Systemtheoretische Beobachtungen IV - Eberhard Blanke - E-Book

Systemtheoretische Beobachtungen IV E-Book

Eberhard Blanke

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Beiträge zum Verhältnis von Theologie und Systemtheorie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 299

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Einführung

Die Form der Theorie bei Niklas Luhmann

Theologie nach der Systemtheorie

Entscheidungen in Religion, Theologie und Kirche.

Unterscheidungen in der Theologie – Theologie in Unterscheidungen

Konstruktivismus und religiöse Kommunikation

Zum Begriff des Symbols

Authentizität

Pilgern

Einführung

Der vierte Band unserer Aufsatzsammlung ,Systemtheoretische Beobachtungen‘ ist in drei Abschnitte unterteilt.

Zunächst besprechen wir Formen von Theorie und Theologie. Dazu legen wir im Beitrag ,Die Form der Theorie bei Niklas Luhmann‘ die begriffliche Grundlage und fragen dann unter dem Titel ,Theologie nach der Systemtheorie‘ nach der Form der Theologie. Dieser bereits an anderer Stelle veröffentlichte Beitrag lotet die Möglichkeiten theologischer Begriffs- und Theoriebildung aus, die sich aus der Berücksichtigung der System/Umwelt-Theorie ergeben (mögen).

Im Beitrag ,Entscheidungen in Religion, Theologie und Kirche‘ wird die These entfaltet, dass alles, was sinnhaft geschieht, durch Entscheidungen geschieht, da jede kommunikative Bezeichnung aufgrund einer Unterscheidung eine Entscheidung darstellt. Dies gilt auch für Religion, Theologie und Kirche.

Im Hinblick auf die grundlegende Operation kommunikativen Unterscheidens wird unter der Überschrift ,Unterscheidungen in der Theologie – Theologie in Unterscheidungen‘ der Beitrag eines systematischen Theologen der Gegenwart diskutiert, der aus Sicht der System/Umwelt-Theorie auf halber Strecke stehen bleibt, insofern die von ihm eingeforderten Unterscheidungen entweder nicht als Unterscheidungen darstellbar oder als solche irreführend sind.

Im zweiten Abschnitt unserer Aufsatzsammlung wird anhand des Beitrags ,Konstruktivismus und religiöse Kommunikation‘ erkennbar, dass alle – also auch religiöse und die daran anschließende theologische – Kommunikation konstruktivistisch verfasst ist.

Der Band schließt – im dritten Abschnitt – mit Beiträgen zu den Stichworten Symbol, Authentizität und Pilgern.

Der Symbolbegriff wird in Opposition zum Zeichenbegriff über seine repräsentierende Funktion hinaus als operationsfähiges Zeichen eingeführt.

Authentizität hingegen wird als ein beobachtend-attributiver und nicht, wie in bisherigen Darstellungen, als ein operationsfähiger Begriff beschrieben.

Das Pilgern schließlich wird erstmals überhaupt als Begriff thematisiert und anhand der Formel einer paradoxen Tautologie modelliert.

Wir hoffen, auch mit diesem vierten Band in unserer Reihe ,Systemtheoretische Beobachtungen‘ einige Anregungen anbieten zu können, die den üblichen Rahmen theologie-theoretischer Bemühungen zu bereichern vermögen.

Die Form der Theorie bei Niklas Luhmann

Die Form der soziologischen Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann besticht durch ihre besondere Art und Weise, in der sie sich von anderen soziologischen Theorien abhebt und vor ihnen auszeichnet. Ich nenne im folgenden fünf Unterscheidungen, die zugleich etwas über den Vollzug als auch über die Reflexion auf den Vollzug der Theorie Luhmanns zu sagen vermögen. Dabei handelt es sich zum einen um Unterscheidungen, die einander sinnhaft zuarbeiten, und zum anderen um einen in sich geschlossenen Zusammenhang von Unterscheidungen. Die These unserer Beobachtungen lautet mithin, dass die Form der Theorie bei Niklas Luhmann aufgrund ihrer operativen Geschlossenheit und ihrer dadurch ermöglichten kognitiven Offenheit als besonders, wenn nicht sogar als einzigartig gelten kann.

1. Die Ausgangs- und Zielunterscheidung der hier infrage stehenden Theorieform ist durch die Begriffe autologisch/heterologisch gekennzeichnet. Eine Theorie verfährt autologisch, wenn und insofern sie sich auf sich selbst anwendet, wenn und insofern sie folglich in ihrem eigenen Gegenstandsbereich (wieder) vorkommt. Heterologische Theorien dagegen bleiben außerhalb ihrer eigenen Problemstellungen und -beschreibungen. Sie gehen in der Regel von (einer nicht weiter explizierten) Unterscheidung(en) aus, die sie im weiteren Verlauf nicht auf sich selbst anwenden bzw. thematisieren oder kontrollieren (können). Für eine autologische Theorie im Stile Niklas Luhmanns, die sich für ihren Gesellschaftsbegriff auf alle füreinander erreichbaren Kommunikationen bezieht, ist eine Selbstanwendung dagegen unausweichlich, insofern die(se) Theorie selbst kommunikativ vollzogen wird. Darin ,spiegelt‘ (um nicht sagen zu müssen: ,repräsentiert‘) diese Theorie die von ihr beschriebene Gesellschaft in der Theorie.

Autologisch gebaute Theorien prozessieren zudem zirkulär und benutzen dazu mindestens drei grundlegende Unterscheidungen, die wir im folgenden beschreiben: es sind die Unterscheidungen von Operation und Beobachtung, von Selbstreferenz und Fremdreferenz sowie von Form und Medium.

2. Die Unterscheidung von Operation und Beobachtung steht für das Ineinander eines Wie und eines Was jeder Kommunikation. Dabei gilt: Das, was kommunikativ vollzogen wird, wird auf eine bestimmte Art und Weise vollzogen. Jede Kommunikation vollzieht ein Wie und ein Was, ist Operation und Beobachtung zugleich. Sie wird als Bezeichnung aufgrund einer Unterscheidung vollzogen und beobachtet sich dabei anhand anderer Bezeichnungen aufgrund anderer Unterscheidungen. Ohne an dieser Stelle eine ausgefeilte Beobachtertheorie bemühen zu müssen1, kann gesagt werden: sich vollziehende Kommunikation schreitet blind voran und eine sich dabei beobachtende Kommunikation blockiert ihren eigenen, weiteren Vollzug. Mit anderen Worten: kommunikative Operationen sind blinde (und man muss zugleich sagen: tautologische) Beobachtungen und kommunikative Beobachtungen sind paradoxe Operationen.

Im Hinblick auf die Form der Theorie bei Niklas Luhmann ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Unterscheidung von Operation und Beobachtung eine andere Fassung des autologischen Konzepts darstellt.2 Eine auf sich selbst anwendbare Theorie vollzieht ihre (kommunikativen) Operationen so, dass die Operationen über den Umweg der (Selbst-)Beobachtung geschickt werden, um (überhaupt) weiter operieren zu können. Dieses In- und Miteinander von Operation und Beobachtung verleiht der Theorie Niklas Luhmanns ihre spezifisch autologische Form.

3. Eine Theorie, die sich operativ beobachtend bzw. beobachtend operierend fortbewegt, verfährt sowohl geschlossen als auch offen. Die Form der Theorie bei Niklas Luhmann kann folglich einerseits als operativ geschlossen und andererseits als beobachtend (oder: kognitiv) offen gelten. Indem sie in jedem Moment auf sich selbst referiert, referiert sie auf anderes. Man kann diesen Sachverhalt mit der Formulierung „Fremdkontakt durch Selbstkontakt“3 beschreiben. Eine genauere Begrifflichkeit führt uns zur Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Zum Zweck größerer Verständlichkeit mögen auch alternative Begriffe bzw. Unterscheidungen wie Selbstbezug/Fremdbezug, Innenbezug/Außenbezug oder Wie-Bezug/ Was-Bezug aufgeboten werden.

Bekanntermassen steht die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz für eine systeminterne Kopie der Differenz von System und Umwelt. Eine Theorie, die sich durch ihre (eigenen) Operationen von allem anderen abschließt, reproduziert die Umwelt als Fremdreferenz innerhalb des Systems. Eine solche Theorie bezieht sich auf ihre Gegenstände, indem sie sich auf sich selbst bezieht. Sie markiert damit, dass ein Bezug (des Systems) auf die Umwelt nicht möglich ist, dass sie also weder empirisch noch phänomenal noch relational (im Sinne einer Eins-zu-eins-Relation von Umweltdaten und Systemzuständen) verfahren kann, sondern dass sie ihre fremdreferentiellen Bezüge selbst hervorbringen und durch rekursive Operationen stabilisieren muss. Darin aber lässt sich eine solche Theorie durch ihre Umwelt irritieren und arbeitet deren für sie unbestimmte bzw. unbestimmbare Komplexität in systemeigene Komplexität um.

In anderen Theorieformen dagegen wird entweder der Selbstbezug oder der Fremdbezug überbetont bzw. verabsolutiert. Die einen schreiben irgendetwas, die anderen schreiben irgendwie über irgendetwas. Die Theorie Luhmanns dagegen beschreibt in ihrer Beschreibung eines Was das Wie dieser Beschreibung und in ihrer Beschreibung eines Wie das Was dieser Beschreibung mit. Welcher Leser, welche Leserin auch immer der Theorie Luhmanns folgen mag, kann dabei die Erfahrung machen, dass sich seine Theorie als ein operativ geschlossenes System auffassen lässt, das weder von der Umwelt – also von anderen Theorien oder Begriffen aus – erreichbar ist, noch umgekehrt von sich aus Umweltereignisse erreichen kann. Vermutlich hat es diese Form der operativen Geschlossenheit der luhmannschen Theorie mit sich gebracht, dass sie verschiedentlich als hermetisch klassifiziert wurde.4 Diese Beurteilung kann allerdings insofern als unzutreffend bezeichnet werden, als der Vorwurf der Hermetik von vermeintlich mangelnden Input-/Output-Verhältnissen ausgeht und diesen eine vermeintlich offene Theorieform entgegenstellt, wogegen die operative Schließung der luhmannschen Theorie gerade umgekehrt mit kognitiver bzw. beobachtender Offenheit einhergeht und auf diese Weise bisherige Theoriemöglichkeiten überbietet.

4. Die Unterscheidung von Form und Medium signalisiert uns im Hinblick auf die Form der Theorie bei Niklas Luhmann, dass seine Theorie in einem bestimmten Medium erfolgt, innerhalb dessen sie ihre Formen bilden kann. Es gilt die Formel: Systeme sind Systeme in einer Umwelt und Formen sind Formen in Medien. Mit anderen Worten: Die Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann kann als ein eigenständiges System innerhalb des (Funktions-)Systems der Wissenschaft sowie als eine bestimmte Form im umfassenden Medium Sinn begriffen werden.

Die Unterscheidung von Form und Medium5 doppelt die eingangs genannte Unterscheidung von autologisch/heterologisch insofern, als der Begriff des Sinns ebenfalls strikt autologisch konzipiert ist. Aller Sinn ist, wenn man so will: sinnhaft, autologisch, denn Sinn ist stets und einzig auf sich selbst anwendbar:

„Ebenso wie das Problem der Komplexität tritt auch das Problem der Selbstreferenz in der Form von Sinn wieder auf. Jede Sinnintention ist selbstreferentiell insofern, als sie ihre eigene Wiederaktualisierbarkeit mitvorsieht, in ihrer Verweisungsstruktur also sich selbst als eine unter vielen Möglichkeiten weiteren Erlebens und Handelns wieder aufnimmt. Sinn kann überhaupt nur durch Verweisung auf jeweils anderen Sinn aktuale Realität gewinnen; es gibt insofern keine punktuelle Selbstgenügsamkeit und auch kein »per se notum«.“6

Mit dieser ,autologischen Doppelung‘ im Hinblick auf Theorie und Sinn kommt der Theorie Niklas Luhmanns eine Sonderstellung zu. Sie kann zum einen als Sinntheorie und zum anderen als Formtheorie verstanden werden. Aktualer Sinn und Form werden in ihr zum Synonym, da sich beide im potentialisierten Medium Sinn realisieren.

5. Alles, was sich über die Unterscheidung von Form und Medium sagen lässt, kulminiert im Sinnbegriff. Der Begriff des Sinns innerhalb der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann ist zugleich Form und Medium und stellt damit einerseits die coincidentia oppositorum von Sinn überhaupt dar, andererseits unterscheidet sich der von der luhmannschen Theorie offerierte Sinn nach aktualisiertem und potentialisiertem Sinn. Dies bedeutet unter anderem, dass sich sowohl quantitativ als auch qualitativ ungeahnte Möglichkeiten von Sinnanschlüssen ergeben und diese Theorie zu einer der sinnreichsten Theorien überhaupt werden lässt.

In Abgrenzung gegen mancherlei (Miss-)Verständnisse der Theorie Luhmanns ist daher festzuhalten, dass sie im Hinblick auf ihre Sinnofferten das Gegenteil einer technischen oder gar technokratischen bzw. technizistischen Theorie darstellt. Es handelt sich stattdessen um eine am wenigsten triviale, d. h. berechenbare oder vorhersehbare, sondern um eine in gesteigertem Maße nicht-triviale, d. h. unberechenbare und unvorhersehbare Form von Theorie.7

Unsere Charakterisierung der Theorie Luhmanns als (allgemeine) Form- bzw. Sinntheorie führt uns, bevor wir den Wiedereinstieg in Position eins vollziehen (müssen), zu einem Zwischenschritt, der signalisiert, dass diese Form der Theorie auch insofern autologisch arbeitet, als sie sich, indem sie sich auf sich selbst anwendet, auf sich selbst anwendet.

6. Unser Zwischenschritt soll herausstellen, dass die Form der Theorie bei Niklas Luhmann es mit sich bringt, dass die Theorie zum einen zu nichts zu gebrauchen und daher zum anderen auch nicht zu missbrauchen ist.8 Als solche stellt sie eine Funktion ihrer selbst dar und kann als funktionale Theorie durchgehen, die nicht funktionalisierbar ist. Sie stellt in ihrer Form selbst das dar, was sie auf ihre Weise beobachtet, nämlich den Übergang von einer strukturfunktionalen Theorie zu einer funktionalen Strukturtheorie.9 Mit anderen Worten: Die Theorie Niklas Luhmanns ist eine Funktion ihrer selbst, die die von ihr aufgeworfenen Probleme in eigener Regie zu Lösungen führt, die wiederum eigene Probleme erzeugen, die Lösungen generieren usw. Als solche grenzt sich diese Theorie nicht von Praxis ab, sondern bleibt stets Theorie, die sich methodisch mit sich selbst befasst.10 Der funktionale Zirkel von Problem/Lösung zu Lösung/ Problem usw. impliziert zudem, dass eine solche Theorie als Supertheorie auftreten kann, wobei Supertheorie meint, dass sie mit autologischen Verhältnisbestimmungen arbeitet:

„Sie [Supertheorien; EB] konzipieren ihren Gegenstand so, daß sie sich selbst als Teil ihres Gegenstandes erscheinen müssen. So kommt eine Theorie des Problemlöseverhaltens nicht umhin, sich selbst als Problemlöseverhalten zu begreifen.“11

Eine Supertheorie lässt sich mithin als eine Theorie kennzeichnen, die sich selbst genügt und insofern zu nichts bzw. zu nichts anderem als für Theorie zu gebrauchen ist. Mit nochmals anderen Worten kann eine solche Supertheorie zum einen als selbstkonstruktiv und zum anderen als selbst-suffizient gelten. Die Einheit dieser Unterscheidung liegt schließlich im Begriff der Selbst-Konstitution beschlossen.

Es scheint letztlich diese Sprödigkeit der luhmannschen Theorieform zu sein, die sie in ihrer Nutzlosigkeit unersetzlich macht. Indem sie ihre eigene Funktion symbolisiert (in der sie sich einzig auf sich selbst bezieht – worauf auch sonst?), ist und bleibt sie darin autologisch autonom – bis womöglich eine bessere Theorie dieser Form in den Lauf der Weltgeschichte einzutreten vermag. Bis dahin aber ist an dieser Stelle erneut mit Punkt eins (siehe oben 1.) zu beginnen.

1 Vgl. Blanke, Eberhard (2012): Theorie der Beobachtung. In: Eberhard Blanke (2012): Systemtheoretische Beobachtungen der Theologie. Marburg, S. 19-24, und dortige Verweise. Zur spezifischen Unterscheidung von Operation und Beobachtung vgl. beispielhaft Luhmann, Niklas (2002): Das Recht der Gesellschaft. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt a. M., S. 50-51: „Sachlich kann man Operationen beschreiben als Erzeugen einer Differenz. Etwas ist nach der Operation anders als vorher und durch die Operation anders als ohne sie. Man denke an das Einreichen einer Klage bei Gericht oder auch nur an das Aufwerfen einer Rechtsfrage in Beziehungen des täglichen Lebens. Es ist dieser diskriminierende Effekt der Operation, der bei hinreichender Dauer und rekursiver Vernetzung der Operationsfolgen eine Differenz von System und Umwelt erzeugt; oder wie wir sagen: ein System ausdifferenziert. Das muß als ein rein faktisches Geschehen begriffen werden – unabhängig von der Frage, wer dieses Geschehen beobachtet und mit Hilfe welcher Unterscheidungen es beobachtet und beschrieben wird. Eine Operation kann auf sehr verschiedene Weise beobachtet und beschrieben werden – das Einreichen einer Klage zum Beispiel als Affront, als willkommener Grund für den endgültigen Abbruch sozialer Beziehungen, als rechtlich zulässig, als Einheit im Kontext einer statistischen Zählung, als Anlaß des Registrierens und der Vergabe eines Aktenzeichens usw. Wenn man wissen will, wie eine Operation beobachtet wird, muß man Beobachter beobachten.“

2 „Eine Theorie, die mit der Unterscheidung von Operation und Beobachtung arbeitet, ist daher immer eine »autologische« Theorie. Das heißt: Sie fertigt eine Beschreibung an, die sowohl qua Operation als auch qua Beobachtung auf sie selbst zutrifft und die sie daher auch an sich selbst testen kann oder zumindest nicht durch Annahmen über sich selbst widerlegen darf.“ Luhmann, Niklas (2002): Das Recht der Gesellschaft, S. 51, Fußnote 21.

3 Vgl. diese Formulierung bei Nassehi, Armin (2003): Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M., S. 16 ff.

4 Vgl. beispielhaft Löffler, Jörg (2003): Der Beobachter-Gott. Niklas Luhmann beobachtet Gott, die Welt und den Teufel. In: Magazin für Theologie und Ästhetik, Ausgabe 21/2002. Online verfügbar unter www.theomag.de/21/jl1.htm (Aufruf am 21.06.2019).

5 Siehe hierzu Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt a. M., S. 198: „An dieser Stelle sei daran erinnert, daß wir unter ‚Form‘ die Markierung einer Unterscheidung verstehen. Also ist auch die Unterscheidung von Medium und Form eine Form. Die Unterscheidung impliziert sich selbst, sie macht jede Theorie, die mit ihr arbeitet, autologisch. […] Für universalistisch ansetzende Theorien sind Autologien dieser Art unvermeidlich […].“

6 Luhmann, Niklas (2006): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt a. M., S. 95.

7 Zur Unterscheidung von trivial/nicht-trivial vgl. Foerster, Heinz von (1993): Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich. In: Foerster, Heinz von; Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Frankfurt a. M., S. 233-268, insbesondere 247-252. Zudem Blanke, Eberhard; Uhlhorn, Frank (2011): Wie ist Beratung möglich? Vom Dirigieren der Selbstbeobachtung. Heidelberg, S. 58 ff.

8 Vgl. als Gegenmodell die Ansicht von Eisenstadt, Shmuel Noah (2006): Theorie und Moderne. Soziologische Essays. 1. Aufl. Wiesbaden, S. 12, dass sich soziologische Theorien sowohl gebrauchen als auch missbrauchen lassen.

9 Vgl. u. a. Blanke, Eberhard (2017): Niklas Luhmann: „… stattdessen …“. Eine biografische Einführung. 2., korrigierte und aktualisierte Aufl. Norderstedt, S. 107 ff.

10 Zur wissenschaftsinternen Unterscheidung von Theorie und Methode vgl. Luhmann, Niklas (2005): Die Wissenschaft der Gesellschaft. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt a. M., S. 401 ff.

11 Luhmann, Niklas (2008): Soziologie der Moral. In: Niklas Luhmann und Detlef Horster (Hrsg.): Die Moral der Gesellschaft. Orig.-Ausg., 1. Aufl. Frankfurt a. M., S. 59-60; siehe ebd. auch S. 57 ff. Zudem Luhmann, Niklas (2006): Soziale Systeme, S. 10 und S. 19 f., sowie Luhmann, Niklas (2005): Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 389: „Fragen der begrifflichen Passung müssen auf einer supertheoretischen Ebene geklärt werden, obwohl Theorieentwicklungen oft nötig sind, um die zu treffenden Entscheidungen vor Augen zu führen und neuartige Begriffswahlen zu konfirmieren. Es geht auch bei Supertheorien schon um Theoriearbeit – jedenfalls wenn man diesen Begriff in einem weiten Sinne nimmt. Aber es geht noch nicht um die Aufstellung von Sätzen, die wahr oder unwahr sein zu können beanspruchen, sondern um Vorbereitung der Begriffe für ihre Rolle als »Satzfunktionen«, die den Bereich wahrheitsfähiger Sätze regeln, die mit Hilfe der Verwendung des Begriffs als Prädikat gebildet werden können.“

Theologie nach der Systemtheorie

Notwendige Umstellungen traditionellen Denkens12

„Wenn du nicht bereit bist zu unterscheiden, passiert eben gar nichts.“13 Denn: „Eine Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein.“14

Einführung

Weshalb sollte sich die Theologie mit der Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann beschäftigen? Welcher Mehrwert, sei es durch Aufnahme oder durch Ablehnung der darin formulierten Theorieangebote, könnte daraus entspringen?

Zur Beantwortung dieser Frage werden im Folgenden Überlegungen zur theologischen Beschäftigung mit der Systemtheorie angeboten. Sie münden in die Erkenntnis, dass ein Bezug zu dieser Form der Systemtheorie unumgänglich ist und zugleich grundstürzende Auswirkungen auf eine Theologie des 21. Jahrhunderts hat.

Wenn dabei von ‚der‘ Theologie gesprochen wird, gilt der Vorbehalt dass es ‚die‘ Theologie weder in Deutschland noch in Europa noch weltweit gibt. Die Überlegungen beziehen sich daher – genauer formuliert – auf die Reflexionstheorie des gesellschaftlichen Funktionssystems der Religion, die hierzulande gemeinhin mit ‚der‘ Theologie assoziiert wird. Die Formulierung ‚die‘ Theologie wird also benutzt, um auch den Typus des vorliegenden Aufsatzes, der sich im Bereich der wissenschaftlichen Reflexionstheorie aufhält, kenntlich zu machen.

Unter dieser Bedingung wenden wir uns zunächst drei Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und Systemtheorie zu: 1. Der Stand der bisherigen theologischen Rezeption der Systemtheorie; 2. Systemtheoretische Umstellungen; 3. Theologische Umstellungen. Der Beitrag schließt mit einem 4. Fazit und mit Hinweisen zur 5. Literatur.

1. Der Stand der bisherigen theologischen Rezeption der Systemtheorie

Eine theologische Rezeption der Systemtheorie findet seit rund 40 Jahren statt. Der förmliche Beginn lässt sich etwa auf das Jahr 1970 datieren. Aus dieser Zeit sticht insbesondere ein Beitrag Luhmanns im Rahmen der ersten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung von 197215 unter dem Titel „Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen“16 hervor. In diesem Text arrangiert Luhmann die Systemtheorie und deren kirchlichen Praxisbezug in einer Weise, die ihn zu einem ertragreichen Lektüreangebot haben werden lassen. Von da an gab es über eine gewisse Zeit hinweg fachliche Kontakte zwischen Theologen bzw. kirchlichen Vertretern und dem Bielefelder Soziologen. In der Folge hat eine in der Intensität schwankende, aber bis heute andauernde Rezeption der Systemtheorie in der Theologie stattgefunden – und sie findet weiterhin statt.

Mit einer von Hans-Ulrich Dallmann entwickelten Systematisierung lassen sich bis zum Jahr 2000 vier Phasen der Rezeption unterscheiden.17

Eine erste Phase sieht Dallmann im Zusammenhang der Habermas/Luhmann-Debatte von 1971.18 Thematisch steht dabei die Anwendung auf ekklesiologische Fragestellungen im Sinne einer funktionalen Kirchen- bzw. Professionstheorie im Vordergrund, die von Karl-Wilhelm Dahm exemplarisch durchgeführt wurde.19

Eine zweite Phase stellen die Arbeiten der sogenannten Münchner Gruppe dar, die sich unter systematisch-theologischen Gesichtspunkten auf die Systemtheorie beziehen. Dazu gehören im engeren Sinne Eilert Herms20, Michael Welker21 und Wolfhart Pannenberg22.

In einer dritten Phase wird die Rezeption im Stile von Einzeldebatten geführt, wofür beispielhaft der Name Stephan H. Pfürtner steht.23

Seitdem werden in einer vierten Phase eine Reihe von Einzelstudien verfasst, die sich als wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten auf einzelne theologische Fragestellungen beziehen und sich dabei auf systemtheoretische Begrifflichkeiten berufen. Die Themenbereiche sind u. a. Ekklesiologie, Hamartiologie, Poimenik, Diakonik, Kontingenz und Vorsehung, Textinterpretation und Gottesdienst sowie die Gotteslehre.

Diese zuletzt genannte Weise der theologischen Rezeption setzt sich offenbar auch in den nach 2000 erschienenen Publikationen fort.24 Johannes F. K. Schmidt spricht hinsichtlich der theologischen Rezeption im Vergleich zu anderen Fachwissenschaften sogar von einer markanten Irritation und einer differenzierten Nutzung der Systemtheorie.25

Blickt man auf die nach Sache und Zeit unterschiedlichen Rezeptionen der Systemtheorie durch die Theologie, so lassen sich zwei Ergebnisse formulieren. Zum einen ist festzustellen, dass es eine gegenüber einem soziologischen Ansatz so nicht erwartbare sowohl extensive als auch intensive theologische Rezeption gegeben hat und weiterhin gibt. Dies ist ein durchweg positiver Befund. Zum anderen aber schwingt in allen theologisch elaborierten Bezügen zur Systemtheorie das mit, was Luhmann selbst auf zwei defizitär gemeinte Begriffe gebracht hat: „Nur eine Soziologie, die gegenwärtig verfügbare Theoriebildungsressourcen wirklich zusammenbringt, kann hoffen, auf Seiten der Theologie mehr als bloße Immunreaktionen und mehr als bloße Wortübernahmen auszulösen.“26 Der negative Befund ist, dass vielfach entweder bloße Wortübernahmen oder Immunreaktionen stattgefunden haben.

Wenn die Theologie aber über bloße Wortübernahmen und Immunreaktionen hinauskommen möchte, erscheint eine Neuaufnahme der theologischen Rezeption der Systemtheorie notwendig zu sein. Dies kann in der Absicht geschehen, die theologische Rezeption zu einer Tiefe, Schärfe und Konsequenz zu bringen, die ihr selbst angemessen ist. Die bisherigen theologischen Publikationen zur Systemtheorie sind dagegen oftmals in vorläufigen Testversionen systemtheoretischer Begrifflichkeiten stecken geblieben bzw. von dort schlussendlich in die immer gleichen Abwehrreaktionen gegenüber dem universalen Anspruch der Systemtheorie geraten.

Genau dieser universale Anspruch der Luhmannschen Theorie ist der im Folgenden verhandelte Sachverhalt. So sieht auch Dallmann die faktische Brisanz der Systemtheorie für die Theologie darin, dass sich die Systemtheorie anschickt, die Theologie zu beerben. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen tritt die Systemtheorie als all-erklärende Supertheorie auf und zum anderen platziert sie sich dadurch an die gesellschaftliche Funktionsstelle, an der sich die Theologie über Jahrhunderte hinweg gewähnt hat.27 Eine grundlegende Rezeption der Systemtheorie würde daher faktisch zu einer Auflösung des Anspruchs der (bisherigen) Theologie führen.

„Luhmann zufolge liegt das Problem darin, daß aufgrund historischer Entwicklungen innerhalb von Religion und Gesellschaft, ausgehend von der Unterscheidung Immanenz/Transzendenz, Gott der Transzendenz zugerechnet wurde, ja Gott und Transzendenz identifiziert wurden. Als Lösung schlägt Luhmann deshalb vor, »die Position der Einheit von Immanenz und Transzendenz mit ‘Gott’ zu bezeichnen. Einheit hieße hier: Ununterschiedenheit des Unterschiedenen.« In der Tat wäre damit eine Konvergenz zwischen Mystik, Meditation und herkömmlichem Glauben zu erreichen. Allerdings wäre so zwar das Problem der Unbeobachtbarkeit Gottes gelöst, jedoch um den Preis, daß alle historischen Gehalte der Theologie und des Glaubens reformuliert werden müßten. Ob unter diesen Umständen der besondere Charakter des christlichen Glaubens noch erhalten werden kann, ist fraglich. Die Luhmannsche ‚Rettung‘ des Glaubens liefe dann auf seine Selbstauflösung hinaus. Daher verwundert es nicht, wenn von Seiten der Theologinnen und Theologen eher ‚mit spitzen Fingern‘ auf solche Vorschläge reagiert wird.“28

In eine vergleichbare Richtung weist Gerhard Wegner, der auf längere Sicht eine gegenüber der bisherigen theologischen Rezeption der Systemtheorie tiefergehende Diskussion für notwendig erachtet.

Im Folgenden wird anhand von drei fokussierenden Sachbezügen in Richtung einer tiefergehenden Rezeption argumentiert. Die Sachbezüge tragen die Titel Gesellschaftstheorie, Kommunikationstheorie und Differenztheorie. Diese Titel sind kontingent gewählt aber nicht willkürlich. In ihrem Zusammenklang führen sie vielmehr ins Zentrum der systemtheoretischen Anfragen an die Theologie.

Der hier angebotene Impuls findet in einer neu anbrechenden Rezeptionsphase der Systemtheorie statt. Seit dem Jahr 2011 ist der Nachlass Luhmanns inklusive des sagenumwobenen Zettelkastens im Besitz der Universität Bielefeld. Damit ist der Weg für eine über die bekannten Publikationen hinausreichende und an den Primärquellen ausgerichtete Rezeption der Systemtheorie hinsichtlich ihrer mittlerweile als historisch beobachtbaren Position möglich. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass sich dadurch vollständig neuartige Diskussionslagen ergeben, aber ein erneuerter Schwung in der Rezeptionstiefe der Systemtheorie innerhalb und außerhalb der Theologie erscheint durchaus denkbar.

Vor allem kann mit einigem Recht die Frage aufgeworfen werden, weshalb es nicht gerade die Theologie sein sollte, die hier (wieder) einmal voranschreiten und andere Fachwissenschaften in grundlegende Umstellungen mit hineinnehmen sollte? Die avisierte Umstellung lautet: Abkehr von Alteuropa. Man mag die Umstellung auch Paradigmenwechsel nennen, wenn dieser Begriff nicht schon allzu sehr strapaziert worden wäre und am Ende darin seine Erfüllung erfahren hat, dass alles beim Alten blieb. Die Abkehr von Alteuropa ist eine Abkehr, die Luhmann in nachgiebigen Worten beschreibt, aber unnachgiebig durchführt. Genau genommen handelt es sich um eine Neuerfindung sowohl in der Semantik als auch in der Struktur von Theorie im Hinblick auf Gesellschaft.

Die Tiefe des Theoriewechsels erfordert, dass Vergleichsnamen wie Aristoteles, Thomas von Aquin, Immanuel Kant oder Georg Friedrich Wilhelm Hegel zu nennen sind. In nuce bedeutet dies: Mit Aristoteles gab es den Wechsel vom Mythos zum Logos und vom vorsozialen Einzelnen zum Bürger als zoon politikon; mit dem Aquinaten trat erst- und letztmalig ein Systemwissen alter Schule auf den Plan; bei Kant fand die transzendentale Antwort, nämlich ,das Ding an sich‘ keine Heimat mehr und mit Hegel wurde das, was sich in empirisch und transzendental unterscheiden ließ, aufgelöst und in den Strudel des Weltgeistes ,aufgehoben‘. Mit Luhmann aber wird dieses Alteuropa, das Hegel nochmals retten wollte, in eine abgeklärte Aufklärung der Beobachtung zweiter Ordnung überführt.

2. Systemtheoretische Umstellungen

Wenn sich relevante Umstellungen hinsichtlich der Semantik und Struktur sozialer Systeme wie z. B. der Gesellschaft ereignen und diese Umstellungen wissenschaftlich – etwa von der Soziologie – beschrieben werden, kann auch die Theologie nicht abseits stehen. Sie ist sowohl semantisch als auch strukturell in die Gesellschaft eingebunden, insofern Gesellschaft als alle füreinander erreichbaren Kommunikationen verstanden wird.29

Anhand der genannten Namen aus der alteuropäischen Tradition in Verbindung mit den Titeln Gesellschaftstheorie, Kommunikationstheorie und Differenztheorie sind die von der Systemtheorie erarbeiteten Umstellungen in gebotener Kürze anzudeuten. Wir beziehen uns dafür auf die Unterscheidungen von Gesellschaft und Einzelnem, Kommunikation und Bewusstsein sowie Differenz und Einheit, an denen die semantischen und strukturellen Verschiebungen der gegenwärtigen Situation gegenüber den traditionellen, alteuropäischen Verhältnissen sichtbar gemacht werden können.

2.1 Gesellschaft und Einzelner

Der Einfluss des aristotelischen Denkens ist in der bis heute prägenden Unterscheidung von Gemeinschaft (später dann: Gesellschaft) und Einzelnem (später dann: Individuum) anzutreffen. Der Übergang zur Stadtgesellschaft der griechischen Antike wird mit dieser Unterscheidung in dem Sinne reflektiert, dass der Einzelne der Gemeinschaft zugleich vor- und nachgeordnet wird.

Die freien Einzelnen – nicht die Sklaven – begründen die Gemeinschaft. In der Gemeinschaft aber ist der Einzelne zoon politikon. Die Unterscheidung ist zirkulär, insofern die Einzelnen die Gemeinschaft bilden, aber erst der Einzelne zum zoon politikon in der Gemeinschaft zum Einzelnen wird. Der hierdurch gebildete Gemeinschaftsbegriff geht davon aus, dass die Gemeinschaft aus Einzelnen besteht, aber die eigentliche Bestimmung des Einzelnen darin liegt, Gemeinschaft zu bilden. Der Einzelne ist seinem Wesen nach frei, insofern er als zoon politikon Gemeinschaft bildet. Diese Zuordnung von Gemeinschaft und Einzelnem gibt hinreichende Anzeichen für eine Ausdifferenzierung beider Seiten. Mit der Ausdifferenzierung einer Gemeinschaft der Einzelnen entsteht das zoon politikon, das einzig auf die Gemeinschaft hin als frei anzusehen ist.

Gemeinhin wurde die Unterscheidung von Gemeinschaft und Einzelnem mit der Unterscheidung eines Ganzen und seiner Teile parallelisiert. Das Ganze der Gemeinschaft wurde unterstellt, um von den Teilen sprechen zu können, die das Ganze ergeben. Ganzes und Teile standen jedoch nicht in einem Summenverhältnis zueinander, sondern wurden im Sinne einer Ebenenhierarchie auseinander gehalten: Das Ganze war mehr als die Summe seiner Teile. Wie dies sein konnte, blieb offen.

Heute bietet sich stattdessen die Möglichkeit an, die Formel umzukehren und zu formulieren: Das Ganze ist weniger als seine Teile und Teile können mehr als das Ganze sein30, und zwar deshalb, weil das Ganze als Ganzes von Teilen selbst wiederum nur ein Teil des Ganzen ist.31 Die Paradoxie des Ganzen liegt darin, dass es als Ganzes zugleich Ganzes und Teil ist. Die Paradoxie tritt als Beobachtungsproblem auf. Die darauf bezogene heuristische Frage lautet: Wer ist der Beobachter des Ganzen? Der Beobachter des Ganzen kann ja nur als ein Teil des Ganzen oder aber als ein hypostasiertes Ganzes begriffen werden, das sich aber nicht auf der Ebene unterscheiden lässt, auf der sich die Teile von den Teilen unterscheiden. Eine Theologie, die mit der überlieferten Unterscheidung von Gemeinschaft und Einzelnem bzw. Ganzes und Teilen arbeitet, bekommt es unweigerlich mit dem damit verbundenen Paradox zu tun.

Im Kontext der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur und -semantik ist die Unterscheidung von Gemeinschaft und Einzelnem kaum mehr tauglich, um eine Gesellschaftstheorie bzw. daran anknüpfende Reflexionstheorien wie z. B. die Theologie fundieren zu können. Aus Sicht der Systemtheorie bestehen stattdessen vielfältige Möglichkeiten, die abgängigen Unterscheidungen von Gemeinschaft und Einzelnem bzw. Ganzes und Teile durch andere Unterscheidungen zu substituieren. Beispielhaft sei auf die Unterscheidung von System und Umwelt hingewiesen.

Bei einer Umstellung von der Unterscheidung Gesellschaft/Einzelner auf die Unterscheidung System/Umwelt, ergeben sich mehrfach schachtelbare Relationierungen für gesellschaftliche Verhältnisbeschreibungen. Der Einzelne ist als Umwelt zum System Gesellschaft und die Gesellschaft ihrerseits als Umwelt zum Einzelnen beschreibbar. Die Einzelnen sind ihrerseits wechselseitig System/Umwelt zueinander so wie auch (die) Gesellschaft sich in System und Umwelt differenzieren kann. Dann ist von Subsystemen im Verhältnis zur Gesellschaft als Umwelt – bzw. genauer: von Subsystemen im Verhältnis zum System Gesellschaft in den Umwelten der Subsysteme und vice versa – zu sprechen. Die Konstitution von Gesellschaft wird zu einem Mobile von Systemen und Umwelten. Folglich ist die jeweilige Systemreferenz zu benennen, bevor gültige Aussagen gemacht werden können.

Für die Theologie bedeutet dies, dass sie je nach Systemreferenz zu einer anderen Theologie wird. Sie wird eine andere sein, je nachdem, ob sie sich beispielsweise auf das gesellschaftliche Funktionssystem der Religion, auf religiöse Organisationen oder auf Bewusstsein bezieht. An dieser Stelle wird für eine Theologie optiert, die sich primär auf das gesellschaftliche Funktionssystem Religion anstatt auf einzelne Bewusstseinssysteme bezieht, um deutlich zu machen, dass religiöse Kommunikation primär eine gesellschaftliche und keine psychologische Funktion erfüllt. Sie bezieht sich auf soziale Systeme und ringt um bestimmte Formen der Kommunikation, nicht des Bewusstseins.

2.2 Kommunikation und Bewusstsein

Wenn man die Unterscheidung von Gemeinschaft und Einzelnem (bzw. später dann: Gesellschaft und Individuum) mit der Unterscheidung von System und Umwelt beobachtet, führt dies zu einer Substitution durch die Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein bei gleichzeitiger Präferenz für die Seite Kommunikation. Mit dieser veränderten Systemreferenz wird eine weitgehende Reformulierung der Theologie notwendig. Die bisherigen, auf Bewusstsein, Individuen oder Menschen abgestellten Theologumena sind auf Kommunikation hin umzuschreiben.

Eine Theologie, die sich auf soziale Systeme bezieht, wird sowohl in ihren kognitiven als auch normativen Ansprüchen auf Kommunikation umschalten müssen. Die hiervon berührten erkenntnistheoretischen Grundfragen können mit einem Blick auf Immanuel Kant verdeutlicht werden. Hatte Kant Erkenntnis noch in die Vernunft eingelagert, die anthropologisch gegeben zu sein schien, so löst sich die Systemtheorie von dieser anthropologischen Verankerung der Erkenntnis und geht auf soziale Systeme – wie beispielsweise Kommunikation – über. Wenn überhaupt, findet Erkenntnis in der Kommunikation, nicht aber im Bewusstsein (in wessen auch?) statt. Die operativ unterschiedenen Sphären Kommunikation und Bewusstsein erfordern eine Entscheidung für die eine oder andere Seite. Entweder Kommunikation oder Bewusstsein. Eine systemtheoretisch fundierte Theologie wird für eine kommunikativ verankerte Theologie optieren.

Der Bezug von Religion und Theologie auf Bewusstsein hat eine lange und gewichtige Tradition. Die Entwürfe von Friedrich D. Schleiermacher und Karl Barth sind je in ihrer Epoche noch einmal der Versuch, Religion und Theologie im Bewusstsein zu fundieren. Zugleich sind sie – wie aus der Art und Weise ihrer kommunikativen Dialektik bereits herauszulesen ist – unwissentliche Abgesänge auf den traditionellen Dauerbezug auf ‚den Menschen‘.

Offenbar scheint es nicht einfach zu sein, von Bewusstsein auf Kommunikation umzustellen, aber erst die Umstellung auf Kommunikation ermöglicht es, die gesellschaftliche Funktion von Religion und die wissenschaftliche Funktion der Theologie klären zu können. Beide Funktionen beziehen sich auf soziale anstatt auf psychische Systeme. Als soziale Funktionen haben sie den Status von Problemlösungskommunikationen, deren heuristische Frage lautet: Welches gesellschaftliche Problem bearbeitet die Religion und – in Folge davon – welches wissenschaftliche Problem soll die mit der Religion verbundene Reflexionstheorie Theologie lösen helfen?

2.3 Differenz und Einheit

Mit der Unterscheidung von Differenz und Einheit nehmen wir Bezug auf den Abschied der Systemtheorie von jenen Traditionen, wie sie u. a. Georg F. W. Hegel an den Sternenhimmel der Geschichtsvernunft gezeichnet hat. Der Zenit alteuropäischer Vernunft in dieser Hinsicht ist mit der Dialektik Hegels sowohl erreicht als auch im gleichen Atemzug wieder verlassen worden. Die Formel lautet: Dialektik bevorzugt die Einheit von und vor Differenzen. Sie beschreibt Differenzen, verbleibt darin aber bei einer vorausgesetzten oder nachgelieferten Einheit. Die Schwierigkeit dabei ist, dass begriffliche Einheiten nicht kommunikabel sind. Bei Hegel tritt dieses Problem in den nicht-kommunikablen Einheitsbegriffen wie z. B. Vernunft, Geschichte oder Geist auf. So verweist die Form der Dialektik, die schlussendlich in nicht-dialektische Einheitsbegriffe aufgeht, auf unerreichbares Bewusstsein. Allerdings ist festzuhalten, dass Begriffe wie Vernunft, Geschichte oder Geist durchaus unterscheidungstheoretisch gehandhabt und kommunikabel gemacht werden können.

Die Systemtheorie hat in all ihren Facetten vor- und durchgeführt, wie innerhalb der Unterscheidung von Differenz und Einheit auf der Seite Differenz vorzugehen ist. Die Formel lautet: Eine unterscheidungsbasierte Theorie bevorzugt die Differenz vor der Einheit. Mit anderen Worten: Die Differenz von Einheit und Differenz wird auf der Seite der Differenz bearbeitet. Von dort führt kein Weg zu Einheitsbegriffen. Kommunikation prozessiert in Unterscheidungen auch und gerade dann, wenn quasi einsinnig bestimmte Begriffe ohne mitgeführten Gegenbegriff benutzt werden. So treten die Begriffe Vernunft, Geschichte oder Geist als alleinstehend auf, sind aber sinnvoll bestimmbar nur dann, wenn ihnen ein Gegenbegriff zugeordnet wird. Unterscheidungstheoretisch gesehen kann Kommunikation demnach weder mit ununterscheidbaren Begriffen anfangen noch in einheitsstiftenden Abschlussformeln aufgehen.

Die System/Umwelt-Theorie als Differenztheorie kann in dieser Hinsicht für eine Theorie gesellschaftlicher Kommunikation ertragreich genutzt werden. Eine kommunikativ konstruierte Differenztheorie hat weder Anfang noch Ende, sondern beginnt mit kontingenten Unterscheidungen und tastet sich von dort aus zu anderen kontingenten Unterscheidungen weiter, die (ihrerseits) weder Anfang noch Ende bezeichnen (können).

Kommunikation – und mit ihr Erkenntnis – schreitet von Unterscheidung zu Unterscheidung fort und die verwendeten Begriffe erhalten (genau) dadurch ihren Sinn. Bei hinreichender Rekursivität der Kommunikation ist damit zu rechnen, dass sich „Eigenwerte“ bilden, die von der Kommunikation als Realität behandelt werden. Die Eigenwerte der Kommunikation können mit der Unterscheidung von System und Umwelt beobachtet werden, sodass sowohl Systeme als auch Umwelten ihre Realität dadurch gewinnen, dass sie kommuniziert werden. Im Ergebnis entsteht eine differenzierte System/Umwelt-Theorie, in der sich die Realität je nach Systemreferenz anders darstellt. Mit anderen Worten: Jede Kommunikation – und in Folge davon: jede Erkenntnis – ist von den verwendeten Unterscheidungen abhängig. Entsprechend entstehen systembezogene Realitäten und darin sich ereignende Sinnbezüge und -verweisungen.

3. Theologische Umstellungen

Die Überlegungen haben deutlich gemacht, dass die bisherige Theologie hinsichtlich der drei genannten Unterscheidungen alteuropäisch vorgeht. Für eine systemtheoretisch orientierte Theologie ergeben sich deshalb folgende Umstellungen.

Die erste Umstellung betrifft, ausgehend von der Unterscheidung Gemeinschaft (bzw. Gesellschaft) und Einzelner (bzw. Individuum), die (theologische) Anthropologie, die zweite Umstellung ist, im Rahmen der Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein, im Bereich der Wort-Gottes-Lehre vorzunehmen und die dritte Umstellung, hinsichtlich der Unterscheidung von Differenz und Einheit, bezieht sich auf den Bereich der Erkenntnistheorie. Alle drei Umstellungen führen schließlich zur Umstellung auf die Unterscheidung von System und Umwelt.

1. Erstens kann verkürzt formuliert gelten: Es ist von Anthropologie auf Soziologie umzustellen. Die Theologie hat sich, bedingt durch die Unterscheidung von Gemeinschaft und Einzelnem, stets auf eine anthropologische Basis gestellt. Ausgangs- und Fluchtpunkt aller Überlegungen war der „Kompaktbegriff“32 Mensch, der als variabel differenzierte Einheit vorausgesetzt wurde. Diese Anschauung kulminierte im Personbegriff: Der Mensch sei wesenhaft Person, so wie auch Gott wesenhaft Person sei. Problematisch an diesen Formulierungen waren nicht die Begriffe Person oder Mensch, sondern deren unterscheidungslose Verwendung.

Solange ein Begriff nicht von anderen Begriffen unterschieden wird, bleibt er inkommunikabel. Aber sobald beispielsweise der Begriff Mensch von einem anderen Begriff unterschieden wird, wird er kommunikabel, und zwar je nachdem, wovon er unterschieden wird. Der Mensch ist etwas anderes im Unterschied zur Natur, zum Tier, zum anderen Menschen oder zu Gott. Zudem bedeutet der Begriff Mensch etwas anderes, je nachdem wie er in sich unterschieden wird, ob nach Leib, Seele und Geist, nach Astral- und Ätherleib oder aber nach Wille und Vorstellung. Eine theologische Anthropologie hat demnach genau anzugeben, welche Unterscheidungen sie mit welchen Begriffen bildet, wenn sie nicht in inkommunikable Kompaktformulierungen geraten will.

In diesem Sinne ist eine Umstellung von anthropologischen Kompaktbegriffen auf soziologische Unterscheidungen anzuraten. Soziologische Unterscheidungen beziehen sich auf soziale und nicht auf psychische Systeme. Kommunikation aber ist das soziale System. Insofern bringt die Umstellung von Anthropologie auf Soziologie die Umstellung von Bewusstsein (als psychisches System) auf Kommunikation (als soziales System) bzw. die Umstellung aller Problem- und Problemlösungsbezüge vom Individuum auf Gesellschaft mit sich.

2. Zweitens kann formuliert werden: Innerhalb der Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation ist auf Kommunikation umzustellen. Das entspricht einer Theologie, die sich auf das Wort Gottes bezieht. Die Bezugseinheit sowohl religiöser als auch theologischer Kommunikation ist Kommunikation, nicht aber Bewusstsein. Weder kann das Bewusstsein kommunizieren, noch hat die Kommunikation Bewusstsein.33 Nur das Bewusstsein kann sich bewusst sein und nur die Kommunikation kann kommunizieren.34