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Anfangs fühlt Matilda sich von Patricks kleinen Aufmerksamkeiten - Briefen, SMS, einer roten Rose vor der Haustür - geschmeichelt. Doch dann kommt es zu einem verhängnisvollen Kuss und die "Liebesbeweise" nehmen eine völlig neue, beunruhigende Form an. Irgendjemand scheint Matilda offensichtlich bis aufs Blut zu hassen. Und sie zweifelt mehr und mehr daran, dass es wirklich Patrick ist.
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Seitenzahl: 383
Die Autorin
Susanne Mischke, Jahrgang 1960, konnte mit vier »Max und Moritz« auswendig, mit acht Jahren entschloss sie sich zu publizieren: eine Geschichte über ihren Hamster für die Vitakraft-Packungen. Das Werk wurde nie gedruckt. Aus Verlegenheit studierte sie BWL. Ein zweiter Schreib-Anlauf hatte mehr Erfolg. Seit 1993 arbeitet sie als freie Schriftstellerin und wurde 2001 mit dem Frauen-Krimipreis der Stadt Wiesbaden ausgezeichnet. Zahlreiche ihrer Romane sind Bestseller geworden, darunter auch »Zickenjagd«, »Nixenjagd« und »Waldesruh«, ihre drei Jugendthriller.
Impressum
Erste Veröffentlichung als E-Book 2012 © 2011 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80222-0 www.arena-verlag.de www.arena-thriller.de Mitreden unter forum.arena-verlag.de
Titel
Susanne Mischke
Rosengift
1
»Sag mal, Matilda, wer ist der süße Typ da in der hellen Jeans und dem schwarzen T-Shirt?«
Matilda wusste sofort, wen Anna meinte. Der ältere Junge mit den braunen Locken und dem schmalen Gesicht war auch ihr sofort aufgefallen. Er stand mit Miguel, Juliane und einem blonden Mädchen in der Küche und hatte etwas ungemein Lässiges an sich – seine Haltung, seine Bewegungen, die Art, wie er redete und dabei die Worte mit seinen schmalen Händen unterstrich.
»Ein Freund von Miguel, ich sehe ihn auch zum ersten Mal«, antwortete Matilda, ohne die Augen von dem Jungen abzuwenden.
»He, so wie ihr beide guckt, brennt ihr dem Kerl gleich ein Loch in die Jeans!« Nicole war hinter sie getreten, ihr Blick folgte dem ihrer beiden Freundinnen, wobei sie etwas murmelte, das sich wie »echt geiler Arsch« anhörte. Doch ehe Matilda den Wahrheitsgehalt dieser Aussage noch einmal gründlich überprüfen konnte, klingelte das Telefon im Flur. Matilda drehte sich um und eilte zum Apparat.
Da war sie endlich, die ersehnte Stimme: »Alles Gute zum Geburtstag, Matilda.«
Obwohl fast der halbe Erdball zwischen ihnen lag, hörte sich Tante Helen an, als wäre sie ganz nah.
»Danke!« Ein Lächeln breitete sich auf Matildas Gesicht aus. Den ganzen Tag über hatte sie im Stillen befürchtet, ihre Tante könnte ihren Geburtstag vergessen haben. Deshalb war sie sehr erleichtert gewesen, als Miguel vor einer halben Stunde beiläufig erwähnt hatte, dass es in Teilen der Vereinigten Staaten jetzt gerade erst Morgen war. Natürlich! Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht.
»Höre ich da Peter Fox im Hintergrund? Feierst du eine Party?«, fragte Helen.
»Ja, ich hab ein paar Freunde eingeladen.« Jetzt, wo sie es aussprach, merkte Matilda, wie gut sich das anhörte. Offenbar empfand das auch Tante Helen so. »Das ist schön!«, rief sie.
»Ein paar Leute aus meiner Schule sind hier«, erklärte Matilda. »Und ein paar Freunde von Miguel.«
»Freunde von Miguel?«, wiederholte Helen und plötzlich klang ihre Stimme misstrauisch.
»Die sind okay, das geht schon in Ordnung«, beruhigte Matilda ihre Tante.
Sie wollte Miguel jetzt keinen Ärger machen – auch wenn sie vorhin doch ein wenig sauer auf ihren Cousin gewesen war: Als sie zusammen mit Anna aus der Musikschule nach Hause gekommen war, um ihre kleine Party vorzubereiten, waren sie auf eine Handvoll Leute gestoßen, die das Wohnzimmer belagerten. Ein Fass Einbecker Bier hatte in der Küche gestanden und es hatte nach Rauch gestunken. Miguel wollte sich zusammen mit seinen Freunden das Eröffnungsspiel der Fußball-WM in Südafrika ansehen und hatte darüber völlig vergessen, dass Matilda heute ihren Geburtstag zu Hause feierte. »Irgendwann vergisst er mal das Atmen«, klagte Helen bisweilen halb belustigt, halb genervt über ihren Sohn. Erst war Matilda ziemlich enttäuscht von Miguels Rücksichtslosigkeit gewesen. Aber inzwischen hatten sich die Gäste gemischt und Matilda und ihre Freundinnen hatten der Tatsache, dass ein paar ältere Jungs da waren, durchaus positive Seiten abgewinnen können.
»Was macht Miguel, kümmert er sich um dich?«, erkundigte sich Helen besorgt.
»Ja, alles bestens«, behauptete Matilda. »Du musst dir wirklich keine Gedanken machen. Und Angela ist ja notfalls auch noch da.«
Angela, die sizilianische Haushälterin, kam während Helens Abwesenheit täglich für einige Stunden vorbei. Matilda und Miguel hatten vor Helens Abreise einmütig gegen diese Abmachung protestiert und versichert, diese Form der Bemutterung sei absolut nicht nötig, sie würden den Haushalt in den paar Wochen auch alleine schmeißen können. Es reiche völlig aus, wenn Angela zweimal die Woche zum Putzen käme, so wie sonst auch. Aber Helen hatte sich nicht erweichen lassen: »Solange ich weg bin, wird Angela täglich vorbeikommen und euch versorgen, basta«, hatte sie ungewöhnlich autoritär angeordnet. Wahrscheinlich war ihr wohler zumute, wenn sie wusste, dass eine verlässliche erwachsene Person regelmäßig nach dem Rechten sah. Und eigentlich kam Matilda auch gut mit Angela klar. Vorhin hatte diese eine große Geburtstagstorte mit sechzehn brennenden Kerzen aus der Speisekammer gezaubert und, während sie das Kunstwerk ins Esszimmer getragen hatte, lautstark ein italienisches Geburtstagslied geschmettert. Matilda war der Auftritt der singenden Sizilianerin, deren Figur an eine Kegelrobbe erinnerte, ziemlich peinlich gewesen, aber es hatte sie andererseits auch gerührt, dass sich Angela für sie so viel Mühe machte. Die Gäste hatten geklatscht und gejohlt und die Torte anschließend im Nu verputzt. Inzwischen war Angela nach Hause gegangen und seither floss reichlich Alkohol.
»Und wie läuft es bei dir?«, fragte Matilda ihre Tante.
Helen schnaufte. »Es ist anstrengend, aber schön. Wir sind gerade in Dallas, heute Abend treten wir auf, die Halle ist ausverkauft. Morgen früh geht es weiter nach San Antonio und dann an die Westküste. Bis jetzt waren die Konzerte sehr gut besucht. Ich kann es selber kaum fassen, dass sich die Amerikaner für deutschen Jazz begeistern können.«
Matilda hörte den Stolz in Helens Stimme und freute sich für sie. Vor der Tournee, die vor einem Monat in Amsterdam begonnen hatte, war ihre Tante noch ganz schön aufgeregt und auch ein bisschen verunsichert gewesen. Davon war nun nichts mehr zu spüren. »Die kommen alle nur wegen dir«, sagte Matilda. »Du bist die beste Saxofonistin aller Zeiten.«
»Das ist zwar maßlos übertrieben, aber es klingt gut.« Helens Lachen perlte durch den Hörer. Dann fragte sie ihre Nichte: »Was macht dein Geigenspiel, übst du fleißig?«
»Ja, tu ich.« Das konnte Matilda mit gutem Gewissen bestätigen.
»Sehr gut«, sagte Helen zufrieden. Die Musik war etwas, das Matilda mit ihrer Tante verband, auch wenn sie klassische Stücke bevorzugte, während Tante Helen sich dem Jazz verschrieben hatte. Das Geigespielen war der Rettungsring gewesen, an dem sich Matilda festgeklammert hatte, als vor einem knappen Jahr die Welt um sie herum in Trümmer zerbrochen war. Wenn sie spielte, vergaß sie alles um sich herum, dann gab es nur noch die wohlgeordnete Welt der Töne, die sie ihrem Instrument entlockte. Ihre Mutter hatte ebenfalls Geige gespielt, und wenn Matilda den Bogen über die Saiten gleiten ließ, fühlte sie sich ihr noch immer nahe. Es war in diesen Momenten, als bliebe die Zeit stehen, als sei das letzte Jahr ausgelöscht, einfach nicht geschehen. Das klang verrückt und deshalb hatte Matilda auch noch niemandem von diesem Gefühl erzählt, nicht einmal Helen wusste davon. Früher war sie eine eher mittelmäßige Geigenschülerin gewesen, die oft einen Vorwand fand, um die täglichen Übungen ausfallen zu lassen. Sie hatte damals sogar daran gedacht, das Geigespielen ganz aufzugeben. Doch seit dem Tod ihrer Eltern hatte die Musik einen ganz neuen Stellenwert in Matildas Leben bekommen. An manchen Tagen übte sie mehrere Stunden hintereinander und war selbst erstaunt, wie gut sie inzwischen spielte.
»Willst du noch mit Miguel sprechen?«, fragte Matilda.
»Ach, lass nur. Er wird sich nicht gerade freuen, wenn er jetzt ans Telefon muss. Dazu kennen wir ihn doch beide gut genug!« Helen lachte. »Grüß ihn einfach von mir.« Als sie fortfuhr, konnte Matilda durchs Telefon hören, dass ihre Tante lächelte: »Matilda, ich habe ein Geschenk für dich. Es liegt in meinem Schlafzimmer, auf dem Schrank. Aber am besten siehst du es dir erst morgen früh an, damit es nicht zu Schaden kommt auf eurer Party. Ich muss jetzt Schluss machen, Liebes, ich melde mich so bald wie möglich wieder. Amüsiert euch noch gut und lasst nach Möglichkeit die Möbel ganz.«
»Machen wir.« Matilda spürte, wie glücklich sie der späte Anruf gemacht hatte. Helen war einfach großartig! »Du bist die coolste Tante der Welt!«
»Das will ich meinen«, antwortete Helen. »Du bist ja auch meine Lieblingsnichte.«
»Ich bin deine einzige Nichte.«
»Du wärst auch meine Lieblingsnichte, wenn ich zehn Nichten hätte«, lachte Helen und dann klickte es und ihre Stimme war weg.
Matilda lächelte. Nun war ihr sechzehnter Geburtstag perfekt. Sechzehn! Schon ganz schön erwachsen! Wenn ihre Mutter sie heute sehen könnte und Papa… Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Obwohl sie noch vor wenigen Sekunden mit ihrer Tante gesprochen hatte, fühlte sie sich auf einmal sehr allein. Um sich abzulenken, rief sie sich Helens Worte von eben wieder ins Gedächtnis: Damit es nicht zu Schaden kommt… wiederholte sie im Geist die geheimnisvollen Andeutungen ihrer Tante. Am liebsten wäre Matilda sofort in Helens Schlafzimmer gegangen, um nach dem Päckchen zu sehen. Aber nein – sie durfte es ja erst morgen öffnen, wenn die Party vorbei war. Was war das wohl für ein empfindliches Geschenk? Helen hatte sie nicht nach einem Geburtstagswunsch gefragt und so war die Überraschung nun doppelt groß. Ein Gedanke, so unglaublich wie verwegen, elektrisierte Matilda: Sie wird mir doch nicht… Matildas Überlegungen wurden unterbrochen, denn Nicole tippte ihr auf die Schulter: »Gibt’s noch irgendwo Prosecco?«
»Ähm, ja, klar. In der Küche, komm mit.«
Nicole folgte ihrer Freundin, kurz vor der Küchentür zog sie Matilda plötzlich an der Hand zu sich heran und flüsterte: »Sag mal, Matilda, ist die Tussi mit dem Augenbrauenpiercing die Freundin von deinem Cousin?«
»Tja. Das ist Juliane«, erklärte Matilda. »Mal ist sie seine Freundin, mal wieder nicht, da kennt sich niemand so genau aus – die beiden vermutlich auch nicht. Im Moment scheint sie es gerade mal wieder zu sein.«
Nicole zog einen Schmollmund. »Schade.«
Matilda war überrascht. Seit wann interessierte sich Nicole für Miguel? Oder war das Ganze ein Scherz? Aber nein, Nicole schien ehrlich ein bisschen enttäuscht zu sein. »Nimm es nicht tragisch«, tröstete Matilda ihre Freundin. »Miguel ist ziemlich langweilig, er sitzt Tag und Nacht am PC oder fummelt an seinen Pflanzen rum. Sein Zimmer ist der reinste Dschungel.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Es war unfair, so schlecht über Miguel zu reden. Schließlich war er sehr rücksichtsvoll und nett zu ihr gewesen, als sie im letzten Sommer bei seiner Mutter und ihm eingezogen war. Er hatte sich sogar dazu bereit erklärt, mit seinem ganzen Computerkram und den Pflanzen unters Dach zu ziehen, damit Matilda im ersten Stock ein schönes, großes Zimmer bekam, das sie nach ihrem Geschmack gestalten konnte. Matilda war das damals alles ziemlich egal gewesen. Allein der Umzug nach Hannover hatte sie so viel Kraft gekostet, dass sie erst einmal überhaupt nichts unternommen hatte, um ihr neues Zuhause zu verschönern. Deshalb war es eine riesige Überraschung gewesen, als sie eines Nachmittags von der Musikschule gekommen war und festgestellt hatte, dass Helen und Miguel das Zimmer in ihrer Abwesenheit in Türkis und Zitronengelb gestrichen und türkis-weiß gestreifte Gardinen angebracht hatten. Matilda war vor Rührung in Tränen ausgebrochen und hatte sich ein paar Minuten lang gar nicht wieder beruhigen können. Ihr war eingefallen, dass Miguel sie zwei Tage zuvor etwas zusammenhanglos nach ihren Lieblingsfarben gefragt hatte. Ansonsten lebte Miguel zurückgezogen in seiner eigenen Welt. Er war neunzehn, vor wenigen Wochen hatte er mit Ach und Krach sein Abitur bestanden. Was er damit anfangen würde, wusste er allerdings noch immer nicht. Es hatte deswegen vor Helens Abreise einige ernste Diskussionen zwischen Mutter und Sohn gegeben, deren unfreiwillige Zeugin Matilda in dem hellhörigen alten Haus geworden war.
»Ich finde, er sieht knuffig aus. Man müsste ihn nur mal zum Friseur schicken«, meinte Nicole, die schon etliche Gläser Prosecco intus hatte.
»Knuffig«, wiederholte Anna, die hinzugekommen war, und schüttelte den Kopf. »Ein Typ sollte nicht knuffig aussehen! Ein Teddybär – ja, ein Kerl – nein!«
»Bei mir muss er knuffig aussehen«, beharrte Nicole, warf ihre Lockenmähne zurück und fügte hinzu: »Mit schönen Männern gibt’s nur Ärger, sag ich euch.«
Anna kicherte. Unwillkürlich wanderte Matildas Blick bei diesen Worten hinüber zu Patrick. Der große, breitschultrige Junge saß zusammen mit seinem Freund Jonas und zwei von Miguels Freunden auf dem Sofa im Fernsehzimmer und verfolgte das Fußballspiel. Patrick sah ohne Zweifel sehr gut aus. Seine Gesichtszüge waren fein und wirkten so harmonisch wie die einer griechischen Statue. Lange Wimpern umrahmten die stahlblauen Augen, blonde Haarsträhnen fielen ihm über die hohe Stirn. Nicht wenige Mädchen aus Matildas Klasse waren hinter ihm her. Matilda, Anna und Nicole besuchten die 10a, die Musikklasse des Gymnasiums, in der die Mädchen deutlich in der Überzahl waren. In der Parallelklasse 10b dagegen war es umgekehrt. Natürlich wusste Patrick, dass ihn nahezu die ganze Musikklasse anschmachtete, und es war offensichtlich, dass er diese Aufmerksamkeit genoss. Auch Matilda fand Patrick attraktiv, aber da war kein Kribbeln, wenn sie ihn ansah – oder er sie. Sie konnte nicht sagen, warum, es war eben so. Eigentlich verschwendete sie ohnehin nicht allzu viele Gedanken an Patrick. Erst seit Anna im Februar auf der Klassenfahrt nach Rom behauptet hatte, Patrick sei in Matilda verliebt, war das ein bisschen anders. Okay, er hatte sich wirklich auffallend häufig in ihrer Nähe aufgehalten, sie hatten viel zusammen gelacht und herumgealbert. Aber das hieß doch eigentlich noch nichts. Und außerdem: Was sollte Patrick ausgerechnet von ihr wollen? Gut, sie sah nicht hässlich aus – sie hatte glänzendes dunkelbraunes Haar, klare blaue Augen unter schön geschwungenen Brauen und hohe Wangenknochen –, aber damit hörte es dann auch schon auf mit der Schönheit, fand Matilda. Ihre Nase war zwar schmal, besaß aber eine deutliche Wölbung nach außen. »Ein Indianerzinken«, hatte ihr Vater, von dem sie die Nase geerbt hatte, sie manchmal geneckt. Ihren Mund hielt Matilda für zu groß, das Kinn für zu eckig. »Du hast ein ausdrucksvolles, kluges Gesicht«, behauptete dagegen ihre Tante Helen. Da mochte vielleicht etwas Wahres dran sein, aber Matilda fand, dass es sehr viele deutlich hübschere Mädchen als sie an der Schule gab. Nicole zum Beispiel, mit ihren grünlichen Augen und den wilden kupferfarbenen Locken, oder auch Anna, das blonde Engelchen mit den filigranen Gesichtszügen.
Matildas etwas sprödes Äußeres spiegelte in etwa auch ihr Wesen wider: Sie besaß durchaus Selbstbewusstsein, aber bei jedermann beliebt zu sein, war nicht ihr Ziel. Ein paar wenige, dafür aufrichtige Freunde genügten ihr. Außer ihrem Geigenspiel, das den größten Teil ihrer schulfreien Zeit in Anspruch nahm, hatte sie wenige Hobbys. Lesen vielleicht noch, aber das war auch nichts, womit man Jungs beeindrucken konnte. Ihr Kleidungsstil war eher schlicht und zurückhaltend, lag manchmal sogar an der Grenze zur Einfallslosigkeit. Matilda hielt Shopping ganz einfach für Zeitverschwendung, sie hasste Kaufhäuser, Boutiquen und Umkleidekabinen. Heute trug sie ein Kleid, das Tante Helen mit ihr zusammen ausgesucht hatte. Es war tiefblau und einfach geschnitten, der weiche, seidige Stoff floss elegant bis zu den Waden an ihr herab und betonte die Farbe ihrer Augen. »Wie schön das ist, für ein Mädchen ein Kleid zu kaufen«, hatte Helen in der Boutique ausgerufen und – vermutlich in Gedanken an Miguel – knurrend hinzugefügt: »Jedenfalls schöner als schwarze Kapuzenpullis und Schlabberjeans.«
Nein, Matilda machte sich über Klamotten und Make-up wenig Gedanken. Dabei war sie keineswegs ein stilles Wasser oder gar ein Mauerblümchen, aber auch keine Stimmungskanone wie Nicole nach ein paar Gläsern Prosecco. Und um bei Jungs Beschützerinstinkte zu wecken wie die zarte Anna, dafür wirkte sie wahrscheinlich zu unnahbar und selbstbewusst und war mit eins fünfundsiebzig auch zu groß dafür.
Vorhin hatte ihr Patrick im Flur ein kleines Geschenk überreicht, einen Moleskin-Taschenkalender. »Damit du jeden Tag an mich denkst«, hatte er dazu gesagt. Matilda fand den Kalender schön, Patricks Bemerkung dagegen war ziemlich daneben gewesen. Aber sie hatte sich ihre Verärgerung nicht anmerken lassen, hatte nur die Augenbrauen hochgezogen und spöttisch gegrinst. »Aber das tu ich doch sowieso jeden Tag.« Dann hatte sie sich beeilt, wieder zu ihren Freundinnen ins Wohnzimmer zu kommen. Seitdem war sie noch ein wenig verunsicherter, was Patricks Gefühle betraf. Andererseits – gerade jetzt unterhielt er sich angeregt mit zwei Mädchen, die Matilda nicht kannte, und es sah ganz danach aus, als hätten die drei jede Menge Spaß. Matilda seufzte. Da war ihr Miguels Geschenk doch deutlich lieber: die neue CD von Gossip, er hatte sie ihr heute Morgen beim Frühstück mit einem Grinsen überreicht.
Von Nicole und Anna hatte Matilda ein Schminkset geschenkt bekommen, das fast so groß war wie ein Werkzeugkoffer.
»Damit du gerüstet bist für den Fall der Fälle«, hatte Nicole augenzwinkernd verkündet, wohl schon ahnend, dass Matilda das meiste, was der Koffer enthielt, nie benutzen würde – und vermutlich gar nicht wusste, was man damit machte.
»So einen Scheiß hat Matilda doch gar nicht nötig.« Patrick, der zufällig in der Nähe stand, hatte abfällig den Kopf geschüttelt, was Matilda, auch wenn es ganz offensichtlich als Kompliment gemeint war, geärgert hatte. Wie kam er dazu, das Geschenk ihrer Freundinnen als »Scheiß« zu bezeichnen? Die Mädchen betraten die Küche und Matilda nahm eine Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank.
»Soll ich ihn für euch aufmachen?«, fragte eine angenehme, tiefe Stimme. Sie gehörte dem Jungen mit den braunen Locken, er lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt, hinter ihnen an der Spüle und beobachtete sie.
Matildas »Danke, geht schon« wurde übertönt von Annas »Och, ja, wenn du so lieb bist! Ich breche mir immer fast die Finger dabei.«
Matilda verdrehte die Augen, reichte dem Jungen dann aber doch die Flasche. Er öffnete sie gekonnt mit einem dezenten Plopp und goss den Inhalt in die drei frischen Gläser, die Nicole bereits aus dem Schrank geholt hatte. Dann hob er sein Bierglas und prostete Matilda zu, wobei er ihr lächelnd in die Augen schaute: »Auf deinen Geburtstag, Matilda. Wie alt bist du noch gleich geworden?«
»Sechzehn«, antwortete Matilda und nippte an ihrem Glas. Eigentlich verabscheute sie Prosecco, aber sie konnte hier ja nicht nur Fanta trinken, wie würde das denn aussehen, noch dazu an ihrem Geburtstag?
»Wie heißt du?«, fragte Nicole den Jungen.
»Christopher, man nennt mich Chris.«
»Nicole«, sagte Nicole und kicherte.
»Und ich bin Anna, Matildas Freundin.«
»Matilda.« Christopher ließ sich ihren Namen auf der Zunge zergehen wie ein Karamellbonbon, wobei es fast schon an Unhöflichkeit grenzte, wie er Nicole und Anna, die ihm intensive Blicke zuwarfen, ignorierte. »Du sollst so ein Geigengenie sein.«
»Quatsch! Wer sagt denn so was?«, unterbrach ihn Matilda, obwohl sie es sich schon denken konnte. Sie merkte, wie sie rot wurde, und ärgerte sich darüber.
»Miguel.«
»Er übertreibt«, wehrte Matilda ab. Oder vielleicht übertrieb auch Tante Helen maßlos, wenn sie mit ihrem unmusikalischen Sohn über Matildas Talent sprach. »Anna spielt auch Geige«, erklärte sie. »Wir haben zusammen Unterricht.«
»Aber ich bin längst nicht so gut wie sie«, versicherte Anna. Normalerweise verschwieg Anna Jungs gegenüber, dass sie Violine spielte. Jungs fänden das unsexy, hatte sie neulich zu Matilda gesagt. Nicole dagegen spielte mehr schlecht als recht E-Gitarre, konnte aber sehr gut singen. Damit ließ sich Annas Meinung nach viel eher punkten als mit einer Violine. Matilda wiederum hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie sexy oder unsexy das Geigespielen aufs andere Geschlecht wirkte.
»Bist du sauer, weil wir in deine Geburtstagsfeier geplatzt sind?«, wurde sie nun von Christopher gefragt. »Miguel hat’s natürlich wieder nicht gerafft«, fügte er entschuldigend hinzu.
»Nein, ich finde es gut, dass er euch eingeladen hat. Wir sind ja nur zu fünft, das wäre ohnehin kein Mega-Event geworden«, antwortete Matilda und erklärte etwas verlegen: »Ich… ich wohne erst seit einem Jahr hier, ich kenne noch nicht so viele Leute.«
»Ja, ich weiß, Miguel hat’s mir erzählt. Das tut mir leid, das mit deinen Eltern. Muss furchtbar gewesen sein.« Christopher sah sie mit einer Mischung aus Anteilnahme und Neugierde an. Matilda hielt dem Blick seiner Augen nur einen Atemzug lang stand. Was für faszinierende Augen! Sie hatten eine eigentümliche helle Farbe, die an das Silbergrau eines Buchenstammes erinnerte.
Wenn es möglich war, vermied es Matilda, neuen Bekanntschaften gegenüber vom Unfall ihrer Eltern zu sprechen. Sie wollte weder als armes Waisenkind bedauert werden noch die Leute in Verlegenheit bringen. Sie wusste inzwischen, dass kaum jemand auf unbefangene Art mit dem Thema Tod umgehen konnte. Die meisten Menschen scheuten den Kontakt zu Trauernden, als hätten diese eine ansteckende Krankheit. Diese bittere Erfahrung hatte Matilda an ihrer alten Schule machen müssen. Ihre Klassenkameraden hatten sie zwar aufrichtig bedauert, waren ihr aber gleichzeitig auch mehr oder weniger unauffällig aus dem Weg gegangen. Nicht absichtlich, sondern aus schierer Hilflosigkeit darüber, wie sie mit einem Mädchen, das gerade beide Eltern verloren hatte, umgehen sollten. Das Verhalten ihrer Mitschüler hatte Matilda den Abschied von ihrer Schule, der Nachbarschaft und ihrer Heimatstadt sogar irgendwie erleichtert. Sie war am Ende richtig froh gewesen, Kassel zu verlassen und nach Hannover umzuziehen, wo ihre Tante Helen, aber auch ihre Großeltern mütterlicherseits wohnten. Die Mutter ihres Vaters lebte in München, sonst hatte Matilda keine Verwandten.
Verflixt noch mal, ärgerte sich Matilda nun. Was hatte Miguel, dieses Klatschmaul, seinen Freunden alles über sie erzählt? Ihre ganze Lebensgeschichte einschließlich Familiendrama? Andererseits musste er ja wohl irgendwie erklären, warum seine Cousine bei ihnen wohnte. Sie schaute hinüber zu Miguel, der am Küchenschrank lehnte und mit Juliane und dem blonden Mädchen redete. Die Blonde hatte wohl gerade etwas Witziges gesagt, alle drei lachten. Eine Flasche Jägermeister machte die Runde, gerade schenkte Miguel drei Schnapsgläser voll. Er fing Matildas Blick auf. »Auch einen?«
Sie schüttelte den Kopf, aber Nicole krähte: »Klar. Los, gib ’ne Runde aus!«
Nicoles Kopfschmerzen möchte ich morgen früh nicht haben, zum Glück ist Samstag, dachte Matilda. Aber dann probierte sie doch vorsichtig von dem Schnaps. Die braune Flüssigkeit war süßer, als sie angenommen hatte, und sie kippte den Rest auf ex hinunter. »Gar nicht so übel«, meinte sie und schüttelte sich.
Christopher, der mitgetrunken hatte, lachte. Dann wurde er schlagartig wieder ernst und fragte Matilda: »Wer hat es dir eigentlich gesagt?«
»Was gesagt?«, fragte Matilda verwirrt.
»Das mit deinen Eltern.«
Matilda war ein wenig schockiert über diese direkte und sehr persönliche Frage. Andererseits war das immer noch besser als betretenes Schweigen oder mitleidige Blicke, also antwortete sie. »Eine Polizistin, die einen Psychologen dabeihatte und den Pfarrer, der mich konfirmiert hat. Es war ganz komisch. Ich habe es erst gar nicht so richtig begriffen, ich hatte ja schon geschlafen. Sie sind auf dem Heimweg von einem Geschäftsessen beim Chef meines Vaters in einen Stau geraten, auf der Autobahn, und ein Lastwagen ist von hinten ungebremst auf sie draufgeknallt.« Wenn er schon so neugierig fragt, dachte Matilda, dann kriegt er auch gleich die ganze Horrorgeschichte zu hören.
»Grässlich.«
»Ja«, antwortete Matilda.
Für einen Moment herrschte Schweigen, dann sagte Matilda: »Ich bin froh, dass ich zu Helen ziehen konnte. Kennst du sie? Sie ist eine bekannte Saxofonistin.«
»Ich weiß, ich habe sie schon spielen gehört«, antwortete Christopher. »Ich spiele auch ein bisschen Saxofon, aber nur ganz schlecht.«
»Und was machst du sonst?«, wollte Matilda wissen. Sie war froh darüber, dass er das Thema gewechselt hatte.
»Im Moment nichts. Und du?«
»Ich hab noch zwei Jahre bis zum Abi. Wenn ich es schaffe, möchte ich Musik studieren.«
»Klar«, sagte Christopher und grinste. Schöne Zähne, dachte Matilda. Schöne Augen, schöner Mund… Er erinnerte sie an die römischen Jungs, die sie während ihrer Klassenfahrt gesehen hatte: coole, extrem gut aussehende Typen, die auf ihren Motorrollern ohne Helm durch die Straßen kurvten und vor den Cafés herumlungerten, ihr cellulare – ihr Handy – stets am Ohr. »Gott, sind die süß«, hatte Anna jedes Mal verzückt ausgerufen, wenn sie einen von ihnen entdeckt hatten, um sich gleich darauf zu beschweren: »Warum sehen die Jungs in Deutschland nicht so aus? Jetzt, wo ich die gesehen habe, gefallen mir diese Holzköpfe, die bei uns zu Hause rumlaufen, erst recht nicht mehr!«
»Sag Bescheid, wenn du dein erstes Konzert gibst.« Christopher lächelte sie an. Ehe Matilda etwas erwidern konnte, hatte er sich wieder Miguel und den beiden Mädchen zugewandt. Matilda seufzte. War ja klar, dass dieser Christopher sie nicht besonders interessant fand. Er war bestimmt auch schon neunzehn, so wie Miguel. Miguel interessierte sich auch nicht für Sechzehnjährige, seine Freundin Juliane war sogar schon einundzwanzig. War die Blonde Christophers Freundin? Matilda beschloss, ihren Cousin bei der nächsten Gelegenheit einmal gründlich über seinen Freund auszufragen.
Das Fußballspiel war zu Ende, im Wohnzimmer wurde die Anlage aufgedreht und der Teppich eingerollt. Matilda verließ die Küche auf der Suche nach ihren Freundinnen – Anna und Nicole hüpften schon übermütig auf dem Parkett herum. Patricks Kumpel Jonas machte linkische Verrenkungen, die mit viel Fantasie als Tanz durchgingen.
»Möchtest du tanzen?«, fragte Patrick Matilda.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Matilda. Sie tanzte nur, wenn sie alleine in ihrem Zimmer war, denn sie fand, dass sie beim Tanzen zu groß und zu knochig wirkte.
»Wollen wir im Garten eine rauchen?«
»Ich rauche nicht, aber wir können gerne rausgehen.« Ein bisschen frische Luft war vielleicht keine schlechte Idee, Matilda war von dem Schnaps schon ein wenig schwummerig geworden.
Der Garten war von hohen Sträuchern umgeben. Jetzt, im Juni, konnte man dem Gras und dem Unkraut beim Wachsen beinahe zusehen. Seltsamerweise hatte Miguel, der seine unzähligen exotischen Zimmerpflanzen akribisch hegte und pflegte, für die gewöhnlichen Gartenarbeiten wie Unkraut jäten, Sträucher schneiden und Rasen mähen überhaupt nichts übrig. Er und Helen lagen sich deswegen häufig in den Haaren. Matilda beschloss spontan, am Wochenende den Garten einigermaßen in Ordnung zu bringen, damit er in den nächsten Wochen nicht vollkommen verwilderte. Andererseits mochte sie es, wenn der Garten etwas unordentlich aussah. Sie fand ihn viel schöner und romantischer als den aufgeräumten Reihenhausgarten, der zu ihrem Elternhaus gehört hatte. Und zu der alten, etwas heruntergekommenen Villa ihrer Tante passte ein verwunschener Garten sowieso ganz gut.
Sie schlenderten über die Wiese und setzten sich dann auf eine steinerne Bank, die an einem sumpfigen Gartenteich lag. Eine Statue aus Granit, die Michelangelos David nachempfunden war, bewachte den Teich. Auf dem Wasser schwammen unzählige Seerosen.
»Der hat aber ’nen winzigen Pimmel«, hatte Nicole kichernd bemerkt, als sie den Garten zum ersten Mal betreten hatten, und dann hatten Nicole, Anna und Matilda darüber spekuliert, wie realitätsnah diese Darstellung wohl war.
Patrick dagegen ignorierte den nackten Steinmann. Er sah Matilda von der Seite an. »Du musst heute bestimmt besonders oft an deine Eltern denken.«
»Ja, das stimmt«, gestand Matilda. »Aber Weihnachten war schlimmer, alle haben fast nur geheult.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Patrick nickte. »Aber Geburtstage sind auch so kritische Tage. Meine Mutter kriegt an meinem Geburtstag jedes Mal einen sentimentalen Anfall. Neulich, an meinem sechzehnten, hat sie sich das Video von meiner Geburt angesehen. Ich bin zufällig ins Zimmer gekommen, mir war danach kotzübel!«
Matilda musste lachen. »Schön, dass ihr heute gekommen seid.«
»Ist mir ein Vergnügen«, grinste Patrick. Er drückte ihre Hand und für einen Moment hatte es den Anschein, als wollte er sie festhalten, aber Matilda entzog sie ihm rasch.
Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Patrick: »Weißt du, ich glaube, dass es mit den Toten so ist: Sie sind gar nicht wirklich weg, sie bleiben bei den Menschen, die sie geliebt haben.«
»Du meinst, so wie Gespenster?«
»Eher wie so eine Art Geist. Eine geistige, nicht materielle Existenzform oder so was.«
»Schon möglich.« Matilda nahm ihr Glas, das sie neben sich auf die Bank gestellt hatte, und trank einen Schluck. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches. »Hast du denn schon mal jemanden verloren, den du gemocht hast?«
»Ja, meine Oma.«
»Und die erscheint dir als Geist?«
»Nein, natürlich nicht. Aber manchmal hab ich so ein Gefühl… als wäre sie da.«
Matilda nickte langsam. Ja, dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Aber sie wollte trotzdem jetzt nicht mit Patrick darüber reden, auch wenn sie angenehm überrascht von ihm war. So tiefsinnige Gedankengänge hätte sie ihm gar nicht zugetraut.
»Ich hoffe nicht, dass mir meine Oma Eleonore nach ihrem Tod erscheint. Die reicht mir schon lebendig«, sagte sie deshalb leichthin und grinste.
»Wieso?«
Matilda winkte ab. »Wenn du sie kennen würdest, wüsstest du es. Sie ist ein alter Drachen.«
Sie plauderten eine Weile über die Schule und – natürlich – über Fußball. Eigentlich, dachte Matilda, ist Patrick wirklich nett.Jedenfalls zu mir. Gerade hatte er sich nach dem Musikwettbewerb erkundigt, an dem Anna und Matilda in vier Wochen teilnehmen wollten. Anna hatte ihm offenbar davon erzählt.
»Es ist ein Wettbewerb für Jugendliche, der im Rahmen des Internationalen Violinwettbewerbs stattfindet«, erklärte Matilda stolz. »Der eigentliche Internationale Violinwettbewerb wird alle drei Jahre in Hannover im Opernhaus ausgetragen. Dabei treffen sich die besten jungen Geigerinnen und Geiger der ganzen Welt. Es sind inzwischen fast nur noch Chinesen, Japaner und Koreaner. Ich glaube, bei denen müssen sie schon im Kindergarten Geige lernen.«
»Du kommst bestimmt auch noch dahin«, prophezeite Patrick.
»Unsinn. Aber ich bin schon froh, dass ich beim Jugendcontest dabei bin. Allerdings sterbe ich jetzt schon vor Angst. Anna spielt übrigens auch mit, aber in einem Kammerorchester.«
»Wenn du so weit gekommen bist, dann musst du doch keine Angst mehr haben«, meinte Patrick sichtlich beeindruckt und versprach: »Ich werde auf jeden Fall hingehen und für dich johlen und klatschen.«
»Sehr nett, aber ich weiß nicht, ob das da so gut ankommt. Das ist was anderes als ein Poetry-Slam.« Sie erinnerte sich, dass Patrick ihr auf der Klassenfahrt erzählt hatte, dass er schon dreimal bei Poetry-Slams mitgemacht hatte. »Aber immer in anderen Städten, nicht hier«, hatte er erklärt. »Ich hatte keine Lust, mich vor meinen Freunden zu blamieren.« Damals, in Rom, hatte Matilda ihm versprochen, dass sie, sollte er eines Tages in der Nähe auftreten, kommen und für ihn klatschen würde.
Sie lehnte sich zurück und blinzelte träge. Sie merkte den Alkohol, den sie getrunken hatte, aber es war kein unangenehmes Gefühl. Es war noch warm, die Abendsonne schien durch das Geäst des Ginkgobaumes, eine Amsel sang. Matilda öffnete die Augen, als das Gartentor quietschte. Sie erkannte Christopher und das blonde Mädchen: Die beiden stiegen in einen roten Twingo, der vor der Einfahrt zur Villa stand. Keiner von beiden blickte in den Garten zurück. Christopher hielt dem Mädchen galant die Beifahrertür auf. Matilda stand abrupt auf. Ihre gute Laune war plötzlich verflogen. »Ich geh rein.« Patrick sah sie verdutzt an, sagte aber nichts, sondern trottete hinter ihr her. Im Wohnzimmer roch es nach Gras, die Anlage war bis zum Anschlag aufgedreht. Zum Glück, dachte Matilda, ist das Rentnerpaar, das in dem protzigen Sechzigerjahre-Bungalow links neben uns wohnt, gerade verreist. Die hätten sonst bestimmt schon die Polizei gerufen. Helens Haus lag ein wenig abseits, am äußersten Rand eines älteren, gediegenen Wohnviertels. An die rechte Seite des Gebäudes grenzte ein Stück von Unkraut überwuchertes Brachland, dahinter stand das Lagerhaus einer Spedition, danach kam nur noch der Bahndamm. Hinter Helens Grundstück lagen Sport- und Tennisplätze, die von einem dichten Grüngürtel umgeben waren. Von dort waren wohl kaum Beschwerden zu befürchten. Allenfalls die Anlieger auf der gegenüberliegenden Seite der Straße könnten sich belästigt fühlen, aber in den Reihenhäuschen wohnten überwiegend jüngere Paare, die selbst hin und wieder eine laute Gartenparty feierten.
In der Küche waren Miguel und Juliane dabei, bunte Mixgetränke herzustellen. So wie es aussah, hatten sie dazu Helens Hausbar geplündert – auf dem Tisch standen Flaschen mit Wodka, Tequila, Campari, Korn und ein paar Obstschnäpse, im Spülbecken lagen leere Orangen- und Zitronenschalen.
»Hier, meine neueste Kreation!« Juliane hielt Matilda einen bunten Drink unter die Nase. Matilda nahm das Glas ein bisschen zögerlich entgegen. Doch dann trank sie entschlossen einen großen Schluck.
Dieser Christopher hätte sich wenigstens verabschieden können!Andererseits – wenn er uns gesehen hat? Patrick und ich allein auf der Bank am Teich… verdammt, wie hat das denn wohl gewirkt? Als wären wir ein Liebespaar! Hätte er da mit einem Mädchen gesessen, hätte ich mich auch nicht verabschiedet!, grübelte Matilda. Mist, wahrscheinlich denkt er jetzt, dass ich mit Patrick zusammen bin! Aber wieso mache ich mir überhaupt Gedanken darüber, was er denkt? Eigentlich ist das doch total egal, schließlich ist er ja sowieso mit der Blonden abgezogen, die wahrscheinlich seine Freundin ist. Er wird jedenfalls ganz bestimmt keinen Gedanken mehr an die kleine Cousine seines Kumpels verschwenden.
»Hast du noch so einen?«, fragte sie Juliane.
»Klar doch.«
Miguel runzelte die Stirn, aber er sagte nichts, als Juliane bereitwillig noch einen Drink für Matilda mixte. Er bestand aus mindestens drei hochprozentigen Spirituosen und einem Spritzer Orangensaft. Die beiden Mädchen prosteten sich zu.
Danach überfiel Matilda ein Anfall von Übermut und sie ließ sich gegen ihre sonstige Gewohnheit von Jonas auf die Tanzfläche schleppen. Obwohl sich Jonas weitaus linkischer bewegte als Matilda, machte es Spaß, mit ihm zu tanzen. Irgendwann – sie hatte den Wechsel gar nicht richtig mitbekommen – tanzte sie mit Patrick. Erst ohne sich zu berühren, dann, bei einem langsamen Song, fand sie sich an seine Schulter geschmiegt wieder. Eigentlich fühlte er sich ganz gut an. Er roch auch gut. Zum Teufel mit diesem Christopher, der nahm sie doch gar nicht ernst! Als Patrick sie küsste, wurde ihr ein bisschen schwindelig. Matilda war nicht sicher, ob es von dem Kuss kam oder weil sie dazu die Augen zugemacht hatte oder wegen des Alkohols. Sie taumelte und wäre gestürzt, hätte Patrick sie nicht gehalten. »Magst du dich vielleicht hinsetzen?« Matilda nickte dankbar, ließ zu, dass er sie an der Hand fasste und durch die Tanzenden hindurch zu dem Sofa im Fernsehzimmer zog. Sie küssten sich erneut, seine Lippen fühlten sich warm und fest an. Seine Zunge glitt über ihre Zähne und erkundete ihren Mund und Matilda erwiderte den Kuss. Plötzlich waren auch Patricks Hände überall. Matilda war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Aber sie kam gar nicht mehr dazu, darüber nachzudenken, denn auf einmal war ihr furchtbar schlecht. Sie sprang auf und rannte zum Klo, das sie gerade noch rechtzeitig erreichte, ehe sie die Mischung aus Torte und Cocktails, die sie an dem Abend zu sich genommen hatte, in einem Schwall wieder von sich gab. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand. Jemand klopfte an die Tür.
»Besetzt!«
Aber die Tür öffnete sich trotzdem. Es war nicht Patrick, wie Matilda befürchtet hatte, sondern Anna. Matilda wollte etwas sagen, aber ein neuer Brechreiz überkam sie. Während Matilda über der Kloschüssel hing, hielt Anna ihr die Haare im Nacken zusammen und sagte dabei in mütterlichem Ton. »Ja, kotz dich ruhig aus. Gut, wenn du jetzt gleich reiherst, dann geht es dir morgen wieder gut.« Sie reichte Matilda einen feuchten Waschlappen, mit dem diese sich den Mund abwischte, als es vorbei war.
»Mir geht’s schon besser, ehrlich.« Matilda ließ sich auf den Boden sinken und lehnte den Kopf gegen die kühlen Kacheln der Badewanne.
»Jaja, schon klar«, grinste Anna. »Ich bring dich jetzt ins Bett. Los, ab nach oben.«
Ein Bett, oh ja, dachte Matilda, während Anna sie die Treppe hinaufbugsierte. Sie hatte das Gefühl, sich noch nie so sehr nach ihrem Bett gesehnt zu haben wie jetzt. Mit zittrigen Händen putzte sie sich rasch noch die Zähne und ließ sich dann von Anna in ihr Zimmer führen. Flüchtig nahm sie wahr, dass Patrick auftauchte und seine Hilfe anbot, aber Anna winkte ab. »Ich hab alles im Griff, wir kommen schon klar.« Dann hörte Matilda Nicole, die kichernd fragte: »Kotzen bei dir die Frauen immer, nachdem sie mit dir geknutscht haben? Wenn ja, dann solltest du mal was gegen deinen Mundgeruch tun.«
»Sehr witzig«, kam es scharf von Patrick, dann schloss sich die Tür und Matilda sank, ohne sich auszuziehen, auf ihr Bett. Es schaukelte wie ein Kahn bei Windstärke neun. Anna streifte ihr die Schuhe ab, deckte sie zu und stopfte zwei Kissen unter ihren Kopf. Prompt ließ das Schaukeln ein wenig nach, und als Matilda auf Annas Rat hin probehalber einen Fuß auf den Boden stellte, quasi als Anker, stand das Bett sogar ziemlich ruhig. »Danke, Anna. Du bist meine allerbeste Freundin.«
»Keine Ursache. Ist ein Tipp von meinem Bruder. Soll ich heute Nacht lieber hier schlafen, auf dem Sofa?«
»Nein, musst du nicht. Ich bin okay«, wehrte Matilda mit schwacher Stimme ab. Sie wollte jetzt nur noch ihre Ruhe haben. Schlafen, dachte sie. Nur noch schlafen.
»Okay, wie du meinst. Der Eimer steht neben dem Bett – für alle Fälle«, sagte Anna und deutete auf den roten Putzeimer, den sie in der Abstellkammer gefunden hatte. »Dann mal gute Nacht.« Sie löschte das Licht und ging.
Zwei Sekunden später war Matilda schon eingeschlafen.
2
Matilda wurde wach. Es war dunkel, nur das Licht der Straßenlaterne warf ein mattes Viereck auf den Fußboden. Wo bin ich? Das ist nicht mein Zimmer! Den Schock des völlig orientierungslosen Erwachens hatte Matilda in der ersten Zeit nach dem Tod ihrer Eltern und dem Umzug hierher oft erlebt. Als hätte ihr Hirn im Schlaf alles vergessen. In den zähen Sekunden nach dem Wachwerden war die Realität dann jedes Mal mit neuer Wucht auf sie eingestürzt: Nein, das ist nicht das Zimmer in deinem Elternhaus, deine Eltern sind tot, das ist dein Zimmer im Haus von Tante Helen. Dieses Mal kamen noch zwei weitere Fragen hinzu: Warum ist es so dunkel?Warum ist mir so schlecht?
Die erste Frage klärte sich nach einem Blick auf die Digitalanzeige ihres Radioweckers: 4:10. Dem Grund der Übelkeit auf die Spur zu kommen, dauerte ein wenig länger, doch ehe sich Matilda darüber weitere Gedanken machen konnte, hatte sie schon den Putzeimer ergriffen – was immer der neben ihrem Bett zu suchen hatte, er kam ihr im Moment äußerst gelegen. Langsam sickerten die Bilder des vergangenen Abends wieder in ihr Gedächtnis. Die Party, die Leute, die Drinks, die Musik… danach verschwamm die Erinnerung. Sie sah sich tanzen. Völliger Schwachsinn! Ich tanze nie vor anderen Leuten.
Erschöpft sank sie auf dem Bett in sich zusammen. Die Übelkeit hatte ein wenig nachgelassen, aber sie fühlte sich noch immer schwach und zitterig. Nach einigen Minuten gewann jedoch ihr Ordnungssinn die Oberhand und sie stand auf, trug den Eimer ins Bad, leerte den Inhalt in die Toilette und spülte ihn aus. Sie putzte sich die Zähne. Im Neonlicht der Badezimmerbeleuchtung sah sie blass aus, fast grünlich, wie eine Wasserleiche. Sie schüttelte sich, angeekelt von sich selbst. Dann drehte sie den Wasserhahn auf und klatschte sich eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht. Schon besser. Vielleicht sollte ich ein Stück Zwieback essen, überlegte Matilda. »Zwieback beruhigt den Magen«, das hatte ihre Mutter immer gesagt, wenn ihr als Kind übel gewesen war. Ohne Licht zu machen, schlich sie hinaus in den Flur. Eine schmale Treppe führte ins Dachgeschoss, wo Miguel sein Reich hatte. Matilda tastete sich ein paar Schritte die Treppe hinauf, bis sie den oberen Flur einsehen konnte. Normalerweise drang nachts unter der alten, schlecht schließenden Tür zu Miguels Zimmer immer ein schwacher Lichtschein hindurch. Miguel hatte die Angewohnheit, eine schummrige Salzkristalllampe anzulassen, wenn er schlief. Er hatte Matilda einmal erzählt, dass er als Kind furchtbare Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Die Gewohnheit, die Lampe anzulassen, hatte er beibehalten, auch wenn er sich inzwischen selbstverständlich im Dunkeln nicht mehr fürchtete. Nun war da oben alles schwarz, kein Lichtstreif schimmerte unter der Tür, was bedeutete, dass Miguel nicht in seinem Zimmer war. Bestimmt hatte er Juliane nach Hause gebracht und war bei ihr geblieben. Juliane bewohnte das winzige Reihenhäuschen ihrer Mutter, die, weil sie Alzheimer hatte, in einem Pflegeheim lebte. Umso besser.Dann brauche ich auch nicht leise zu sein, dachte Matilda, schaltete das Licht im Flur an und lief barfüßig hinunter in die Küche. Bei dem Anblick, der sich ihr dort bot, wurde ihr erneut ein wenig übel: massenhaft schmutzige Gläser, Pizzakartons, leere Flaschen, volle Aschenbecher. Und wie das roch! Zwieback fand sie auch keinen, aber eine angebrochene Packung Knäckebrot. Sie würgte eine Scheibe davon hinunter und trank in kleinen Schlucken ein Glas Wasser dazu. Irgendwo im Haus rauschte und pfiff es leise. Die Wasserleitung? Der Wind? So ein altes Gemäuer kann ganz schön unheimlich sein in der Nacht, dachte Matilda nicht zum ersten Mal.
»Miguel, du bist für deine Cousine verantwortlich, solange ich weg bin«, hatte Helen ihrem Sohn vor ihrem Abflug wiederholt eingeschärft. »Vor allen Dingen möchte ich nicht, dass Matilda nachts ganz allein im Haus ist. Ist das klar?«
»Klar«, hatte Miguel jedes Mal großspurig versichert. »Ich pass schon auf die Kleine auf.«
Seitdem hatte Matilda schon zwei Nächte allein verbracht. Immerhin hatte Miguel das erste Mal noch angerufen und angeboten, er würde nach Hause kommen, falls sie sich fürchten sollte. Natürlich hatte Matilda das abgelehnt und versichert, sie sei weder ein kleines Mädchen noch ein Angsthase. Aber später, als sie im Bett gelegen und versucht hatte einzuschlafen, hatte sie sich dann doch ein wenig geängstigt. Das alte Haus machte in der Nacht Geräusche, die ihr tagsüber noch gar nicht aufgefallen waren. Es knackte und knarzte, die Rohre glucksten, das Holz ächzte, einmal schepperte ein Fensterladen, der nicht festgeklemmt war. Das letzte Mal, als Miguel außer Haus übernachtet hatte, hatte sie überhaupt nicht einschlafen können. Schließlich war sie aufgestanden und hatte Geige gespielt. Die Töne des Instruments hatten die Geräusche des Hauses verdrängt und danach war Matilda endlich beruhigt und müde eingeschlummert. Als der Wecker geklingelt hatte, waren die Schrecken der Nacht vollends verflogen. Sie war sich allein in der alten Villa sogar ein bisschen wie eine Schlossherrin vorgekommen.
Im Moment allerdings wäre es ihr lieber gewesen, Miguel im Haus zu wissen. Warum, das konnte sie gar nicht so genau sagen. Sie glaubte weder an Gespenster, noch rechnete sie wirklich damit, dass die ziemlich heruntergekommene Villa ihrer Tante attraktiv genug für Einbrecher war. Es war auch nicht direkt Furcht, was Matilda empfand, eher ein Gefühl der Schutzlosigkeit und vielleicht auch der Einsamkeit.
Als um den Jahreswechsel herum die Pläne von Tante Helens Tournee Gestalt angenommen hatten, hatte Helen lange gezögert, ob sie sie überhaupt antreten sollte – immerhin war Matilda erst vor wenigen Monaten zu ihr gezogen und Helen war der Ansicht, dass ihre Nichte nach dem schweren Schicksalsschlag, der sie getroffen hatte, dringend ihre Fürsorge brauchte. Aber Miguel und Matilda hatten Helen hartnäckig gedrängt, auf diese Tournee durch Europa und Amerika zu gehen.
»Das ist für dich der große Durchbruch! Ich will auf keinen Fall, dass du diese Chance wegen mir aufgibst«, hatte Matilda immer wieder gesagt. »Schließlich habe ich auch was davon, wenn ich mit meiner berühmten Tante angeben kann.«
Miguels Argument war wesentlich pragmatischer gewesen: »Wir brauchen doch auch die Kohle. Sonst bricht uns die Hütte irgendwann über dem Kopf zusammen.«
Ganz so schlimm war es zwar nicht, aber das Haus hätte eine Renovierung gut vertragen können, das sah auch Matilda so. Im Winter hatte es durch die hölzernen Rahmen der Fenster gezogen, die veraltete Heizungsanlage verbrauchte Unmengen an Gas und das Dach war an manchen Stellen nur notdürftig geflickt. »Nach dem nächsten heftigen Sturm habe ich wahrscheinlich freie Sicht auf den Sternenhimmel«, hatte Miguel neulich düster prophezeit. Und natürlich hatten sich sowohl er als auch Matilda insgeheim auf zwei Monate sturmfreie Bude gefreut. Aber sie waren schlau genug gewesen, es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Schließlich hatte Helen geseufzt und dann mit einem breiten Lächeln gesagt: »Also gut, dann ist es also abgemacht. Ich hoffe nur, dass das Haus noch steht, wenn ich wiederkomme.«
Einen Monat war sie jetzt schon fort und einen weiteren würde sie noch durch die Welt tingeln. Beim Gedanken an Tante Helen fiel Matilda das gestrige Telefongespräch wieder ein. Das Geschenk! Sie holte die Trittleiter aus der Speisekammer und trug sie hinauf in Helens Schlafzimmer. Es war ein quadratischer Raum mit großem Fenster und einem Futonbett, die Wand an der Stirnseite des Bettes war orangefarben gestrichen, der Rest blassgelb. Etliche geschnitzte und bemalte Holzmasken aus Afrika hingen an den Wänden. Matilda gruselte sich immer ein wenig vor diesen augenlosen Holzgesichtern, weshalb sie diesen Raum, in dem sie ohnehin nichts zu suchen hatte, so gut wie nie betrat. Die Fensterläden waren geschlossen, ebenso die orange-grün gemusterten Gardinen. Es roch dezent nach Tante Helen – vielmehr nach ihrem Parfum – und nach den Stoffsäckchen mit Sandelholzduft, mit denen sie ihre Kleidung vor Mottenfraß schützte. Bei diesem Geruch wurde Matilda ein bisschen wehmütig ums Herz, denn ihre Mutter hatte dieselben Duftsäckchen benutzt.
An einer Wand des Zimmers stand ein alter Schrank aus dunklem, fast schwarzem Holz. Wie von Helen angekündigt, fand Matilda oben auf dem Schrank einen länglichen, in blaues Geschenkpapier eingepackten Karton mit einer roten Schleife, in der eine Geburtstagskarte steckte.
Übelkeit und Erschöpfung waren verflogen, als sie hastig das Papier aufriss und den Karton öffnete. Zum Vorschein kam ein Geigenetui. Das hatte Matilda schon vermutet.
Vernünftigerweise hatten Matildas Eltern ihr vor acht Jahren, als sie mit dem Geigenunterricht begonnen hatte, ein preiswertes Anfängermodell besorgt. Kurz vor ihrem Unfall hatten sie überlegt, ihrer Tochter ein hochwertigeres Instrument zu kaufen, aber dazu war es dann nicht mehr gekommen. Auch Helen hatte kürzlich bemerkt, dass man sich für den anstehenden Jugendwettbewerb in vier Wochen um ein etwas hochwertigeres Instrument kümmern müsste, woraufhin Matilda vorgeschlagen hatte, eines auszuleihen. »Ja, mal sehen«, hatte ihre Tante geantwortet.
Matilda öffnete langsam den Deckel. »Heiliger Strohsack!«, rief sie wenig später aus – eine Redewendung, die sie von Helen übernommen hatte. Vor ihr in dem Etui lag auf blauem Samt eine Violine. Diese Violine hier, das erkannte Matilda nun, da sie sie vorsichtig aus ihrer Hülle nahm, sofort, ließ sich nicht mit ihrem alten Modell vergleichen: Das Holz war leicht und fein gearbeitet, die Decke schimmerte in einem dunklen Rötlich-Braun, besonders auffällig war die große Schnecke. Voller Ehrfurcht strich Matilda über den glänzenden Lack, mit dem das Holz überzogen war, und fuhr mit dem Finger die Windungen der Schnecke nach. Dem Instrument lag ein Umschlag bei, den sie neugierig öffnete. Ein Meistergutachten. Es handelte sich um eine einhundertfünfzig Jahre alte Mittenwälder Geige der Firma Neuner & Hornsteiner. Bester Zustand. Alle Teile wie Boden, Zargen, Schnecke, Decke und Lack echt und zusammengehörend. Boden zweiteilig aus einheimischem Ahorn, ebenso Zargen und Schnecke, Decke zweiteilig aus engjähriger Fichte, Lack schwarzbraun… Matilda stockte beim Lesen des Gutachtens der Atem. Wow! Das war ein echtes Profiinstrument. Sie war gerührt und beschämt zugleich. Eine Violine dieser Qualität kostete an die dreitausend Euro, das wusste sie von ihrem Geigenlehrer, Professor Stirner, der mehrere solcher Kostbarkeiten besaß. Wie konnte Helen nur so viel Geld für sie ausgeben? Wo doch gerade viel dringendere Ausgaben anstanden: neue Fenster, neues Dach, eine neue Heizung…
Jetzt erst klappte Matilda Helens Geburtstagskarte auf. Liebe Matilda, alles Liebe zum Sechzehnten. Möge dir diese Geige helfen, dein außergewöhnliches Talent zu entfalten. Deine Lieblingstante Helen.