste Interessenkollision: Wessen Kinder bekommen wie viel Bildung?

Kurzsichtiges Denken mag vielleicht finanzielle Ressourcen als einen endlichen Kuchen ansehen, der nur einmal verteilt werden kann. Für das Gut Bildung gilt dies jedenfalls nicht: je besser eine Gesellschaft gebildet (und ausgebildet) ist, desto mehr wird sie auf die Beine stellen. Bildungsökonomen haben errechnet, dass sich jeder in Bildung investierte Cent vielfach rentiert, und dass jeder eingesparte Euro vielfache gesellschaftliche Folgekosten verursacht. Gar nicht zu reden davon, dass mit einem verbesserten Bildungs- (und Ausbildungs-)standard auch in terna tional das Ansehen einer Gesellschaft steigt und sie konkurrenzfähiger wird – was sich ja viele Ökonomen wünschen. Inzwischen ist die Ökonomie zur Staatsfrage geworden, aber die Bildung steht immer noch hinten an. Dabei liegt es auf der Hand, dass der Staat – indem er Schulen und Hochschulen aus Steuermitteln finanziert – Bildungschancen gerechter verteilt, als dies ein System von Privatschulen leisten kann.1

Leicht entsteht der Eindruck, dass grundsätzliche Verbesserungen im Bildungsbereich von der Politik gar nicht in Betracht gezogen werden, sei es aus Resignation, sei es, weil sie nicht wirklich gewünscht sind. Das trat beispielsweise 2009 deutlich zutage, als die Hamburger Bevölkerung gegen eine beschlossene behutsame Schulreform mobilisiert werden konnte mit Argumenten, die durch praktische Erfahrungen widerlegt sind.2 Stattdessen werden in der Bildungsdebatte immer wieder Nebenschauplätze eröffnet, an denen sich streitbare Experten abarbeiten oder gar profilieren können. Auch das praktische Handeln vieler engagierter und kluger Einzelkämpfer, das in eine positive Richtung weist, wird, unter Umständen sogar per Dienstrecht, mundtot gemacht – wie beispielsweise die Lehrerin Sabine Czerny, die der »Notenlüge« ein Ende machen wollte und damit ein Tabu schulischen Lernens berührte.3 Andere pädagogische Initiativen verpuffen ungehört, oder die Kräfte zerstreuen sich in kleinteilige Bemühungen.

Dieses Buch möchte auf die inzwischen unbestrittene Notwendigkeit einer Schulstrukturreform aufmerksam machen und – orientiert am finnischen Fallbeispiel – die dafür notwendigen Weichenstellungen aufzeigen. Eine staatliche Bildungspolitik, die Chancengleichheit herstellt, ist keine Utopie, sondern eine realistische Möglichkeit. Wo die Blockaden liegen, vor allem aber, wie die Umsetzung aussehen kann, möchte dieses Buch zeigen. Es schlägt für Deutschland eine nachholende Entwicklung vor, die in Ansätzen mit der Bildungsreformdiskussion der 1970er Jahre begonnen hat, aber seitdem steckengeblieben oder gar rückläufig ist.

Seit dem schlechten Abschneiden Deutschlands bei den PISA-Studien richtet sich in kurzfristigem Aktionismus die Aufmerksamkeit auf Länder, die bessere Werte erzielt haben. Doch bald erwies sich, dass keine schnellen und billigen Lösungen bereitstehen, wie die deutsche Bildungs politik aus der allgemein wahrgenommenen Bildungskrise herausfinden kann. Die Versäumnisse der letzten 30 bis 40 Jahre können nicht so schnell bereinigt werden, erst recht nicht durch oberflächliche Nachahmung ganz gleich welchen Modells. Lernen in kritischer Auseinandersetzung mit bereits gemachten Erfahrungen hingegen ist eine gute Möglichkeit, das Rad muss ja nicht neu erfunden werden. Es bedarf allerdings der Bereitschaft, eine grundlegende bildungspolitische Weichenstellung vorzunehmen.

Rainer Domisch, der sein Berufsleben mehr als zur Hälfte in Deutschland, zur Hälfte in Finnland verbracht hat, dort zuletzt als leitender Mitarbeiter des Zentralamts für Unterrichtswesen, ist mit der Bildungssituation in beiden Ländern vertraut. Dieses Buch lebt von seiner kontrastiven Wahrnehmung des finnischen und des deutschen Schulsystems und des jeweiligen Bildungsverständnisses der beiden Länder. Dabei geht es keinesfalls um nationale »Eigenarten«, sondern darum, durch den Verweis auf das »andere« ein Nachdenken über das »eigene« Bildungssystem und dessen staatliche Organisation anzuregen. Erfahrungen mit der konsequenten Demokratisierung der Bildungspraxis sind keineswegs nur in Finnland vorhanden, sondern auch in anderen westlichen Ländern wie Kanada oder in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol. Auch in Deutschland gibt es seit den 1920er Jahren und dann erneut seit den 1970er Jahren alternative Schulen und Bildungsprojekte. Im globalen Kontext betrachtet müssten gar postkoloniale Bildungsdebatten in die Diskussion einbezogen werden.4

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Nach den einführenden Thesen für eine adäquate Bildungspolitik werden im zweiten Kapitel schlaglichtartig die Entwicklungen der letzten zehn Jahre seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studie 2001 dargestellt. Für Deutschland werden fünf Problemfelder benannt und der finnischen »Einfachheit« gegenübergestellt. In Kapitel III wird das finnische Bildungssystem dargestellt, zum einen in seiner Entwicklung seit den 1970er Jahren, zum anderen in seinen fächerbezogenen Maßnahmen und Förderungserfolgen. Pädagogisch erhellend ist der in Kapitel IV folgende Einblick in den Schulalltag. Hier werden auch Instrumente der Selbstflexion und -analyse und das Berufsbild des Lehrers vorgestellt. Dieser Einblick in die finnische Schulkultur wird im Anhang unterlegt mit Berichten und Stellung nahmen von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern und von Eltern. Die Darstellung der Sichtweise von Betroffenen soll die Vorbehalte gegenüber einer Schule für Alle entkräften und dadurch helfen, möglicherweise vorhandene Ängste und Vorbehalte und die damit verbundene Stagnation in der deutschen Bildungs debatte zu lösen.

Mit dem Plädoyer für ein Umdenken ist ein bildungspolitisches Leitbild verbunden, das sich an den zentralen Begriffen Lernkultur, Teilhabe und Nachhaltigkeit orientiert. In Kapitel V werden Lernarrangements näher besprochen – also all das, was für die Binnenstruktur von Schule und für Lernprozesse im allgemeinen relevant ist. Dabei ist unerlässlich, den Blick immer wieder zu weiten und die in b eiden Ländern verschieden gelagerten gesellschaftspolitischen Kontexte mit anzusprechen wie beispielsweise das Sozialstaatsverständnis oder Vorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie. Der Verweis auf die bildungspolitische Rahmung vermag das im Kleinen vielfach vorgebrachte »Wenn« und »Aber« (z. B.: »Nicht finanzierbar!«) argumentativ zurechtzurücken und bietet auch potentiellen Gegnern von Schulstrukturreformen das Mitdenken in eine neue Richtung an. Der Zusammenhang zwischen Bildungsverständnis (Welche Schule wollen wir?) und Gesellschaftsmodell (In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?) zeigt die wirklich grundlegende Bedeutung von Bildung, wie sie auch in der aktuellen Diskussion um das Bildungspaket für die Kinder von sogenannten Hartz-IV-Empfängern zu Tage tritt.5 Der Blick nach Finnland ermutigt dazu, kreativ und pragmatisch Bildungsgerechtigkeit in die politische Praxis umzusetzen – und nur damit kann dem sozialen und kulturellen Reichtum, den das heutige Bildungswesen einfach ignoriert, zur Geltung verholfen werden.

Im Jahr 2012 überwiegen in Deutschland weiterhin die Blockaden. Ausgehend davon wird in Kapitel VI noch einmal der Weg der Machbarkeit vorgestellt, auf eine be scheidene Art, aber doch mit Anspruch auf Faktizität und Geltung. Es sind ja bereits zahlreiche positive Weichenstellungen zu erkennen. Die versperrten Einsichten sind durch historisch-politische Engführungen und Ängste, auch vor dem Verlust von Privilegien, bedingt. Man könnte sogar behaupten, die PISA-Ergebnisse werden bislang instrumentalisiert für den Ausbau der Eliteförderung und daher in ihrer zentralen Botschaft gar nicht verstanden.

Dieses Buch hingegen möchte die in den PISA-Ergebnissen deutlich gewordene Aufforderung zur positiven Diskriminierung auf der Grundlage eines systemischen Politik- und Bildungsverständnisses ernstnehmen. Es orientiert sich an der Einsicht, wie wichtig es ist, die Bedingungen für eine gute Bildung für alle herzustellen. Das Buch soll Wissenslücken schließen helfen, die für ein Umdenken notwendigen In formationen bereitstellen und damit die Offenheit ermög lichen, die für grundlegende Veränderungen im Bildungsbereich notwendig ist. Es soll Argumente liefern und Antworten geben auf Fragen, die sich auf diesem Weg stellen können. In Kapitel VII werden daher aktuelle Debatten im Kontext von Behinderung und Migration aufgegriffen. Viele Initiativen, Migrantenorganisationen, Interessenverbände von Menschen mit Behinderungen, Elternvereine, Schulexperten und Bildungspädagogen engagieren sich bereits für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems. Dass es sich dabei nicht nur um Pragmatismus, sondern um einen tiefgreifenden Umdenkprozess handelt, der von allen Beteiligten eine Neudefinition ihrer Aufgaben, der pädagogischen Beziehungen, von Wissen, Lernen und Lehren erfordert, wird am Beispiel von Sprache und Sprachförderung gezeigt. Bildung als Menschenrecht ist eine Forderung und eine Notwendigkeit, aber wie können wir uns die Realisierung vorstellen? Welche Kriterien müssen dabei berücksichtigt werden? Der in Kapitel VIII geäußerte Appell richtet sich vor allem an die Politik, eine gemeinsame Schule für Alle einzurichten, orientiert an der Idee einer demokratischen Zivilgesellschaft. Die wird sich eines der reichsten Länder der Welt wohl leisten wollen. Es muss ein Schulsystem sein, das die gleichberechtigte und individuelle Entwicklung von allseitig gebildeten Persönlichkeiten fördert. Wie wichtig es ist und wie es ermöglicht werden kann, dass sich die Mitglieder dieser Gesellschaft in all ihrer Verschiedenheit sozial bewusst, couragiert, verantwortungsvoll, lebensklug und umfassend bilden, zeigt dieses Buch.

I   Sieben Thesen für eine adäquate Bildungspolitik

»Fakt ist, dass die Finnen Gesamtschulen haben, in denen die Schüler neun Jahre gemeinsam lernen und die besten PISA-Resultate erreichen. Es heißt dann immer, in Finnland gebe es weniger Zuwanderer. Richtig. Aber auch dort sind Kinder nicht gleich begabt. Ein Kind ist in Mathe auf Gymnasialniveau, in Englisch gehört es in die Hauptschule. Dem wird nur individueller Unterricht gerecht, sortieren in Schulformen hilft da nicht.«6

Als im Jahr 2001 die Ergebnisse der ersten PISA-Schulstudie veröffentlicht wurden, löste dies in Deutschland einen Schock aus. Demnach konnte jeder zehnte 15-Jährige nicht »sinnerfassend« lesen. Die Aussage, die Bedeutung, eben der Sinn des Gelesenen wurde nicht erfasst und konnte somit nicht in den eigenen Wahrnehmungshorizont eingebaut werden. Die Zahl »funktionaler Analphabeten«7 liegt damit in Deutschland fast doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Bei einem Viertel der Schülerinnen und Schüler war zudem die Lesekompetenz so schwach ausgebildet, dass sie für das erfolgreiche Absolvieren einer beruflichen Ausbildung vermutlich nicht ausreichen würde. Zudem scheiterte jede vierte Schülerin / jeder vierte Schüler an elementaren Rechenaufgaben. Die Ergebnisse bestätigten die bereits gewohnten geschlechtsspezifischen Unterschiede: Jungen sind besser im Rechnen, Mädchen im Lesen. Aber um die erbrachten Leistungen geht es nur vordergründig. Die PISA-Studien, die alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten 15-jähriger Schülerinnen und Schüler messen sollen, orientieren sich an der Leitfrage, wie Bildungsdienstleistungen verbessert werden können, um vor allem Kinder und Jugendliche angemessen auf die verschiedenen Anforderungen der globalen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. »Kulturtechniken« ist ein wichtiges Stichwort. In den PISA-Studien werden zwar nur die basalen Techniken der »Schrift-, Bild- und Zahlbeherrschung« getestet, jedoch im problemlösenden Anwen dungsbezug. Komplexes, vernetztes Denken ist also von Vorteil.8 Dies besagt auch das den Studien zugrundeliegende »innovative Konzept der Grundkompetenzen bzw. der Grundbildung (literacy)«9, die garantieren soll, dass lebenslanges Lernen in den verschiedensten Situationen möglich ist.

Bei PISA 2000 stand die Lesekompetenz im Vordergrund, im Jahr 2003 ging es primär um mathema tische Fähigkeiten, 2006 wurde vorzugsweise der Umgang mit naturwissenschaftlichem Wissen getestet, und 2009 wieder das Lesen. In der Gesamtaussage waren die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland im Rechnen und Naturwissenschaften nicht gut und im Lesen noch schlechter – und dies ganz im Unterschied zum Selbstbild der Deutschen, die eher der Meinung sind, zu den führenden Nationen der westlichen Welt zu gehören. Im Bereich der Bildung jedenfalls ist das, wie man durch PISA weiß, nicht der Fall.

In der hitzigen Debatte nach der ersten PISA-Studie wurde fast alles gefordert, was im Bildungswesen denkbar ist – da wollten die Grünen leistungsbezogene Lehrergehälter einführen und die Industrie- und Handelskammern ganz grundsätzlich eine »neue Kultur der Anstrengung« begründen. Inzwischen liegt die vierte PISA-Studie vor. Deutschland hat beim Lesen, in den Naturwissenschaften und der Mathematik aufgeholt, aber zum Jubeln besteht dennoch kein Grund. Die Gesamtnote für Deutschlands Schulsystem ergibt 2009 ein »Befriedigend«. Trotz einiger Verbesserungen liegt noch viel im Argen. Stecken wir in einer Bildungskrise? Sind tatsächlich grundlegende Veränderungen notwendig und wenn ja, welche? Und wie können sie realisiert werden? Oder ist es möglicherweise gar besser, an Altbekanntem festzuhalten?

Für Deutschland machen die PISA-Studien auf eine besonders enge Kopplung von Bildung, Schulsystem und Klassengesellschaft aufmerksam.10 Kinder aus sozial schwachen Familien werden demnach durch das Schulsystem auf ihre Herkunft festgelegt anstatt dieser durch Bildung entrinnen zu können. Das Bildungssystem zu ändern, ohne die sozialen Sicherungssysteme einer Gesellschaft mit zu bedenken, macht keinen Sinn. Schule prägt wie kaum ein anderes Strukturelement der Gesellschaft das Leben aller jungen Menschen bis zum 16. Lebensjahr und länger. Das Bemühen, Chancengleichheit in der Bildung herzustellen, scheint also durchaus lohnenswert. Die PISA-Studien möchten Regierungen die notwendigen Informationen für entsprechende Weichenstellungen an die Hand geben. Erreicht wäre das Ziel dann, »wenn kein Zusammenhang zwischen Schülerleistungen und sozioökonomischem Hintergrund [mehr] festzustellen ist.«11

Das Gute an den PISA-Studien ist, dass sie Bildung zu einem öffentlich diskutierten Thema gemacht haben und die Notwendigkeit grundlegender Reformen deutlich geworden ist. Aber nach wie vor ist es nicht einfach, in wichtigen Fragen, die Schule und Bildungswesen betreffen, fundierte Aufklärung zu erhalten. Die Bildungslandschaft erscheint unübersichtlich. In der Tages- und Wo chenpresse wurden Schule und Bildung jahrelang eher als Marginalie behandelt, und sachkundige Journalistinnen und Journalisten waren an einer Hand abzuzählen. Seit der ersten PISA-Studie ist vor allem ein Boom der empirischen Bildungsforschung zu verzeichnen, und die Ergebnisse haben in vielerlei Hinsicht die Schieflage bestätigt.12 Das hier generierte Spezialwissen wird jedoch nicht direkt praxis relevant, und es wird auch nur zögerlich vermittelt an die jenigen, für deren Gebrauch es bestimmt sein sollte. Auch die Eigen initiativen aufmüpfiger Lehrerinnen und Lehrer, die sich aus Normvorgaben befreien, werden nur selten als Ausdruck einer strukturellen Kritik interpretiert.13 Den Bürgerinnen und Bürgern – oder auch: Verbraucherinnen und Bildungskunden – mangelt es an einer übersichtlichen Orientierung im »Bildungsdschungel« und nachvollziehbaren Kriterien zur Beurteilung von Reformen.14Dass Transparenz, Informationen und Wissen über Bildungsfragen eine notwendige Grundlage für partizipative Meinungsbildungs- und Mitbestimmungsprozesse sind, ist die erste These dieses Buches.

Die PISA-Studien haben den Mythos zerstört, wonach unser Bildungssystem ein Instrument zur Überwindung sozialer Ungleichheit sei. In Einzelfällen mag zwar durchaus Aufstieg möglich sein, aber in Zeiten, in denen der soziale Ausgleich und der Zusammenhalt einer Gesellschaft auf dem Prüfstand stehen, kann von individuellen Erfolgsgeschichten keine Beruhigung ausgehen. Die offensichtliche Repro duktion von Stärke- und Schwäche-Verteilungen in der Gesellschaft durch das Schulsystem macht vielmehr auf die Notwendigkeit einer strukturellen Analyse und dementsprechende Veränderungen aufmerksam.15 Zu den unübersehbaren Zusammenhängen zwischen Schulstruktur, Bildungsarmut und sozialer Ausgrenzung in Deutschland hat die Politik jedoch bislang weitestgehend geschwiegen, denn damit verbunden war und ist immer die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen und welche Rolle soziale Gerechtigkeit für unser demokratisches Empfinden spielt. Nun fördert die internationale Kritik aber oft mehr als gewünscht die Einsicht in eigene Fehlannahmen und macht Veränderungsvorschläge für die Bildung dringend notwendig. Glücklicherweise mangelt es nicht an guten Beispielen aus anderen Ländern bzw. Schulmodellen in Deutschland, an denen man sich orientieren kann. Auch die Ergebnisse der Bildungsforschung, die sich um eine Perspektivenverschiebung in der Sicht auf das Schul- und Bildungswesen in Deutschland bemühen, erweitern den politischen Wissenshorizont.

Der grundlegend exkludierende Effekt der Schule in Deutschland macht sich zunächst an ihrer Dreigliedrigkeit (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) fest. Der sogenannte »Bildungstrichter« siebt bei jedem weiteren Übergang erneut aus, und zwar nach sozialer Herkunft. Die 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks aus dem Jahr 2003 hat gezeigt, dass von 100 Kindern der höchsten sozialen Herkunftsgruppe 85 Prozent die gymnasiale Oberstufe erreichen und von diesen dann 95 Prozent, also 81 Kinder, ein Studium aufnehmen. Von 100 Kindern der nie drigsten sozialen Herkunftsgruppe hingegen erreichen nur 38 Prozent die gymnasiale Oberstufe, und von diesen nehmen dann wiederum nur 31 Prozent, also 11 Kinder, ein Studium auf.16 Der Druck beginnt bereits in der dritten Klasse, wenn in aller Regel die Schüler den Lehrer/die Lehrerin bekommen, deren Zensuren über die weitere Schullaufbahn entscheiden. Die Kinder sind dann erst acht Jahre alt. Die letztliche Entscheidungsmacht über den Übertritt auf eine weiterführende Schule ist ein viel diskutiertes Thema. Fakt ist, dass Hauptschulen immer unbeliebter werden und ihr gesellschaftliches Ansehen wenig besser ist als das der Sonder- bzw. Förderschulen.17 Zwar hat sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Hochschulzugangsberechtigung (Fachabitur und Abitur) seit 1980 verdoppelt; 2008 waren es immerhin 45,1 Prozent.18 Danach setzen aber die bekannten Bildungsbarrieren erneut massive Grenzen, und zwar nach sozialer Herkunft. So haben im Jahr 2008 nur 34 Prozent der Hochschulzugangsberechtigten ein Studium aufgenommen, darunter viel weniger Frauen, und nur 24 Prozent haben das Studium abgeschlossen.19 Jugendliche und junge Erwachsene aus armen Familien kommen nur äußerst selten mit Universitäten und Fachhochschulen in Kontakt, und wenn doch, bringen sie ihr Studium nicht zu Ende. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt auf seiner Webseite fest: »In keinem anderen Industriestaat [entscheidet] die sozio-ökonomische Herkunft so sehr über den Schulerfolg und die Bildungschancen wie in Deutschland […] Wenn wir die Zukunftschancen der jungen Generation in Deutschland sichern wollen, muss das Schulsystem in Deutschland mehr Kinder und Jugendliche zu höheren Bildungsabschlüssen führen – und zwar unabhängig von ihrer Herkunft.«20 Die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems, die selbst die Bildungsreform der 1970er Jahre bis auf einige Gesamtschulen in einigen Bundesländern relativ unbeschadet überstanden hat, steht also durch die PISA-Ergebnisse erneut im Zentrum der Kritik. Dass eine gemeinsame Schule für alle, die beispielsweise wie in Finnland bis zum 16. Lebensjahr die Basiskompetenzen vermittelt, ein großer Schritt wäre in Richtung Bildungsgerechtigkeit, ist die zweite These dieses Buches.

Ein der Dreigliedrigkeit ähnliches, bereits im Primarbereich einsetzendes Exklusionsprinzip zeigt sich in der dualen Struktur des deutschen Bildungswesens, das zwischen »normalen« Schulen und Sonder- bzw. Förderschulen unterscheidet.21 Das duale Schulsystem produziert per se gesellschaftliche Verlierer – und deren Kompetenzen werden in den PISA-Studien eigentlich gar nicht erfasst. Dabei sind nicht gerade wenig Kinder und Jugendliche davon betroffen. Unter den EU-Staaten hat Deutschland den höchsten Anteil an Schülerinnen und Schülern, die in Förderschulen unterrichtet werden; ihr Anteil an der Schülerschaft der Primär- und Sekundarstufe I ist von 4,5 Prozent 1999 auf 4,9 Prozent 2008 gestiegen und Jungen sind stark überrepräsentiert.22 Die Differenzen zwischen den Bundesländern sind sehr groß: in Mecklenburg-Vorpommern wird ein Förderbedarf von 11,7 Prozent festgestellt, in Rheinland-Pfalz von 4,3 Prozent.23 2008 haben ca. 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Sonderschule ohne Hauptschul abschluss verlassen.24 Fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird gegenwärtig im Förderschwerpunkt Lernen unterrichtet; zusammen mit den Kindern und Jugendlichen in den För derschwerpunkten Sprache und emotionale und soziale Entwicklung beträgt der Anteil zwei Drittel aller Schüler mit diagnostiziertem Förderbedarf.25 Die festgestellten »Defizite« von »erziehungsschwierigen« Schülern, die nicht »richtig« deutsch sprechen können, verweisen auf die klassischen Felder der Bildungsbenachteiligung. Die Lehrerinnen und Lehrer an Sonder- und Förderschulen beharren vielfach auf dem diagnostizierten »Förderbedarf« und sperren sich gegen Veränderungen, von denen sie oftmals nur eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen befürchten. Tatsächlich existiert jetzt schon bei vielen ein Überforderungsgefühl durch die Klassengrößen. Die Sonderschulüberweisungen haben sich auch durch die Erweiterung des diagnostischen Handwerkszeugs erhöht, wie beispielsweise die zunehmenden Diagnosen im Bereich des ADHS-Symptomkomplexes zeigen.26 So wird der mangelnde Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler zwar in Zusammenhang mit deren sozialer Herkunft betrachtet, dass die Schule jedoch selbst selektiert und schlechte Ausgangsbedingungen festschreibt oder möglicherweise gar vertieft, möchten nur wenige Lehrerinnen und Lehrer wahrhaben.27

Ursprünglich war Förderung als Hilfe für Schwache gedacht, das erschien sinnvoll in einer Zeit, als diese Menschen allgemein für nicht beschulbar gehalten wurden. Der Begriff »Förderung« erscheint aber unter den politischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts zunehmend sinnentleert. Inzwischen stellen sich Fragen von Teilhabe, Differenz und Heterogenität grundsätzlicher. Nicht nur die Bedeutung von sozialen Netzwerken wird verstärkt thematisiert, vor allem wird auch die Anpassung von Menschen an eine ›Normalität‹ in Frage gestellt.28 Dieser Neuorientierungsprozess hat Rückenwind erhalten durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die nun auch für Deutschland verbindlich die Realisierung von Inklusion – und nicht Integration! – im Bildungsbereich fordert. Dass die Gestaltung inklusiver Lern arrangements zentral ist für eine gelingende Umsetzung von Inklusion, ist die dritte These dieses Buches.

Schülerinnen und Schüler mit diagnostiziertem Förderbedarf in den drei Bereichen Sprache, Lernen und emo tionale und soziale Entwicklung kommen sehr häufig aus armen Familien oder aus Familien mit einer Migrationsgeschichte. Manchmal treffen auch beide Faktoren zu. Viele Kinder aus Migrationsfamilien haben Väter und Mütter, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre nach Deutschland kamen oder auch angeworben wurden, um als vermeintlich Anspruchslose den Mangel an »billigen« Arbeitskräften in der Industrie zu decken.29 Fünfzig oder auch nur dreißig Jahr später, in der postindustriellen Gesellschaft, haben sich die Formen der Erwerbsarbeit grundlegend verändert. Armut ist zu einem zentralen Thema einer Gesellschaft geworden, in der vor allem Dienstleistungen den liberalisierten Markt von Angebot und Nachfrage regeln. In diesem Moment findet eine neue Kopplung von Armut, Migration und Bildung statt. Inzwischen gibt es glücklicherweise Lehrerinnen und Lehrer mit sogenanntem »Migrationshintergrund«30, die als »role-model« die Orientierung von Kindern aus Migrationsfamilien unterstützen können.31 Aber immer noch sind es viel zu wenige! Und vielfach werden auch sie in einer fortgesetzten institutionellen Diskriminierung auf ihre Herkunft festgelegt.32 Dabei liegt der Anteil von »Aufsteigern« in Familien mit Migrationshintergrund prozentual höher als in Familien ohne Migrationserfahrung.33 Auffällig ist auch, dass in den neuen Bundesländern. wo es durch die gute Versorgung mit Kinderkrippen eine enorm hohe Bildungsbeteiligung der unter 3-Jährigen34 gibt, die Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund prozentual öfter reüssieren als im Westen.35 In den Medien allerdings werden positive Nachrichten über die Bildungserfolge von Kindern und Jugend lichen aus Migrationsfamilien marginalisiert. Falls Deutschland aus seiner Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gelernt haben sollte, müsste dieses Wissen zumindest ein historisches Verständnis der katastrophalen Folgen von institutionellen Exklusionsprozessen beinhalten. Die Annahme, dass sich Geschichte nicht wiederholt, wirkt beruhigend. Wer heute mit zuwanderungsfeindlichen Parolen auf Stimmenfang geht, handelt sich durchaus auch den Ärger der Wirtschaft ein, der qualifizierte Fachkräfte fehlen. Welchen Sinn auch sollte eine nationalistische Abschottung im Zeitalter transnationaler Globalisierung haben? Die vierte These dieses Buches lautet, dass transkulturelles und globales Lernen zu Beginn des 21. Jahrhunderts unverzichtbar ist.

Gegenwärtig werden Schieflagen im Bildungssystem noch hingenommen, wenn man jedoch die längerfristigen Folgen bedenkt, so muss dies als grob fahrlässig erscheinen. Angesichts der inzwischen offen angesprochenen Probleme kann keiner später sagen, er oder sie habe von nichts gewusst. Nun, manch einer mag denken »nach mir die Sintflut«. Aber dies zeigt eigentlich nur, dass die Weichen besonders schnell und besonders nachhaltig gestellt werden sollten, wenn ein bildungspolitisches Problem nicht in Zukunft zu einem gesellschaftlichen Burnout führen soll. Besonnene Kritikerinnen und Kritiker sehen schon seit langem Handlungsbedarf. Eltern von schulpflichtigen Kindern beobachten allerdings – neben wenigen Verbesserungen – von Jahr zu Jahr eine allgemeine Verschlechterung der Infrastruktur und der Lernumgebung. Zu befürchten ist, dass der Begriff der Reform – einst positiv besetzt – zum Syn onym für Sparmaßnahmen wird. Während 2007 das Bildungsbudget 147,8 Milliarden Euro betrug, werden in den Modellrechnungen für das Jahr 2015 142,3 Milliarden Euro veranschlagt und für 2028 nur noch 128,2 Milliarden Euro. Von den eingesparten knapp 20 Milliarden Euro (13 Prozent) entfallen 9,4 Milliarden Euro auf die allgemeinbildenden Schulen.36 Diese staatlichen Einsparungen stehen in keinem Verhältnis zu den Rettungsschirmen, die die Steuerzahler über den Banken (und ihren Chefs) aufspannen, und auch in keinem Verhältnis zu den Steuersenkungen, die seit dem Ende der Kohl-Ära, größtenteils von der SPD, vorgenommen wurden.37 Mehr Netto vom Brutto, heißt es da, und das gilt für die Gutverdienenden.

Gleichzeitig wird Bildung mehr und mehr zu einer Geldfrage, und dies nicht nur durch Studiengebühren. Schulbücher sind kaum kostenlos, Schulessen wird immer noch nicht bereitgestellt. Schülertickets für den Bus sind zwar ermäßigt, aber die Fahrtkosten werden nicht vollständig übernommen. Nachhilfe, zumindest an weiterführenden Schulen, ist nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Private Nachhilfeinstitute sprießen aus dem Boden. Die Tendenz ist seit Jahren steigend, unter anderem wegen der Verkürzung der Gymnasialzeit von neun Jahren auf acht Jahre (»G 8«).38 In diesem Rahmen etablieren sich nun auch Privatschulen, die gute Renditen aus den Einnahmen wohlhabender Familien versprechen. Die soziale Schere öffnet sich. Auch die private Finanzierung von Kindergärten ist in Deutschland von 1995 bis 2003 von 19 Prozent auf 27,9 Prozent gestiegen. Das ist viel, gerade angesichts des 2006 durchschnittlich für die OECD-Staaten ermittelten Anteils von 18,5 Prozent privater Finanzierung im Vorschulbereich.39 Menschen mit geringem Einkommen schicken ihre Kinder viel seltener in einen Kindergarten, obwohl beispielsweise die Kommunikation in diesen frühen Jahren äußerst wichtig ist für den Spracherwerb. Geringes Einkommen und geringe Partizipation perpetuieren so den Ausschluss. Dass Bildung keine Frage des Geldbeutels sein darf, ist die fünfte These, die dem vorliegenden Buch zugrundeliegt.

In der Bildungsdebatte fragt man im Rahmen der neuen Kompetenzdefinitionen nicht mehr nach den Schwächen und Mängeln der Lernenden, sondern interessiert sich mehr und mehr für deren Ressourcen. Und dies in einem doppelten Sinn: zum einen wird Bildung selbst als eine wichtige gesellschaftliche und ökonomische Ressource betrachtet, zum anderen werden Fähigkeiten, Potentiale und unerschlossene Wissensreservoirs bei den benachteiligten Bevölkerungsgruppen entdeckt und positiv bewertet. Diversität wird als Stärke begriffen und gerade bislang Abgewertetes soll nun in Form positiver Diskriminierung hervorgehoben werden. Praktisch ausgedrückt wäre es durchaus vorstellbar, beispielsweise den Sprach- und Wissensvorsprung von Jugendlichen aus Migrationsfamilien weiter zu fördern und auch die eigenen einsprachig aufwachsenden Kinder davon profitieren zu lassen. Die Tatsache, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund »so ganz nebenbei« andere Schülerinnen und Schüler mit ähnlichen Familiengeschichten coachen, kundig in sozialen Konflikten vermitteln, erhöht bislang nur selten ihre Anerkennung. Und nur selten ist das Bewusstsein vorhanden, dass die Mehrheitsgesellschaft von ihnen lernen kann statt umgekehrt.40

Ressourcen sind materielle und immaterielle Güter und Werte, die einzelne Personen, aber auch Teams, Arbeitsgruppen und komplexe Systeme zur Handlung befähigen. Um ermessen zu können, wie negativ sich herabsetzende Schulerfahrungen auswirken können, muss man wissen, dass Individuen mit ohnehin weniger sozialem Rückhalt vulnerabler für Ressourcenverluste sind und darüber hinaus auch weniger Möglichkeiten haben, neue Ressourcen zu gewinnen. Stattdessen erwachsen aus anfänglichen Verlusten oft weitere Nachteile bei der Bewältigung von neuem Stress. Es entsteht ein Zyklus, bei dem das System mit jedem Verlust anfälliger und verletzlicher wird. Diese Negativspirale mangelnder Erfolgserlebnisse kann beispielsweise durch schlechte Schulnoten41 oder den Verweis auf die Sonderschule ausgelöst und perpetuiert werden. Im Unterschied dazu kann im günstigen Fall eine Bildung, die nicht nur neues Wissen, sondern auch neue Ressourcen und Coping-Strategien vermittelt, ein kulturelles Kapital von unschätzbarem Wert sein.

Ein so verstandener Bildungsbegriff geht davon aus, dass über die kollektive Konstruktion von Wissen Problemlösungen erarbeitet werden können. Dies setzt voraus, dass Schüler und Studierende sich systematisch daran gewöhnen, Probleme zu diagnostizieren, Fragen zu stellen, Ideen zu sammeln und gemeinsam neues Wissen zu entwickeln. Dazu bestehen – bei Bereitstellung der entsprechenden In frastruktur – eigentlich in jeder Schulklasse die Voraussetzungen. Der Prozess verläuft dergestalt, dass ungeordnete Informationen in die Gruppe eingegeben und von der Gruppe zu Handlungswissen umgeformt werden. Schüler und Studierende werden nicht mehr mit geordnetem Wissen versorgt, sondern die Lerner müssen aktiv aus unzusammenhängenden Informationen eine Struktur schaffen. Jeder ist mit seinem Wissen und seinen Fähigkeiten erwünscht und gefordert; alle am Unterricht Teilnehmenden sind wertvolle »Ressourcenlieferanten« und Mitgestalter des Lernprozesses mit dem Ziel einen zufriedenstellenden Weg zum gemeinsamen Produkt zu finden.

Erst auf dieser Grundlage machen Evaluationen Sinn. In Finnland hat sich ein derart zukunftsweisendes Evaluationsverständnis etabliert, das Faktoren wie Kommunikation, Partizipation und Wertschätzung als zentral erachtet in der Bewertung neuer erfahrungsorientierter Lernprozesse. Die Bedeutung des sub jektiven Faktors, der in den Bildungsstrukturdebatten der 1970er Jahre in Deutschland weitestgehend ignoriert wur de, hat neuen Auftrieb erhalten. In Finnland hingegen hatte man damals schon verstanden, dass gesellschaftliche Institutionen für die Menschen da sein müssen und nicht umgekehrt. Die Orientierung an den Erfordernissen und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger wird für selbstverständlich erachtet und legitimiert überhaupt erst institutionelles Handeln. Man kann diese Herangehensweise auch als einen grundlegenden Beitrag zur »Gesundheit« verstehen.42 In gerechten Strukturen muss genügend Spielraum für indi viduelles Handeln und persönliche Entfaltung gegeben sein, damit Schülerinnen und Schüler sich glücklich fühlen und frei und selbstbewusst entwickeln können. Denkt man nicht-autoritär, sondern demokratisch, gibt es möglicherweise zwar den einen Text, aber nicht die eine Interpretation und demzufolge auch nicht die eine Wahrheit. Persönlichen Deutungsmustern wird zukünftig ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Das Versprechen, dass diese verschiedenen Stimmen auch gehört werden, wirkt sich wiederum positiv auf die Lernmotivation aus und verstärkt den Wunsch nach Zugehörigkeit, also danach, sich einzubringen und Prozesse mitzugestalten.43Dass Bildungsprozesse ressourcenorientiert gestaltet werden und Ergebnisse der neuen Lernforschung aufgreifen sollten, ist die sechste These des Buches.

Die erforderliche Grundbildung, wie sie durch die PISA-Studien definiert wurde, bezieht sich auf Kenntnisse über Inhalte und Strukturen des Wissens, die Prozesse, die ausgeführt werden müssen, um Wissen anzuwenden und Situationen, in denen man mit unbekannten Fragen konfrontiert wird und Kenntnisse und Fertigkeiten entwickeln muss, um diese zu beantworten. Geht man von diesen Kompetenzen aus, kann neben einem festen Basiswissen gerade Spezialwissen, auch wenn dieses – wie z. B. türkische Sprachkenntnisse – gesellschaftlich marginalisiert wird, von Vorteil für alle sein, wenn es denn klug genutzt wird. Wendet man den Blick in Richtung einer Ressourcenorientierung, erhöht der Zugang zu transnationalen Netzwerken beispielsweise die Chancen auf den Märkten einer globalisierten Welt. Neue Anforderungen an Gesellschaften und Menschen betreffen auch das Bildungssystem und können sinnvollerweise nur mit einer inklusiven Öffnung und nicht mit einer nationalen Schließung beantwortet werden. Dass eine Elite von wenigen die Exklusion von vielen bedeutet, hat man in Finnland bereits in den 1970er Jahren verstanden. Damals machte man sich dort auf den Weg, ein inklusives Bildungssystem als demokratischen Wegweiser zu errichten. Der Erfolg ist heute sichtbar. Die PISA-Studien machen darauf aufmerksam, dass Deutschland diesbezüglich im Rückstand ist. Unangemessen erscheint es, darauf mit Erschütterung und einem moralischen Aufschrei zu reagieren. Eine erwachsene Reaktion wäre die Entscheidung für eine politische Analyse, verbunden mit dem Eingeständnis eigener Versäumnisse, und der Bereitschaft, von anderen Modellen zu lernen. Eine strukturelle Benachteiligung aufgrund von sozialer Herkunft, Geschlecht, Nationalität oder gar Behinderung widerspricht nicht nur dem Menschenrecht auf Bildung, sondern ist auch laut Grundgesetz verboten.