Alle sehen dich - Susanne Mischke - E-Book
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Susanne Mischke

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

In Bodo Völxens Dienststelle herrscht Chaos: Anwärter Joris Tadden soll gleich zwei Kommissare vertreten, die für unbestimmte Zeit ausfallen. Die Frauen schwärmen für den waschechten Friesen, aber Völxen sieht nur die Unerfahrenheit. Außerdem schlägt er sich mit der geltungssüchtigen Bloggerin Charlotte Engelhorst herum, die sich verfolgt fühlt und jeden auf infame Weise verdächtigt. Zu Unrecht? Doch dann verunglücken Personen aus ihrem Umfeld tödlich. Ist ein Follower tatsächlich zum Verfolger geworden? Völxen lässt sein Team ermitteln, nicht ahnend, dass auch der suspendierte Erwin Raukel im Hintergrund mitmischt.

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Seitenzahl: 470

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Sandra Cunningham / Trevillion Images

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

April 2022

Samstag, 2. April 2022, am Vormittag, so gegen zehn Uhr

zwei Monate zuvor …

Februar 2022

Donnerstag, 10. Februar, früh am Morgen

Donnerstag, 10. Februar, spät am Abend

Freitag, 11. Februar, irgendwann am Abend

Montag, 14. Februar 2022, zeitig am Morgen

Montag, 14. Februar 2022, es geht auf die Mittagszeit zu …

Noch immer Montag, 14. Februar, Mittagszeit

Montag, 14. Februar 2022, inzwischen ist es Nachmittag

Montag, 14. Februar, später Nachmittag

Montagabend, 14. Februar, das Ende eines langen Tages

Zwei Tage später, Mittwochabend, 16. Februar

März 2022

Mittwoch, 9. März 2022, am Vormittag

Mittwoch, 9. März 2022 am Nachmittag

Mittwoch, 9. März 2022, zur Abendessenszeit

Donnerstag, 10. März 2022, morgens auf der Dienststelle

Donnerstag, 10. März 2022, am frühen Abend

Donnerstag, 10. März 2022, später am Abend

Freitag, 11. März, 2022, zeitig am Morgen

Zwanzig Jahre früher

Mittwoch, 19. Juni 2002, kurz vor Feierabend

Mittwoch, 19. Juni 2002, am Abend

Donnerstag, 20. Juni 2002, am Vormittag

Freitag, 21. Juni 2002, gegen Mittag

Freitag, 21. Juni 2002, gegen 17:00 Uhr

März 2022

Freitag, 11. März 2022, nicht mehr ganz so früh am Morgen

Freitag, 11. März 2022, kurz vor Feierabend

Samstag, 12. März 2022, am Nachmittag

Samstag, 12. März, später Nachmittag

Sonntag, 13. März 2022, gegen Mittag

Mittwoch, 16. März 2022, am Vormittag

Mittwoch, 16. März 2022, um die Mittagszeit

Mittwoch, 16. März 2022, am Nachmittag

Mittwoch, 16. März 2022, am frühen Abend

Donnerstag, 17. März 2022, am Morgen

Donnerstag, 17. März 2022, kurz vor 16:00 Uhr am Nachmittag

Samstag, 19. März 2022, am Abend

Montag, 21. März 2022, am späten Nachmittag

Donnerstag, 24. März 2022, früh am Morgen

April 2022

Freitag, 1. April, 2022, am frühen Abend

Freitag, 1. April 2022, später am Abend

Samstag, 2. April 2022, am Vormittag

Sonntag, 3. April 2022, am Morgen

Samstag, 9. April 2022, am späten Nachmittag

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

April 2022

Samstag, 2. April 2022, am Vormittag, so gegen zehn Uhr

»Willst du nicht mal die Sonnenbrille absetzen, Bodo? Ich komme mir vor, als würde ich mit einem Mafioso frühstücken.«

Hauptkommissar Bodo Völxen und seine Frau Sabine nehmen ihr spätes Frühstück auf der Terrasse ein, wobei es Völxen an diesem Samstagmorgen mit Kaffee und einem trockenen Knäckebrot noch sehr langsam angehen lässt. Mehr geht nicht. Sein Schädel brummt wie ein Bienenschwarm, und bei jeder schnellen Bewegung sticht es in seinem Kopf. Die Abschiedsfeier seiner besten Mitarbeiterin, Oda Kristensen, gestern Abend hat ihre Spuren hinterlassen, sowohl körperliche als auch seelische.

»Zu hell.«

Seine Gattin quittiert den Hinweis mit einem, wie ihm scheint, leicht schadenfrohen Lächeln. Sie war auch dabei, aber als Chauffeurin hat sie sich mit Apfelschorle begnügt. Deshalb ist sie heute fit wie ein Turnschuh, er dagegen fühlt sich eher wie ein Turnbeutel.

»Das war gestern schon das zweite Mal in zwei Wochen, dass du dich betrunken hast.«

»Führst du Buch über meine Räusche?«

»Du hast mir noch immer nicht gesagt, wo du beim letzten Mal gewesen bist.«

»Dienstgeheimnis«, antwortet Völxen und rückt seine uralte Ray-Ban auf der Nase zurecht.

»Ich könnte dir einen Sauerampfer-Spinat-Smoothie mit Zitronensaft und Honig machen.«

»Hol mir lieber einen Rollmops und ein Stützbier.«

Sabine verdreht die Augen, was Völxen als Ablehnung deutet.

Er lehnt sich zurück und lässt hinter der Sonnenbrille seinen Blick durch den Garten schweifen, in dem es frühlingshaft grünt, blüht und summt. Tulpen in den wildesten Farben und Mustern sind aufgegangen, im Hochbeet sprießt der Salat, und die ersten Erdbeeren, zwar noch klein und blass, verheißen künftige Genüsse. Neulich ist ihm die Bemerkung entschlüpft, das Gemüsebeet sehe, verglichen mit dem drüben, beim Hühnerbaron, ziemlich unordentlich aus. Prompt musste er sich einen Vortrag über biologisches Gärtnern und Permakulturen anhören, welcher erst verstummte, als Völxen sich für seine unqualifizierte Bemerkung entschuldigte und hinzufügte, solange sie keine mit Kuhdung gefüllten Hörner bei Vollmond vergrabe, sei alles in bester Ordnung.

Seit Sabine vor zwei Jahren die Zahl ihre Unterrichtsstunden im Fach Klarinette an der Musikhochschule reduziert hat, widmet sie sich voller Eifer der eigenen Scholle. Zuvor haderte sie immer wieder einmal mit dem Landleben, aber inzwischen scheint sie völlig darin aufzugehen und setzt neuerdings sogar auf Selbstversorgung in Sachen Obst und Gemüse. Anfangs hat Völxen das ambitionierte Vorhaben belächelt, doch längst zeigen sich die Erfolge, auch wenn es mit der Selbstversorgung noch nicht hundertprozentig klappt. Die Früchte der eigenen Arbeit sowie ein Regal voller Einmachgläser und genug Marmelade für die nächsten zehn Jahre vermitteln Sabine – und, zugegeben, auch ihm selbst – ein wenig das Gefühl von Kontrolle und Autonomie. Damit erfüllt der Garten einen wertvollen therapeutischen Zweck, der in Zeiten wie diesen nicht zu unterschätzen ist. Natürlich wird einem nichts geschenkt. Es ist es ein ständiger Kampf, es gilt, Widrigkeiten zu trotzen, als da wären: Hagel, Sturm, Schadinsekten, Raupen, Pilzbefall, Stare im Kirschbaum und die schlimmste aller Plagen: ein buddelnder Terrier.

Apropos Tiere … »Wir müssen unbedingt noch vor Ostern die Schafe scheren.«

»Ohne mich«, erwidert Sabine. »Ich hol mir nicht wieder ein blaues Auge von deinem Bock wie im letzten Jahr.«

Die Schafschur ist wirklich kein Vergnügen. Besonders der Schafbock Amadeus zeigt sich dabei ausgesprochen – nun ja, bockig. Ihn an die Schermaschine zu bekommen verlangt sowohl nach den Fähigkeiten eines Profiringers als auch nach denen eines Matadors.

»Warum engagierst du keinen professionellen Scherer? Das wäre auch besser für deinen lädierten Rücken«, schlägt Sabine vor.

»Als ob sich einer wegen fünf Schafen hierherbequemt! Außerdem sind die Kerle viel zu grob. Das eine Mal, als doch einer kam, waren Salomé und Mathilde danach wochenlang traumatisiert.« Völxen erhebt sich, seinem Zustand entsprechend, mit gravitätischer Langsamkeit vom Stuhl. »Ich sehe mal nach den Schafen.« Noch immer nicht ganz er selbst, trottet der Hauptkommissar durch den Garten, vorbei am Geräteschuppen und dann zur Obstwiese, gefolgt von Oscar, der sein Herrchen fröhlich kläffend umspringt.

»Oscar! Schluss mit dem Radau, mir platzt gleich der Schädel!«

Ein Hinweis, der den Terriermischling nicht die Bohne interessiert.

Sabine Völxen stellt die Reste des Frühstücks auf das Tablett und schenkt sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Nur noch einen Moment die Sonne genießen. Sie schließt die Augen und lässt die Geräuschkulisse eines Samstagvormittags in ländlicher Umgebung auf sich wirken: das Keifen der Spatzen, das Krächzen einer Krähe, das Brummen diverser Rasenmäher, das Aufheulen hochgedrehter Motorräder auf der nahen Bundesstraße. Irgendwo bellt ein Hund, und drüben, beim Hühnerbaron, jault eine Kettensäge. Nun piept auch noch ihr Handy. Es vermeldet einen neuen Beitrag von Über den Gartenzaun. Wie schön!

Sabine nimmt die Tasse mit ins Haus, um sich das Video auf dem größeren Bildschirm des Laptops anzusehen. Jetzt, im Frühjahr, stellt Charlotte Engelhorst fast täglich einen neuen Beitrag ein. Meistens werden in den Videoclips Gartenthemen behandelt, aber längst nicht nur. Der Name Über den Gartenzaun ist Programm, es fühlt sich tatsächlich an, als träfe man eine gute Nachbarin und Freundin am Zaun und spräche mit ihr über dies und das, was eben gerade anliegt. Wobei das Gespräch in diesem Fall natürlich etwas einseitig ist und man bestenfalls einen Kommentar hinterlassen kann. Doch das tut der Sache keinen Abbruch. Sabine mag die herzerfrischende Art, in der die Frau frei von der Leber weg über Gott und die Welt und ihre Mitmenschen plaudert, man könnte auch sagen: lästert.

Die Gartenfee, wie sie neulich von einer Moderatorin des Norddeutschen Rundfunks genannt wurde, ist vierundsechzig Jahre alt, woraus sie keinen Hehl macht, und damit nur wenige Jahre älter als Sabine Völxen. Vielleicht ist auch das ein Grund, weshalb Sabine beim Betrachten ihrer Videos eine gemeinsame Wellenlänge und manchmal beinahe eine gewisse Seelenverwandtschaft zu spüren glaubt.

Vor sechs Jahren wurde Charlotte Engelhorst von ihrem Ehemann, einem Banker, verlassen, auch davon berichtete sie aufrichtig, zuweilen schon fast zu sehr. Sabine gehörte damals noch nicht zu Charlottes Fans, denn deren Rosenkrieg hätte sie wohl kaum interessiert. Sabine wurde erst zur Followerin, nachdem Charlotte Engelhorst geschieden war, einen heruntergekommenen Bauernhof in der Wedemark kaufte und damit einen ziemlich verwilderten Garten übernahm.

Dies erinnerte Sabine lebhaft an die Zeit vor dreißig Jahren, als sie und Bodo den alten, renovierungsbedürftigen Bauernhof südlich von Hannover erwarben. Hätte es damals schon Smartphones gegeben, hätte sie bestimmt ebenfalls einiges von dem festgehalten, was sie und ihr Gatte nach Dienstschluss und am Wochenende dort anrichteten. Das wäre heute sicher unterhaltsam. So gibt es von ihren dilettantischen Baumaßnahmen sowie der Anfangszeit als Schafhalter beziehungsweise Gärtnerin nur ein paar verwackelte Videos auf VHS-Kassetten, die schon ewig lange keiner mehr angeschaut hat. Ist vielleicht auch besser so.

Charlotte Engelhorst, die, wie sie regelmäßig betonte, die Nase gestrichen voll hatte von Männern und festen Beziehungen, gründete auf ihrem Hof eine zünftige Wohngemeinschaft. Früher hätte man es eine alternative Land-WG genannt, aber inzwischen ist das einst Alternative eher die Norm. Charlotte Engelhorst ließ ihre Fangemeinde von Beginn an regen Anteil an diesem Projekt nehmen, und auch Sabine verfolgte, wie sie die Wildnis in ein kleines Paradies verwandelte. Die Wohngemeinschaft bestand anfangs vorwiegend aus Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Von der Schamanin mit grauem Wallehaar bis zu einer sehr burschikosen, wahrscheinlich lesbischen Schreinerin mit einem Kreuz wie ein Gewichtheber war alles dabei. Inzwischen ist die Gemeinschaft deutlich kleiner geworden, dennoch sind die Erlebnisse und Querelen, die sich daraus ergeben, bisweilen Thema ihrer Videos. Charlottes Ehrlichkeit geht dabei bis an die Schmerzgrenze – die eigene und die anderer – und manchmal auch darüber hinaus. Manche finden sie rücksichtslos, sie selbst nennt es authentisch, und ihre treuen Fans lieben sie dafür. Über den Gartenzaun zu verfolgen ist, als würde man einer Nachbarin heimlich in den Garten und ins Wohnzimmer schauen und an deren Leben teilhaben. Sabine ist klar, dass die Gartenfee damit hauptsächlich den Voyeurismus ihrer Mitmenschen bedient – und Kasse macht. Längst bewirbt sie allerhand Bioprodukte, Naturkosmetik und Gartenzubehör. Was Sabine selbst betrifft: Sie folgt dem Video-Blog selbstverständlich nur wegen der Gartentipps und der Kochrezepte.

Sie fährt ihren Rechner hoch und klickt den Link an. Eigenartig, Charlotte steht nicht, wie man zu dieser Jahreszeit erwarten könnte, mit dem Spaten im Beet, sondern sie sitzt in steifer Haltung am Tisch in ihrem Studio. Sie, die immer darauf achtet, auch bei noch so anstrengenden Arbeiten bella figura zu machen und gepflegt auszusehen, wirkt heute reichlich derangiert. Sie trägt gar kein Make-up, was sie auf einen Schlag zehn Jahre älter aussehen lässt, und das blondierte Haar, sonst stets lässig-kunstvoll aufgesteckt, hängt strähnig herab. Was hat sie da an? Ist das ein Schlafanzug? Ihr Gesichtsausdruck ist verängstigt, und sie spricht in abgehackten Sätzen und mit tränenerstickter Stimme. Noch schockierender ist das, was sie vorbringt.

»Ich möchte … ich muss euch etwas mitteilen. Ich bin nicht … nicht die nette Frau von nebenan. Das ist nur Fassade, eine Täuschung. Ich bin süchtig nach Anerkennung. Und … und es geht auch um Geld. Ich bin geldgierig, und mein Leben ist gespickt mit Verrat und miesen Tricks. Ich belüge alle und jeden, und das … das jeden Tag. Im Kern meines Wesens … bin ich niederträchtig und egoistisch. Das ist … meine wahre Natur.«

In den Pausen zwischen den Wörtern sieht es aus, als würde sie jemanden ansehen, der sich Raum befindet, oder als lese sie den Text irgendwo ab. Sabine beschleicht das Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Zwar muss man bei Charlotte immer mit Überraschungen rechnen, und sie hat auch wenig Scheu vor Selbstentblößung, aber das hier geht dann doch zu weit.

»Ich habe Menschen geschadet. Ich habe sie ausgenutzt und belogen. Ich habe … das Leben anderer zerstört. Mit meinen Lügen. Es tut mir …« Plötzlich stößt Charlotte Engelhorst einen Schrei aus und zuckt zusammen. Hinter ihr erscheint eine maskierte Gestalt, die ihr schnell eine weiße Plastiktüte über den Kopf stülpt. Hände in schwarzen Handschuhen halten die Tüte fest und ziehen sie am Hals zu. Vorn auf dem Plastikbeutel, quer über Charlottes verdecktem Gesicht, steht in roten Lettern das Wort Lügnerin, darunter ringt Charlotte nach Luft. In grausiger Deutlichkeit erkennt man das pulsierende Oval, wo ihr Mund die Tüte ansaugt. Charlotte windet sich, wirft den Kopf hin und her, doch mehr kann sie offenbar nicht tun. Ihre Hände sind vermutlich an den Stuhl gefesselt, schon während dieses seltsamen Geständnisses waren sie nicht zu sehen. Charlotte versucht dennoch aufzustehen, doch die Gestalt hinter ihr drückt sie in ihren Sessel.

Dann verwackelt die Aufnahme, und der Bildschirm wird dunkel.

Sabine Völxen starrt auf die schwarze Fläche. Sie vernimmt einen leisen Wimmerton und merkt, dass er von ihr selbst kommt. Was war das? Ein Todeskampf live im Netz? War sie gerade Zeugin eines Mordes, wurde Charlotte Engelhorst vor laufender Kamera umgebracht?

Sie springt auf, will in den Garten, zu ihrem Ehemann, der für so etwas zuständig ist, doch gerade kommt er gut gelaunt zur Tür herein, in der Hand ein Glas mit Rollmöpsen, und verkündet, dass auf den Hühnerbaron und seine Hanne einfach Verlass sei. »Ordentliche Beete und Rollmöpse im Kühlschrank, so gehört sich das.«

Sabine hört ihm gar nicht zu. »Das hast du nun von deiner Ignoranz!«, schreit sie ihn an. »Du hättest sie ernst nehmen sollen! Sie hatte recht, mit allem hatte sie recht! Und jetzt ist sie ermordet worden! Gerade eben, vor meinen Augen!«

»Was? Wer denn?« Völxen, überrumpelt, merkt erst jetzt, dass seine Gattin vollkommen aufgelöst ist. Er stellt das Glas beiseite und fasst sie bei den Schultern. »Sabine! Wovon redest du? Was ist passiert?«

In diesem Moment klingelt auch schon sein Handy.

zwei Monate zuvor …

Februar 2022

Donnerstag, 10. Februar, früh am Morgen

Ansgar Buschestellt die Futtereimer weg und schließt die Tür des Stalls. Zurück bleiben zwanzig zufrieden schmatzende Bentheimer Landschweine. Seit er und seine Lina Rente bekommen, kann er es sich leisten, praktisch einen Bilderbuch-Bauernhof zu betreiben. Die Schweine führen ein artgerechtes Schweineleben, mit Auslauf und Suhle und allem Drum und Dran. Wenn sie schließlich geschlachtet werden, gibt es schon vorgemerkte Kunden, die ihr Fleisch kaufen werden, teilweise haben sie sogar schon im Voraus bezahlt. Ähnlich läuft es mit den Gänsen und den Hühnern und mit deren Eiern. Busche hat sich nicht lange mit den Zertifizierungen für irgendein Bio-Siegel aufgehalten, er hat es nicht mit der Bürokratie, er macht es so, wie er es für richtig hält. Man kennt ihn in der Wedemark, die Leute wissen, dass er seine Tiere anständig behandelt, und glückliche Tiere sind seinen Kunden wichtiger als Zertifikate. Regelmäßig kommen Schulklassen bei Bauer Busche vorbei, denen das Leben auf einem Bauernhof vermittelt werden soll. Ansgar ist dann jedes Mal versucht, den lieben Kleinen zu erklären, dass sein Hof kein normaler Bauernhof ist. Normal sind heute Agrarfabriken und Massenställe, sein Hof ist dagegen eine Art Museum, das die nostalgischen Klischees seiner Kundschaft bedient und ihnen ein gutes Gewissen beschert, wenn bei der Gartenparty die Koteletts seiner Schweine auf dem Grill liegen. Natürlich hält er vor den Kindern den Mund. Lina würde das nicht gut finden, sie mag es und blüht jedes Mal auf, wenn die Kleinen den Hof besuchen. Deswegen hat sie auch die zwei Esel und das alte Pony von einem Gnadenhof übernommen, und demnächst wird ein Hund hier einziehen. So weit hat sie ihn schon! Wenn er nicht aufpasst, eröffnet Lina hier selbst noch eine Art Tierheim. Dabei sind sie beide nicht mehr die Jüngsten, doch ans Aufhören denken sie nicht. Im Gegenteil, ohne finanzielle Zwänge macht der Hof erst richtig Freude.

Andere sehen das nicht so. Was hat man ihnen nicht schon für sagenhafte Preise für ihren alten Hof geboten! Regelmäßig bekommen sie Besuch von Maklern und Bauträgern.

»Nichts da, ein paar Jährchen machen wir schon noch«, pflegt Lina dann immer zu sagen. »Wo sollten wir denn auch hin? In eine Stadtwohnung, in ein Altenheim?«

Und Ansgar pflegt dann zu antworten: »Niemals! Eher sterbe ich!«

Ansgar überquert den Hof. Es ist kalt, sein Atem bildet Wolken vor seinem Gesicht. Im Flur zieht er die Stiefel und die Stallklamotten aus, schlüpft in seine Filzpuschen und den Trainingsanzug und setzt sich an den gedeckten Frühstückstisch. Rührei und Schinken gibt es, man kann es riechen, und natürlich Kaffee. Der dampft schon im Becher. Während er voller Vorfreude wartet, bis Lina den Teller mit den Eiern vor ihn hinstellt, schaut er automatisch aus dem Fenster. Etwas ist anders. Krähen picken in dem Feld mit dem sprießenden Winterweizen, aber das ist es nicht, es ist … »Lina! Die Vogelscheuche ist weg.«

»Was redest du denn da?« Lina zieht die heiße Pfanne von der Herdplatte, stellt sich neben ihn und sieht ebenfalls zum Fenster hinaus.

»Tatsache. Die ist weg«, stellt sie fest. »Gestern war sie noch da, das kann ich beschwören.«

»Stimmt, da war sie noch da.«

»Vielleicht hat sie der Wind umgeweht?«, überlegt Lina. »Gestern Abend hat’s schon ziemlich gewindet.«

»Dann müsste sie ja irgendwo liegen. Oder glaubst du, sie ist kilometerweit davongeflogen?«

»Wer weiß? Das Wetter wird immer verrückter, vielleicht war’s ein Taifun.«

Ansgar winkt ab und steht auf.

»Wo willst du denn hin? Die Eier werden kalt!«

»Vielleicht liegt sie ja doch irgendwo im Hof. Vielleicht hat sich jemand einen Scherz erlaubt.« Ansgar geht hinaus und schlüpft erneut in die Stiefel. Ein paar Minuten später kommt er wieder herein. »Weg. Geklaut.«

»Also wirklich!«, schnaubt Lina entrüstet.

Ansgar setzt sich hin, isst sein inzwischen kaltes Rührei und trinkt den Kaffee.

»Sollten wir es der Polizei melden?«, überlegt Lina.

»Quatsch«, meint Ansgar. »Eine Strohpuppe mit einer alten Joppe, die ist doch nichts wert.«

»Für mich war sie schon was wert. Die Erstklässler haben sie gemacht, es war ein Geschenk.«

Ansgar fährt mit einem abgerissenen Stück Brot über seinen Teller, bis er blitzblank ist. Dann isst er den Bissen auf und sagt: »Die lachen uns doch aus auf der Wache.«

»Und wenn es eine Art Drohung sein soll?«, meint Lina.

»Wer sollte uns denn drohen, indem er die olle Vogelscheuche klaut?«

»Dieser Bauträger, der so scharf auf den Hof ist«, antwortet Lina ernst.

Ansgar schüttelt den Kopf. »Unsinn, Lina, was reimst du dir da zusammen? Das waren besoffene Jugendliche, jede Wette. Du guckst viel zu viele Krimis!«

Donnerstag, 10. Februar, spät am Abend

Joachim Engelhorst durchquert die Tiefgarage und entriegelt seinen Wagen per Fernbedienung. Außer seinem silberfarbenen Mercedes stehen noch fünf weitere Autos der Luxusklasse auf dem Deck der Tiefgarage, welche sich unter dem Gebäude der Privatbank Engelhorst & Wegener befindet. Er wirft seine Aktentasche achtlos ins Wageninnere, lässt sich mit einem Stöhnen auf den Fahrersitz sinken und reibt sich über das Gesicht. Es ist spät geworden, die Zusammenkunft des Vorstands hat dieses Mal deutlich länger gedauert als sonst. Sicherlich bleiben die anderen noch eine Weile, vielleicht köpfen sie gerade den Champagner oder öffnen einen der edlen Whiskys, die Selbach in seinem Büro hortet, um zu feiern, dass sie ihn los sind. Den Alten.

Was sich seit Monaten anbahnte, ist nun also eingetreten, schneller, als er dachte. Sie haben ihn genötigt, sich aus dem Vorstand der Bank zurückzuziehen. Man könnte auch sagen: geschasst, rausgeekelt, entlassen aus seiner eigenen Bank, deren Teilhaber er ist. War, korrigiert er sich. Vergangenheit. Er fühlt sich zerschlagen, ein alter Boxer, der zu lange im Ring war. Irgendwann ist es halt vorbei. Das ist der Lauf des Lebens. Andere gehen viel weniger komfortabel in Rente.

Rente. Er ist jetzt ein Rentner. Lieber Himmel, wie sich das anhört. Vorstand a. D. klingt besser, läuft aber auf dasselbe hinaus. Er schaudert. Egal, wie man es nennt, er ist weg vom Fenster, und das macht ihm Angst. Einen neuen Lebensabschnitt nannte es die Möckel vorhin, als sie sich mit diesem traurigen Hundeblick von ihm verabschiedete und ihm alles Gute für den neuen Lebensabschnitt wünschte. Sprache kann ja so verräterisch sein – und auch so treffend! Es fühlt sich tatsächlich an wie ein Abschnitt. Man schneidet ihn ab vom Berufsleben. Das hat sie richtig erkannt, die alte Lesbe. Er konnte sie nie wirklich leiden, aber sie war eine gute Sekretärin, immer loyal. Den Wert von Loyalität hat er erst in den zurückliegenden Wochen wirklich zu schätzen gelernt.

Das Licht in der Garage geht aus. Für eine Weile sitzt er im Dunkeln und lauscht in die Stille. Er hat Kopfschmerzen und das Gefühl, nicht richtig Luft zu bekommen. Wahrscheinlich reagiert sein Körper auf den zurückliegenden Stress und das plötzliche Nachlassen der Anspannung. Zeit, nach Hause zu fahren, dieses Mal für immer.

Er lässt den Motor an. Die Betonwand reflektiert die aufflammenden Scheinwerfer. Langsam hebt sich das Gitter, das die Einfahrt verschließt. Zum letzten Mal fährt er aus der Garage und wenig später entlang der Skulpturenmeile in Richtung Westen. Er spürt, wie sich sein Kopfschmerz verstärkt und ebenso seine Wut.

Diese Krämerseelen sind den Aufhebungsvertrag Punkt für Punkt noch einmal mit ihm durchgegangen, wollten hier etwas streichen, dort etwas abknapsen, und plötzlich stritt man sich um Petitessen wie seinen Schreibtischsessel, den er privat bezahlt hat, was er letztendlich auch beweisen konnte. Zäh zu verhandeln ist er gewohnt, da macht ihm keiner so leicht etwas vor, doch das vorhin war ein unwürdiges Schachern. Es erinnerte ihn fatal an die Verhandlungen und Streitereien mit Charlotte anlässlich ihrer Scheidung vor ein paar Jahren.

Seine Ex-Kollegen wollen fusionieren oder, anders ausgedrückt, die kleine, feine, exklusive Privatbank an eine niederländische Großbank verhökern. An diesem Vorhaben entzündete sich der Zwist der letzten Monate. Engelhorst hat leidenschaftlich gegen die Fusion gekämpft. Doch nachdem sein Kompagnon Ralf Wegener zum Jahresende 2021 in den Ruhestand ging und damit auch von seinem Vorstandsposten zurücktrat, war Engelhorst ganz auf sich allein gestellt, und diese Hyänen hatten leichtes Spiel. Um das Gesicht zu wahren, blieb ihm am Ende nur der Rückzug auf eigenen Wunsch. Angeblich aus Altersgründen.

Danach haben diese skrupellosen Halunken die schon vor Wochen ausgehandelte Abfindung einfach halbiert. Plötzlich wollte Selbach nichts mehr von ihrer Abmachung wissen. Als kleines Trostpflaster darf er den Mercedes, dessen Leasingvertrag über die Bank läuft, noch bis zum Jahresende behalten. Großartig!

Dabei hätte er das Geld wirklich gut brauchen können. Er, der im Lauf der Jahre das Vermögen seiner Kunden zuverlässig und erfolgreich vermehrt hat, hatte in letzter Zeit kein gutes Händchen bei seinen eigenen Finanzanlagen. Was musste er auch in den Bau von Kreuzfahrtschiffen und in einen chinesischen Immobilienfonds investieren? Es ist, als würde alles, was er in letzter Zeit anfasst, statt zu Gold zu Scheiße werden. Auch das vielversprechende Start-up-Unternehmen, an dem er sich beteiligte, steht kurz vor der Pleite. Wenn einmal der Wurm drin ist …

Er hat die Lichter der Stadt hinter sich gelassen. Noch immer zornig gibt er Gas. Die Nacht ist kalt und windig, ab und zu schieben sich Wolken vor die dünne Mondsichel. Die Außentemperaturanzeige gibt minus vier Grad an.

Judith wird hellauf begeistert sein, wenn er ab jetzt den ganzen Tag zu Hause ist. Sie hat sich nämlich prächtig eingerichtet in ihrem Alltag zwischen Pilates, Shopping, dem Kulturverein und ihrer freiberuflichen Tätigkeit als Maklerin für Luxusimmobilien. Und nun: Pappa ante portas. Ein Störfaktor erster Güte. Er hätte sie vorwarnen sollen, anstatt vorzugeben, alles im Griff zu haben. Wie sie wohl reagieren wird, wenn er ihr gleich eröffnen wird, dass er ab sofort Pensionär ist? Sie wird ihn doch nicht verlassen? Oder? Panik erfasst ihn, er lässt die Scheibe herunter, ringt nach Atem. Eiskalte Nachtluft strömt in seine Lunge und verwirbelt sein graues Haar. Der Moment der Schwäche geht vorüber, es geht ihm besser, er beruhigt sich wieder. Lautlos fährt die Scheibe wieder hoch.

Alles wird gut, sagt er sich. Judith musste schließlich damit rechnen, dass er bald aufhört zu arbeiten, wenn auch sicher nicht von heute auf morgen. Immerhin ist er sechsundsechzig. Er wird sich eine Beschäftigung suchen müssen, um ihr nicht auf die Nerven zu gehen. Er könnte anfangen, Tomaten zu züchten, und dazu den Rat seiner Ex-Gattin einholen. Bei dieser Vorstellung muss er zuerst kichern und dann husten.

Plötzlich verspürt er einen Anflug von Wehmut. Ach, Charlotte!

Sie würde zu ihm halten, auch oder vielleicht sogar erst recht jetzt, in dieser Situation. Das hat sie immer getan, egal, welchen Mist er gebaut hat, und da gab es so einiges. Ja, sie konnte knallhart sein, und es war bei Gott nicht immer einfach mit ihr, aber auf sie war stets Verlass. Warum muss er gerade jetzt an sie denken? Weil es ihm schlecht geht? Wie erbärmlich ist das denn?

Er passiert eine lange, gerade Eichenallee. Nebelschwaden liegen über den Feldern rechts und links. Er mag diesen Straßenabschnitt, aber heute hat er keinen Blick für die verschlungenen Silhouetten der Baumkronen, die sich kaum vom dunklen Nachthimmel abheben. Noch drei Kilometer bis zu seinem Landhaus, ein Juwel, das Judith aufgetan hat. Er sehnt sich nach einem großen Malt Whisky am Kaminfeuer. Ja, er wird sich heute betrinken. Wann, wenn nicht jetzt? Die Vorstellung erfüllt ihn mit Freude, und ihm ist, als könne er den rauchigen Geschmack seines Lieblingsgetränks schon auf der Zunge schmecken. Er muss lächeln. Die Kraft der Imagination …

Er durchquert eine kleine Nebelbank. Er sollte langsamer fahren, die Gegend ist reich an Wild, und bei diesem Wind könnten herabgefallene Äste auf der Fahrbahn liegen. Doch er ist jetzt nicht in der Stimmung, um der Vernunft den Vorzug zu geben. Er zuckt zusammen. Was ist das? Eine Gestalt, ein menschlicher Umriss, taucht aus dem Nichts im Lichtkegel der Scheinwerfer auf. Wie kann es sein, dass dieser Mensch fliegt, oder ist er nur gesprungen, obwohl es nicht wie ein Sprung aussah und eigentlich auch nicht wie ein richtiger Mensch? Das alles denkt er im Bruchteil einer Sekunde und während er das Steuer herumreißt, um diesem Was-auch-immer auszuweichen. Der Wagen schlingert, er versucht gegenzusteuern, doch die Räder reagieren nicht, nichts reagiert mehr, nicht die Lenkung, nicht die Bremse, es ist alles außer Kontrolle, und jetzt rast er auf einen dicken Eichenstamm zu. Reflexhaft reißt er die Arme in die Höhe.

Freitag, 11. Februar, irgendwann am Abend

Erwin Raukel steht in der Toilette seiner Stammkneipe und entleert seine Blase. Das dauert, sechs Pils verursachen einen ordentlichen Durchlauf, und seine Prostata ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Er hat den Gang aufs Klo extra lange hinausgezögert, denn wenn man erst einmal angefangen hat, dann muss man ständig, so seine langjährige Erfahrung. Es ist kalt, das kleine Fenster, das auf den Hof weist, ist offen. »Verdammt, hier drin gefriert einem ja der Strahl«, brummt Raukel missmutig, obwohl niemand da ist, der ihn hören könnte. Er will gerade das Fenster schließen, damit es beim nächsten Mal mollig warm sein wird, als er Stimmen hört. Ein Mann und eine Frau, es klingt, als stritten sie sich im Hinterhof. Die Stimme der Frau gehört der Bedienung. Bianca, jung, vielleicht Mitte zwanzig, dunkelhaarig, ganz hübsch, wenn die Beleuchtung schummrig ist.

»Hilfe! Nein, nicht, nein!«, kreischt sie.

Was der Mann sagt, versteht Raukel nicht, dann wieder sie, es hört sich an wie: »Lass mich los, du Arsch!«

Was zum Teufel geht da vor? Raukel sieht zu, dass er auch noch das letzte Pils loswird, schließt rasch seine Hose und eilt auf den Flur. Nach rechts geht es zurück in den Gastraum, er wendet sich nach links, öffnet die Tür zum Hof und stürmt hinaus. Er sieht, wie der Mann Bianca gegen die Wand drückt und dabei hochhebt. Sie trommelt mit den Fäusten auf seinen Rücken. »Lass mich runter! Hilfe! Lass mich sofort runter, du Arsch!«

»Loslassen, sofort!«, herrscht Raukel den Kerl an.

Der dreht den Kopf, schnell und ruckartig wie ein Vogel, schaut Raukel böse an und sagt: »Verpiss dich, alter Sack!« Bianca, klein und von zierlicher Gestalt, schielt über die Schulter des Kerls, ihre braunen Augen sind weit aufgerissen. Dem armen Mädchen steht die Panik ins Gesicht geschrieben.

Davon abgesehen – dir gebe ich gleich einen alten Sack! Der Kerl dürfte zwar fast einen Kopf größer sein, und vermutlich ist er auch nur halb so alt wie Raukel, doch das stört diesen gerade wenig. Adrenalindurchströmt durchmisst er den Hof, packt den Kerl an seinem lächerlichen Dutt und reißt den Kopf abrupt nach hinten. Der Typ ist starr vor Verblüffung, Raukel nutzt dies aus und landet einen fürchterlichen rechten Haken am Kinn seines Widersachers, was den Typen augenblicklich dazu bringt, sein Opfer loszulassen und jammernd in die Knie zu gehen.

»Scheißkerl, verpiss du dich!«, bemerkt Raukel mit grimmiger Zufriedenheit und reibt sich die Handknöchel. Er lässt sich jedoch nichts von seinem Schmerz anmerken und wendet sich an das verschreckte Mädchen: »Alles in Ordnung?«

»Bist du noch ganz dicht? Du Arschloch, hau ab!«, brüllt diese.

»Ja, verschwinde, aber pronto«, bekräftigt Raukel und baut sich drohend vor dem noch immer in der Hocke kauernden Kerl auf. Wenn es sein muss, fängt der sich nämlich gleich noch eine ein.

»Julian!« Bianca kniet sich nun neben ihren Angreifer, der irgendetwas von seinen Zähnen jammert. Eine Reaktion, die den Retter der holden Maid einigermaßen irritiert. Es wird noch kurioser. Plötzlich sieht sich Raukel umzingelt von einem Publikum, das eben gerade noch nicht da war, darunter der Wirt, das kleine Schlitzauge, das in der Küche arbeitet, und die drei Typen, die vorhin am Tisch in der Ecke saßen und Karten spielten. Raukel versteht die Welt nicht mehr. Statt dass man ihm ein Getränk ausgibt, wird er nun vom Wirt an den Armen gepackt und festgehalten. Raukel lässt sich das nicht bieten, er tritt gegen Schienbeine und landet noch den einen oder anderen Treffer in eine dieser Hackfressen, doch schließlich muss er sich der Übermacht des Pöbels geschlagen geben.

»Ruft die Polizei und einen Krankenwagen«, kreischt Bianca. »Der Alte hat sie nicht mehr alle!«

»Schon passiert«, antwortet das Schlitzauge.

»Nicht nötig, ich bin die Polizei!«, erklärt Raukel. »Und jetzt lasst mich gefälligst los.«

Seine Worte verhallen ungehört.

Der Aggressor, dieser Julian, steht langsam wieder auf, beugt sich vornüber und spuckt etwas aus.

Man schleift Raukel in den Gastraum. Sirenengeheul ertönt von draußen und kommt rasch näher, Blaulicht flackert durch die Scheiben, und Hauptkommissar Erwin Raukel schwant, dass er einen mordsmäßigen Ärger am Hals hat.

Montag, 14. Februar 2022, zeitig am Morgen

Hauptkommissar Völxen und sein Hund betreten das Büro. Oscar kreiselt nach Hundeart ein paarmal um die eigene Achse, ehe er sich in den Korb unter dem Gummibaum legt. Es ist sein angestammter Platz, nur manchmal, wenn sein Herr nicht hinsieht oder so tut, als würde er nicht hinsehen, wählt er auch das Sofa, um dort zu relaxen. Völxen nimmt, ohne Kreise zu drehen, hinter seinem Schreibtisch Platz. Er sitzt noch nicht richtig, da klopft es schon. Es ist Frau Cebulla, sie bringt ihm, wie jeden Tag zu Dienstbeginn, einen ihrer Kräutertees vorbei. Nicht immer ist Völxen davon begeistert, denn manches Gebräu riecht wie altes Gras.

»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar. Ich habe Ihnen einen Salbeitee gemacht. Der ist gut für den Hals, um die Jahreszeit fängt man sich schnell mal etwas ein«, meint Frau Cebulla und kündigt im nächsten Atemzug eine Besucherin an, die ihn sprechen möchte. »Die Dame heißt Charlotte Engelhorst. Sie wartet schon seit einer halben Stunde bei mir im Büro.«

»Warum haben Sie sie nicht zu jemand anderem geschickt? Oder bin ich etwa der Erste auf der Dienststelle, um …« Er schaut auf die Uhr. » … Viertel nach neun?«

»Nein, Herr Hauptkommissar, sie sind alle da, auch der Neue.«

»Stimmt, der Neue fängt ja heute an.« Eigentlich, überlegt Völxen, hätte die Begrüßung eines neuen Mitarbeiters Vorrang vor unangemeldeten Besuchern.

»Kann das nicht Oda machen?«

»Die kümmert sich um den Neuen. Außerdem wollte diese Dame nur mit Ihnen sprechen«, erklärt Frau Cebulla.

Offenbar hat diese Dame bei der Sekretärin keinen sympathischen Eindruck hinterlassen. »Worum geht es?«

»Das wollte sie mir nicht sagen«, kommt es eingeschnappt.

»Charlotte Engelhorst.« Völxen wiederholt nachdenklich den Namen der Besucherin, wobei er die Stirn runzelt und seine bürstenartig ausgeprägten Augenbrauen zusammenzieht. »Woher kenne ich nur diesen Namen …?«

»Das weiß ich nicht«, antwortet Frau Cebulla. »Sie hat jedenfalls Haare auf den Zähnen.«

Jetzt bemerkt Völxen die roten Flecken auf Frau Cebullas Wangen. Dabei ist es gar nicht so einfach, die altgediente Sekretärin aus der Fassung zu bringen. Seine Neugierde ist geweckt.

»Schicken Sie sie herein, damit wir es hinter uns bringen. Und danach würde ich gern den Neuen begrüßen.«

»Kommissar Tadden«, sagt Frau Cebulla.

»Danke, ich kenne seinen Namen. Ich habe ihn schließlich eingestellt.«

Darauf geht Frau Cebulla nicht ein, sondern schwärmt: »Rein optisch ist er wirklich ein Gewinn für die Abteilung. Ein strammer, blonder Friesenjunge, das ist doch mal was! Hach, wenn ich jünger wäre …«

»Ja, was wäre dann, Frau Cebulla?«, schmunzelt Völxen.

»Nichts, ich meine nur …« Sie wird wieder dienstlich: »Hauptkommissar Raukel wollte Sie übrigens auch dringend sprechen. Er hat mir ebenfalls nicht gesagt, worum es geht. Heute haben offenbar alle Geheimnisse vor mir.«

»Ich nicht, ich bin ein offenes Buch für Sie«, tröstet Völxen die Frustrierte.

»Wahrscheinlich geht es um das Büro von Frau Kristensen. Raukel und Rodriguez streiten sich schon seit Wochen, wer es bekommt, wenn sie erst weg sein wird.«

»Diese Geier! Ich hätte gute Lust, es Rifkin zu überlassen, und sei es nur, um ihnen eins auszuwischen.«

»Rifkin will da gar nicht rein, sie sagt, es stinkt ihr zu sehr nach Zigarettenrauch«, weiß Frau Cebulla, die sich seit Jahren über Oda Kristensens mehr oder weniger heimliches Rauchen mokiert. Nun blickt sie ihren Chef bekümmert an. »Meinen Sie, Frau Kristensen kommt nach diesem Sabbatjahr wieder, Herr Hauptkommissar?«

»Ich weiß es nicht«, gesteht Völxen. »Ich hoffe es natürlich, aber es kann gut sein, dass sie mit ihrem Mann in Frankreich bleibt.«

»Das befürchte ich auch«, bekennt Frau Cebulla freimütig und begleitet von einem schweren Seufzer.

Völxen erinnert sich, dass Frau Cebulla vor wenigen Jahren ebenfalls Pläne hatte, nach Südfrankreich zu ziehen. Leider erwies sich der Herr, der ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte, als Betrüger und Heiratsschwindler. Allmählich fragt Völxen sich, ob all diese Dinge, die Frau Cebulla ihm zusammen mit dem Tee auftischt, wirklich so wichtig sind am Montagmorgen. Viel eher kommt die Sekretärin nur vom Hölzchen aufs Stöckchen, um die in Ungnade gefallene Besucherin extra lange warten zu lassen und dieser auf passiv-aggressive Art zu zeigen, dass sie es sich gründlich mit ihr verscherzt hat.

»Gut, dann schicken Sie die Dame mit den Haaren auf den Zähnen mal herein«, beendet Völxen das Geplänkel. »Oder möchten Sie lieber noch ein Weilchen in Ihrem Büro mit ihr plauschen?«

»Bestimmt nicht!« Auf heftig quietschenden Birkenstocks verlässt Frau Cebulla das Büro.

Völxen schnuppert an dem Tee und schiebt ihn mit angewidertem Gesichtsausdruck von sich. Der riecht ja wie seine Füße, wenn er von der Schafweide kommt und die Gummistiefel auszieht! Er wird ihn später dezent entsorgen und sich einen anständigen Kaffee holen.

Die Erwähnung von Odas Sabbatjahr hat seine Laune nicht gerade gehoben. Der Weggang von Oda Kristensen, der Mitarbeiterin, mit der er am längsten und auch am besten zusammengearbeitet hat, schmerzt ihn mehr, als er zugeben möchte. Er kann es sich noch gar nicht vorstellen, wie es ohne sie sein wird. Jedenfalls wird dieser Frischling Tadden sie nicht annähernd ersetzen können. Völxen glaubt nämlich tief im Herzen nicht daran, dass Oda wiederkommt. Dieses Sabbatjahr ist lediglich ein Hintertürchen, das sie sich offen halten will, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihr der vorgezogene Ruhestand in der französischen Provinz nicht zusagt. Und es erleichtert ihr den Abschied. Denk nicht, ich hätte das nicht durchschaut, Frau Psychologin! Wenn Oda und ihr chinesischer Wunderheiler Tian Tang, der letztes Jahr ebenfalls das Handtuch geworfen und seine Naturheilpraxis verkauft hat, erst auf ihrem Landsitz bei Montpellier leben, wird Oda sich keinen Deut mehr um ihre alte Dienststelle scheren. Aus den Augen, aus dem Sinn. Außerdem lebt ihr Vater ganz in der Nähe. Sie wird höchstens mal auf einen Kaffee vorbeikommen, aber auch nur, solange ihre Tochter Veronika in der Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover beschäftigt ist. Es ist ein Kreuz! Warum müssen stets die Besten gehen, während man sich bis zur Pensionierung mit einem wie Erwin Raukel herumschlagen muss?

Mit wehendem Mantel fegt Charlotte Engelhorst auf ihren hochhackigen Stiefeletten in Völxens Büro und nimmt auf der Stelle Oscar ins Visier. Der Hund betrachtet die Besucherin ebenso misstrauisch wie sie ihn, bleibt aber brav in seinem Korb. Völxen redet sich ein, dass dies geschieht, weil er den Hund streng anschaut und mahnend den Finger hebt. Es könnte aber auch sein, dass die Besucherin ihn einschüchtert. Manche Personen haben diese Wirkung auf ihn. Völxen gehört nicht dazu.

Der Hauptkommissar steht auf, begrüßt die Besucherin mit einem distanzierten Nicken und stellt sich vor.

»Charlotte Engelhorst«, verkündet sie.

Nicht nur der Name, auch ihr Aussehen kommt ihm bekannt vor. Woher nur?

»Frau Engelhorst, nehmen Sie Platz, was kann ich für Sie tun?«

Mit einer schwungvollen Geste wirft sie den Mantel über die Sofalehne und setzt sich aufrecht und mit übereinandergeschlagenen Beinen auf den Besucherstuhl vor Völxens Schreibtisch. Ihre geräumige Handtasche stellt sie daneben ab. Sie trägt einen schwarzen Pullover und ein blau und pink gemustertes Seidentuch, das das Blaugrün ihrer Augen wirkungsvoll zur Geltung bringt. Das blondierte Haar, aus dem sich eine kokette Strähne gelöst hat, ist hochgesteckt. Ihr Rock ist reichlich kurz für eine Frau, die sich längst auf der dunklen Seite der mittleren Jahre befindet, doch immerhin können sich ihre Beine in den schwarzen Strümpfen noch sehen lassen. Völxen ertappt sich bei dem Gedanken, dass Charlotte Engelhorst bestimmt früher ein ziemlicher Feger war, wie man das zu seiner Sturm-und-Drang-Zeit nannte.

Ohne Umschweife kommt sie zum Punkt. »Herr Hauptkommissar, ich fürchte, mein Mann wurde umgebracht.« Nach diesen Worten verstummt sie und schaut ihr Gegenüber herausfordernd an.

Für Völxen ist das etwas zu viel Theatralik am Morgen, und um ihr etwas Wind aus den Segeln zu nehmen, greift er betont langsam nach einem Bleistift, rückt seinen Notizblock zurecht und setzt dabei eine vollkommen unbeeindruckte Miene auf. »Wie ist denn sein Name?«, fragt er in einem Ton, als wollte sie einen Falschparker melden.

»Joachim Engelhorst«, platzt sie heraus. »Er ist mein Ex-Mann, um genau zu sein, wir haben uns vor sechs Jahren getrennt. Er ist einer der Mitinhaber der Privatbank Engelhorst & Wegener. Am Donnerstagabend prallte sein Wagen vor Wiechendorf, das liegt in der Wedemark, gegen einen Baum. Er verstarb auf dem Weg in die Klinik.« Sie holt tief Atem und tupft sich mit einem Taschentuch, das sie aus ihrer Handtasche zieht, die Augen.

»Das tut mir sehr leid«, sagt Völxen, in dessen Ressort allerdings keine Verkehrsunfälle fallen. Daher fragt er sich, was sie von ihm will und weshalb sie glaubt, dass ihr Ex-Mann umgebracht wurde. Ist sie vielleicht ein bisschen neurotisch? Hätte er sie doch bloß an Oda Kristensen abgewimmelt, die Spezialistin für solche Fälle.

»Wie haben Sie von dem Unfall erfahren?«

Die Frage scheint sie zu irritieren, und genau das ist auch Völxens Absicht. »Was?«, fragt sie zurück, ehe sie antwortet: »Durch Judith, seine Jetzige.«

»Seine Ehefrau?«

»Ja«, antwortet sie mit einem Mund, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Aber das tut nichts zur Sache. Ich denke nicht, dass das ein Unfall war. Ich bin sicher, jemand hat ihn umgebracht.«

»Haben Sie da jemand Bestimmten im Sinn?«

»Nein, das habe ich nicht. Obwohl natürlich manche Leute von seinem Tod profitieren.«

Sie wäre nicht die erste verlassene Ehefrau, die den Wunsch verspürt, ihrer Rivalin ein Verbrechen zu unterstellen. Der Hauptkommissar lehnt sich zurück, legt die gefalteten Hände neben seine Tastatur und fragt: »Wie soll dieses Verbrechen Ihrer Meinung nach vonstattengegangen sein?«

»Was weiß ich? Vielleicht wurde der Wagen manipuliert. Das müssen Sie herausfinden, oder was denken Sie, warum ich hier bin? Das ist hier doch die Mordkommission, oder?«

Der Hauptkommissar hat es nicht gern, wenn Hinz und Kunz hier hereinschneien und ihm sagen wollen, was seine Aufgaben sind. Aber er zwingt sich dazu, gelassen zu bleiben und so zu tun, als nähme er den Unsinn ernst, denn so wird man die lästige Person wohl am ehesten wieder los. »Frau Engelhorst, warum glauben Sie, dass Ihr Ex-Mann umgebracht wurde?«

»Jemand wollte mich damit treffen.«

Nun beugt er sich doch etwas nach vorn. »Sie?«

»Joachim und ich stehen … standen uns trotz unserer Trennung noch sehr nah. Wir hatten einen guten Draht, nach wie vor. Immerhin haben wir zusammen drei wohlgeratene Kinder.«

»Haben Sie denn Feinde, Frau Engelhorst?«

»Mein Vlog ist ziemlich erfolgreich. Leute wie ich stehen im Fokus der Öffentlichkeit.«

»Ihr Was?«

»Vlog. Das ist ein Blog, also eine Art Tagebuch im Netz, nur mit Videos statt Text und Bildern. Daher Vlog. Ich arbeite mit beidem, Sie können auch Blog dazu sagen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Wieder was dazugelernt. Völxen hatte eigentlich vor, für den Rest seines Lebens mit dem Wortschatz des 20. Jahrhunderts auszukommen, aber allmählich befürchtet er, dass das nicht klappen wird. Vlog. Neulich servierte Wanda ihren Eltern etwas, das sich Vleisch nannte und schmeckte wie gewürzter Radiergummi.

»Mein Vlog heißt Über den Gartenzaun«, schickt die Besucherin hinterher.

»Jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne! Meine Frau ist ein Fan von Ihnen.«

»Sehen Sie!« Sie schenkt ihm ein huldvolles Lächeln.

»Dann sind Sie also eine Influencerin«, hält Völxen fest.

»So ist es, und in letzter Zeit häufen sich auffällig die böswilligen Kommentare zu meinen Beiträgen.«

»Gehört das nicht zur traurigen Normalität, sobald man sich in den sozialen Medien etwas zu weit aus dem Fenster lehnt?«

»Natürlich ist mir das bewusst«, versetzt sie hoheitsvoll. »Ein paar Spinner hat man immer am Hacken, aber es hielt sich all die Jahre in Grenzen. Im Lauf der vergangenen Wochen kamen jedoch Kommentare, die sich gar nicht auf die Beiträge bezogen. Sie waren – persönlicher. Ich habe sogar schon erwogen, zur Polizei zu gehen. Hätte ich es nur getan!«

»Und nun denken Sie, diese Gehässigkeiten haben etwas mit dem Unfall Ihres Ex-Mannes zu tun?«, versucht Völxen, die nicht gerade sehr naheliegenden Gedankengänge dieser Frau zu rekonstruieren.

»Es wäre möglich, ja.«

»Waren denn Ihre Beiträge in der letzten Zeit anders als früher?«

»Nein. Ich habe noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Heute bin ich eher gemäßigter als am Anfang. Meine Werbepartner wollen es lieber nicht allzu provokant. Ich muss mich anpassen, ich brauche das Geld. Dieses alte Hofgut, das ich nach meiner Scheidung gekauft habe, verschlingt Unsummen. Natürlich darf ich nicht zu langweilig und angepasst werden, sonst lassen die Klicks ebenfalls nach. Die Leute mögen mich ja gerade, weil ich die Dinge beim Namen nenne. Es ist ein schmaler Grat.«

Völxen nimmt die Einsichten in das komplizierte Leben einer Influencerin mit verständnisvollem Nicken zur Kenntnis und bittet sie um ein Beispiel für einen bösartigen Kommentar.

»Ich habe sie alle gelöscht, aber jedes Mal vorher Screenshots davon ausgedruckt.« Sie öffnet ihre Tasche und holt eine Mappe hervor. Sie enthält einen daumendicken Stapel Papier, den sie auf Völxens Schreibtisch legt.

»Hexen müssen brennen«, liest Völxen einen Beitrag auf der obersten Seite vor. Das ist allerdings bedrohlich, das muss er zugeben.

»Da wird einem schon etwas anders, wenn man so etwas liest«, meint Frau Engelhorst.

»Wurden nur Sie selbst bedroht oder auch Ihr Ex-Mann?«

»Nein, er nicht, soweit ich mich erinnere. Nur einmal wird er als Schwein bezeichnet.«

»Können Sie sich erklären, warum?«

Sie zieht in gespielter Verlegenheit die Schultern hoch. »Während meiner Scheidung habe ich selbst manchmal auf ihn geschimpft.«

»Nannten Sie ihn auch ein Schwein?«

»Nein, das nicht. Nur einen schwanzgesteuerten Macho. Ich war sehr aufgebracht, und ich wollte meine Followerinnen an meinen Gefühlen teilhaben lassen. Aber das ist lange her, in letzter Zeit war von ihm nie mehr die Rede.«

»Haben Sie eine Idee, wer dahinterstecken könnte?«

»Nein. Zumal das, was da behauptet wird, ja auch alles gelogen ist. Einmal wurde eine Filmsequenz verlinkt, in der ich zu sehen bin, wie ich angeblich Schneckenkorn auf die Beete verteile.«

»Und?«

»Mein Credo ist das biologische Gärtnern, angelehnt an die Demeter-Philosophie. Kein Kunstdünger! Und natürlich erst recht kein Gift!«

»Ganz unter uns: War es denn Schneckenkorn?«, erkundigt sich Völxen.

»Natürlich nicht!« Ihre Augen weiten sich vor Entrüstung. »Es waren Pellets aus Schafwolle, ein Naturdünger.«

»Schafwollpellets?«, wiederholt Völxen. »Interessant. Funktioniert das?«

»Sehr gut sogar.«

Der Hauptkommissar würde dieses Thema noch gerne etwas vertiefen, aber sein Gegenüber ist schon weiter. »Nach dieser Verleumdung gingen meine wöchentlichen Klicks und damit auch die Werbeeinnahmen zurück, und es gab massenhaft hämische und enttäuschte Kommentare. Ich habe zu diesen Unwahrheiten entsprechend Stellung genommen, aber wenn so ein Gerücht erst einmal in der Welt ist, bleibt immer etwas hängen.«

»Wenn diese Person Sie in Ihrem Garten gefilmt hat, muss es jemand sein, der Ihnen nahesteht, meinen Sie nicht?«

»Schon, aber im Prinzip kann sich jeder an den Zaun schleichen und durch die Hecke filmen.«

»Weiß denn jeder, wo Sie wohnen?«

»Es ist nicht schwer, das herauszufinden. Neulich waren Fotos meines Gartens in einer populären Gartenzeitung abgebildet, und der NDR hat eine Homestory über mich gedreht.«

»Ein boshaftes Video zu posten ist eine Sache, eine ganz andere ist es, wie Sie behaupten, einen Mordanschlag zu verüben«, gibt Völxen zu bedenken.

»Dinge eskalieren, das hat man doch schon erlebt. Es fängt in den sozialen Medien an und endet als Mordanschlag.«

Völxen hat allmählich genug. Vom Schneckenkorn zum Mord am Ex-Gatten! Das klingt doch vollkommen verrückt, ist ihr das nicht klar? Außerdem hat er an diesem Montag noch anderes zu tun, als sich den Hirngespinsten einer Influencerin zu widmen.

»Gut, Frau Engelhorst, ich werde mir den Unfallbericht kommen lassen.«

»Den Unfallbericht. Das ist alles?«

»Danach sehen wir weiter. Sie hören von mir.« Mit diesen Worten erhebt er sich, um sie zur Tür zu begleiten.

Charlotte Engelhorst wirkt etwas brüskiert, sieht aber wohl ein, dass sie momentan nicht weiterkommt. Mit einem knappen Gruß rauscht sie hinaus. Die Mappe mit den Ausdrucken hat sie dagelassen. Auf der Innenseite klemmt eine Visitenkarte mit ihrer Adresse und der Telefonnummer.

Völxen spendiert dem Gummibaum einen Schuss Salbeitee und geht dann hinüber zu Frau Cebulla, um sich mit Kaffee und Keksen zu versorgen.

»Das ist doch gleich was ganz anderes«, sagt er wenig später zu Oscar und wirft dem Terrier einen Butterkeks zu. Sein Telefon klingelt. Es ist der Vizepräsident der Polizeidirektion Hannover, und was sein Vorgesetzter ihm mitteilt, lässt Völxens Puls rasant beschleunigen, und das, obwohl er noch keinen einzigen Schluck Kaffee getrunken hat.

»Darf man in diesem Gebäude rauchen?« Joris Tadden bläht die Flügel seiner schmalen, geraden Nase.

»Nicht wirklich«, antwortet Oda Kristensen und deutet verschmitzt auf den mit Paketband abgeklebten Rauchmelder. »Willst du eine? Ich habe aber nur Selbstgedrehte.« Sie duzt ihn, weil er sie auch geduzt hat. Früher, überlegt sie, hat man ältere Kollegen noch gesiezt, bis man von ihnen das Du angeboten bekam. Außerdem kann man mit einem Sie sowohl Achtung als auch das Gegenteil elegant zum Ausdruck bringen. Heutzutage gehen derlei Feinheiten unter im allgemeinen Duz-Wahn, der besonders bei den jungen Kollegen um sich greift. Nur Elena Rifkin ist in dieser Hinsicht eine wohltuende Ausnahme und besteht darauf, ihren Vorgesetzten Völxen zu siezen.

»Danke, ich rauche nicht«, wehrt er ab.

Das hat Oda sich schon gedacht. Der baumlange Kerl sieht nicht aus wie einer, der raucht. Allmählich wimmelt es in diesem Kommissariat von asketischen, fitten, durchtrainierten Wesen. Der friesische Leuchtturm und die Kollegin Rifkin gehören jedenfalls eindeutig dazu, Fernando Rodriguez würde die Attribute fit und durchtrainiert sicherlich ebenfalls für sich in Anspruch nehmen, neigt der Kollege doch seit jeher zu Fehleinschätzungen, was gewisse Körpermerkmale angeht. Seit er Vater geworden ist, hapert es bei ihm allerdings ein wenig an der Disziplin, und es bildet sich allmählich der Ansatz eines Schwimmreifs über seinem Gürtel. Von Erwin Raukel muss man in dem Zusammenhang erst gar nicht anfangen.

»Hast du die Kollegen schon kennengelernt?«, fragt Oda.

»Flüchtig. Frau Cebulla hat mich kurz vorgestellt.«

»Frau Cebulla. Die gute Seele des Kommissariats und Völxens treues Faktotum seit vielen Jahren. Als Mann hat man leichtes Spiel mit ihr, du musst nur ein bisschen deinen Charme spielen lassen.«

»Meinen Charme«, wiederholt er, und aus seinem Mund klingt es, als wäre es etwas Anstößiges.

»Drüben im großen Büro sitzen die drei R: Rifkin, Raukel, Rodriguez. Was Letzteren angeht, sollte man wissen, dass er sich für mindestens eins achtzig hält.«

Tadden lächelt kaum merklich.

»Er hat seine Frau hier auf der Dienststelle kennengelernt. Jule Wedekin. Sie war Völxens Liebling und auch wirklich gut drauf. Aber nachdem sie Fernando geheiratet hatte, musste einer gehen, und Jule bekam ein Angebot vom LKA.«

Ihr Zuhörer lauscht ihren Ausführungen, ohne eine Miene zu verziehen. Er scheint eher der wortkarge Typ zu sein, der nur redet, wenn er direkt gefragt wird. Oda, die ansonsten selbst gern Verdächtige und Zeugen durch ausgedehntes Schweigen zum Reden bringt, kommt sich allmählich bescheuert vor. Wieso hat Frau Cebulla den Neuen ausgerechnet bei ihr geparkt? Und das am Montagmorgen und noch vor der ersten Zigarette. Sie fährt fort, denn er hatte sie ja nach den drei Kollegen gefragt. »Dann wäre da noch Elena Rifkin, sie will aber konsequent Rifkin genannt werden. Sie ist seit ein paar Jahren bei uns. Deutschrussin und jüdisch, wobei sie weder besonders gläubig noch besonders gut auf Russland zu sprechen ist. Der Geheimdienst hat einst ihren Vater, einen Journalisten, ermordet. Sie ist manchmal sehr direkt, daran muss man sich gewöhnen. Sie dürfte etwa so alt sein wie du. Wie alt bist du noch mal?«

»Neunundzwanzig.«

Ihr künftiger Ersatz ist also ein ins Kraut geschossenes Kind. Sogar Rifkin ist schon zwei Jahre älter, wobei Raukel neulich witzelte, Rifkin besäße eine alte Seele. Allerdings sind die Anwärter für gewöhnlich noch jünger, deshalb fragt Oda: »Wo warst du vorher?«

»Bundeswehr.«

Das wusste Oda schon, auch dass er zeitweise in Afghanistan diente, aber sie hoffte, ihr Nachhaken würde diesen glühenden Anhänger der Ein-Wort-Sätze etwas aus der Reserve locken. Man kann ihn ja schlecht fragen: Und, Kollege, wie war’s denn so in Afghanistan?

»Du kommst aus Ostfriesland?«, nimmt Oda den Gesprächsfaden wieder auf, denn seine Schweigsamkeit fordert ihren Ehrgeiz heraus.

»Leer.«

Sie wartet, ob da noch etwas kommt, aber stattdessen fragt nun er: »Was ist mit dem Dritten?«

»Welchem Dritten?«

»Im Büro der drei R.«

»Das ist Hauptkommissar Erwin Raukel.« Der Satz wird von einem Seufzer begleitet. Die Leute seufzen oft, wenn sie von Raukel sprechen. »Über den gäbe es einiges zu sagen, er ist in vieler Hinsicht … speziell, aber er hat einen guten Riecher, man sollte ihn nicht unterschätzen. Seine Macken übersieht man am besten.«

»Und wie ist Völxen so?«

»Den hast du doch sicher schon kennengelernt.«

»Ja, beim Vorstellungsgespräch. Aber da habe mehr ich geredet.«

Das hätte Oda wirklich gern erlebt. »Völxen ist in Ordnung, und unsere Aufklärungsquote kann sich sehen lassen, deshalb genießen wir hier gewisse Freiheiten.«

»Wie das Rauchen«, ergänzt Tadden.

»Das Rauchen und dass Raukel stets ein Fläschchen im Spind hat, da er befürchtet, im Dienst zu dehydrieren«, meint Oda augenzwinkernd. »Völxen selbst nimmt seinen Hund mit ins Büro.«

»Einen Diensthund?«

»Sozusagen. Was ich andeuten wollte: Solange man seinen Job ordentlich macht, kann man sich beim Alten auch das eine oder andere erlauben.«

»Klingt gut.«

Oda runzelt die Stirn und fragt sich, ob sie es mit ihrem Loblied vielleicht ein wenig übertrieben hat. »Wenn man Völxen nicht kennt … also, er kommt manchmal etwas raubeinig rüber. Aber er meint es nicht so.«

»Wo ich herkomme, sind alle so«, sagt Tadden, der langsam auftaut.

»Dann werdet ihr euch ja prächtig verstehen. Ach, noch etwas: keine Schafswitze! Zumindest nicht am Anfang.«

»Okay, keine Schafswitze«, wiederholt Tadden, der es gewohnt zu sein scheint, Anweisungen nicht zu hinterfragen.

»Wir haben es eine Weile lang damit übertrieben und ihm außerdem diese ganzen Schafsartikel geschenkt – Tassen und Kissen und Kalender …« Oda schielt auf ihre Armbanduhr. Ein Glück, gleich zehn. Zeit, sich zur Morgenlage in Völxens Allerheiligstes zu begeben. »Gut, dann lass uns mal langsam …« Sie wird unterbrochen, denn auf dem Flur ertönt Gebrüll, es ist eindeutig Völxens Stimme, und nun springt die Tür auf, und sein gerötetes Gesicht lugt durch den Spalt. »Wo ist der Kerl, verflucht noch eins! Ich dreh ihm den Hals um!« Die Tür knallt wieder zu, ehe jemand antworten kann.

Oda, die im Begriff war aufzustehen, zieht scharf die Luft ein und schlägt vor: »Vielleicht bleiben wir lieber noch ein bisschen in Deckung.«

Tadden nickt und flüstert: »Hat jemand einen Schafswitz gemacht?«

Oscar bevorzugt es ebenfalls, in Deckung zu verharren. Er liegt mit angelegten Ohren in seinem Korb hinter dem Gummibaum, während sein Herrchen seinem Unmut freien Lauf lässt. »Da hätten wir also die altbekannte Trias: Körperverletzung, Beleidigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Verdammt noch mal, Erwin!« Völxen würde seinen Mitarbeiter am liebsten über den Schreibtisch hinweg am Kragen packen und schütteln, so wütend ist er. Vielleicht hat Raukel das geahnt und deshalb wohlweislich in einiger Entfernung auf dem Sofa Platz genommen, nachdem Völxen ihn auf der Herrentoilette aufgespürt und in sein Büro zitiert hat.

»Warum muss ich von dem Schlamassel ohne Vorwarnung vom Vizepräsidenten erfahren?«, ereifert sich Völxen. »Ich kam mir vor wie ein Trottel. Ich dachte, du hättest wenigstens die Eier, es mir selbst zu sagen!«

»Das wollte ich doch schon den ganzen Morgen«, verteidigt sich Raukel, der mit hängenden Schultern und Büßermiene dasitzt. »Frag die Cebulla, die wird dir bestätigen, dass ich zweimal nach dir gefragt habe. Zuerst warst du noch nicht da, und dann hattest du Besuch.«

»Wann ist das passiert?«, will Völxen wissen.

»Freitagabend.«

»Du hattest das ganze Wochenende Zeit, mich anzurufen.«

»Ich wollte dich nicht in deiner Privatsphäre stören. Du bist ja immer so beschäftigt, die Schafe, die Familie …«

»Verarsch mich nicht, Erwin!«

»Es tut mir leid, Völxen, alter Freund! Die ganze Sache war ein kolossales Missverständnis. Ich dachte, der Kerl wollte dem Mädel Gott weiß was antun, sie hat schließlich um Hilfe gerufen und sich gewehrt. Wie sollte ich denn ahnen, dass das ihr Bruder ist und die zwei bloß rumalbern? Es klang, als wäre sie in Gefahr.«

»Und da wolltest du den edlen Ritter spielen und hast dem Kerl einen Zahn ausgeschlagen.«

»Ich verstehe das nicht, ich habe ihn wirklich kaum berührt. Der Zahn muss schon locker gewesen sein. Wahrscheinlich saniert sich der Kerl sein Gebiss auf meine Kosten.«

»Des Weiteren hast du dich der Festnahme tätlich widersetzt und dabei eine Beamtin als dummes Huhn und ihren Kollegen als ölige Schwuchtel bezeichnet«, fasst Völxen die Ereignisse zusammen, wie sie in dem Protokoll stehen, das man ihm zwischenzeitlich zukommen ließ.

»Du weißt selbst, was heutzutage alles bei der Polizei ist.«

»Jetzt ist nicht der Moment für deine Sprüche!« Der Hauptkommissar funkelt Raukel wütend an.

»Hat der Typ mit dem Zahn oder vielmehr der Typ ohne den Zahn, also, hat der schon Anzeige erstattet?«, fragt Raukel.

»Das weiß ich nicht. Aber es wird so oder so ein Disziplinarverfahren geben. Herrgott, Raukel, du bist Beamter! Du kannst nicht besoffen Wirtshausraufereien anzetteln und dann glauben, dass das ohne Konsequenzen bleibt. Das ist kein Kavaliersdelikt.«

»Ich war nicht besoffen, ich hatte nur ein paar Bierchen.«

»Laut der Blutprobe 1,8 Promille!«

»Sag ich doch, ein paar Biere.«

»Nachher habe ich eine Besprechung mit dem Vize. Ich werde versuchen, deine Suspendierung zu verhindern, aber nur aus schierer Personalnot, nicht weil ich dein Verhalten auch nur im Geringsten toleriere. Allerdings sieht es nicht gut aus. Der Vize hat deine Personalakte wohl gründlich studiert und ist nun auf dem Kriegspfad.«

»Es sollte eine Verjährungsfrist für gewisse Jugendsünden geben.«

»Herrgott, Erwin!« Völxen lässt seine Faust auf den Schreibtisch donnern, sodass Oscar ruckartig in die Höhe fährt und erschrocken bellt. »Es lief doch wirklich ganz ordentlich die letzten Jahre. Ich dachte, du wärst allmählich überm Berg und hättest deine Sauferei im Griff.«

Ende der Leseprobe