Niklas Luhmann: "... stattdessen ..." - Eberhard Blanke - E-Book

Niklas Luhmann: "... stattdessen ..." E-Book

Eberhard Blanke

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Beschreibung

Eine Biografie zu Niklas Luhmann ist bislang nicht verfügbar, dennoch ist der Nachlass des Bielefelder Soziologen für diesen Zweck nicht erschlossen. In der vorliegenden biografischen Einführung (in 2., korrigierter und aktualisierter Auflage) werden Leben, Werk und Wirkung Luhmanns erstmals in ihren Grundlinien aufeinander bezogen. Der Titel "... stattdessen ..." deutet an, dass der Systemtheoretiker des 20. Jahrhunderts davon überzeugt war: "Es gibt keine Biografie."

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INHALT

ÜBER LUHMANN

EINLEITUNG

Selbstbeschreibungen

Biografie mit Luhmann

Paradoxien einer Biografie

Refutationen

LEBEN

Herkunft

Kindheit und Schule

Studium

Vom Referendar zum Oberregierungsrat

Zettelkasten

Vom Oberregierungsrat zum Professor

Er schreibt und schreibt und schreibt

Der Privatmensch

Szenen

Form

Doppelte Kontingenz

Neurophysiologisches System

Wissenschaftssystem

Überblick

Wer war Luhmann? Oder: Wie war Luhmann?

WERK

Supertheorie

Labyrinth

System/Umwelt

Funktion und Problem

Der Operator

Autopoiesis

Kybernetik zweiter Ordnung

De-Ontologisierung

Wozu das alles? Welt – Realität – Sinn

Habermas versus Luhmann und umgekehrt

WIRKUNG

Wirkungen innerhalb der Soziologie

Wirkungen außerhalb der Soziologie

ANHANG

Lebensdaten

Literatur

Primärliteratur

Sekundärliteratur

ÜBER LUHMANN

Dirk Baecker: „Luhmann war wahrscheinlich einer der grössten Humoristen seiner Zunft, wenn nicht der Wissenschaft überhaupt. Aber niemand hat das gemerkt, weil sein Witz haarscharf war und nur von denen verstanden werden konnte, die in der Lage waren, sich selbst zu verstehen.“ 1

Giancarlo Corsi: „Jene Person, mit wenigen grauen Haaren, mit dicker Brille und immer denselben grauen Jacke-Hosen-Socken-Schuhen, die durch einen ‚grauen Ton‘ (wie man auf Italienisch sagen würde), von einer wunderschönen Welt mit einem so bunten Humor sprach, erregte Furchtsamkeit und Zärtlichkeit zugleich.“2

Peter Fuchs: „Ich hatte es mit dem Extremfall einer unglaublich arroganten Bescheidenheit oder einer unglaublich bescheidenen Arroganz zu tun. Sie bestritt die Möglichkeit irgendeiner Überlegenheit – und führte sie im selben Zuge vor.“3

Raffaele Di Giorgi: „Er kam mit dem letzten Sonnenstrahl des Winters. Er folgte dem Strahl. Er lief ihm hinterher. Er liebte die rote Erde des Salento, er liebkoste mit seinem stillen Lächeln die tausendjährige Einsamkeit der Olivenbäume“ 4.

Jürgen Habermas: „Was Sie machen, Herr Luhmann, ist alles falsch, aber es hat Qualität.“ 5

Franz-Xaver Kaufmann: „Sein Schweigen über ‚letzte Fragen‘ war ein hörbares, ein Wittgenstein'sches Schweigen.“ 6

André Kieserling: „Es bereitete ihm großes Vergnügen, so hat er mir einmal gesagt, Vorträge zu halten, in denen das Wort ‚System‘ gar nicht vorkomme.“7

David Roberts: „Als ich Luhmann kennenlernte, habe ich ihm gesagt, daß ich ihn als Mystiker betrachte, worauf er entgegnete, wenn ja, dann ein rationaler.“ 8

Uwe Schimank: „Für die Umwelt bestand die Bielefelder Fakultät für Soziologie im wesentlichen nur aus dieser einen Person.“ 9

Helmut Willke: „Noch seinen alten Volvo mit Vorderradantrieb rechtfertigte er damit, daß es in Oerlinghausen ab und zu Schnee gebe.“10

1 Baecker, Dirk (1998): Guter Geist ist trocken – und Systeme sind unzuverlässig. Nachruf auf Niklas Luhmann (8.12.1927–6.11.1998). Online verfügbar unter www.spacetime-publishing.de/luhmann/baecker.htm (Zugriff am 14.06.2013).

2 Corsi, Giancarlo (1999): Ein Symbol für eine unbekannte Zukunft. In: Bardmann, Theodor M.; Baecker, Dirk (Hrsg.): Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch? Erinnerungen an Niklas Luhmann. 1. Aufl. Konstanz, S. 105-106.

3 Fuchs, Peter (1999): Niklas Luhmann – erzählt. In: Bardmann, Theodor M.; Baecker, Dirk (Hrsg.): Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch? Erinnerungen an Niklas Luhmann. 1. Aufl. Konstanz, S. 76.

4 Di Giorgi, Raffaele (1999): Niklas Luhmann – Die Zukunft des Gedächtnisses. In: Stichweh, Rudolf; Luhmann, Niklas (Hrsg.): Niklas Luhmann – Wirkungen eines Theoretikers. Gedenkcolloquium der Universität Bielefeld am 8. Dezember 1998. Veranstalter: Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Bielefeld, S. 30-31.

5 Zitiert in: Horster, Detlef; Luhmann, Niklas (2005): Niklas Luhmann. Orig.-Ausg. München, S. 191.

6 Kaufmann, Franz-Xaver (1999): Ein Wittgenstein'sches Schweigen. In: Stichweh, Rudolf; Luhmann, Niklas (Hrsg.): Niklas Luhmann – Wirkungen eines Theoretikers. Gedenkcolloquium der Universität Bielefeld am 8. Dezember 1998. Veranstalter: Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Bielefeld, S. 16.

7 Kieserling, André (1999): Wer kennt Niklas Luhmann? In: Bardmann, Theodor M.; Baecker, Dirk (Hrsg.): Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch? Erinnerungen an Niklas Luhmann. 1. Aufl. Konstanz, S. 58.

8 Roberts, David (1999): Wissenschaft und Kunst. Gedanken zur soziologischen Imagination bei Niklas Luhmann. In: Bardmann, Theodor M.; Baecker, Dirk (Hrsg.): Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch? Erinnerungen an Niklas Luhmann. 1. Aufl. Konstanz, S. 29.

9 Schimank, Uwe (1999): Ein widerspenstiger Lehrer. In: Bardmann, Theodor M.; Baecker, Dirk (Hrsg.): Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch? Erinnerungen an Niklas Luhmann. 1. Aufl. Konstanz, S. 137.

10 Willke, Helmut (1999): Zur Differenz von Schreiben und Reden und Schweigen. In: Bardmann, Theodor M.; Baecker, Dirk (Hrsg.): Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch? Erinnerungen an Niklas Luhmann. 1. Aufl. Konstanz, S. 188.

EINLEITUNG

„Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand ich mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu benennen, an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine.“11

Dies schreibt Luhmann in seinem Opus magnum ,Die Gesellschaft der Gesellschaft‘ von 1997, dem letzten zusammenhängenden Werk, und man mag diese Selbstbeschreibung als eine Brücke zwischen Leben und Werk, zwischen Person und Theorie begreifen. Der Autor der seitdem weit verbreiteten System/ Umwelt-Theorie operiert als autopoietisch geschlossenes System, der sich mit seinem Projekt einer Theorie der Gesellschaft identifiziert. Alles andere erscheint als Umwelt dazu.

Diese Einschätzung trifft die Sache aber nur halbwegs, denn weder ist der Autor Luhmann identisch mit seiner Theorie noch ist der Autor Luhmann mit sich selbst identisch. Er besteht selbst aus mehreren Systemen, die sich wechselseitig Umwelt sind, etwa das neurophysiologische System, das Bewusstseinssystem und das durch soziale Zuschreibung hervorgerufene System der Person Luhmann. Hinzu kommt, dass er – nach eigener Diktion – seine Texte weder in der einen noch anderen Form selbst verfasst hat, sondern dass sein Zettelkasten der Autor gewesen sein soll. Wobei dieses Statement auf eine weitere System/Umwelt-Differenz zurückzuführen ist, insofern der Zettelkasten als eigenes System im Gegenüber zur Umwelt der daraus resultierenden Bücher wie etwa ,Die Gesellschaft der Gesellschaft‘ anzusehen ist.

Aber nicht nur der Zettelkasten fungiert als Umwelt zum Werk Luhmanns, sondern auch seine Person.12 Hinsichtlich des Verhältnisses der Person Luhmann zu seinem Werk, die sich wechselseitig System und Umwelt sind, ist daher von struktureller Kopplung, Interpenetration oder konditionierter Koproduktion13 zu sprechen. Vielleicht haben sich die Personstruktur Luhmann und die Werkstruktur seiner Theorie dabei verschiedentlich hilfreich unter die Arme gegriffen – oder sie sind sich hin und wieder förderlich aus dem Weg gegangen.

Mit diesen Überlegungen steckt jeder Biograf Luhmanns von Anbeginn an mitten im Labyrinth der System/Umwelt-Theorie. Es scheint unmöglich zu sein, Anfang und Ende zu bestimmen, nach Subjekten und Objekten zu sortieren oder überhaupt einen umrissenen Gegenstandsbereich auszumachen. Mit anderen Worten: Es scheint auf die Systemreferenz anzukommen, innerhalb derer die folgenden Kapitel zu schreiben und zu verstehen sind.

Diese von vornherein gegebene Anlage legt eine komplexe Form der biografischen Sichtung zu Luhmann nahe. So wie die System/Umwelt-Theorie die Absicht verfolgt, Weltkomplexität zu reduzieren, um sie systembezogen steigern zu können, kann eine Biografie einzig darauf aus sein, die Komplexität ihrer Umwelt zu reduzieren, um sie systembezogen steigern zu können. In diesem Sinne kann der Lebenslauf Niklas Luhmanns in seinen Phänomenen, Fakten, Zuschreibungen, Sinnofferten usw. als komplexe Umwelt des Systems Biografie vorausgesetzt werden. Eine Biografie hat dann die Leistung zu erbringen, die unterstellte Komplexität sowohl zu reduzieren als auch zu steigern.

Zur Verdeutlichung mag als Beispiel dienen, wie die Person Luhmann durch andere wahrgenommenen wurde. Man denke dabei an eine körperlich unscheinbare Figur, die wie nebenbei eintritt, die aber, sobald sie nicht mehr nur als Wahrnehmungsgegenüber fungiert, über die Maßen präsent ist, nämlich sobald die Figur Vortragender, Redner wird. Verwirrend ist das von Luhmann über Jahre hinweg getragene, beigefarbene Sakko, weder leger noch fein, vielleicht praktisch, aber sicherlich kein Aufmerksamkeitsattraktor. Darin oder darunter wirkt der muntere Geist eines skeptischen Weltbeschauers, der anhand seiner Unterscheidungen kommunikativ Welt und Systeme konstruiert und damit Weltkomplexität zugleich reduziert und steigert.

Die Differenz von System und Umwelt (des jeweiligen Systems) hat Luhmann wiederholt als eine der vorzüglichen Unterscheidungen zum Einstieg in die von ihm gebildete Theorieform benannt.14 Es könnten wohl auch andere Unterscheidungen sein, mit denen begonnen werden könnte, so seine Meinung. Etwa die Unterscheidung von Form/Medium, von Problemlage/Problemlösung oder von Potentialität/Aktualität usw. Aber alles beginnt mit der Unterscheidung von System und Umwelt.

Die(se) Problematik des Einstiegs in die System/Umwelt-Theorie Luhmanns ist vielfach diskutiert und auch beklagt worden. Der Autor selbst sah es gelassen und empfahl, an beliebiger Stelle anzufangen, um von dorther zu bemerken, dass immer schon Vorentscheidungen getroffen und Voraussetzungen beschrieben worden sind, die der Sachlage als eine Art doppelter Kontingenz voraus gelegen haben, die aber als notwendig vorauszusetzen sind, um eine Theoriedynamik und -entwicklung überhaupt in Gang bringen zu können. Auf diesen Punkt kommen wir weiter unten unter dem Aspekt einer „selbsttragende[n] Konstruktion“15 zurück.

Da an jedem Punkt der System/Umwelt-Theorie angefangen werden kann, ist es zu vermeiden, sie bspw. als ein grandioses Gedankengebäude, als eine phänomenale Kathedrale des Geistes 16 oder als ein System im Sinne des System- bzw. Strukturfunktionalismus des frühen Parsons17 zu begreifen. Vielmehr ist die System/Umwelt-Theorie luhmannisch und das heißt: sie ist selbst funktional zu begreifen. Die Theorie hat als ein operativ geschlossenes und kognitiv offenes System die selbstbezügliche Funktion, selbstaufgeworfene Problemstellungen in einem möglichst hohen Auflöse- und Rekombinationsvermögen zu konstruieren. Dies ist aber nicht als Glasperlenspiel möglich, sondern einzig in permanenter Prüfung an der Realität, und zwar im Sinne einer Realitätsbewährung.18 Genauer betrachtet geht es dabei um die wissenschaftliche Bewährung, denn nur in diesem Modus lässt Luhmann seine Texte gelten. Wissenschaftlich bedeutet, dass die selbsterzeugten Problemlagen und die selbsterzeugten Problemlösungsvarianten unter dem Code wahr/unwahr zusammengeführt werden. Wissenschaftliche Soziologie bzw. Gesellschaftstheorie oder – wie Jürgen Habermas (* 1929) im Blick auf Luhmann formuliert hat – Weltbildtheorie 19 ist dabei allein auf sich bezogen und kommt über strukturelle Kopplungen mit anderen Systemen nicht hinaus. In dieser Verortung steckt zugleich die Paradoxie der System/Umwelt-Theorie, die als partikulare Theorie einen universalen Zugriff auf die Realität unternimmt. Für diesen Sachverhalt prägt Luhmann die Formulierung von der kontingenten Supertheorie (siehe das Kapitel ,Supertheorie‘).

Einführungen in das denkerische Werk Luhmanns gibt es in unterschiedlichen Konkretions- und Abstraktionslagen.20 Die hier vorgelegte biografische Einführung konkurriert mit keiner von ihnen, sondern richtet ihr Augenmerk auf das Biografische der Person Luhmann, um von dorther den Theorieanteil zu bemessen, der für die Beschreibung der Person hilfreich sein kann. Die biografische Einführung soll Lust machen am Leben, am Werk und an der Wirkung des vorgestellten Probanden. In diesem Sinne liegt die Betonung auf dem Leben Luhmanns, d. h. auf den zufälligen Abhängigkeiten oder Unabhängigkeiten von den sozialen Systemen seiner Zeit.

Dabei wird zweierlei deutlich werden. Zum einen: Luhmanns Leben hätte auch anders verlaufen können und, damit verknüpft, auch seine Theoriebildung hätte anders erfolgen können. Hier und dort mag es hilfreich sein, diese Potentialitäten im Hintergrund mitzuführen. Doch in erster Linie geht es um die aktualisierte Seite der Potentialitäten, also darum, was sich als Sinnkonstruktion dieses Lebens ausmachen lässt. Zum anderen: Im folgenden wird prinzipiell Abstand genommen von Spekulationen über eine (nicht erreichbare) eigentliche, wahre, geheime oder latente Person oder gar Persönlichkeit Luhmanns, wie sie hervorgeholt werden könnte oder soll, wenn man in psychologischen, physiognomischen oder gestentheoretischen Begriffen vorgeht. Was würden solche Erkenntnisse auch erbringen? Dazu ist im Kapitel ,Biografie mit Luhmann‘ einiges gesagt.

Für die hier angebotene Konstruktion der Biografie Luhmanns sind in erster Linie sekundäre Quellen herangezogen worden, da die primären Quellen wie bspw. private Notizen, Briefe, Fotos, Dokumente usw. derzeit noch kaum erschlossen und daher nahezu unzugänglich sind.21 Als primäre Quellen konnten einzig die verfügbaren Ton- und Bildmitschnitte genutzt werden, die von Rundfunk- und Fernsehaufnahmen sowie von Vorlesungen und Vorträgen vorliegen. Eine Übersicht dazu hat Klaus Dammann erstellt.22 In diese Kategorie dürften auch die schriftlich fixierten Interviews gehören, die in mindestens vier Publikationen zugänglich sind.23

Als sekundäre Quellen kamen Augenzeugen- und Erlebnisberichte in Betracht, wie sie Mitarbeiter, Soziologiekollegen, Studierende, Freunde und Feinde usw. notiert haben.24 Weitere biografische Notizen und Übersichten finden sich verstreut in den einschlägigen Einführungsbüchern und im Internet.

Schließlich wurden die wissenschaftlichen und essayistischen Schriften Luhmanns – von den kleinen Variata in Tages- und Wochenzeitungen über die Beiträge in Fachzeitschriften und Vortragstexten bis hin zu den elaborierten Aufsätzen und den monografisch vorliegenden Büchern – verwertet. Darüber gibt das Literaturverzeichnis im Anhang Auskunft.

Die Brisanz personenbezogener Texte zu Luhmann, mit der sich jeder Biograf auseinanderzusetzen hat, wird unter anderem in den Erinnerungen von Schülern, Kollegen, Freunden und Bekannten deutlich, die in der Publikation „Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?“25 greifbar sind. Der Memorialband versammelt 41 Skizzen und Impressionen zur Person Luhmanns, die in szenischen Erzählungen daherkommen. Das allen Autoren als gemeinsam zu unterstellende Verfahren beinhaltet dabei zwei gegensätzliche Intentionen bei gleichzeitigem Bezug auf ein und dieselbe Unterscheidung. Die Unterscheidung lautet Person/Werk oder, abstrakter formuliert, Bewusstseinssystem/ Kommunikationsofferten. Alle biografischen Hinweise beziehen sich also entweder überwiegend auf die Person bzw. das Bewusstseinssystem oder aber überwiegend auf das Werk bzw. die Kommunikationsofferten Luhmanns.

Dabei tendiert die eine Form der Konstruktion der Person Luhmanns dahin, die beiden Seiten der Unterscheidung von Person und Werk als von vornherein kongruent darzustellen. Theorie- und Menschengestalt stehen demnach in einer korrelativen oder kongruenten Fassung zueinander. Dafür werden Begriffe wie feinsinnig, zurückhaltend, experimentell, leise usw. verwendet, die deutlich machen sollen, dass der Mensch hinter der feinen Theorie auch ein feiner Mensch war. Hier und da blitzen Überlegungen zu einer paradoxen Konstruktion auf, die sich sowohl auf das Werk als auch auf den Autor beziehen. Die These lautet dann: So wie die System/Umwelt-Theorie von Grund auf paradox konstruiert ist, so war auch das damit gekoppelte Bewusstseinssystem paradox konstituiert. Peter Fuchs (* 1949) schreibt: „Ich hatte es mit dem Extremfall einer unglaublich arroganten Bescheidenheit oder einer unglaublich bescheidenen Arroganz zu tun. Sie bestritt die Möglichkeit irgendeiner Überlegenheit – und führte sie im selben Zuge vor.“26

Die andere Form der Konstruktion geht ebenfalls von einer Kongruenz beider Seiten aus und wehrt die von den Kritikern Luhmanns gepflegte Beschreibung seiner Person als Unperson ab. Nach Meinung der Kritiker sei von der scharfgetrimmten Theorie Luhmanns auf einen kalten Beobachter, einen Unmenschen oder Zyniker zu schließen. Demgegenüber bemühen sich die Sympathisanten um eine Korrektur. Der Mensch hinter der Theorie sei besser als seine Theorie den Anschein mache und von daher sei auch die Theorie weder kalt noch unmenschlich. Ja, gerade die als Härte gelesene Exklusion des Menschen aus dem System der Gesellschaft in deren Umwelt sei ein Beweis für die Humanität der Theorie.

Beide Konstruktionen der Person Luhmanns haben mit Paradoxien zu tun und laufen entweder darauf auf oder bemühen sich, die Paradoxien ansatzweise zu entfalten. Aber wohin? Antwortversuche darauf finden sich in den Abschnitten ,Biografie mit Luhmann‘ und ,Paradoxien einer Biografie‘.

11 Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt a. M., S. 11.

12 Vergleichbare Überlegungen stellt Wolfgang Hagen an, indem er auf das Bewusstsein Luhmanns als Umweltbedingung für Kommunikation hinweist, siehe Hagen, Wolfgang (2005): Vorwort. In: Hagen, Wolfgang; Baecker, Dirk; Luhmann, Niklas (Hrsg.): Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann. 2. Aufl. Berlin, S. 10: „Einer ‚inneren‘ Biographie oder Selbstbeschreibung als solcher fehlt die Anschlussfähigkeit“.

13 Vgl. dazu Fuchs, Peter (2001): Die Metapher des Systems. Studien zu der allgemein leitenden Frage, wie sich der Tänzer vom Tanz unterscheiden lasse. 1. Aufl. Weilerswist, S. 13 und passim.

14 Siehe etwa die Formulierung: „Das zentrale Paradigma der neueren Systemtheorie heißt ‚System und Umwelt‘. […] Der Letztbezug aller funktionalen Analysen liegt in der Differenz von System und Umwelt.“ Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt a. M., 2006, S. 242.

15 Siehe unten das Kapitel „Supertheorie“. Die Formulierung bei Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 11.

16 Vgl. u. a. die Metapher der Glaskathedrale in: Reese-Schäfer, Walter (1992): Niklas Luhmann zur Einführung. 5., erg. Aufl. Hamburg, 2005, S. 175: „Luhmanns Konstruktionen sind Glaskathedralen der Theoriearchitektur, während Habermas eher der lebensweltorientierten (ökologisch und städtebaulich nach heutigen Maßstäben durchaus vorzuziehenden) Altbausanierung zuneigt.“

17 Vgl. unten das Kapitel „Funktion und Problem“.

18 Vgl. den Abschluss seiner Überlegungen zur Gestaltung und Funktion einer Supertheorie in: Luhmann, Niklas (2008): Soziologie der Moral. In: Luhmann, Niklas; Horster, Detlef (Hrsg.): Die Moral der Gesellschaft. Orig.-Ausg., 1. Aufl. Frankfurt a. M., S. 78.

19 Dabei spricht er von einer metatheoretischen Weltbildfunktion der Systemtheorie Luhmanns, vgl. Habermas, Jürgen (2001): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. [8 Aufl.]. Frankfurt a. M., S. 443.

20 Vgl. die Einleitung zum Abschnitt ,WERK‘.

21 Die Quellenlage für eine Luhmann-Biografie ist derzeit noch sehr schmal, da der Nachlass erst nach und nach für die Forschung geöffnet wird, siehe www.uni-bielefeld.de/soz/luhmann-archiv/index.html (Zugriff am 06.11.2016). Dem war ein Erbschaftsprozess vorausgegangen, in dem der Tochter Veronika Schmidt-Luhmann auch der Zettelkasten als Nachlass zugesprochen wurde. Niklas Luhmann hatte in seinem Testament die Tochter als Alleinerbin seines Nachlasses eingesetzt. Im Erbschaftsprozess wurde der Zettelkasten als nicht zum Hausrat, der unter den drei Kindern Luhmanns aufgeteilt worden ist, sondern als zum Nachlass gehörend eingestuft. Demnach hat das Oberlandesgericht Hamm im Wege der Auslegung des Testaments festgestellt, dass die Tochter des Gelehrten Inhaberin sämtlicher mit seinem wissenschaftlichen Werk verbundenen Rechte ist, vgl. OLG Hamm, Urteil vom 29.7.2004, Aktenzeichen 10 U 132/03. Seit 2011 ist die Universität Bielfeld sowohl im Besitz des Nachlasses als auch des Zettelkastens. Derzeit ist man darum bemüht, beides sobald als möglich öffentlich zugänglich zu machen. Ein Tagebuch Luhmanns ist wohl nicht überliefert. Zudem ist bekannt, dass er eine signifikante Anzahl persönlicher Dokumente und Aufzeichnungen vernichtet hat, wie Prof. Dr. Klaus Dammann, Bielefeld, dem Verfasser am 31.03.2010 in einem Gespräch mitgeteilt hat. Dazu zählen offenbar Briefe, private Aufzeichnungen sowie amtliche und nicht-amtliche Dokumente.

22 Dammann, Klaus (1999): Luhmann sehen und hören. Eine Audio- und Videographie. In: Bardmann, Theodor M.; Baecker, Dirk (Hrsg.): Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch? Erinnerungen an Niklas Luhmann. 1. Aufl. Konstanz, S. 179-182.

23 Nämlich, chronologisch geordnet, in: Luhmann, Niklas; Baecker, Dirk (Hrsg.) (1987): Archimedes und wir. Interviews. Berlin. Hagen, Wolfgang; Baecker, Dirk; Luhmann, Niklas (Hrsg.) (2005): Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann. 2. Aufl. Berlin. Hagen, Wolfgang; Luhmann, Niklas; Baecker, Dirk (Hrsg.) (2009): Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann. Berlin. Sowie verstreut vorliegende Interviews, u. a.: Luhmann, Niklas (1992): Erfahrungen mit Universitäten. Ein Interview. In: Luhmann, Niklas (Hrsg.): Universität als Milieu. Bielefeld, S. 100-125. Und: Horster, Detlef; Luhmann, Niklas (1997): Niklas Luhmann, S. 25-47.

24 Bardmann, Theodor M.; Baecker, Dirk (Hrsg.) (1999): Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch? Erinnerungen an Niklas Luhmann. 1. Aufl. Konstanz. In diese Kategorie gehören auch die Texte des Gedenk-Kolloquiums nach dem Tod von Luhmann, siehe: Stichweh, Rudolf; Luhmann, Niklas (Hrsg.) (1999): Niklas Luhmann – Wirkungen eines Theoretikers. Gedenkcolloquium der Universität Bielefeld am 8. Dezember 1998. Veranstalter: Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Bielefeld.

25 Bardmann, Theodor M.; Baecker, Dirk (Hrsg.) (1999): Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?

26 Fuchs, Peter (1999): Niklas Luhmann – erzählt, S. 76.

Selbstbeschreibungen

„Man fragt sich nach all dem, weshalb die Placierung der Menschen in der Umwelt des Gesellschaftssystems (und erst recht: aller anderen sozialen Systeme) so ungern gesehen und so scharf abgelehnt wird. Das mag zum Teil an humanistischen Erblasten liegen; aber jede genauere Analyse dieser Tradition stößt hier auf Denkvoraussetzungen, die heute schlechterdings unakzeptabel sind. […] Im übrigen ist es nicht einzusehen, weshalb der Platz in der Umwelt des Gesellschaftssystems ein so schlechter Platz sein sollte. Ich jedenfalls würde nicht tauschen wollen. […] Das humanistische Vorurteil scheint, gerade weil es so natürlich und traditionsgesichert auftreten kann, zu den ‚obstacles épistémologiques‘ zu gehören, die den theoretischen Zugang zu einer hinreichend komplexen Beschreibung der modernen Gesellschaft blockieren – in deren Umwelt wir als Mitwirkende und Betroffene leben.“27

Luhmann hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Selbstbeschreibungen eines Systems von dessen tatsächlicher Operationsweise zu unterscheiden sind.28 Jedes psychische oder soziale System arbeitet mit Selbstbeschreibungen, die notgedrungen auswählen, verkürzen und simplifizieren (müssen), da eine kommunikative Eins-zu-eins-Abbildung der unterstellten und mitlaufenden Realität nicht möglich ist. Luhmann selbst sah sich zu einer Reihe von Selbstbeschreibungen veranlasst, insofern er sich für Interviews zur Verfügung gestellt hat. Die Dokumentation der Gespräche hat in schriftlicher, audiotechnischer und audiovisueller Form stattgefunden (s. o.).

Die Problematik seiner Selbstbeschreibungen fokussiert, so wie alle anderen Problemstellungen bei Luhmann, auf die Frage nach den passenden Unterscheidungen. Man kann dies an der Unterscheidung von Person (als sozialer Adresse) und Motivation Luhmanns, genau diese soziale Adresse zu besetzen, deutlich machen. Bei jeder Motivation – und so auch bei der Motivation, eine soziale Adresse zu besetzen – geht es immer um die Steigerung der Wahrscheinlichkeit der Koinzidenz von Selektionsangebot und Motivation, wofür in der Regel ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium einspringt. Da sich Luhmann primär im Wissenschaftssystem verortet hat und dies auch aus Sicht einer Fremdbeschreibung kaum anders eingeschätzt werden kann, führt die Überlegung zur Motivation für eine bestimmte Selbstbeschreibung auf das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Wahrheit bzw. auf die binäre Codierung von wahr/unwahr hin, das bzw. die sowohl als Selektionsprämisse als auch als Motivationsprämisse fungiert.

Im wissenschaftlichen Kontext bezeichnet sich Luhmann durchweg als Soziologen, treffender noch als Gesellschaftstheoretiker. In der Zuschreibung „Gesellschaftstheoretiker“ 29 kommen die beiden wissenschaftlichen Fragestellungen zusammen, die er als die ihn leitenden angibt. Dies ist zum einen die Frage, wie die gegenwärtige moderne Gesellschaft am besten zu beschreiben ist, und zum anderen die Anforderung, wie man die Frage ,Wer ist der Beobachter?‘ sinnvoll auflösen kann.30 Die Beschreibung der Gesellschaft ist selbst Vollzug von Gesellschaft, sodass sich der Beobachter stets mit beschreiben muss bzw. die Beschreibung der Gesellschaft so fassen muss, dass der Beobachter selbst als Gegenstand in seiner Theorie wieder vor kommt. Eine Gesellschaftstheorie hat also den re-entry (siehe das Kapitel ,Der Operator‘) der Unterscheidung von Beobachter und Gesellschaft in die Gesellschaftsbeobachtung zu vollziehen.

Mit der doppelten Fragestellung nach der Gesellschaft und nach dem Beobachter gewinnt die Selbstbeschreibung ,Gesellschaftstheoretiker‘ ihren genauen Sinn. Luhmann verfasst eine Theorie, die im Sinne alteuropäischer Ansprüche als umfassende Theorie auftritt. Zugleich versteht sich seine Theorie als kontingenter Gegenstand ihrer selbst.31 Damit sind soziologisch-empirische Gegebenheiten – wie z. B. eine Gesellschaftstheorie – dahingehend relativiert, dass sie genau das erfassen und messen, was sie erfassen und messen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sie auch andere Aspekte thematisieren oder gegenteilige Untersuchungen anstellen könnten.32 Die auf diese Weise selbstimplikativ gebaute Gesellschaftstheorie Luhmanns tendiert von daher zur Universalisierung.

„Die Theorie wendet die Einsichten, die sie über Gegenstände erzeugt, autologisch im Rückschluss auf sich selber wieder an. Darin steckt eine Form der Universalität, nämlich das Verbot der Selbstexemption. Man darf sich nicht selber aus einer Theorie herauskatapultieren.“33

Um beides, den Anspruch an eine universalistische Theorie als auch an eine beobachtbare Gesellschaft, einlösen zu können, hält Luhmann daran fest, dass dies einzig experimentell34 möglich ist. Eine Gesellschaftstheorie diesen Ausmasses ist stets tentativ, sie testet Unterscheidungen und Unterscheidungen von Unterscheidungen, um tatsächlich eine Theorie der Gesellschaft zustande zu bringen. Die Idee des Experimentierens leiht sich Luhmann aus den Naturwissenschaften, die ebenso verfahren müssen, oder aus den angewandten Wissenschaften wie etwa der Medizin, bei der Medikamente probehalber verabreicht werden, um Folgen und Nebenfolgen beobachten zu können.35

„Während für das aristotelische Denken gerade der natürliche Kontext die Dinge und Ereignisse in Ordnung hielt, geht es jetzt – nur so kann man experimentieren – um möglichst kontextfreie Variation unter kontrollierbaren Bedingungen. Das ermöglicht im Zuge verstärkter Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Forschung eine größere Distanz zu den Phänomenen und zugleich die Vereinheitlichung ihres Gegenstandsbereichs unter abstrakteren Leitgesichtspunkten.“36

Aufgrund des experimentellen Charakters von Luhmanns Gesellschaftstheorie bleibt schließlich die Erkenntnis: „Die Theorie ist nicht die Gesellschaft.“37 Allerdings würde eine Abstinenz von experimenteller Theorie die Gesellschaft ebenso wenig erreichen wie die Theorie. Im Gegenteil: Der Sinn einer adäquaten Gesellschaftstheorie liegt darin, „dass die Theorie etwas leistet: ein besseres, komplexeres Verständnis der modernen Welt“38.

In Kombination mit der Selbstzuschreibung Luhmanns als Wissenschaftler haben manche Interviewer dem Interviewten auch Bemerkungen über persönliche Charaktermomente entlocken können. Auf die Frage nach einer seiner vorherrschenden Eigenschaften hinsichtlich der Berührungsfläche zwischen Wissenschaft und Bewusstseinssystem: „Was würden Sie als eine Ihrer Haupteigenschaften bezeichnen? Neugier?“ lautete seine Antwort: „Bockigkeit.“39

Sowohl die auf die Theorie als auch auf die Person Luhmanns bezogenen Selbstzuschreibungen ließen sich nun für eine Biografie linear übernehmen oder umschreiben. Aber: Trifft das mit der Bockigkeit zu? Und mit welcher Art Bockigkeit und inwiefern? Bei den auf die Person gemünzten Zuschreibungen bleibt in jedem Fall ein „so oder auch anders“ 40 möglich. Luhmann könnte es ernst gemeint oder aber sich selbstironisch gegeben haben, wie er an anderer Stelle formuliert.41

Einem Biografen bleibt für seine Beschreibung genau das übrig, was Luhmann für seine Gesellschaftsbeschreibung umgesetzt hat. Es sind hier wie dort die Unterscheidungen zu benennen und zu klären, mit denen beobachtet wird, um dann selbstrekursiv eine Antwort auf die Frage geben zu können: Wer ist der Beobachter? Eine Biografie wird demnach das von Luhmann und seiner Theorie sehen, was sie gemäß ihrer Unterscheidungen sieht – und nichts anderes.

27 Luhmann, Niklas (2008): Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen. In: Luhmann, Niklas (Hrsg.): Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. 3. Aufl. Wiesbaden, S. 159. Zum Ausdruck ‚obstacles épistémologiques‘ dort Anm. 26: „Dieser Begriff genau nach Gaston Bachelard, La formation de l’esprit scientifique: Contribution à une Psychanalyse de la connaissance objective, Paris (1938) 1947, S. 13 ff.“.

28 Vgl. exemplarisch: Luhmann, Niklas (2008): Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme. In: Luhmann, Niklas (Hrsg.): Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. 3. Aufl. Wiesbaden, S. 34-37, sowie: Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 879-893.

29 Vgl. Luhmann, Niklas (2005): Es gibt keine Biografie. Niklas Luhmann im Radiogespräch mit Wolfgang Hagen. In: Wolfgang Hagen, Dirk Baecker und Niklas Luhmann (Hrsg.): Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann. 2. Aufl. Berlin, S. 37.

30 „Wenn nun die soziologische Theorie radikal auf ein Beobachtungsverhältnis zweiter Ordnung umgestellt wird und damit ihre eigene Sozialität reflektiert, verschwindet der alte ontologische (seinsbezogene) Begriff der Latenz. Die Unterscheidung selbst von latent und manifest scheint ihre ihre Möglichkeiten erschöpft zu haben. Latenzen werden in Kontingenzen transformiert. Deshalb muß auch jede erste Unterscheidung als kontingent begriffen werden.“ Luhmann, Niklas (1993): „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“. Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie. Unter Mitarbeit von Gerhard Trott. Bielefeld, S. 23.

31 Vgl. Luhmann, Niklas (2008): Soziologie der Moral, S. 59 ff., insbesondere S. 63. Siehe auch Horster, Detlef; Luhmann, Niklas (1997): Niklas Luhmann, S. 46: „Ja, doch, die Systemtheorie ist auf alle Fälle ein kontingentes Unternehmen. Sie tritt nicht mit dem Anspruch auf, einzig richtig zu sein, obwohl sie universell konzipiert ist. Sie soll für alles zuständig sein, was in der Gesellschaft passiert, aber sie ist nicht notwendigerweise die einzig richtige Konzeption. Das hat ja auch mit der Fundierung in Paradoxien zu tun.“

32 Vgl. Luhmann, Niklas (2005): Die Wissenschaft der Gesellschaft. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt a. M., S. 369 f.

33 Luhmann, Niklas (2009): „Unsere Zukunft hängt von Entscheidungen ab“. Niklas Luhmann im Interview mit Rudolf Maresch. In: Hagen, Wolfgang; Luhmann, Niklas; Baecker, Dirk (Hrsg.): Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann. Berlin, S. 43-44.

34 „Ein experimentelles Verhalten ist grundlegend für mein Denken“, in: Luhmann, Niklas (1987): Biographie, Attitüden, Zettelkasten. In: Luhmann, Niklas; Baecker, Dirk (Hrsg.): Archimedes und wir. Interviews. Berlin, S. 125-155, dort S. 128.

35 Vgl. Luhmann, Niklas (2009): „That´s not my problem“. Niklas Luhmann im Interview mit Klaus Taschwer. In: Hagen, Wolfgang; Luhmann, Niklas; Baecker, Dirk (Hrsg.): Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann. Berlin, S. 23: „Zum Teil muß auch die Medizin heute so vorgehen, dass sie also nicht genau weiß, woran es liegt, und man irgendetwas verschreibt. Und wenn das nichts nützt, dann hat das diagnostische Effekte.“

36 Luhmann, Niklas (1993): Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive. In: Luhmann, Niklas (Hrsg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 2. Frankfurt a. M., S. 17 f.

37 Luhmann, Niklas (2009): „Unsere Zukunft hängt von Entscheidungen ab“, S. 40. Siehe auch seine Unterscheidung von (Makro-)Soziologie und Gesellschaftstheorie in: Luhmann, Niklas (2005): Es gibt keine Biografie, S. 37.

38 Luhmann, Niklas (2005): Es gibt keine Biografie, S. 45-46.

39 Luhmann, Niklas (2005): Vorsicht vor zu raschem Verstehen. Niklas Luhmann im Fernsehgespräch mit Alexander Kluge. In: Hagen, Wolfgang; Baecker, Dirk; Luhmann, Niklas (Hrsg.): Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann. 2. Aufl. Berlin, S. 77.

40 „Die funktionale Analyse benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen. Sie bezieht Gegebenes, seien es Zustände, seien es Ereignisse, auf Problemgesichtspunkte, und sucht verständlich und nachvollziehbar zu machen, daß das Problem so oder auch anders gelöst werden kann.“ Luhmann, Niklas (1999): Die Behandlung von Irritationen: Abweichung oder Neuheit? In: Niklas Luhmann (Hrsg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 4. 1. Aufl. Frankfurt a. M., S. 83 f.

41 „Mein Stil ist ja auch ironisch, um das genau zu markieren. Ich will damit sagen, nehmt mich bitte nicht zu ernst oder versteht mich bitte nicht zu schnell.“ Horster, Detlef; Luhmann, Niklas (1997): Niklas Luhmann, S. 46.

Biografie mit Luhmann

„Eine Biographie ist eine Sammlung von Zufällen, das Kontinuierliche besteht in der Sensibilität für Zufälle. Insofern kann man auch bezüglich meiner Biographie von einer Kette von Zufällen sprechen: der politische Umbruch 1945, den ich mit offenen Augen erlebte; das Jurastudium, in dem man eine Reihe von Organisations-Tricks lernte und zugleich eine Art Augenmaß“.42

Luhmanns schriftliche Diktion quer und längs durch sein Werk ist für ihre begriffliche Genauigkeit bekannt. Schon manche Leser haben sich dadurch dazu verleiten lassen, dem Autor Luhmann eine unterkühlte oder arrogante Art zu unterstellen, andere haben daran mit hohem Eifer ihre eigenen sprachlichen Ansprüche und Aussprüche geschärft. Daher ist in einer Biografie wie dieser ein Abschnitt darüber notwendig, wovon hier genau die Rede sein wird – ohne allerdings der Präzision und Dichte der Formulierungen Luhmanns auch nur im entferntesten nahe kommen zu können.

In der Regel handeln Biografien von Menschen, von Personen, von Individuen oder Subjekten sowie deren Lebensläufen. Aber was genau ist damit jeweils gesagt? Wie lautet die Systemreferenz 43, so würde Luhmann fragen, innerhalb derer der eine oder andere Begriff seine Bedeutung erhält? Im Vorgriff auf spätere Erläuterungen ist daher bereits an dieser Stelle auf die Anwendung des Kalküls bzw. Operators von Georg Spencer-Brown (1923–2016) hinzuweisen. Von dorther ergibt sich die Bedeutung eines Begriffs aus der „distinction“ und aus der „indication“, die mit jeder Begriffsbestimmung einhergehen. Darauf ist weiter unten detailliert einzugehen.44

Für die im soziologischen Interesse verwendeten Begriffe für einzelne humane Lebewesen kommen hier zumindest die Worte Mensch, Person, Rolle, Individuum, Bewusstsein – und auch Subjekt in Betracht.45 Der entscheidende Punkt dabei ist, dass derlei Begriffe als Einheit einer Differenz begriffen werden müssen. Sie verdecken, als (gegenständlich verstandene) Einheit (indication) genommen, immer eine darin implizierte Differenz (distinction) und sind dadurch notwendigerweise paradox konstruiert. Eine Biografie unterliegt demnach von Beginn an einer Paradoxie, wenn und insofern sie ein Lebenswerk auf eine Person oder ein Bewusstseinssystem zurechnet. Genau genommen liegt hier eine doppelte Paradoxie vor, da auch die andere Seite, das Lebenswerk, ausschließlich als paradoxe Einheit einer Differenz zu konstruieren ist. Die damit verbundenen Problemlagen sind verschiedentlich ansatzweise erörtert worden und sollen an dieser Stelle ausführlicher behandelt werden.46

Die Frage, die sich im Rahmen einer Biografie über Niklas Luhmann in Bezug auf die System/Umwelt-Theorie eines Niklas Luhmann bezieht, lautet daher zunächst: Ist derselbe ein anderer? Wie stimmen Person (oder Bewusstseinssystem) und Werk überein? Inwiefern differieren sie? Luhmann behandelt diese Art Fragen unter Begriffen wie Attribution oder Zurechnung, Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung, Medium und Form usw. Kurz: Im Effekt tendieren Fragen nach dem wahren und wirklichen Zusammenhang der Person Luhmann und dem Textwerk Luhmanns auf eine bestimmte erkenntnistheoretische und ontologische Fundierung hin. Es soll sozusagen eine richtige, im Sinne einer wahren oder (einzig) realitätsgerechten Darstellung des Lebens inklusive der Leistungen Luhmanns erreicht werden. Ein solcher Ansatz geht auf ontologische Vorstellungen zurück, die auf Abbildtheorien der Erkenntnis basieren, die also davon ausgehen, dass es eine wie auch immer modellierte oder modellierbare Eins-zu-eins-Korrelation zwischen einer vorgegebenen realen Realität und einer vorgestellten mentalen Realität gibt. Nichts anderes ist es, was Luhmann längs und quer durch seine System/Umwelt-Theorie zu vermeiden und dann auch auf neue Füße zu stellen beabsichtigt. Seiner Auffassung nach gibt es die Realität, die innerhalb seines Theoriegefüges selbst als differenzloser Begriff gegeben ist, nur dann und nur insofern als sie nicht in der Erkenntnis verdoppelt, sondern in anderer Form konstruiert wird. Sein daraus resultierendes Votum für einen operativen Konstruktivismus wird weiter unten im Kapitel ,De-Ontologisierung