Systemtheoretische Beobachtungen III - Eberhard Blanke - E-Book

Systemtheoretische Beobachtungen III E-Book

Eberhard Blanke

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Beschreibung

Beiträge zum Verhältnis von Theologie und Systemtheorie.

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Inhalt

Einführung

Buchdruck und Reformation

Öffentliche Religion I

Öffentliche Religion II

Öffentliche Religion III

Religion und (Massen-) Medien

Public Relations von Nonprofit-Organisationen

Christliche Kommunikationskampagnen

Kommunikationskampagnen Ein makrotheoretischer Zugang

„… um des Menschen willen – Zeit für Freiräume 2019“

Wie Beratung möglich ist

Das zwölfte Kamel

Selbststeuerung durch Selbstbeschreibung

Qualitätsentwicklung in der Kirche – quo vadis?

Einführung

Der hier vorgelegte Band ,Systemtheoretische Beobachtungen III‘ schließt an die beiden vorangegangenen Sammelbände zum Verhältnis von Systemtheorie und Theologie an.1 Dabei liegt der thematische Schwerpunkt nun im Bereich organisationsbezogener Kommunikation.

Der Beitrag unter dem Titel ,Buchdruck und Reformation‘ unternimmt den Versuch, den gesellschaftlichen Wandel in der Zeit zwischen 1450 und 1550 anhand der Unterscheidung von Medium und Form neu zu beschreiben. Dieser zunächst sehr eng gefasste Zugriff fördert im Verlauf der Beschreibung einige weitreichende Folgerungen zutage. Im Ergebnis können der Buchdruck und die Reformation als Doppelgespann eines strukturellen Medienwechsels und eines semantischen Epochenwechsel begriffen werden.

Es schließen sich drei Texte zum Thema ,Öffentliche Religion‘ an, die sich auf den gegenwärtigen Diskurs beziehen, der zumeist unter der Überschrift ,Öffentliche Theologie‘ steht. Die Wahl des Begriffs ,Religion‘ soll anzeigen, dass es um die als religiös beobachtbare Kommunikation der Gesellschaft geht. In diesem Sinne wird zudem der Begriff der ,Öffentlichkeit‘ neu justiert, indem er nicht länger handlungstheoretisch, sondern kommunikations- und unterscheidungstheoretisch als Beobachtbarkeit definiert wird.

Nach einer allgemeinen Verortung religiöser Kommunikation im Bezug auf deren mediale Anbindung unter dem Titel ,Religion und Medien‘ folgen zwei Beiträge zur Kampagnenforschung. Der erste Text ,Kommunikationskampagnen: Ein makrotheoretischer Zugang‘ diskutiert die gesellschaftliche Relevanz von Kampagnen, der zweite Beitrag thematisiert das Projekt ,Freiräume 2019‘ der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers.

Die abschließenden drei Texte nehmen unter den Stichworten Beratung, Steuerung und Qualitätsentwicklung organisationsbezogene Themen in den Blick.

Die Mehrzahl der Beiträge ist hier zum ersten Mal abgedruckt. Insofern ein Beitrag bereits an anderer Stelle publiziert worden ist, ist dies entsprechend vermerkt.

1 Siehe Blanke, Eberhard (2017): Systemtheoretische Beobachtungen I. Norderstedt; sowie Blanke, Eberhard (2018): Systemtheoretische Beobachtungen II. Norderstedt.

Buchdruck und Reformation

Ein Medien- und Epochenwechsel

1. Hinführung

Wir nehmen im folgenden eine Neubeschreibung des Miteinanders von Buchdruck und Reformation vor.2 Unsere Neubeschreibung ist – wie alle anderen Beschreibungen der Reformation auch – eine Form der Wiederbeschreibung oder Redescription3, die sich dazu auf bestimmte Unterscheidungen stützt. Wir gehen in unserer Beschreibung von der leitenden Unterscheidung von Medium und Form aus und schließen daran weitere, aus dieser Leitunterscheidung entwickelte Unterscheidungen an, um einen gewissen Grad an Komplexität unserer Neubeschreibung erreichen zu können.

Die mitlaufende These lautet, dass Medienwechsel und Epochenwechsel einander bedingen. Insofern kann jeder Epochenwechsel als Medienwechsel und umgekehrt jeder Medienwechsel als Epochenwechsel konzipiert werden.4 Wir wählen den Einstieg bei der Beschreibung des Medienwechsels, um daraus einen Epochenwechsel abzuleiten. Ein Medienwechsel ist zu konstatieren, soviel ist vorab festzuhalten, wenn und insoweit sich die Unterscheidung von Medium/Form im Hinblick auf die durch diese Unterscheidung konstituierten Elemente ändert. Und genau dies lässt sich anhand des Buchdrucks und der damit verbundenen Reformation zeigen.

Buchdruck und Reformation sind, als Abbreviaturen für die Beschreibung eines Medien- und Epochenwechsels, geradezu synonym geworden. Wir führen dies darauf zurück, dass sich in der Zeit zwischen 1450 und 1550 eine neue Weise der Unterscheidung von Medium und Form durchgesetzt und stabilisiert hat, die beide Entwicklungen zusammenbindet. Wir ordnen den Begriffen Buchdruck und Reformation daher die Unterscheidung von Struktur und Semantik zu. Der Buchdruck ist das Kennzeichen historischer Strukturveränderungen, die Reformation dagegen das Kennzeichen der damit verbundenen historischen Veränderungen (in) der Semantik.5

Zunächst erläutern wir die Unterscheidung von Medium und Form, um eine Basis für die anschließenden Überlegungen zu haben. Sodann modellieren wir mit Hilfe der Medium/Form-Unterscheidung Begriffe wie Kommunikationsmedien, Verbreitungsmedien, Massenmedien sowie symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bzw. Erfolgsmedien. Parallel dazu nehmen wir den Medien- und Epochenwechsel mit der Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein in den Blick. Ein Ausblick führt die Unterscheidung von Medium und Form mit dem momentan erfolgenden Medien- und Epochenwechsel unter dem Stichwort Computer bzw. Digitalisierung zusammen.

2. Die Unterscheidung von Medium und Form

2.1 Wir setzen die Unterscheidung von Medium/Form6 (oder: Form/ Medium, je nach Bedarf und Kontext) als universal anwendbar voraus: ,Alles‘ kann mit ihr beobachtet werden, genauso wie beispielsweise mit den Unterscheidungen Operation/Beobachtung, System/ Umwelt oder Struktur/Semantik. Da die Unterscheidung Medium/ Form selbstimplikativ auftritt, also selbst eine Form darstellt7, notieren wir im folgenden zumeist Form/Medium, insofern die linke Seite der Unterscheidung als die operativ anschlussfähige Seite gelten soll.

2.2 Unterscheidungen wie Form/Medium notieren wir, indem wir die Begriffe durch einen Schrägstrich (solidus) trennen bzw. verbinden. Solche Unterscheidungen können auch in sich selbst verschachtelt sein, etwa durch den (Wieder-) Eintritt bzw. den re-entry8 einer Unterscheidung auf einer ihrer beiden Seiten. Zur Darstellung des reentry nutzen wir einen doppelten Schrägstrich, sodass der Wiedereintritt der Unterscheidung Form/Medium auf der Seite Form in der Schreibweise Form/Medium//Medium dargestellt wird. Im Falle eines re-entry der Unterscheidung Medium/Form in sich selbst würde die Schreibweise Medium/Form//Form lauten.

2.3 Im Unterschied zu anderen Unterscheidungen liegt die Besonderheit der Unterscheidung von Form/Medium darin, dass sie gewinnbringend auf sich selbst angewendet werden kann, ja vermutlich erst dadurch ihre besondere Bedeutung erhält. Wir nennen eine solche Form autologisch.9 Die Autologie der Unterscheidung von Form/ Medium besticht dadurch, dass der re-entry auf jeder der beiden Seiten endlos angewandt werden kann. Mit anderen Worten: Jedes Medium einer Form/Medium-Unterscheidung kann selbst zur Form gegenüber einem anderen Medium werden und jede Form einer Form/ Medium-Unterscheidung kann selbst zum Medium einer anderen Form werden.

2.4 Ein einfaches Beispiel für die in beide Richtungen verschiebbare bzw. verschachtelbare Unterscheidung Form/Medium lässt sich für das Medium Sprache beibringen. Im Medium der Sprache treten Formen auf, die ihrerseits zu Medien für weitere, andere Formen werden können. Dies ergibt, nun erneut in der Schreibweise Medium/ Form notiert, folgende Unterscheidungen: Buchstabe/Silbe, Silbe/ Wort, Wort/Satz, Satz/Text usw. In der anderen Richtung würde sich aufgrund der Schreibweise Form/Medium folgende Reihe ergeben: Silbe/Buchstabe, Buchstabe/Zeichenvorrat, Zeichenvorrat/Linie, Linie/Punkt usw. Insofern verknüpfen Medien zwei Endloshorizonte miteinander.10

2.5 Die beiden Seiten der Unterscheidung von Form/Medium sind durch die Einheit ihrer Elemente und zugleich durch die Unterscheidung der Relationierung ihrer Elemente aufeinander bezogen.11 Man könnte auch sagen, dass die Unterscheidung Form/Medium und die Unterscheidung Element/Relation senkrecht bzw. orthogonal zueinander stehen. Dies bedeutet zum einen, dass die Unterscheidung Element/Relation auf jeder Seite der Unterscheidung Form/Medium angewandt werden kann, und zum anderen, dass beide Unterscheidungen einander nicht substituieren können.

2.6 Formen stellen strikte Kopplungen von Elementen, Medien dagegen lose Kopplungen von Elementen dar. Die jeweiligen Elemente entstehen im Gebrauch ihrer Kopplung oder Entkopplung, also im Moment der Formbildung in einem Medium. Aufgrund der strikten Kopplung von Elementen sind Formen starr und kurzlebig, aufgrund der losen Kopplung von Elementen ist das Medium fluide und dauerhaft. Medien sind ausschließlich in Formen bzw. Formbildungen beobachtbar, die das jeweilige Medium aufgrund ihrer permanenten Kopplung und Entkopplung von Elementen regenerieren. Das Medium selbst ist nicht beobachtbar. Formen sind manifest, Medien bleiben latent.

2.7 Die Unterscheidung Form/Medium ist ausschließlich systembezogen und damit systemrelativ zu verstehen.12 Dies gilt insbesondere für die Elemente, die durch die Unterscheidung von Form/Medium im Bezug auf ein (Sinn-) System konstituiert werden.13 Wir werden im folgenden vor allem die Systemreferenzen Bewusstsein, Kommunikation und (das damals im Entstehend begriffene Funktionssystem der) Massenmedien in Anspruch nehmen und quasi im Hintergrund mitlaufen lassen, ohne im Detail darauf einzugehen. Es ist aber festzuhalten, dass sich die Unterscheidung Form/Medium in zwei unterschiedlichen Weisen auf Systeme beziehen kann: entweder referiert sie auf ein- und dasselbe System und kann innerhalb dessen in beide Richtungen verschoben werden – wir hatten dies unter 2.4 im Blick auf Sprache exemplifiziert –, oder aber sie bezieht sich auf unterschiedliche Systeme. Im ersten Fall bleiben die Elemente gleich, aber die Form/Medium-Unterscheidung ändert sich (siehe 2.3). Im zweiten Fall bleibt die Form-Medium-Unterscheidung gleich, aber die Elemente unterscheiden sich und gewinnen je nach Systemreferenz eine andere Bedeutung bzw. einen anderen Sinn. So ,sind‘ Buchstaben oder Silben für Wahrnehmung etwas anderes als für Kommunikation.

3. Kommunikationsmedien

Über die Bedeutung der an dieser Stelle interessierenden Kommunikationsmedien Sprache und Schrift ist ausführlich geschrieben (!) worden.14 Im Sinne unserer leitenden Unterscheidung von Form/Medium sind an dieser Stelle aber vier Aspekte zu verstärken.

Erstens sind Formen und Medien der Wahrnehmung und Formen und Medien der Kommunikation zu unterscheiden. Wahrnehmungsmedien sind etwa Luft oder Licht, Kommunikationsmedien etwa Töne oder Zeichen. Kommunikationsmedien sind also Formen in Wahrnehmungsmedien und stellen ihrerseits Medien für Formen dar, die wiederum Medien, z. B. Verbreitungsmedien, werden können. Töne benötigen Luft und Zeichen benötigen Licht.

Wir können an dieser Stelle auch die bereits oben eingeführte Verschiebung der Form/Medium-Unterscheidung in der Richtung von Medien auf Formen, die erneut Medien für andere Formen werden können, anwenden, sodass wir die Formel erhalten: Wahrnehmungsmedien bilden Formen aus, die als Kommunikationsmedien verwendet werden können, und umgekehrt: Kommunikationsmedien sind Formen im Medium (oder: in Medien) der Wahrnehmung. Zugleich gilt, dass Kommunikationsmedien Formen erzeugen können, die zu Verbreitungsmedien werden, etwa wenn aus Texten Bücher werden.

Zweitens scheint es für die mediale Evolution, die sich zwischen 1450 und 1550 abspielt, entscheidend gewesen zu sein, dass das Kommunikationsmedium Schrift auf Alphabete (insbesondere lateinische Buchstaben) zurückgreifen konnte. Frühere Versuche des Buchdrucks vor allem im asiatischen Raum kamen aufgrund der dort üblichen Silben- oder Wortschriften zu keinen vergleichbaren Auflöse- und Rekombinationsmöglichkeiten.15 Kurz: Die Erfindung des Buchdrucks kann in erster Linie auf diese vorgeschaltete Form/Medium-Unterscheidung von Buchstabe/Schrift zurückgeführt werden. Es ist folglich genau dieses Auflösungsniveau von Schrift in Buchstaben – und nicht etwa eine gröbere Auflösung in Silben oder eine feinere Auflösung in Punkten bzw. dots –, das als conditio sine qua non des Buchdrucks gelten kann.

Drittens ist davon auszugehen, dass die Neujustierung von Form/ Medien-Unterscheidungen durch weitere begleitende und unterstützende Aspekte verstärkt wurde. Mit anderen Worten: Es haben mehrere Medienwechsel zeitgleich stattgefunden und damit erst das zuwege gebracht, was wir herkömmlicherweise in den Begriffen Buchdruck und Reformation zusammenfassen. Dazu gehört eine historisch teils neue, teils erneuerte Handhabung der Unterscheidung von Medium und Form im Hinblick auf (technische) Medien wie Papier, Druckfarbe, Bleilettern und Druckerpresse, sodann das Erfolgsmedium (siehe →.) Geld für hochsummige Investitionen (,finanzielle Vorlage‘, daher später ,Verlag‘), das Erfolgsmedium Macht (Landesherren versus klerikale Kontrolle), das Medium der Öffentlichkeit in Formen der Beobachtbarkeit (siehe →.) sowie das Medium Neuheit im Sinne von Informiertheit (siehe ebenfalls 5.), dessen historisches Auftreten sich u. a. mit der Entdeckung Amerikas 1495 verbindet.

Erst dieses historisch kontingente Zusammenspiel mehrerer Medienwechsel im Sinne neuer Elemente in unterschiedlichen (gesellschaftlichen) Sinnhorizonten, die sich (dann) in einer jeweils spezifischen Form/Medium-Einheit zusammenfinden, lässt es als sinnvoll erscheinen, vom Medienwechsel des 15. und 16. Jahrhunderts als Epochenwechsel zu sprechen.

Viertens justieren der Buchdruck und sodann die Reformation das Verhältnis von mündlicher Sprache und schriftlichen Texten neu. Im Effekt kommt es dabei nicht zu einem Nullsummenspiel16, bei dem die mündliche Kommunikation verliert und die schriftliche gewinnt, sondern es kommt, vermutlich erstmalig in der Historie, zu einer Steigerung auf beiden Seiten. Die Formel kann lauten: je mehr schriftliche Kommunikation, desto mehr mündliche Kommunikation, je mehr Bücher, desto mehr Gespräche – und umgekehrt.

In der Epoche zuvor hatte sicherlich die mündliche Kommunikation die Oberhand. Das, was in Manuskripten schriftlich vorlag, hing am Tropf der Interaktionen. Die mündliche Kommunikation gab den Kontext für die schriftlichen Texte ab. In der nun anbrechenden Epoche scheint es zunächst umgekehrt zu sein, dass die Texte den Kontext für die Gespräche abgeben, doch bald wird deutlich, dass mündliche und schriftliche Kommunikation nahezu inkompatibel auseinander driften. Beide Medien etablieren und stabilisieren ihre eigenen Formen. Es entstehen zwei voneinander unterscheidbare Form/Medium-Kontinua. So ist es faktisch unmöglich, mündliche Kommunikation eins-zu-eins in schriftliche Kommunikation zu überführen.17

Das Auseinandertreten von mündlicher und schriftlicher bzw. gedruckter Kommunikation lässt sich beispielhaft und in erweitertem Sinne an den reformatorischen Predigten aufweisen. Die vielen mündlich gehaltenen Predigten gehen vermehrt in schriftlich-gedruckte Formen über, doch bindet dies Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht enger aneinander, sondern setzt vielmehr eigenwillige Anschlüsse auf beiden Seiten frei.18

Für die schriftliche Kommunikation und deren Vollendung im Buchdruck kommt es damit zu folgendem Wandel: In der mündlichen Epoche wurden Manuskripte angefertigt, um festzuhalten, was gesagt wurde, bis hin zur Sage Gottes, insofern die heilige Schrift als Diktat verstanden wurde19; in der Epoche des Buchdrucks dagegen wird über das gesprochen, was geschrieben steht, und da mehr (als früher) geschrieben steht, wird auch mehr gesprochen.20 Man kann darin einen Vorgriff auf die spätere Durchsetzung der Massenmedien sehen, die dann als Auslöser und Garanten für Interaktionen stehen und genau dafür die von ihnen (real) konstruierte Hintergrundrealität bereithalten. Mit anderen Worten: Interaktionen referieren auf Themen und Schemata zunächst der gedruckten Bücher, später auf Themen und Schemata der Massenmedien als eines gesellschaftlichen Funktionssystems.

Im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Wahrnehmungsund Kommunikationsmedien ist an dieser Stelle ein kurzer Exkurs einzuschieben. Er betrifft das Verhältnis von Schrift bzw. Buchdruck und Bild zueinander. Die gedruckte Schrift, die sich als Kommunikationsmedium durchsetzt und fortsetzt, tritt in Konflikt zu Bildern, die genau als solche wahrgenommen werden, denn Bilder können zwar zu Themen der Kommunikation werden, aber nicht selbst als Kommunikation funktionieren.21 Mittels Büchern und Bildern konkurrieren – jedenfalls aus Sicht der Schrift- und Buchvertreter – zwei Medien und ihre Formen gegeneinander, und zwar weil Bilder keine Ja/ Nein-Bifurkationen ermöglichen, um die es dann in den kommunikativen Sinnformen der Reformatoren geht. So erklärt sich der Bildersturm u. a. aus dem Widerstreit von Wahrnehmungs- und Kommunikationsmedien und damit aus dem (beobachtbaren) Auseinandertreten der Systemreferenzen von Bewusstsein und Kommunikation (siehe 4.4).22

4. Verbreitungsmedien

Mit dem Buchdruck entstehen Bücher. Dieser um 1450 entstehende Medienwechsel wird möglich durch die Konzeptualisierung, Herstellung und Verwendung von Bleilettern. Die technischen Einzelheiten sind gut nachvollziehbar und vielfach beschrieben worden.23 Die Besonderheit bei der Erfindung eines neuen Mediums – wie es nun in Form der Bleilettern verfügbar wird – liegt darin, dass es nicht auf eine (sozusagen ontologisch) festgelegte Art und Weise (Qualität) oder Anzahl (Quantität) der Elemente ankommt, die das Medium und die darin möglichen Formen definieren. Das heißt, die Art und Weise sowie die Anzahl der Elemente entstehen erst im Gebrauch.24 So wurde mit unterschiedlichen Herstellungsschritten und unterschiedlichen Materialien (hier erneut: also mit vorgeschalteten Medien) experimentiert, bis sich ein zufriedenstellendes Ergebnis eingestellt hatte. Zudem wurden die Elemente sowohl in der Frühzeit als auch in den folgenden Jahrhunderten hinsichtlich ihrer Materialität (oder eher: ihrer Medialität) vielfach variiert. Im Blick auf die Anzahl der Elemente ging man zunächst, der Anzahl der Buchstaben des Alphabets entsprechend, von idealerweise (oder eher: abstrakterweise) 26 Lettern aus.

Doch zum einen ist die Anzahl der Buchstaben im Alphabet historisch nicht ein-für-allemal festgelegt und zum anderen benötigt man zumindest Klein- und Großbuchstaben, eventuell Umlaute und Ligaturen, Satzzeichen und Abbreviaturen usw. Gutenberg hatte für die 42-zeilige Bibel rund 290 Lettern hergestellt25, später ist die Anzahl wieder zurückgefahren worden, da man u. a. auf platzsparende Ligaturen verzichten konnte. Hinzu kommt die Frage der Art und Weise der Typografie, die sich nach den Anfängen mit der Textura und der Gothico-Antiqua bald vervielfacht hat. Man sieht also, dass die Elemente des Mediums Buchdruck im permanenten Wechselspiel mit den Formanforderungen variieren. Die Formen und das Medium der Lettern bedingen sich gegenseitig. In diesem Wechselspiel von Medium und Formen mit den variablen Elementen der Lettern kommt es maßgeblich darauf an zu erkennen, dass andere bzw. neue Elemente andere bzw. neue Medien und damit andere bzw. neue Formen hervorbringen. Bei der Einheit der Unterscheidung von Form(en) und Medium handelt es sich um eine dynamische, in sich rekursiv pulsierende Einheit. Die im Medium lose gekoppelten Elemente bilden Formen, die wieder zerfallen und insofern auf das Medium zurückwirken als sich abweichende oder neue Elemente ergeben, die das Medium wiederum anreichern oder mindern usw. Wir schauen uns dies am auftretenden Buchdruck nun nochmals genauer an.26

4.1 Andere Medien, andere Bücher

Bücher gab es auch vor dem Buchdruck, aber es waren, im Vergleich zu den gedruckten, andere Bücher, das heißt andere Formen in einem anderen Medium. Nicht umsonst sprechen wir hier von Handschriften. Die Elemente des Mediums und der Formen waren die ,Handschriften‘ oder ,Schriftzüge‘, kaum schon zu begreifen als Einzel-Lettern, die dann zusammen-gesetzt wurden. Ebenso verhielt es sich mit den Elementen der Xylografien, die nicht als Buchstaben auftraten und nach der Formbildung wieder dekomponiert werden konnten, sondern man muss hier vermutlich die Holzdruckplatten selbst als Elemente begreifen, die ja nach Art und Weise und (nach) Anzahl für jeden einzelnen Druck variieren konnten. Auch die frühen Versuche des Drucks von Musiknoten waren noch nicht in der Lage, Einzelnoten als Elemente zu nutzen, sondern verwendeten ebenso wie Manuskripte oder Xylografien größere Einheiten. Erst die Idee der Lettern des Buchdrucks ermöglichte es dann, wenn auch unter großem Aufwand, Einzelnoten als Bleilettern für den Druck zu erstellen und zu setzen.

Mit anderen Worten: Bücher sind nicht gleich Bücher, da sie, je nach zugrunde liegendem Medium, nur in bestimmten Formen bzw. Varianten von Formen möglich sind, denn im Vergleich zu früheren Medien haben die Elemente der Bleilettern ein unvergleichlich höheres Auflöse- und Rekombinationsvermögen. Zugleich sind die Elemente der Drucklettern weit variabler als bei den Elementen ,Handschrift‘ oder ,Schriftzug‘.

4.2 Stationär/ambulant

Wenn wir – mit einem jeweils anderen Auflöse- und Rekombinationsniveau – sowohl Handschriften als auch gedruckte Bücher als Elemente innerhalb einer je eigenen Form/Medium-Unterscheidung begreifen, dann lässt sich formulieren: Die Handschrift ist für den stationären, das Buch für den ambulanten Gebrauch hergestellt. Mit anderen Worten: Handschriften ziehen eher stabile, stationäre oder immobile Formen der Nutzung, gedruckte Bücher dagegen eher flexible, ambulante oder mobile Formen der Nutzung nach sich.

Im Sinne der in beide Richtungen verschiebbaren Unterscheidung von Medium/Form lassen sich zum einen für Handschriften und zum anderen für gedruckte Bücher folgende unterschiedlichen Kontinua aufstellen:

Handschrift: Schriftzug/(Wort)/Schrift/Text/Manuskript/Foliant/ stationär;

Buch: Buchstabe/(Druck-)Satz/Druck/Bogen/Buch/ambulant.

Die Metapher der fliegenden Blätter bzw. Flugschriften bringt diesen Wandel anschaulich auf den Punkt. Es war nicht denkbar, dass Manuskripte fliegend unter die Leute kamen, dagegen nimmt der Buchdruck seine Anfänge genau damit: Einblatt-Schriften in großer Auflage, die am nächsten Tag oder eine Woche später nachgedruckt oder auch neu gedruckt werden konnten – oder wieder verschwanden. Insofern gilt die Unterscheidung von stationär und ambulant für die Distribution in nochmals verstärktem Maße: Handschriften stehen für eine wirkliche Verbreitung nicht zu Verfügung, gedruckte Bücher dagegen sind auf eine möglichst schnelle (zeitliche Sinndimension), einheitliche (sachliche Sinndimension) und massenhafte (soziale Sinndimension) Verbreitung hin gedruckt.

4.3 Wechsel des Bezugssystems

Jedes Medium und die darin bildbaren Formen benötigen andere, vorausgelagerte Medien (und Formen) und können zugleich selbst Medium für andere Medien werden. Für die Kommunikationsmedien Sprache und Schrift können jeweils Luft und Licht als vorausgelagerte Wahrnehmungsmedien unterstellt werden. Der Medienwechsel von mündlicher Sprache auf schriftliche Texte nimmt folglich einen Wechsel von einem auditorischen zu einem optischen Medium vor. Wie könnte dieser Sachverhalt nun für den Medienwechsel von der (Hand-) Schrift zum (gedruckten) Buch beschrieben werden?

Wir beschreiben den Medienwechsel an dieser Stelle als Systemwechsel bzw. genauer als Wechsel des Bezugssystems. (Hand-) Schriften hatten sich einerseits dazu herausgebildet, um Interaktionen abzusichern und sozusagen haltbar zu machen, andererseits konnten (Hand-) Schriften Organisationen fundieren, man denke an Klosterregeln, dynastische Stammbäume oder Vertragsabschlüsse im Finanzbereich. Mit dem Buchdruck tritt nun ein Systemwechsel von Interaktionen und Organisationen hin zum umfassenden System der Gesellschaft in Kraft.27 Bis dato konnten (Interaktionen und vor allem) Organisationen ihre Außengrenzen der Beobachtbarkeit selbst ziehen, nun tritt die Gesellschaft dazwischen und entwickelt Anforderungen an die Beobachtbarkeit von Organisationen, die fernerhin gezwungen sind, sich mit der von außen an sie angelegten Grenzziehung von geheim/öffentlich auseinander zu setzen. Dieser Wechsel der Systemreferenz von Organisation zu Gesellschaft bringt einen Wandel bzw. eine Neubegründung des Begriffs der Öffentlichkeit mit sich. Öffentlichkeit mutiert von einer organisationsexternen Umwelt zur gesellschaftsinternen Umwelt.28 Der Wandel (des Begriffs) der Öffentlichkeit lässt sich vermutlich zum ersten Mal im sogenannten Reuchlin-Streit ab 1511 und den damit verbunden ,Medienkampagnen‘ der Licht- und Dunkelmännerbriefe beobachten.29

4.4 Beobachtbarkeit

Die mobile Form des gedruckten Buches bringt nun aber vor allem einen Medien- und Systemwechsel hervor, der zunächst die engere Geschichte der historischen Reformation, dann aber auch die weitere Mediengeschichte (sozial-)strukturell und semantisch geprägt hat. Es handelt sich um den Systemwechsel von (Wahrnehmung bzw.) Bewusstsein zu Kommunikation als Bezugspunkt sozialer Verhältnisse.30 Wir bringen diesen Wechsel auf den Begriff der ,Beobachtbarkeit‘.

Die Epoche ausschließlich mündlicher Kommunikation war noch davon ausgegangen, dass neben Kommunikation auch Bewusstsein(e) zu beobachten seien, denn schließlich hatte man wahrnehmbare Menschen vor sich und konnte diese leicht mit deren Innerem in Verbindung bringen. Auch nötigt mündliche Kommunikation unter Anwesenden den Abgleich zwischen der ablaufenden Kommunikation und den beteiligten Bewusstseinen geradezu auf und wird von der Kommunikation permanent mehr oder weniger thematisiert: ,Aber Du hast doch gesagt, …‘. Man kann an dieser Stelle auch von „Metakommunikation“31 sprechen.

Schon mit der Schrift und den daraus bzw. darin verfertigten Manuskripten ändert sich dies tendentiell, insofern nun die eng integrierte (und integrierende) mündliche Kommunikation gedehnt wird. Man spricht nicht mehr miteinander, sondern liest sich womöglich den Text eines Dritten vor. Mit dem Buchdruck gewinnt diese Dehnung von Kommunikation dann ihren vorläufigen Scheitelpunkt, sodass schließlich Bücher geschrieben werden, um auf Bücher zu antworten.32 Es wird durch gedruckte Texte miteinander kommuniziert, und zwar unter gleichzeitiger Beobachtung durch andere. Der Buchdruck bringt (in einem ersten Schritt) eine gesellschaftsweite Beobachtbarkeit und (in einem zweiten Schritt) eine gesellschaftsweite Beobachtbarkeit der Beobachtbarkeit von Kommunikation hervor. Wir kommen darauf im nächsten Abschnitt zu den Massenmedien mit der Unterscheidung einer Beobachtung erster und einer Beobachtung zweiter Ordnung nochmals zu sprechen. Zu den unmittelbaren Konsequenzen gehört dann die Einübung von Kritik auf der Grundlage einer Beobachtung zweiter Ordnung als einer Beobachtung anderer Beobachter.33

Der Buchdruck führt innerhalb kürzester Zeit dazu, dass man sich erstrangig auf Kommunikation und weniger auf Bewusstsein(e) bezieht. Die gedruckten Bücher sind überall, jederzeit und für jede(n) verfügbar, man kommt nicht mehr umhin, selbst lesen zu lernen und die Texte zu rezipieren.34 Und wer schlau ist schweigt – oder aber antwortet in gedruckter Form darauf. Für einige Zeit dominiert weiterhin die Oralität, bald aber verschiebt sich das Gewicht auf die Seite der Literalität von Kommunikation. Dass die mündliche Kommunikation im weiteren Verlauf der Entwicklungen dann ebenfalls eigenständige Formen ausbildet, sei hier nochmals betont (siehe →.).

Unsere These an dieser Stelle lautet: Der Buchdruck bringt die strukturellen Gegebenheiten für das beobachtbare Auseinandertreten von Bewusstsein und Kommunikation mit sich, ein Auseinandertreten, das die Reformation dann semantisch aufnimmt, indem sie nicht müde wird, einerseits den inneren Glauben und andererseits das äußere Wort zu betonen. Der Medien- und Epochenwechsel zwischen 1450 und 1550 kombiniert folglich die durch den Buchdruck hervorgebrachte strikte Trennung von Bewusstsein und Kommunikation und die durch die (gedruckten!) reformatorischen Kommunikationen hervorgebrachte Steigerung auf beiden Seiten der Unterscheidung von Kommunikation/Bewusstsein: je mehr Kommunikation, desto mehr Bewusstsein, und je mehr Bewusstsein, desto mehr Kommunikation.

Selbstverständlich waren Bewusstsein und Kommunikation auch zuvor in ihrer historischen Ko-Evolution operativ voneinander getrennt und strukturell miteinander gekoppelt, nun aber wird die operative Separation von der Kommunikation aus beobachtbar bzw. faktisch beobachtet, das heißt die vorliegende Struktur schlägt sich auch in der Semantik nieder. Zuvor wurden Bewusstsein und Kommunikation in der Weise beobachtet, als ob sie ein miteinander verbundenes Kontinuum darstellen würden. Kommunikation wurde bewusstseinsbezogen aufgefasst, es konnte von ,Menschen‘ gesprochen werden, die miteinander sprechen, und die Frage danach, woher die Bewusstseine kommunizieren können, wurde entweder in die dunklen Vorzeiten der Urgeschichte oder in die innersten Kammern menschlichen Geistes verlegt. Nun aber heißt es letztlich, „nur die Kommunikation kann kommunizieren.“35

Mit dem Buchdruck setzt sich die operative Selbstkonstitution von Bewusstsein und Kommunikation und damit deren strukturelle und semantische Trennung in der Beobachtung durch die reformatorische Kommunikation durch. Mit anderen Worten: Die reformatorische Entdeckung liegt in der Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation. Konstitutiv dafür ist der Buchdruck. Die zuvor mündlich oder (in Einzeltexten) schriftlich vorliegende Kommunikation wird nun zu massenhaft vorliegenden Texten. Diese Texte aber koppeln sich von bewusstseinsbezogener Kommunikation ab und setzen kommunikationsbezogene Kommunikation frei, die für alle Bewusstseine zugänglich ist. Umgekehrt koppeln sich die Bewusstseine von Kommunikation ab und sind und bleiben von dieser unerreichbar. Seitdem kann Gesellschaft nicht mehr als Gesamtheit aller Menschen, sondern nunmehr als (Gesamtheit) aller füreinander erreichbaren Kommunikationen begriffen werden.36

Das nun verstärkt einsetzende ko-evolutive und strukturelle Miteinander als auch Auseinander beider (Systeme) kann schließlich durch Schemabildung erläutert werden. Diese Schemabildung basiert, da sie primär durch Kommunikation geprägt wird, auf Unterscheidungen, die vom Bewusstsein zu akzeptieren sind, wenn es sich weiterhin mit Texten und Büchern befassen möchte. In den kommunikativen Schemata verbinden sich dann die Unabhängigkeit und Abhängigkeit, die Independenz und Interdependenz von Bewusstsein und Kommunikation voneinander.37

Die gedruckten Bücher garantieren beobachtbare, verbindliche, (auf-) greifbare und angreifbare Referenzen und Schematismen für Kommunikation und Bewusstsein. Bald kann man sich nicht mehr herausreden, weder auf flüchtige Mündlichkeit noch auf schwer zugängliche Manuskripte, anhand derer der ,Faktencheck‘ zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Die gedruckten Bücher aber sind jederzeit, überall und für jeden verfügbar. Das Medium Buch verbreitet sich selbst-dynamisch und fördert eine ubiquitäre und darin reflexive Beobachtbarkeit der Bücher durch Schreiber und Leser und der Leser und Schreiber durch Bücher.

4.5 Kommunikation sive Gesellschaft

Der Buchdruck initiiert Gesellschaft als Kommunikation. Bücher werden zu Elementen im Medium der Beobachtbarkeit, aus denen sich Formen der Beobachtung rekrutieren. Zugleich ,dehnt‘ der Buchdruck die Kommunikation (bis) auf ein Maximum. Man kann Bücher lesen, muss es aber nicht, man kann mit Büchern auf Bücher reagieren, muss es aber nicht, und doch zählt dies auch 500 Jahre später noch als Inbegriff von Schriftkultur. Die ,Dehnung‘ der Kommunikation, die erst durch den Buchdruck (vielleicht nicht: ermöglicht, aber) gesellschaftsweit realisiert wurde, lässt sich mit den drei Stichworten Abweichung, Widerspruch und Neuheit näher beschreiben. Damit sind erneut die drei Sinndimensionen sachlich, sozial und zeitlich aufgerufen.

4.5.1 Abweichung

Abweichungen in mündlichen Gesprächszusammenhängen (also in Interaktionen) sind schwierig und zumeist mit Sanktionen verbunden. In den schriftlichen Manuskripten wurde, von Ausnahmen abgesehen, tradierter Sinn festgehalten und insofern gegen Abweichungen geschützt. Anders nun im Buchdruck: Nach den ersten 50 Jahren, in denen vielfach noch Manuskripte imitiert wurden, kamen mit der Reformation die ersten Schockmomente über die absichtlich und wiederholt abweichenden religiösen Sinnzumutungen, die da gedruckt wurden. Zunächst folgten, wie aus der Interaktion geläufig, Sanktionen (Verbote, Bannbulle, Exkommunikation), bis dann deutlich wurde, dass dieses Vorgehen die Buchproduktion eher erhöhte anstatt zu vermindern. So wurden (die) Abweichungen (hier vor allem in der sachlichen Sinndimension bzw. hinsichtlich ihres sachlichen Sinns verstanden) anschluss- und gesellschaftsfähig, ja früher oder später flächendeckend erwartet und kultiviert.38

4.5.2 Widerspruch

Der Begriff des Widerspruch formuliert den gleichen Vorgang in der sozialen Dimension: Es wurden kommunikative Neins produziert, es wurden Widerspruch und Ablehnung aufgebaut – ein bis dahin so nicht möglicher Vorgang, der nun durch den Buchdruck gefördert und bald gefordert wurde.39 Der Widerspruch richtete sich gegen Kommunikationen anderer Beobachter und mündete in Konflikte ein. Konflikte aber waren und sind (hoch-) integrative Systeme und genauso kam es: Es wurde verstärkt hin und her geschrieben und die Konflikte expandierten und eskalierten. Papst, nein danke. Der Buchdruck brachte das westeuropäische Kirchenschisma hervor.40

4.5.3 Neuheit

In der zeitlichen Sinndimension lassen sich die Begriffe Abweichung und Widerspruch im Begriff der Neuheit fassen. Vermutlich ist dies der für alle folgenden gesellschaftlichen Strukturen und Semantiken maßgebliche Begriff, dessen Dialektik, wie man früher sagte, bzw. dessen Paradoxie, wie man heute sagen würde, die Kommunikation auf Trab hält. Sowohl die sachlichen Abweichungen der reformatorischen Sinnzumutungen als auch deren Widerspruch gegen die bisherigen sozialen Verhältnisse kulminieren im Begriff der ,Neuheit‘ in sachlich-sozialer Zeitlichkeit.

Vor dem Buchdruck war es darum gegangen, das Alte abzuschreiben und zu bewahren. Das Alte hatte seine Dignität in sich, das Neue wurde als Abweichung sozial stigmatisiert. Die Verhältnisse waren eng, die Kommunikation garantierte Kohäsion, die Zeit schritt langsam voran. Mit dem Buchdruck wurden die Schleusen für Abweichung, Widerspruch und Neuheit geöffnet. Das Neue bezog sich zum Teil auf bislang nicht Geschriebenes, sodass das ,Buch der Natur‘ nach und nach in die Form von Büchern gebracht wurde, zum Teil bezog es sich auf bereits gedruckte Flugblätter oder Bücher, die durch andere Flugblätter und Bücher mit neuen Sinnzumutungen gegenüber denen von gestern abgelöst wurden.

Früher wurde abgeschrieben, mit dem Buchdruck wurde umgeschrieben, fleißig und dauerhaft, unumkehrbar und insofern auf Zukunft ausgerichtet. Man wartete auf das nächste Buch, schon bevor das vor Augen befindliche ausgelesen war, man erwartete weiteren Sinn, man harrte einer neuen Semantik – und die technische Fundierung im Medium der Bleilettern gab genau dies her, dass schnell und massenhaft gedruckt werden konnte: Einblattdrucke zumeist, dann Traktate und Predigten, schließlich Hand- und Taschenbücher. Neuer Sinn wurde schnell verfügbar und an dieser Stelle ,funktionierte‘, wenn man so will, die Reformation. Die Altgläubigen sahen eine ganze Weile alt aus, bis sie sich selbst neu erfanden und ebenfalls Bücher publizierten.41

Die in der technischen und gesellschaftlichen Struktur angelegte Neuheit ging mit den sinnhaft evozierten, semantischen Neuheiten einher. Es mag sogar sein, das in diesem historischen Moment, wie vielleicht in allen Medien- und Epochenwechseln, die Semantik der Struktur den Rang ablief. Martin Luther schrieb schneller als Hans Lufft drucken konnte. Oder war es doch die Struktur, die der Semantik davoneilte, sodass es umgekehrt heißen müsste: Hans Lufft druckte schneller, als Martin Luther schreiben konnte?

Zudem gewannen die bisherigen alten Worte neue Bedeutungen. Ihr Sinn veränderte sich mit dem Medienwechsel. In der mündlichen Kommunikation ergab sich der Sinn aus der Situation, im Zweifel konnte nachgefragt – und dann auch vergessen werden. In den gedruckten Büchern ist die Situation, ist der Kontext erst herzustellen, innerhalb dessen die Sinnofferten platziert werden können. Zudem bleiben die Worte und Sätze dort stehen und man kann auf sie zurückkommen, stets mit der nochmaligen Möglichkeiten zu verstehen oder misszuverstehen, anzunehmen oder abzulehnen. Gedruckter Sinn muss sich nun zum einen genereller und zum anderen spezifischer bewähren. Vermutlich musste Luther auch deshalb so extensiv schreiben, um die Neuheit des Sinns intensiv zu garantieren. Im Kontext der Reformation betraf die Anforderung an und das Ergebnis von Neuheit sämtliche Begriffe und vor allem deren Unterscheidungen. Mit dem Buchdruck wurden einfache Wortkaskaden durch elaborierte Unterscheidungsketten abgelöst. Unterscheidungen spielten in der handgeschriebenen Literatur schon immer eine maßgebliche Rolle, nun aber wurden sie mehrheitsfähig und -pflichtig. Luther wurde zum Differenzschriftsteller, der den offenbaren und den verborgenen Gott, den gläubigen und den sündigen Menschen, die sichtbare und die unsichtbare Kirche als jeweils paradoxe Einheiten kolportierte.

4.6 Heilige Schrift und profanes Buch

Die Heilige Schrift, ,das Buch‘ die Bibel, existierte vor dem Buchdruck als Heiliges Manuskript.42 Es war erstrangig nicht zum Lesen geschrieben, sondern zur Dokumentation des göttlichen Wortes, zur Aufbewahrung und notfalls zum Rezitieren, und beides in einer Sprache (Latein), die kaum jemand verstehen konnte. Im Übrigen war auch die erste gedruckte Bibel eine lateinische Ausgabe.

Mit dem Buchdruck kommt es nun zu folgender Ironie der Geschichte: Die erste Großtat des Buchdrucks, der durch Johannes Gutenberg und seinen Finanzpartner Johann Fust im Herbst 1454 fertiggestellte Großdruck der 42-zeiligen Bibel, schlägt im Moment ihrer Realisierung in das Gegenteil um. Die Heilige Schrift, die zum Heiligen Buch werden sollte, wird profan. Sie wird ein Buch unter anderen, zunächst noch mit einigen Letter-Varianten mehr ausgestattet und noch etwas reicher verziert als andere Bücher, aber schließlich beobachtbar wie alle anderen Bücher auch. Mit der ersten gedruckten Bibel vollzieht sich der in sich widersprüchliche Vorgang, dass die Dignität des Geschriebenen in die Disponibilität des Geschriebenen übergeht, und über den angebotenen Sinn nicht mehr der Klerus (alleine), sondern der/die Leser/innen entscheiden.

„Unter diesen Bedingungen kann man die Bibel übersetzen, sie drucken lassen und Schulen einrichten, so daß möglichst viele Leute die Bibel lesen können. Das Problem ist nur, daß die Leser, wenn sie die Bibel lesen können, auch andere Texte lesen können, so daß Rahmenentscheidungen über die bevorzugte Lektüre nötig und möglich werden, die als Unterscheidungen nun nicht mehr allein religiös bestimmt sein können. Die Verbreitungstechnologie läßt sich nicht mehr durch bevorzugte Inhalte dirigieren, und folglich auch nicht mehr durch »Autorität«.“43

Der Autoritätsverlust bezieht sich aber nicht allein auf die Heilige Schrift als profanes Buch, sondern auf alles Gedruckte. Die von den einen Büchern intendierte Gültigkeit wird durch die Intention auf die Gültigkeit anderer Bücher nicht nur relativiert, sondern faktisch außer Kraft gesetzt, denn selbstverständlich gelten ,alle‘ Bücher. Die Unterscheidung von absolut und relativ fällt wie ein nicht gut gebundenes Buch in sich zusammen. Auf die daraus sich ergebende Notwendigkeit, die Bibel dann gesondert als Heiliges Buch zu markieren, um ihr die alte Autorität zurückzugeben, kommen wir weiter unten nochmals zu sprechen.

5. Massenmedien

Gedruckte Bücher ziehen andere gedruckte Bücher nach sich. Es wird nicht mehr geschrieben und gedruckt, weil in der Welt oder Gesellschaft soviel passiert, sondern weil schon anderes geschrieben wurde. So gilt bis heute: „Die Nachrichten des Tages können deshalb eher auf Weltgegebenheiten als auf die Nachrichten des vorigen Tages verzichten.“44

Unsere These lautet daher: Der Buchdruck führt die Epoche der operativen Schließung der Massenmedien herauf. Dies meint, dass sich die Beobachtbarkeit wie ein engmaschiges Fliegennetz auf die Beobachter herabsenkt. Man beobachtet einander und beobachtet, dass und wie dies geschieht. Damit aber hebt die Beobachtung, die bisher im Modus erster Ordnung verlief, bei der es um das ,Was‘ der Dinge ging, ab und wird zur Beobachtung zweiter Ordnung, bei der es um das ,Wie‘ der Dinge geht, und ,Dinge‘ meint hier selbstverständlich die sinnhafte Kommunikation von etwas und über etwas.

Mit dem Buchdruck ist folglich ein „preadaptive advance“45