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Bei einem mitternächtlichen Badeausflug zum See kippt die ausgelassene Stimmung, als plötzlich eine aus der Clique fehlt: Katrin war hinausgeschwommen und nicht zurückgekehrt. Ein Badeunfall? Franziska, Katrins beste Freundin, kann das nicht glauben. Doch auf der Suche nach einer Erklärung gerät sie selbst in Gefahr und muss bald feststellen, dass sie niemandem trauen kann - nicht einmal sich selbst ...
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Seitenzahl: 233
Susanne Mischke
Nixenjagd
Veröffentlicht als E-Book 2010 © 2007 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos von Steve Gorton © gettyimages ISBN 978-3-401-80077-6
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1
Die Menschen auf dem Bahnsteig waren schwer bepackt und die Gesichter zeigten jene satte Erschöpfung, die sich nach einem gelungenen Raubzug breitmacht. Samstag – Familien-Einkaufstag. Franziskas Ausbeute bestand lediglich aus zwei Büchern, doch damit war sie restlos zufrieden. Sie hatte nach einem Sommerkleid und leichten Schuhen Ausschau halten wollen, aber nichts Passendes gefunden. Das mochte daran liegen, dass sie zwei Stunden im Antiquariat verbracht hatte. Ihre Mutter würde sagen: vertrödelt. Danach hatte sie wenig Lust verspürt, nach Klamotten zu suchen. Es war ihr grundsätzlich lästig, mit der Auswahl und Anprobe von Kleidung Zeit zu vergeuden. Zeit, die man auch sinnvoll verbringen konnte. Zum Beispiel lesend. Die vertraute Frauenstimme kündigte das Einfahren des Zuges an. Türen glitten auf, die Menschen enterten die Wagen, als handele es sich um die Arche Noah und nicht um die S-Bahn. Mit einem Sitzplatz würde es wohl nichts werden, befürchtete Franziska, die ohne ihr Zutun vorangeschoben wurde. Musste sie halt im Stehen lesen. »Hier ist noch Platz«, hörte sie plötzlich eine Stimme. Ein Korb wurde vom Sitz genommen, eine kräftige, langfingrige Hand wies auf die frei gewordene Fläche. Lieber Himmel, durchfuhr es Franziska. Sollte sie wirklich...? Jemand rempelte gegen ihren Rücken, sie verlor das Gleichgewicht und plumpste auf den freien Sitz. »Hi«, sagte Paul.
»Hi«, sagte Franziska. Eine Dicke, beladen mit zwei prall gefüllten Plastiktüten, sank stöhnend neben sie. Franziska registrierte es kaum. Paul. Vor vier Wochen war er neu in ihre Klasse gekommen, in die 10 b. Seitdem geisterte er durch ihre Tagträume. Nicht nur, weil er ohne jeden Zweifel gut aussah: braune Locken, blaue Augen, athletische Figur. Das allein war es nicht. Auch Oliver sah gut aus, aber bei seinem Anblick bekam sie kein Herzklopfen. Paul dagegen ...Er wirkte erwachsener als die anderen Jungs in seinem Alter, und wenn sie im Unterricht zu ihm hinsah – was oft geschah, denn er saß schräg vor ihr –, dann bemerkte sie zuweilen etwas Melancholisches in seinen Zügen, eine leise, verborgene Traurigkeit, die etwas in ihrem Inneren berührte. Doch Franziska war nicht die Einzige, die sich zu Paul hingezogen fühlte. Ihre Freundin Katrin schleuderte jedes Mal reflexartig ihr Blondhaar zurück und versandte schmachtende Blicke, wenn Paul in ihre Nähe kam, und Silke, die mit Katrin um den Titelattraktivstes Mädchen des Jahrgangskonkurrierte, drückte automatisch ihr Kreuz durch und reckte ihre C-Körbchen in die Landschaft. Aber sämtliche Verrenkungen dieser Art waren bisher erfolglos geblieben. »Vielleicht ist er schwul«, hatte Katrin neulich verärgert vermutet. Sie war nicht gewohnt, ignoriert zu werden, und anders konnte man das freundlich distanzierte Verhalten Pauls kaum nennen. Wenn Katrin jetzt an meiner Stelle säße, dachte Franziska, würde sie ihre Chance nutzen: eine Unterhaltung, etwas Small Talk, vielleicht sogar eine Verabredung. Franziska krallte nur die Hände um ihren kleinen Rucksack und heftete den Blick auf den Korb mit Lebensmitteln, den Paul jetzt auf dem Schoß hatte. Die Bahn fuhr los und mit jedem Meter empfand Franziska das Schweigen unerträglicher. Wenn er doch was sagen würde. Schließlich bemerkte sie: »Du warst einkaufen.« Sehr originell, Franziska, wirklich super! »Ich will was kochen«, erklärte Paul. »Du kochst?« Hat er doch gerade gesagt. Franziska, du redest nur wirres Zeug. »Das finde ich toll«, sagte sie. »Mein Vater kocht auch ab und zu am Sonntag. Aber er hinterlässt immer eine Riesensauerei in der Küche.« Paul antwortete nicht und sah aus dem Fenster. Franziska fiel ein, dass jemand erzählt hatte, Pauls Vater sei vor zwei Jahren gestorben. Hätte ich doch nur den Mund gehalten. Die Dicke neben ihr tat einen tiefen Seufzer. Der Junge neben Paul hatte die Hörer seines MP3-Players eingestöpselt und bewegte den Kopf wie ein pickendes Huhn. Franziska verwünschte die ganze Bande. Sie wäre jetzt gern mit Paul allein gewesen. Um beschäftigt zu wirken, nahm sie eines ihrer Bücher heraus. Sie hatte ja ohnehin lesen wollen. Allerdings würde sie sich in seiner Gegenwart wohl kaum konzentrieren können. »Was liest du da?« Franziska sah auf, ihr Blick begegnete seinem. Ein kleiner Elektroschock durchfuhr ihren Körper. Wortlos hob sie das Buch an. Er lächelte. Franziska war sicher, dass sie ihn bis jetzt noch nie hatte lächeln sehen. Denn daran hätte sie sich erinnert. Es war wie ein Sonnenaufgang. Doch schon war es wieder verflogen. »Camilleri. Du magst Krimis?« Sie nickte. »Kennst du es?«, fragte Franziska. »Ja.«
Ging es vielleicht noch einsilbiger? Wenn er nicht reden wollte, warum fragte er dann nach ihrem Buch? Erneut musste Franziska an Katrin denken. Die hätte jetzt sicher die passende Bemerkung parat gehabt. Sie dagegen schwieg und spürte, wie sie rot wurde, während sie verlegen aus dem Fenster sah. Korn-und Rübenfelder zerflossen zu einem Mosaik in Gold und Grün. Aus der Plastiktüte auf dem Schoß der Dicken roch es nach Gorgonzola. »Und was liest du so?«, fragte Franziska, um die Unterhaltung nicht völlig einschlafen zu lassen. Wieder sah Paul stumm aus dem Fenster. Er schien da draußen etwas wirklich Interessantes zu sehen. Franziska wagte nicht, ihre Frage zu wiederholen. »Hesse«, sagte er nach über einer Minute. »Ich lese zurzeit viel von Hesse.Siddhartazuletzt.« »Ah. Meine Hesse-Phase hatte ich mit dreizehn«, hörte sich Franziska antworten. Was redete sie da schon wieder für einen Mist?Meine Hesse-Phase hatte ich mit dreizehn. Er wird mich für eine altkluge, affektierte Tussi halten. So wie ihr Vater neulich bemerkt hatte, sie müsse achtgeben, dass sie auf andere nicht zu blaustrümpfig wirke. Franziska hatte im Internet nachsehen müssen, wasBlaustrumpfbedeutete:Mauerblümchen, Frauenrechtlerin. Sie hatte ganz vergessen, ihren Vater zu fragen, ob ihm eine Tochter, die sich nur für Klamotten und Klingeltöne interessierte, lieber wäre. »Mädchen sind eben mit allem etwas früher dran«, antwortete Paul ironisch. »Ich habe es nur gelesen, weil es daheim herumlag«, versuchte sich Franziska in Schadensbegrenzung. Es war nicht einmal gelogen. Franziskas Mutter arbeitete für die Literaturredaktion des NDR, weshalb zu Hause schon immer stapelweise Bücher herumgelegen hatten. Sobald sie lesen konnte, hatte Franziskawahllos alles an Literatur verschlungen, was ihr in die Finger kam. Bücher waren wie Drogen, man konnte abtauchen aus der Wirklichkeit in eine andere Welt. »Aber ich befürchte, ich habe damals gar nichts verstanden«, setzte sie hinzu. Er nickte nur. Offensichtlich langweilte sie ihn. Franziska tat, als würde sie weiterlesen, aber ihr war klar, dass sie drauf und dran war, diese einmalige Gelegenheit, Paul etwas näherzukommen, ergebnislos verstreichen zu lassen. Schnell, ein anderes Thema musste her! »Wie gefällt es dir an der Schule?« »Ist okay.« »Und deiner Schwester? Sie geht in die Neunte, oder?« »Alexandra, ja. Die wird sich schon noch eingewöhnen. Mit dem Lernen tut sie sich eh leichter als ich.« Franziska hatte Paul in der Pause häufig zusammen mit einem großen, etwas grobgliedrigen Mädchen gesehen. Vielleicht, dachte sie nun insgeheim, würde sich Alexandra ohne ihren Bruder schneller eingewöhnen. »Wenn du mal Hilfe brauchst – in Mathe bin ich zwar auch nicht gerade eine Leuchte, aber sonst...« »Danke für das Angebot«, sagte er in einem Ton, der eine Annahme desselben kategorisch ausschloss. Schon wieder ein Fehler, dachte Franziska. Vielleicht sollte ich mal einen Kursus belegen:Wie flirte ich mit einem Jungen, ohne von einem Fettnapf in den nächsten zu treten.
Der Zug hielt, die Dicke stieg aus. Der Käseduft schwebte hartnäckig über den Sitzen. Nur noch fünf Minuten bis zu ihrer gemeinsamen Haltestelle. Los, Franziska, nutze deine Chance! »Was machst du sonst so – außer lesen?«, forschte sie in einem Anflug von Mut weiter.
»Tiere beobachten.«
»Was für Tiere?«»Alle möglichen. Ich setze mich mit dem Fernglas auf einenHochsitz und warte, was da so passiert. Manchmal mache ichFotos.«»Ich gehe auch oft in den Wald. Mit dem Hund meiner Tante.«»Warum habt ihr keinen eigenen?«»Mein Vater ist angeblich allergisch gegen Tierhaare. Aber ichglaube, er sagt das nur, weil er kein Haustier möchte.«»Kannst du still sein?«, fragte Paul.Franziska wurde von einer heißen Welle der Scham überspült.Sie hatte ihn also genervt mit ihrem Geplapper, dem krampfhaften Bemühen um eine Unterhaltung. Vielleicht hatte er lesen wollen, seinen Hesse, oder nachdenken, und sie . . . Franziska konnte sich nicht erinnern, jemals eine so peinliche Situation wie diese erlebt zu haben. Peinlich und demütigend. Schonspürte sie ein verräterisches Brennen in den Augen und etwas,das ihr die Kehle zuschnürte. Gleichzeitig registrierte sie, wieihr Gesicht allmählich die Farbe eines Radieschens annahm.»’tschuldige.« Es war ein kaum hörbares Flüstern. Alles in ihrschrie nach Flucht. Sie war im Begriff, aufzustehen und sich einen anderen Platz zu suchen, als er sagte: »Wenn du willst,kannst du mal mitkommen auf einen Hochsitz. Aber da mussman still sein, sonst bekommt man nichts zu sehen.«Franziska schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und nickte.»Gern«, presste sie hervor.Wieder hielt die Bahn an.»Ich sag dir Bescheid.« Er stand auf.»Das ist noch nicht unsere Haltestelle«, bemerkte Franziska.»Ich muss noch was erledigen«, sagte er. »Bis dann.«
Sie sah ihm nach, wie er auf den Bahnsteig sprang, den Rucksack schulterte und federnd die Treppen hinabstieg, wo ihn das Dunkel der Unterführung verschlang. Die Bahn fuhr an. Franziska lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wenn das Glück tatsächlich nur aus einzelnen Augenblicken bestand, wie oft zu lesen war, dann war dieser zweifellos einer davon.
2
Der Abend des heißen Sommertages war noch immer sehr warm, und obwohl die Sonne schon tief stand und die Büsche lange Schatten auf den Feldweg warfen, würde es noch mindestens bis zehn Uhr hell bleiben. Bruno jagte durch die Kornfelder, immer entlang der Treckerfurchen. Anfangs war Franziska in Panik geraten, wenn der Hund zwischen den hohen Halmen gänzlich verschwand. Inzwischen wusste sie, dass er immer wieder herausfand. Sie brauchte nur die Hundepfeife zu benutzen, die Tante Lydia ihr mitgegeben hatte, dann würde er irgendwo herausgeschossen kommen und sich an ihre Seite setzen. Ihr Onkel hatte den Hund sehr gut erzogen, sogar eine Jagdtauglichkeitsprüfung hatte Bruno abgelegt. Aber inzwischen war Onkel Herbert weggezogen. Seine Exfrau Lydia, die Schwester von Franziskas Mutter, musste nach der Trennung wieder mehr arbeiten und war froh, dass sich Franziska um den Hund kümmerte. Das tat sie an den Wochentagen jeden Nachmittag, denn sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Bruno den Tag allein verbringen musste. Dass ein Mann seine Frau verließ, konnte Franziska gerade noch verstehen, wenn auch nicht im Fall ihrer Tante Lydia. Aber seinen Hund zu verlassen? Wegen einer jüngeren Frau? Immerhin ein Gutes hatte Onkel Herberts Midlife-Crisis: Nun hatte Franziska fast so etwas wie einen eigenen Hund. Schon eine Woche war seit der gemeinsamen Bahnfahrt mit Paul vergangen. Er hatte seine Einladung auf den Hochsitz nicht konkretisiert. Ihn in der Schule anzusprechen, wagte sie nicht. Doch das Warten war quälend! Warum hatte sie ihn nicht nach einem Zeitpunkt gefragt, gleich eine Verabredung getroffen?Ich sag dir Bescheid.Ganz schön arrogant, eigentlich. Jungen in ihrem Alter hatten Franziska bis jetzt nie interessiert. Ihrer Ansicht nach waren sie in ihrer geistigen und emotionalen Entwicklung ein ganzes Stück zurückgeblieben. Ältere Jungen wiederum interessierten sich nicht für Franziska, die im Geheimen den Verdacht hegte, dass es auch bei denen nicht allzu weit her war mit der mentalen Reife. Man musste sich nur die albernen Abiturienten ansehen. Nur mit ihrem Klassenkameraden Oliver, der drei Hausnummern weiter wohnte, verband sie eine Freundschaft, die noch aus Sandkastenzeiten stammte. Er war gut in Mathe und half ihr ab und zu. Davon abgesehen war auch er ein Kindskopf. Doch Paul war anders. Mit welchem Jungen konnte man sich schon über Hesse unterhalten? Zugegeben, mit den allermeisten Mädchen ihres Alters ging das auch nicht. Franziska wusste, dass sie eine Außenseiterin war. »Du bist ein Bücherwurm«, warf Katrin ihr oft vor. Katrin war hübsch, witzig, schlagfertig und beliebt. Eigenschaften, die Franziska fehlten und die sie an Katrin bewunderte. Sie selbst war meistens um eine gute Antwort verlegen, und was ihr Aussehen anging – na ja. Erst heute Morgen hatte Franziska vor dem Spiegel im Bad gestanden und versucht, sich durch fremde Augen zu betrachten: Ihr Haar war kinnlang undgerade geschnitten. Viel zu brav. Dann diese Farbe, dieses Mausbraun. Ob ihr ein Kastanienton stehen würde? Oder Dunkelbraun? Unsinn! Davon wird mein Gesicht auch nicht hübscher. Die Nase ist nun mal zu spitz, die Lippen sind zu schmal, die Augen katzenhaft schräg, anstatt groß und rund wie bei Katrin.Graugrünstand in ihrem Pass. Mausbraun, graugrün – langweilig. Und viel zu kleine Brüste. Obwohl sie beim Sport die Mädchen mit den üppigen Oberweiten bedauerte. Aber dafür wirkten die auf das pubertierende männliche Geschlecht wie Erdnüsse auf Affen. Den nicht minder attraktiven Gegenpol bildeten die magersüchtigen Rehlein; Geschöpfe wie Ute, die es prächtig verstand, mit ihrem Ich-bin-so-klein-und-zerbrechlich-Gehabe Beschützerinstinkte zu wecken. Franziskas Figur war schlank, aber muskulös, mit ausgeprägten Waden und kräftigen Schultern. Sie war Klassenbeste im Weitsprung und konnte einen Schlagball über vierzig Meter weit werfen. Eigenschaften, die im Geschlechterkampf völlig nutzlos waren. »Dafür bist du gebildet und kultiviert«, hatte Katrin neulich zu ihr gesagt und zum ersten Mal war Franziska der Gedanke gekommen, dass Katrin sie, Franziska, beneiden könnte: um ein Elternhaus, in dem es Bücher gab, ein Theater-Abo und eine gewisse Konsequenz in der Erziehung. Katrins Eltern waren liebe, freundliche Menschen, die in ihrer Freizeit an ihrem Reihenhäuschen bastelten – und sich von ihrer Tochter auf der Nase herumtanzen ließen. Bücher gab es bei den Pankaus nicht viele, dafür besaß Katrin einen eigenen Fernseher und stets das coolste Handy und den angesagtesten MP3-Player. Gerne hätte sich Franziska mit ihrer Freundin beraten und sie gefragt, wie Pauls Verhalten zu verstehen sei und was sie tun sollte. Aber ausgerechnet in diesem speziellen Fall konnteFranziska nicht auf Katrins Hilfe zählen, das sagte ihr der Instinkt. Am Dienstag, in Kunst, hatte sich Katrin mit einer Pobacke auf Pauls Tisch gesetzt und irgendein fadenscheiniges Anliegen vorgetragen. Paul hatte die Einblicke, die das Spaghetti-Träger-T-Shirt bot, sehr wohl ausgekostet und die Tage danach hatte er sich auf dem Rückweg vom Pausenhof ins Klassenzimmer stets mit Katrin unterhalten. Würde Katrin ihre Annäherungsversuche einstellen, wenn Franziska sie über ihre Gefühle aufklären würde? Nein.In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt.Und dann waren da ja auch noch Silke, Ute, Ann-Marie...Eswar aussichtslos. Wahrscheinlich hatte Paul sein Versprechen – im Übrigen ein viel zu großes Wort für eine vage, zeitlich nicht definierte Verabredung – längst vergessen. Und das sollte sie auch tun, sagte sich Franziska, während sie nun den Feldweg entlangging: ihn vergessen. Von weiter hinten näherte sich ein Radfahrer. Franziska pfiff nach dem Hund. »Es gefällt mir nicht, dass du stundenlang allein durch die Feldmark spazierst«, nörgelte Franziskas Mutter in regelmäßigen Abständen. »Aber ich habe doch Bruno dabei.« »Dieses Spielkalb! Außerdem ist er bestechlich.« »Er sieht gefährlich aus, das reicht«, pflegte Franziska die Bedenken ihrer Mutter zu zerstreuen. Bruno war ein Deutsch Drahthaar Rüde von überaus freundlichem Wesen – sofern man ihm nicht in Gestalt einer Katze begegnete. Mit seiner kräftigen Statur, seinem rauen Fell und dem zerzausten Bart wirkte er auf Fremde Respekt einflößend, und wenn er tatsächlich einmal bellte, tat seine tiefe, volle Stimme ein Übriges.
Nein, die Spaziergänge mit Bruno würde sie sich nicht ausreden lassen, in diesem Punkt war Franziska stur, und mit Bruno dicht an ihrer Seite fürchtete sie sich vor niemandem. Das Fahrrad kam näher, sie hörte, wie es über die Schlaglöcher klapperte. Wo blieb der Hund? Im selben Augenblick sprang Bruno aus dem Kornfeld auf den Weg. Franziska griff nach seinem Halsband. Manchmal gönnte sich Bruno nämlich den kleinen Spaß und rannte Radfahrern ein paar Meter bellend hinterher, was bisher keiner von denen lustig gefunden hatte. Radbremsen quietschten, Reifen knirschten auf dem Kies. Franziska fuhr erschrocken herum. Bruno wuffte. »Da bist du ja«, keuchte Paul. Er stand in einer Wolke goldenen Staubs. »Alles in Ordnung, Bruno.« Franziska ließ das Halsband los und Paul hielt dem Hund beiläufig seine Hand hin, ohne ihn darüber hinaus zu beachten. Bruno grüßte durch kurzes Schwanz-wedeln und ging dann wieder seinen Interessen nach. Pauls Umgang mit Bruno gefiel Franziska. Sie mochte es nicht, wenn sich Leute auf ihn stürzten und ihn hätschelten. Menschen, die ihn scheinbar kaum beachteten, respektierte der Hund viel mehr. Franziska ging langsam weiter. Paul schob sein Rad neben ihr her. Er schnaufte. »Deine Mutter hat mir gesagt, dass du hier draußen irgendwo spazieren gehst.« »Warst du bei uns zu Hause?« »Ich habe angerufen.« Sie musste sich beherrschen, um nicht glückselig zu lächeln. »Gehst du Tiere beobachten?« Franziska deutete auf das Fernglas, das um seinen Hals baumelte. »Ja. Willst du mitkommen?«
»Gerne.« »Und der Hund?« »Das ist ein Jagdhund. Der ist es gewohnt, ruhig unter einem Hochsitz zu liegen.« Das war lediglich eine Vermutung, Franziska hatte es noch nicht ausprobiert. Sie gingen wortlos nebeneinanderher. Offenbar galt das Schweigegebot auch schon für den Weg zum Hochsitz. Angenehm kühl umfing sie der grüne Dämmer des Waldes. Ein schmaler Pfad führte vom Fahrweg ins Dickicht. Paul stellte sein Fahrrad an einer Buche ab und ging den Trampelpfad voran. Ein großer Vogel flog auf und verschwand im Zickzackflug zwischen den Bäumen. »Ein Habicht«, erklärte Paul leise. Franziska nickte nur. Sie würde sich heute auf keinen Fall zu unüberlegtem Geplapper hinreißen lassen. Der Hochsitz befand sich am Rand einer Lichtung. Es war eine Luxusausführung mit einer hüfthohen Brüstung und einem Dach aus Brettern. Franziska wusste von ihrem Onkel, dass solche Einrichtungen »Kanzel« hießen. Sie leinte Bruno am Fuß der Leiter an. »Platz und Ruhe!«, befahl sie und hoffte inständig, der Hund würde sich daran halten. Er winselte ein wenig als Franziska hinter Paul die Leiter erklomm, aber schließlich sank seine Schnauze seufzend ins dürre Gras. Dann saßen sie auf der schmalen Bank. Ab und zu berührten sich ihre Jeans. In unregelmäßigen Abständen setzte Paul das Fernglas an die Augen, deutete dann in eine Richtung und gab es ihr. Meistens sah Franziska gar nichts, aber das war ihr egal. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so wohl gefühlt zu haben wie neben Paul auf der harten Holzbank. Zum Schweigen verurteilt, vom lästigen Zwang geistreicher Unterhaltung befreit, konnte sie seine Gegenwart unbeschwert genießen. DieGeräusche des Waldes bildeten einen Klangteppich, auf dem sie selig dahinschwebte. Um das Idyll vollends komplett zu machen, tauchten ein paar Rehe am Waldrand auf. Der Wind stand günstig, sie konnten offenbar weder die Menschen noch den Hund wittern. Sie suchten auf der Lichtung nach zarten Gräsern, wobei sie immer wieder die Köpfe hoben und die Lauscher bewegten wie Radarschirme. Fast eine halbe Stunde lang dauerte die Mahlzeit, ehe die Tiere aus unerfindlichem Grund hochschreckten und im Dickicht verschwanden. Es war kühler geworden und die Schatten länger. Wie lange würde Paul noch da oben sitzen wollen? Würden ihre Eltern sich Sorgen machen, wenn sie nicht rechtzeitig zum Abendessen kommen würde? Ihr Vater hatte einen Grillabend angekündigt. Verdammt, warum hatte sie ihr Handy nicht dabei? Darauf bestand ihre Mutter immer wieder, aber meistens vergaß Franziska das lästige Ding. Wenn Paul zu Hause angerufen hat, werden sie sich denken, dass ich mit ihm zusammen bin, und sich keine Sorgen machen, beruhigte sie sich. Man kann eben nicht immer auf alle Rücksicht nehmen. Seine Schulter berührte die ihre. Franziska hielt den Atem an und bewegte sich nicht. Er neigte den Kopf, seine Haare kitzelten ihren Hals. Franziska fühlte, wie ein Beben durch ihren Körper ging. Gleich würde er sie küssen! Sie schielte auf sein Gesicht hinab. Eine Locke ringelte sich malerisch über die glatte Stirn, seine Lippen waren leicht geöffnet – er war eingeschlafen. Was jetzt? Sollte sie ihn wecken? Ob ihm das peinlich sein würde? Sie studierte sein Gesicht aus nächster Nähe: die langen dunklen Wimpern über den zarten Lidern, die makellose helle Haut, die weich geschwungenen Lippen, darüber ein kaum sichtbarer Haarflaum, das männlich kantige Kinn. Wie ein gefallener Engel, dachte sie und genierte sich sofort für diesen kitschigen Gedanken. Fast automatisch fuhr ihre rechte Hand durch sein Haar, das sich überraschend weich anfühlte und nach Laub roch. Sein Kopf lastete schwer auf ihrer linken Schulter, allmählich verkrampften sich ihre Muskeln. Plötzlich schlug er die Augen auf, sein Blick flackerte sekundenlang orientierungslos, ehe er den ihren auffing. Die Locken glitten ihr aus den Fingern. Paul setzte sich auf. »Entschuldige«, murmelte er. »Ich bin eingeschlafen.« »Macht nichts«, sagte Franziska. Ihre Stimme klang rostig, als hätte sie sie lange Zeit nicht benutzt. Er nahm ihre Hand, die eben noch sein Haar gestreichelt hatte, und betrachtete sie interessiert. Dann neigte er den Kopf und platzierte einen federleichten Kuss auf ihren Handrücken. »Wir müssen gehen«, sagte er und ließ ihre Hand los. Franziska spürte seine Lippen auf ihrer Haut, wie eine Brandwunde. Mit steifen Beinen kletterten sie die Leiter hinunter. Bruno begrüßte sie freudig. Auch auf dem Rückweg redeten sie nicht viel. Es war auch nicht notwendig. Franziska spürte eine nie gekannte Vertrautheit. Nur eine Frage musste sie unbedingt loswerden: »Kommst du nächstes Wochenende mit zum Blauen See?« »Was ist da?« »Das traditionelle Zeltwochenende der Oberstufe. Ab der Zehnten darf man mitmachen.« »Klingt gut«, sagte er. »Ein Zelt hab ich.« Franziskas Herz machte einen Hüpfer. Sie fragte sich, ob sie ihn zu sehr überrumpeln würde, wenn sie ihn noch zu sich nach Hause einlud. Es war kurz vor neun, der Grill sicher noch warm, und ihre Eltern würden weniger maulen, wenn sie den Grund ihrer Verspätung gleich mitbringen würde. Aber kaum hattensie die ersten Häuser erreicht, blieb er stehen und fragte:»Macht es dir was aus, allein nach Hause zu gehen? Ich binschon spät dran.«»Nein«, log Franziska.»Schön. Also, bis dann.« Er strich Bruno über den Kopf, nickteFranziska zu, stieg auf sein Rad und fuhr eilig davon.»Bis dann«, murmelte sie. Ihr war, als hätte man sie gerade unter eine eiskalte Dusche gestellt.
Doch die Enttäuschung verflog rasch. Die folgenden Tage verbrachte Franziska unter Hochspannung. Mit bangem Blick verfolgte sie den Wetterbericht. Gott sei Dank, die Prognose fürdas Wochenende war gut. Sie sah sich und Paul aneinandergeschmiegt am Feuer sitzen, im See schwimmen, gemeinsam inseinem Zelt aufwachen... Zweimal wurde sie von Frau Holze-Stöcklein, der Deutschlehrerin, mit lästigen Fragen, die sienicht mitbekommen hatte, aus ihren Tagträumen gerissen. Dasssich Paul in der Schule ihr gegenüber nicht wesentlich andersverhielt als vorher, beunruhigte Franziska nicht allzu sehr.Denn hin und wieder, ganz versteckt und unbemerkt von denanderen, sah er zu ihr hin oder lächelte ihr sogar zu. Dieses Lächeln! Wie viel Verheißung darin lag. Sie begriff: Paul wolltenicht, dass man in der Schule etwas über sein Privatlebenwusste. Das war in Ordnung. Auch Franziska fand es lächerlich,wenn Pärchen auf dem Schulhof händchenhaltend oder wildknutschend demonstrierten, dass sie miteinander »gingen«. Gerade bei denen war die Liebe dann meist sehr schnell zu Ende,und was blieb, war ein peinliches Einanderausweichen. Deshalb hatte sich Franziska hoch und heilig geschworen: nie miteinem Klassenkameraden! Am besten keinen aus der Schule.Doch da hatte sie Paul noch nicht gekannt.
Auch Katrin fiel die Veränderung an ihrer Freundin auf. »Was ist los, hast du dich verknallt?« Verknallt? Ja, das hatte sie wohl. Aber mit Katrin konnte sie auf keinen Fall darüber reden. »Wieso? Ich habe eine neue Frisur, das ist alles«, antwortete Franziska deswegen, allerdings mit einem verräterischen Strahlen in den Augen. Der neue Stufenschnitt verlangte nach einem gewissen Aufwand mit Föhn und Bürste. Das hieß zehn Minuten früher aufstehen. Aber das machte nichts, sie konnte neuerdings ohnehin nicht gut schlafen. »Wer ist denn der Glückliche?«, bohrte Katrin weiter. »Niemand«, antwortete Franziska. Spätestens am Blauen See würden Katrin schon die Augen aufgehen. Das wäre früh genug. Vor Aufregung und Vorfreude konnte sie kaum noch etwas essen. »Bist du auf Diät?«, fragte ihre Mutter mit süffisantem Lächeln. Franziska verneinte. »Gibt es sonst etwas in deinem Leben, das ich als deine Mutter erfahren müsste?« Auch das bestritt Franziska. Das Donnerwetter wegen des Zuspätkommens am Samstag war erstaunlich milde ausgefallen. Vielleicht, weil ihre Tante Lydia zu Besuch gewesen war. »Lass das Mädel doch mal ein Rendezvous haben«, hatte sie zu ihrer jüngeren Schwester Frauke gesagt. »Wenn ich mich recht erinnere, hattest du dein erstes mit dreizehn.« »Hört, hört«, hatte ihr Vater bemerkt und seine Frau mit einem Ausdruck gespielten Befremdens betrachtet. Tatsächlich schienen Franziskas Eltern eher erleichtert darüber zu sein, dass sich ihre Tochter endlich mal mit einem Jungen herumgetrieben hatte. Hegten sie etwa die Sorge, sie würde keinen abbekommen?Doch im Grunde war es Franziska egal, was ihre Eltern dachten.Was zählte, war Paul. Paul, Paul, Paul. Immer wieder wanderten ihre Lippen über die Stelle, auf die er seinen Handkuss gedrückt hatte. Dann bekam sie am ganzen Körper Gänsehaut.
3
Die Nacht war sternklar und der Vollmond versilberte dieBlätter der Bäume, zwischen denen sie die Zelte aufgeschlagenhatten. Franziska stocherte mit einem Stock in der Glut des Lagerfeuers. Außer ihr saß noch ein knappes Dutzend Schüler, diemeisten aus ihrem Jahrgang, um das Feuer. Der Rest hatte sicheinzeln oder pärchenweise in die Zelte verkrümelt. Etliche Ältere waren vorhin in eine Disco gefahren.Ein Joint machte die Runde. Franziska gab ihn weiter. Es ekeltesie zu sehr vor dem spuckefeuchten Papier. Außerdem hielt sieeh nicht viel von dem Zeug.»Willst ’n Schluck?«Oliver setzte sich neben sie und reichte ihre eine Flasche. DerInhalt schmeckte wie Limonade, nur eine Spur Alkohol konnteman wahrnehmen. Franziska leerte die kleine Flasche fast in einem Zug. Ihr gegenüber saß Robert aus der Elften, den Katrinseit kurzem als ihren »Ex« bezeichnete. Er hob feierlich dieHand und verkündete: »Ey, Leute, ich sach euch was: Katrin issvoll die Schlampe.« Ein Rülpser bahnte sich seinen Weg, ehe erbekräftigte: »Voll die geile Schlampe, ey.«»Das kannst du laut sagen«, piepste Silke und schenkte Roberteinen langen Blick aus ihren kajalumrandeten Augen.
Franziska mochte weder Silke noch Robert sonderlich, aber ausnahmsweise war sie heute Abend ganz deren Meinung. Zum wiederholten Mal wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts über Nase und Augen. Nicht heulen. Keiner ist es wert, dass man seinetwegen heult. Das sagte sie sich immer wieder, wie ein Mantra. Nein, ich heule nicht. Es ist nur der Rauch, den mir der Wind in die Augen treibt, nur der Rauch...Sie merkte, wie der Alkohol wirkte. Die Gesichter der anderen zerrannen zu unscharfen Fratzen, und wenn sie die Augen schloss, drehte sich die Welt wie ein Karussell. Es war ihr egal. Silke zog den Gettoblaster heran und drückte auf die Wiedergabetaste.Die Red Hot Chilli Peppersschepperten aus dem Gerät. Franziska wischte genervt Olivers Arm von ihrer Schulter. »Lass das!« Am liebsten wollte sie nach Hause. Aber natürlich ging das jetzt nicht, mitten in der Nacht. Silke und Robert tranken nun abwechselnd aus einer Flasche mit Wodka und einer mit Bitter Lemon. Das Mischen des Getränks übernahmen sie küssenderweise. Es war eine einzige klebrige Schweinerei, unappetitlich, widerlich, fand Franziska. Sie wollte allein sein. Im Aufstehen wunderte sie sich, wie wackelig ihre Beine waren. Dieses Limonadenzeugs, das sie seit Einbruch der Dämmerung trank, hatte es wirklich in sich. Auch Paul schien zu viel davon erwischt zu haben – hätte er sich sonst schon um zehn Uhr mit den Worten »Ich bin hinüber, ich leg mich ins Zelt« zurückgezogen? Bis dahin hatte er sich nur in sehr freundschaftlich korrekter Weise mit ihr abgegeben: Er hatte geholfen, die Heringe vonFranziskas Zelt im Boden zu verankern, aber das hatte er auchbei anderen getan.Zusammen mit Katrin und Silke waren Franziska und Paul zumKiosk gegangen, ein Eis essen. Silke hatte – angeblich der Hitzewegen – ihr T-Shirt nass gemacht und der ganze Campingplatzkonnte sehen, dass sie darunter kein weiteres Textil trug. Katrinwar für ihre Verhältnisse züchtig gekleidet, ließ jedoch ihreZunge auf höchst ordinäre Art um ihr Waffeleis kreisen. Dabei