Eiskalt tanzt der Tod - Susanne Mischke - E-Book
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Eiskalt tanzt der Tod E-Book

Susanne Mischke

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Die Vergangenheit wirft einen langen Schatten. Der umschwärmte Tanzlehrer Aurelio Martínez weiß um seine anziehende Wirkung auf Frauen und hat ein Händchen für Eifersuchtsdramen. Das allgemeine Entsetzen ist groß, als er plötzlich tot auf dem Boden seiner Tanzschule aufgefunden wird – erschlagen mit einem Kerzenständer. Was ging vor in der noblen alten Villa in Hannovers Zooviertel? Bei seinen Ermittlungen entdeckt Kommissar Völxen einen entscheidenden Hinweis, der zum Schlüssel in die Vergangenheit wird und hinter der glänzenden Fassade des begnadeten Tänzers entsetzliche Abgründe offenbart … Band 11 der Hannover-Krimi-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Susanne Mischke! »Gekonnt setzt Susanne Mischke Schauplätze in und um Hannover in Szene.« NDR 1 Susanne Mischke wurde 1960 in Kempten geboren, lebte lange Zeit in der Nähe von Hannover und nun im Oberallgäu. Sie war mehrere Jahre Präsidentin der »Sisters in Crime« und erschrieb sich mit ihren fesselnden Kriminalromanen eine große Fangemeinde. Für das Buch »Wer nicht hören will, muss fühlen« erhielt sie die »Agathe«, den Frauen-Krimi-Preis der Stadt Wiesbaden.

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München), mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: Stephen Mulcahey / Trevillion Images und Shutterstock.com

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

Kapitel 1 – Eine Frage der Ehre

Kapitel 2 – Beziehungen

Kapitel 3 – Altes Geld

Kapitel 4 – Diese Sache von heute Mittag

Kapitel 5 – Schatz, wie war dein Tag?

Kapitel 6 – Heute kein Tanztee

Kapitel 7 – Geschichte wiederholt sich

Kapitel 8 – Böse Jungs

Kapitel 9 – Romeo und Julia auf Argentinisch

Kapitel 10 – Das Leben ist kein Ponyhof

Kapitel 11 – Der frühe Vogel fängt so allerhand

Kapitel 12 – Ein harter Knochen

Kapitel 13 – Kommunistenbrut

Kapitel 14 – Helden auf Zeit

Kapitel 15 – Shit happens, Raukel

Kapitel 16 – Alles nur Gras

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

»Möpke! Was ist denn jetzt schon wieder?«

Beinahe hätte Roos durch den Ruck der Leine an ihrem Handgelenk das Telefon fallen lassen. Sie und ihr Hund sind gerade an dem kleinen Platz mit dem Brunnen angekommen, aus dessen Becken eine Skulptur aufragt, die aussieht wie eine aufgehende Knospe. Dorthin spaziert Roos jeden Tag schon früh am Morgen, damit Möpke unterwegs sein Geschäft ins schüttere Gras des Grünstreifens setzen kann, der sich zwischen Fritz-Behrens-Allee und Hindenburgstraße erstreckt. Meist umrunden sie dann noch den Brunnen, ehe sie wieder nach Hause gehen. Heute aber bleibt die kleine französische Bulldogge vor einer Bank stehen, rammt ihre krummen Beine in die Erde und stemmt sich mit aller Kraft gegen den Zug der Leine. Dazu kläfft der Hund mit gesträubtem Nackenfell.

Roos, die anhand ihres digitalen Kalenders die Termine für diesen Samstag durchsieht, kann nicht gleich erkennen, was Möpke so aufregt, denn die Sonne ist gerade erst aufgegangen, und die Bank, die Möpke anbellt, befindet sich im Schatten zweier Bäume.

Roos führt ihren Möpke am liebsten in der Morgendämmerung aus. Dabei ist sie keine Frühaufsteherin. Ihr Friseursalon öffnet um neun, sie könnte durchaus noch länger schlafen. Doch je früher sie rausgeht, desto weniger Mensch-Hund-Gespannen begegnet sie, und darum geht es. Denn jeder Hund, egal ob groß oder klein, wird von Möpke wütend angebellt und bei Gelegenheit auch attackiert. Im Sommer ist Möpke von einem größeren Artgenossen gebissen worden, seitdem ist sein Verhalten noch schlimmer geworden, und die Gassigänge sind der pure Stress. Abgesehen davon ist Roos auch nicht scharf auf die Kommentare und Ratschläge anderer Hundebesitzer, die natürlich alle genau wissen, wo das Problem liegt und was zu tun ist. Roos fühlt sich persönlich angegriffen, wenn man Klein Möpke als Angstkläffer, Aggro-Töle oder Mistköter bezeichnet. Da kann es dann schon mal passieren, dass sie ebenso aggressiv wird wie ihr Hund.

Roos ist jetzt noch etwa fünf Meter von der Bank entfernt. Ein Hund ist es jedenfalls nicht, weswegen Möpke randaliert. Hunde pflegen nicht als unförmiger Klumpen reglos auf Bänken zu liegen, schon gar nicht, wenn sie angebellt werden. Außerdem müsste das schon ein ziemlich großer Hund sein. Vielleicht ein Penner, der auf der Bank vor dem Brunnen campiert? Dann sollten sie beide lieber zusehen, dass sie hier wegkommen. Aber auch ein Penner würde nicht so unbewegt daliegen, bei dem Krach, den Möpke veranstaltet. Roos verspürt ein Gefühl des Unbehagens in sich aufsteigen, es fühlt sich an wie leichtes Sodbrennen. Sie überspielt es, indem sie den Hund anschreit: »Möpke! Schnauze!«

Zu ihrer Verwunderung hört Möpke prompt auf zu bellen, knurrt aber weiterhin mit gesträubtem Nackenhaar vor sich hin, während er nach wie vor die Bank fixiert. Das ungute Gefühl seines Frauchens verstärkt sich, wird zu Angst. Am liebsten würde Roos rasch weggehen, aber der Drang zu wissen, was da auf der Bank liegt, ist schließlich stärker. Sie überwindet sich und tritt noch ein paar Schritte näher an die Bank heran. Danach dauert es einige Sekunden, bis sie begreift, was sie dort im fahlen Morgenlicht sieht. Hinterher wünscht sie sich, dass sie an diesem Morgen nie hierhergekommen wäre.

Kapitel 1 – Eine Frage der Ehre

Die Unterarme auf die oberste Zaunlatte gestützt beugt sich Hauptkommissar Bodo Völxen nach vorn und hebt vorsichtig das nach hinten ausgestreckte rechte Bein an. Das geht schon ganz gut. Jetzt das linke. Da sind noch immer ein leichter Schmerz und ein verdächtiges Knacken im Lendenbereich, aber mit einer weiteren Schmerztablette müsste es gehen. Ihm bleiben nur noch drei Stunden Gnadenfrist, dann muss er fit sein. Er geht in die Knie und … au, au, au, nein, das geht gar nicht. Schmerz, lass nach! Ächzend zieht er sich an der Zaunlatte wieder in die Höhe. Kniebeugen sind ohnehin nicht erforderlich, im Gegenteil, eine aufrechte, souveräne Haltung ist gefragt. Führung. Im freien Stand lässt er seine Hüften kreisen, linksherum, rechtsherum. Also, geht doch! Von wegen teutonische Hüftsteife, wie dieser unverschämte Argentinier letzte Woche so süffisant bemerkte. Biegsam wie eine Stahlfeder ist er. Na ja, vielleicht nicht ganz. Trotzdem, er wird es ihnen allen zeigen und insbesondere Sabine seine Schmach von neulich vergessen lassen.

Neben ihm jault Oscar, dem das Gebaren seines Herrn nicht recht geheuer ist. »Glotzt nicht so dämlich«, schimpft Völxen. Der Plural ist durchaus angebracht, denn nicht nur der Terriermischling, auch die vier Schafe und der Bock, die auf der Weide unter dem Apfelbaum stehen, beäugen sein Tun skeptisch. Die Schafe sind dermaßen gebannt, dass sie sogar das Wiederkäuen vergessen.

»He, Kommissar! Soll das ein Bauchtanz werden?«

Noch einer! Hat der Hühnerbaron am Samstagmittag nichts Besseres zu tun, als seinen Nachbarn zu observieren? Schon nähert sich Jens Köpcke in der üblichen Montur – Gummistiefel, Latzhose, Schiebermütze. Völxen streicht verlegen über seinen Nacken. »Das sind Lockerungsübungen. Heute Nachmittag muss ich wieder ran, und ich weiß nicht, ob meine Bandscheiben das durchstehen.«

Ein anzügliches Grinsen drängt Köpckes feiste Backen auseinander, in Richtung der henkelartig abstehenden Ohren. »Du kennst doch das alte Sprichwort, Kommissar: Wenn’s hinten wehtut, soll man vorne aufhören.«

»Was du nicht sagst.«

»Selber schuld. Was machst du deiner Frau auch so saudumme Geschenke?«

Längst ist der Nachbar darüber im Bilde, was es mit Völxens Verrenkungen auf sich hat. Schließlich hat dieser ihn die ganze Woche über, wenn sie sich nach Feierabend auf ein lauwarmes Herrenhäuser an der Schafweide getroffen haben, über seinen Gesundheitszustand auf dem Laufenden gehalten.

»Meiner Hanne habe ich zu ihrem Sechzigsten ein Wellness-Wochenende im Harz für zwei Personen geschenkt. Zum Glück hat sie dann ihre Freundin dorthin mitgenommen«, feixt Köpcke.

Hätte Völxen geahnt, was auf ihn zukommt, hätte er Sabine zu deren Geburtstag auch ein Wellness-Wochenende im Harz geschenkt und nicht diesen Tango-Basis-Kurs. Fünf Samstagnachmittage hintereinander! Das grenzt an Masochismus, was hat er sich nur dabei gedacht, fragt sich der Hauptkommissar heute, wo er um einige Erfahrungen reicher ist. Typischer Fall von Selbstüberschätzung und kompletter Ahnungslosigkeit. Niemand hat ihm zuvor gesagt, dass Tango ein so komplizierter Tanz ist. Diese vielen Figuren, die sich kein Mensch merken kann, weder die spanischen Namen noch die Schrittfolgen.

Letzten Samstag fand die erste Tanzstunde statt. Zusammen mit ihm und Sabine sind sie acht Paare, darunter ist kaum jemand unter fünfzig, und auch der Tanzlehrer ist nicht mehr der Jüngste. Besonders der Tanzlehrer, genau genommen. Tango, lästerte Völxen da noch im Stillen, scheint ein Seniorentanz zu sein, also kann es so schlimm schon nicht werden. Der Tanzlehrer mit dem klangvollen Namen Aurelio Martínez gab sich vor seinem Publikum den Anschein, als machten ihn schon allein seine argentinischen Wurzeln zum Tango-Guru. Er leitete den Kurs zusammen mit seiner Tochter, Alba Martínez, der Inhaberin der Tanzschule Martínez, die im Prospekt und auf der Webseite der Tanzschule als Kursleiterin angegeben ist. Doch ihr Vater tat so, als hätte er das Sagen, und schien sich sehr wichtig zu nehmen. Sei’s ihm gegönnt, dem alten Gockel, dachte Völxen zu diesem Zeitpunkt noch generös.

Er hat extra die Tanzschule Martínez ausgesucht, obwohl die Kurse dort nicht gerade billig sind. Doch er hat damit bei Sabine einen echten Volltreffer gelandet. Über kein Geschenk hat sie sich in den dreißig Jahren ihrer Ehe jemals so sehr gefreut. Nicht einmal über die Dampfbügelstation oder den Staubsauger-Roboter. (Robby erwies sich im Nachhinein als glatter Fehlschlag und lagert inzwischen im Keller, da Oscar sich mit dem neuen Familienmitglied absolut nicht verstand.)

Die Tanzschule Martínez residiert in einer pompösen alten Villa in Hannovers Nobelstadtteil, dem Zooviertel. Bereits von außen macht der klassizistisch angehauchte Bau, der inmitten eines streng gepflegten Gartengrundstücks steht, reichlich viel her, und spätestens beim Eintreten in das weitläufige Foyer hat man das Gefühl, in eine untergegangene Zeit abzutauchen. Entlang einer gut bestückten Bar gelangt man dann in den Tanzsaal: Stuckdecke, Kronleuchter, goldgerahmte Spiegel, blitzblankes Eichenparkett. Eine angestaubte Eleganz, jedoch völlig ohne Ironie.

Dieses allzu glatte Parkett wurde Völxen zum Verhängnis. Über den genauen Hergang des Malheurs gibt es unterschiedliche Versionen, je nach Sichtweise. Nach Völxens Erinnerung verhielt es sich so: Beim Versuch, eine Figur namens Boleo zu tanzen, eine simpel aussehende, im Detail aber doch vertrackte Drehung, übernahm Sabine plötzlich die Führung, wovon ihr Partner, also Völxen, völlig überrumpelt wurde. Im Nu waren beide ineinander verstrickt, und Sabine stolperte. Ob über ihre eigenen oder über seine Füße, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Völxen, reflexhaft ritterlich, bewahrte seine Gattin davor, zu stürzen, indem er sie beherzt um die Taille fasste und festhielt, und schon war es passiert: Hexenschuss, Bandscheibenvorfall, eingeklemmter Nerv, irgendetwas in der Art. Es fühlte sich jedenfalls an wie ein Messerstich ins Kreuz. Das ist Völxens Version und somit die einzig richtige, schließlich kann er ein Lied davon singen, wie unzuverlässig Zeugenaussagen sind und wie sehr einen die Erinnerung oftmals trügt – sofern man nicht wie er ein hervorragendes Gedächtnis und ein geschultes Auge für Details hat. Eigenschaften, über die ein Erster Kriminalhauptkommissar des Kommissariats für Todesdelikte selbstverständlich verfügt.

Sabines Version lautet dagegen: ausgerutscht, Kreuz verrenkt.

»Geht’s, oder müssen wir nach Hause?«, fragte sie, noch während ihr Gatte vor Schmerz nach Luft rang. Ihre enttäuschte Miene veranlasste Völxen, heroisch zu röcheln, er müsse sich nur kurz hinsetzen, es würde ihm sicher gleich wieder besser gehen.

Dem war aber nicht so.

Vom Schmerz gezeichnet hing er für den Rest der Stunde in einem Sessel, am Rand des Geschehens, abgeschoben und missachtet wie ein unbrauchbar gewordenes Möbel. Indessen schlug die Stunde für das neue Traumpaar: Sabine Völxen und Aurelio Martínez. Dieser ölige Argentinier, dünn wie eine Sardine in seinem eng anliegenden Anzug, mit pfundweise Pomade im schwarz zurückgewellten Haar, dieses wandelnde Klischee, glitt ab sofort mit Völxens Ehefrau übers Parkett, und während seine Mimik einen lächerlichen Ernst widerspiegelte, strahlten Sabines Augen wie die LED-Lichter am Weihnachtsbaum. Und wie sie sich bemühte, den Maestro nur ja nicht zu enttäuschen! Vor keiner noch so gewagten Figur oder anstößigen Verrenkungen schreckte sie zurück. Weitaus schlimmer als Völxens körperliche Schmerzen war die Kränkung darüber, wie unverhohlen blendend Sabine sich amüsierte und über sich hinauswuchs, derweil ihr Gatte stumm vor sich hin litt. Hatte sie während der ganzen Zeit eigentlich auch nur ein Mal zu ihm hergesehen, sich vergewissert, ob es ihm gut ging? Nicht die Bohne! Er hätte in diesem Sessel unbemerkt sein Leben aushauchen können, während sie sich in den Armen dieses Kerls verbog wie eine Brezel.

Natürlich stritt sie all dies hinterher vehement ab und lachte über ihn. Es sei geradezu herzerfrischend, meinte sie, dass er nach so vielen Jahren Ehe noch so eifersüchtig sei. Als wollte sie seine Gelassenheit auf die Probe stellen, musste er sich während der ganzen Woche augenzwinkernd vorgetragene Schwärmereien über den geschmeidigen Señor Martínez anhören. Für den Fall, dass seine körperliche Konstitution eine Teilnahme nicht mehr zulassen sollte, bot Sabine an, den Kurs mit einem jungen Kollegen von der Musikhochschule fortzusetzen.

»So weit kommt’s noch!«, hat Völxen protestiert. Nein, er wird diesen Kurs durchziehen, auf Teufel komm raus. Es ist eine Frage der Ehre.

Der Rücken lädiert, der Stolz angeknackst, doch damit nicht genug der Demütigungen. Ausgerechnet in diesen schweren Tagen kommt noch sein berufliches Totalversagen dazu. Ein hartes Wort, das so noch keiner in den Mund genommen hat, nicht einmal die Presse oder gar Völxens Vorgesetzter, der Vizepräsident der Polizeidirektion Hannover, aber das ändert nichts daran, dass der Hauptkommissar es genau so empfindet.

Am frühen Morgen des 28. August, einem Samstag, wurde von einer Hundespaziergängerin mitten in der Stadt, am Reese-Brunnen, ein grausiger Fund gemacht: eine Leiche, deren Oberkörper, die Hände und besonders das Gesicht, verbrannt worden waren.

Zwei Wochen sind seither vergangen, doch Völxen kann noch immer so gut wie nichts vorweisen. Nicht nur keinen Täter, keinen Verdächtigen und keine Spur, nein, man kennt noch nicht einmal das Opfer. So etwas ist in seiner ganzen Laufbahn noch nie vorgekommen, und es nagt an ihm.

Das wenige, was man weiß, verdankt man der Spurensicherung und Dr. Bächle, dem Rechtsmediziner. Laut seiner Expertise handelt es sich bei der Toten um eine Frau, dunkelhaarig, Anfang, Mitte zwanzig. Sie wurde erdrosselt, wahrscheinlich mit bloßen Händen. Laut Dr. Bächles Schätzung geschah die Tat, einige Stunden bevor sie gefunden wurde, in den Abendstunden des 27. August. Ihr DNA-Profil deutet auf eine osteuropäische Herkunft hin. Ein Sexualdelikt schließt Bächle aus, zumal die Leiche vollständig bekleidet war: Jeans, T-Shirt, Kunstlederjacke, Sneakers, alles eher günstige Marken.

Die Tote wurde mit einem handelsüblichen Grillanzünder übergossen und angezündet, und zwar auf der Bank, auf der die Zeugin sie fand, darauf deuten die Brandschäden an der Bank hin. Die Zeugin heißt Roos van Doorn, ist dreiunddreißig Jahre alt, Friseurin und wohnt zusammen mit ihrem Freund in der Ellernstraße, also gleich um die Ecke. Sie befand sich auf ihrer üblichen Morgenrunde mit ihrem Hund. Weitere Zeugen sind drei Autofahrer, welche gegen halb zwei in der Nacht im Vorbeifahren die Flammen bemerkt hatten. Keiner von ihnen kam auf die Idee, deswegen anzuhalten oder gar die Polizei zu rufen. Man dachte an Jugendliche, die sich dort zum Saufen und Kiffen verabredet hatten, oder Obdachlose, die sich an einem Lagerfeuer aufwärmten.

Der Fundort ist nicht der Tatort, darauf deutet der Unterschied zwischen Dr. Bächles geschätztem Todeszeitpunkt und der Beobachtung der Flammen durch die Zeugen hin. Es ist anzunehmen, dass die Leiche in einem Fahrzeug hergebracht wurde. Am Rand des Grünstreifens befinden sich genug Parkplätze, der Täter musste den Körper also nur wenige Meter bewegen. Vielleicht ist das der simple Grund, warum die Leiche dort lag, wo sie lag: weil der Ort gut zu erreichen ist. Dazu kommt: In unmittelbarer Nähe des Platzes gibt es keine Wohnungen, von denen aus man ihn hätte beobachten können. Nur die Straße. Ein gewisses Risiko ging der Täter also bei der Platzierung der Leiche an diesem Ort ein. Niemand schien die Tote zu vermissen. Ein Phantombild ließ sich wegen der starken Verbrennungen nicht erstellen, vermutlich hat der Täter genau dies beabsichtigt. Wieso er dann die Leiche an einem Platz mitten in der Stadt ablud und anzündete und nicht an einem Ort, an dem sie erst viel später oder vielleicht auch niemals entdeckt worden wäre, ist nur eines der Rätsel dieses Falls.

Warum dort? Warum dieser Platz? Wer ist die Tote?

Hauptkommissarin Oda Kristensen warf die These auf, dass die Platzierung der entstellten Leiche womöglich eine Botschaft sei. Völxen hält das ebenfalls für plausibel. Nur, welche Botschaft soll das sein, und für wen ist sie bestimmt?

Eines ist den Ermittlern ebenfalls klar: Falls die Frau sich illegal im Land aufhielt, kann es gut sein, dass niemand sie vermisst. Oder wenn doch, dann scheut sich dieser Jemand vermutlich, ihr Verschwinden bei der Polizei zu melden, weil er oder sie entweder ebenfalls illegal im Land lebt oder zu einem Personenkreis gehört, der solche Menschen gerne skrupellos ausnutzt.

Völxen hat früh eingesehen, dass er und seine Leute allein nicht weiterkommen, und das Landeskriminalamt um Hilfe gebeten: Ihre V-Leute mögen sich in den entsprechenden Szenen umhören. Möglicherweise geriet die Frau zwischen die Fronten rivalisierender Zuhälter oder Drogenhändler. Das würde die Verschleierung der Identität des Opfers durch die Verbrennungen erklären und die Zurschaustellung der Leiche an einem Ort, der zwischen zwei stark befahrenen Straßen liegt und bei dem man sicher sein kann, dass sie rasch gefunden wird.

Bis jetzt ist vom LKA jedoch nichts Brauchbares gekommen.

Ähnliche Spekulationen stellte auch die Presse an: Rotlichtmilieu, Drogenhandel, Menschenhandel, Mafia, Clankriminalität, Neonazis, ein Ehrenmord … Jeden Tag wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen und durchgekaut. Und niemals, wirklich kein einziges Mal, vergaßen sie den Hinweis, die Polizei tappe im Dunkeln. Oft mit dem Zusatz völlig.

Zu allem Überfluss erkundigt sich auch Völxens Ehefrau beinahe täglich nach den Fortschritten der Ermittlung.

»Erstens weißt du, dass ich darüber mit dir nicht sprechen darf, und zweitens fragst du doch sonst auch nicht dauernd nach, wie es um meine Fälle steht«, bemerkte Völxen neulich genervt.

»Entschuldige bitte, dass es mich bewegt, wenn eine halb verbrannte Leiche quasi vor der Haustür meines Arbeitsplatzes liegt«, versetzte Sabine und fügte hinzu, dass, rein theoretisch, auch sie die Leiche hätte finden können.

Sehr theoretisch betrachtet, ja. Das Gebäude der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, an dem Sabine Klarinette unterrichtet, liegt gegenüber des Fundortes, auf der anderen Seite der Fritz-Behrens-Allee. Da der Tag, an dem die Leiche der jungen Frau gefunden wurde, ein Samstag war, hatte Sabine keinen Unterricht, und so früh fangen ihre Stunden für gewöhnlich auch nicht an. Dass die Nachbarschaft der Musikhochschule etwas mit dem Verbrechen zu tun hat, ist in Völxens Augen höchst unwahrscheinlich. Zumal man dort keine Schülerin oder Lehrkraft vermisst, das wurde selbstverständlich überprüft.

»Seit das passiert ist, fühle ich mich nicht mehr sicher auf dem Weg zur Arbeit. Was, wenn der Mörder dort noch herumschleicht?«

Was will man seiner Frau auf diese Frage antworten? Nein, es darf einfach nicht sein, dass Völxen und sein Team ausgerechnet in diesem Mordfall kein Ergebnis liefern. Und doch sieht es bis jetzt ganz danach aus.

»Machst du mir noch einen Kaffee, Mamá?«

Pedra Rodriguez blickt über die Kühltheke ihres Ladens hinweg auf ihren Sohn Fernando, der an einem der Stehtische lehnt. Vor ihm steht ein leerer Teller, auf dem eben noch albóndigas, scharfe Fleischbällchen, Datteln im Speckmantel und Tomaten mit Thunfischfüllung lagen. Er hat alles restlos verputzt, und jetzt ist er mit seinem Telefon beschäftigt. Sie schaut auf die Uhr. Schon fast halb drei. Was lungert er eigentlich noch immer hier herum?

»Wolltest du nicht die leeren Weinkartons zerkleinern?«

»Mach ich schon, keine Sorge. Nur noch einen Kaffee zur Stärkung.«

»Ganz wie der Herr wünscht!« Pedra setzt die Maschine in Gang und bringt den Kaffee an seinen Tisch.

»Du musst mich nicht bedienen, Mamá!«

»Ach! Das wäre ja mal ganz was Neues.«

»Ein Wort, und ich hätte ihn geholt«, versichert Fernando.

Pedra wedelt seine Behauptung mit einer unwilligen Handbewegung fort. »Wo sind Chule und mein kleiner Schatz?«, fragt sie, während ihr Blick erneut zu der großen Uhr gleitet, die über der Kühltheke an der Wand hängt.

»Spazieren, auf dem Lindener Bergfriedhof«, antwortet Fernando. »Sag mal, erwartest du jemanden?«

»Wieso?«, fragt Pedra zurück.

»Weil du andauernd auf die Uhr schaust.«

»Ich schau nicht andauernd auf die Uhr.«

»Doch, tust du«, beharrt Fernando. »Wieso ist eigentlich der Laden noch offen, es ist schon nach zwei.«

Pedra lässt ein Schnauben hören und sagt dann: »Gut, wenn du es genau wissen willst: Ja, ich warte auf jemanden. Auf meinen Stammgast nämlich, den Señor Garcia. Er kommt jeden Samstag kurz vor Ladenschluss vorbei und kauft Wein und Schinken und marinierten Ziegenkäse, man kann die Uhr nach ihm stellen.«

»Oho, der Señor Garcia«, wiederholt Fernando mit anzüglichem Grinsen.

»Ein sehr netter älterer Herr, er stammt aus Argentinien.«

»Ist er ein Verehrer? Flirtet er mit dir? Läuft da was?«

»Fernando! Ich muss doch bitten, wie redest du denn mit deiner Mutter!«

»Wieso? Es wäre doch nichts dabei. Du hast noch nie den Laden für jemanden offen gelassen …«

»Unsinn!« Pedras Wangen röten sich ein bisschen, was sie erst recht verärgert. »Wir haben uns nach dem Einkauf immer noch ein wenig unterhalten, das ist alles.«

»Vielleicht ist er Veganer geworden und trinkt nicht mehr.«

»Das ist überhaupt nicht lustig«, herrscht Pedra ihren Sohn an, denn er hat einen wunden Punkt getroffen.

Für die jüngeren Bewohner des angesagten Stadtteils Hannover-Linden ist Pedras Laden mit angeschlossenem Imbiss längst nicht mehr hip genug, und der ansteigende Trend zum Veganismus, der im Szene-Viertel um sich greift, wirkt sich obendrein schlecht auf ihr Geschäft aus. Zwar bestehen inzwischen etliche Tapas auch aus rein veganen Zutaten, aber Pedra Rodriguez verkauft nach wie vor Schinken und Wurst, Fisch und Käse, und die vegane Szene toleriert es nicht, wenn man zweigleisig fährt. Den Wein lässt man sich heutzutage auch lieber per Onlinebestellung liefern, anstatt ihn kartonweise nach Hause zu schleppen. Ja, der Zeitgeist ist gnadenlos und weht dem kleinen Geschäft immer rauer ins Gesicht.

Pedras dunkle Augen funkeln ihn an, es ist eine Mischung aus Zorn und Kummer. »Ich mache mir ernsthaft Sorgen, Nando. Er ist schließlich nicht mehr der Jüngste. In seinem Alter weiß man nie …«

»Was heißt nicht mehr der Jüngste? Wie alt ist er denn, achtzig, neunzig?« So langsam, registriert Fernando, stirbt ihr die Kundschaft weg. Zum Glück ist sie nicht mehr auf die Einkünfte aus ihrem spanischen Lebensmittelladen angewiesen. Längst bezieht sie ihre Rente, und die geringe Miete für den Laden und die Wohnung bezahlt sie an ihn und seine Frau Jule auch nur, weil sie darauf besteht. Solange es ihr noch Spaß macht, soll sie den Laden doch behalten, sagt sich Fernando. Der Kontakt mit ihrer Kundschaft, auch wenn die allmählich weniger wird, würde ihr sicherlich arg fehlen.

»Nein, so alt ist der Señor Garcia noch nicht!«, wehrt Pedra ab. »Er ist Anfang siebzig, schätzungsweise. Aber Männer sterben bekanntlich früher und oft überraschend.«

»Herrgott, Mamá! Nur weil dein Stammgast mal nicht auftaucht, musst du doch nicht gleich vom Sterben reden. Vielleicht hatte er heute etwas anderes vor, vielleicht ist er verreist …«

»Hm«, grummelt Pedra und wienert an der Schneidemaschine herum. Dann, nach einem weiteren verstohlenen Blick zur Uhr, lächelt sie ihren Sohn an und fragt einschmeichelnd: »Kannst du nicht irgendwas machen?«

»Was machen?«, wiederholt Fernando Böses ahnend.

»Na, irgendwas halt! Wozu bist du schließlich Polizist geworden?«

»Klar, kein Problem. Ich werde sofort die Datenbank abfragen, um seine Adresse rauszukriegen, dann werde ich Völxen alarmieren, damit der das SEK zu seiner Wohnung schickt, und falls er da nicht ist, werden wir eine Fahndung rausgeben. Gesucht wird ein älterer Argentinier, der seinen Einkauf verpasst hat. Inzwischen können wir zwei schon mal ein Phantombild anfertigen und es an alle Medien schicken: Stammgast vermisst …«

»Pah!« Pedra wendet sich mit verächtlicher Miene ab. »War ja klar, dass man im Ernstfall nicht mit dir rechnen kann.«

»Ernstfall! Wirklich, Mamá, jetzt bleib mal auf dem Teppich!«

In diesem Moment geht die Ladentür auf. Aber es ist nicht der sehnlichst erwartete Señor Garcia, sondern Jule, die den Buggy mit dem schlafenden Leo zur Tür hereinschiebt und mit hochroten Wangen keucht: »Alarmstufe rot! Ich muss eine Vermisstenmeldung aufgeben.«

»Du auch?«, erwidert Fernando.

»Leos Schlafkrokodil ist weg. Wir haben eine knappe Stunde, bis er aufwacht, um es zu finden. Ansonsten gnade uns Gott.«

Fernando, schreckensbleich, rutscht vom Hocker und meint zu seiner Mutter: »Siehst du, das ist ein Ernstfall.«

Völxen betrachtet sich im Spiegel. Der Anzug sitzt ein bisschen stramm, aber wenn er den Bauch einzieht, geht es. Er hat ihn vor wenigen Jahren angeschafft, zur Hochzeit von Jule Wedekin und Fernando Rodriguez. Seither mangelte es an Gelegenheiten, das gute Stück zu tragen. Bei seiner Tochter Wanda steht zum Glück noch keine Hochzeit an, die Konzerte ihrer Schüler, zu denen Sabine ihn hin und wieder mitschleppt, sind pandemiebedingt in letzter Zeit ausgefallen, und ansonsten meidet Völxen kulturelle Ereignisse, bei denen ein Anzug gefragt ist, wenn es irgendwie geht. Vorhin hat Sabine vorgeschlagen, er solle das gute Stück doch zum nächsten Tangokurs anziehen. Es ist ihre Art, ihm klarzumachen, dass sein Erscheinungsbild verbesserungsfähig ist und er beim letzten Mal mit Hemd und Cordhose nicht adäquat gekleidet war.

Noch ein Spritzer Rasierwasser, dann kann es losgehen. Sabine wartet schon abfahrbereit im Flur. Dieses enge grüne Kleid, das sie trägt, scheint neu zu sein, und das lächerlich winzige Handtäschchen aus schwarzem Lack hat er ebenfalls noch nie gesehen Dieser Kurs wird immer kostspieliger, stellt Völxen fest. Allein Sabines Tanzschuhe waren ein Schlag ins Kontor.

»Du bist brav, sonst wanderst du ins Tierheim!«, droht sie gerade dem Terrier, der längst realisiert hat, dass sein Personal sich anschickt, Haus und Hof ohne ihn zu verlassen. Er sitzt in der Tür, ein demonstratives Häufchen Elend. Wenn es nur dabei bliebe! Bestimmt wird nachher irgendein Schaden an der Einrichtung zu beklagen sein. Glück hat man, wenn es nur ein ausgeweidetes Sofakissen ist, Pech, wenn er das Sofa oder den Teppich anfrisst.

»Sehr schick siehst du aus«, bemerkt Völxen, den Gedanken an die Ausgaben und potenzielle Verbissschäden verdrängend.

»Du aber auch«, entgegnet Sabine. »Den Anzug solltest du öfter tragen.«

Bloß das nicht!

Arm in Arm stehen sie vor dem Spiegel neben der Garderobe.

»Einigen wir uns darauf, dass wir immer noch ein wahnsinnig attraktives Paar sind«, meint Völxen und grinst ihrem Spiegelbild zu.

»Absolut«, antwortet Sabine. »Warte, das müssen wir dokumentieren!« Sie holt ihr Handy aus der winzigen Handtasche und macht ein Selfie von sich und ihrem Gatten. »Das schicke ich Wanda. Damit sie sieht, was für glamouröse Eltern sie hat.«

Wanda ist mit ihrem Studium der Mathematik und Philosophie allmählich fertig und macht gerade ein Praktikum bei einer Werbeagentur in Amsterdam. Bestimmt treibt sie sich jeden Abend in angesagten Technoclubs herum und findet ihre Eltern in Ballklamotten ziemlich uncool. Aber man weiß nie, manchmal täuscht man sich ja in der Jugend.

»Sehr gute Idee«, presst Völxen hervor.

»Du kannst jetzt wieder atmen, Bodo.«

Zwanzig Minuten später fährt Völxen kreuz und quer durchs Zooviertel, auf der Suche nach einem Parkplatz. Sabine schaut schon nervös auf die Uhr, und Völxen ist kurz davor, das Schild Polizeieinsatz zu missbrauchen und sich ins Halteverbot oder auf einen Anwohnerparkplatz zu stellen, als er den Golf endlich in eine Lücke quetschen kann. Allerdings ist der Parkplatz zwei Blocks von der Tanzschule entfernt.

»Beeil dich, ich will nicht zu spät kommen«, mahnt Sabine.

Völxen verkneift sich eine Bemerkung.

Es herbstelt schon ein wenig. Ein lauer, böiger Wind lässt gelbe Blätter von den Bäumen regnen und wirbelt sie auf den kopfsteingepflasterten Gehwegen herum. Die Sträucher in den Vorgärten des Villenviertels tragen buntes Laub, aber noch blühen dazu die Rosen.

»Was für ein schönes Viertel«, meint Sabine bewundernd. »Sogar die Vögel zwitschern hier vornehmer als bei uns auf dem Land.«

»Was du nicht sagst.« Ja, in der Tat, das Zooviertel hat etwas, aber trotzdem wohnt Völxen lieber ländlich. Die Pandemie hat ihn in dieser Ansicht noch bestärkt, und auch Sabine schätzt seither die Vorzüge des Lebens im Speckgürtel deutlich mehr als vorher.

»Ich werde mich erkundigen, ob es in der Nähe ein Altenheim gibt«, fügt Völxen hinzu.

Sabine verdreht die Augen und hakt sich bei ihm unter, um in ihren Tanzschuhen nicht auszurutschen. In seinem Rücken ziept es noch ein bisschen, aber es wird gehen. Heute wird dieser ölige Gigolo keine Chance mehr bekommen, seine Krallen nach Sabine auszustrecken.

Fünf Minuten vor vier Uhr nähern sie sich der Villa. Sie liegt zurückversetzt vom Gehweg, sodass genug Platz bleibt für eine breite, etwa fünfzehn Meter lange Einfahrt und drei Parkbuchten neben dem Eingang, die allerdings den Bewohnern vorbehalten sind. Ein alter, sehr gepflegter, beigefarbener Mercedes parkt in der Mitte, flankiert von einem silberfarbenen Audi A3 und einem betagten Fiat Panda. Dem Vorgarten sieht man die professionelle Pflege an, aber es mangelt an Individualität. In der Mitte des Rasens flammt als Blickfang ein feuerroter japanischer Ahorn.

Etwas ist anders als beim letzten Mal. Eine Menge Leute stehen in der Einfahrt und sogar auf der Rasenfläche herum, darunter erkennt Völxen die Kursteilnehmer vom letzten Samstag sowie eine Handvoll Jugendlicher. Unterschiedlicher könnte ein Publikum kaum sein. Die einen in Jeans, Leggins und Kapuzenpullis, die anderen sehen aus, als gingen sie zu einer Hochzeit oder einer Zwanzigerjahre-Motto-Party. Allerdings scheint bei beiden Gruppen eine gedrückte Stimmung zu herrschen. Wieso stehen sie überhaupt alle vor der Villa herum, obwohl doch der Kurs gleich anfängt?

»Was ist denn hier los?«, wundert sich nun auch Sabine.

Völxen beschleicht eine düstere Ahnung. Er ist in seinem Leben schon an genug Tatorten und Leichenfundorten gewesen, um die Zeichen nicht sofort zu erkennen. Das betretene Schweigen, die gesenkten Blicke, Hände, die auf Münder gepresst sind, Männerarme, die sich schützend um Frauenschultern legen, das eine oder andere geflüsterte Wort, und doch wirken sie auch ein wenig wie ein Theaterpublikum, das auf eine Sensation aus ist. Den Gegensatz dazu bildet die aufgesetzt lässige Haltung der Jugendlichen, die sich betont gelangweilt und abgebrüht geben und immer wieder in Gekicher ausbrechen.

Eine Dame stöckelt auf sie zu, kaum dass das Ehepaar Völxen das offen stehende Tor der Einfahrt passiert hat. Völxen kann sich von vergangener Woche an die Frau erinnern oder vielmehr an ihr schwarzes Fransenkleid. Heute hat sie ihre nicht mehr ganz schlanke Figur in einen Schlauch gepresst, dessen Stoff schillert wie Fischschuppen. Ein Band aus lila Seide bändigt das graue Lockenhaar der etwas aus dem Leim gegangenen Nixe. Der Tangokurs scheint besonders die Damen dazu zu verlocken, allerhand gewagte Looks auszuprobieren.

»Etwas Furchtbares ist passiert: Señor Martínez ist tot«, flüstert die Dame mit den grauen Locken, und jetzt macht es auch Sabine: Sie presst die Hand auf ihren Mund, während sich ihre Augen weiten.

»Wie, tot?«, fragt Völxen.

»Ich glaube, jemand hat ihn erschlagen«, sagt der Mann der Nixe, groß, korpulent, blaues Goldknopfjackett.

»Wurde die Polizei schon verständigt?«, fragt Völxen.

»Ich denke schon.«

In Völxen geht eine Veränderung vor. Automatisch schaltet er um in seinen Berufsmodus. Aus dem Ehemann und Tanzschüler wird der Erste Kriminalhauptkommissar des Kommissariats für Tötungsdelikte der Polizeidirektion Hannover.

»Sorgen Sie bitte dafür, dass die Leute alle hierbleiben, bis meine Kollegen eintreffen«, sagt er zu dem Mann. »Ich sehe mir das mal an. Du bleibst hier draußen!«, befiehlt er Sabine, während er den Dienstausweis aus seiner Brieftasche herausfummelt und sich einen Weg zur Eingangstür bahnt. »Polizei, lassen Sie mich durch!«

Die Leute weichen bereitwillig zurück, als seien sie froh, dass sich nun endlich einmal jemand kümmert. Lediglich ein bärtiger junger Mann in Jogginghose und Muscle-Shirt, beides grau, steht nach wie vor breitbeinig und mit verschränkten Armen vor dem zweiflügeligen Portal der Villa und erinnert an einen Türsteher eines Nachtclubs. Zum Tangokurs gehört er nicht, aber er scheint sich irgendwie zuständig zu fühlen. Völxen hält ihm seinen Dienstausweis unter die Nase. »Hauptkommissar Völxen. Und Sie sind?«

»Daniel Brock. Ich leite den Streetdance-Kurs. Vielmehr sollte ich das tun, aber wie es aussieht …«

»Verstehe. Ich gehe jetzt da rein. Aber sonst keiner, so lange, bis die Kollegen eintreffen. Kriegen Sie das hin?«

»Krieg ich hin«, versichert Brock und tritt zur Seite.

Völxen betritt das Foyer der Tanzschule. Aurelio Martínez liegt bäuchlings, mit leicht verdrehtem Oberkörper, auf dem Marmorboden, direkt unter dem Kristallkronleuchter, die Arme nach vorn gestreckt, als wollte er noch im Fallen nach etwas greifen.

Die Tür hinter Völxen ist noch nicht wieder zugefallen, da kommt ihm bereits Alba Martínez entgegen, eskortiert von zwei älteren Damen, von welchen die eine aussieht, als wäre sie gerade von einer Opernbühne herabgestiegen. Alba Martínez bittet ihn unter Tränen, wieder hinauszugehen. Woher soll sie auch wissen, dass Völxen hier genau der richtige Mann am richtigen Platz ist?

Der gibt sich erneut als Polizeibeamter zu erkennen und fragt: »Was ist passiert?«

Schon schluchzen und reden alle drei wild durcheinander.

»Halt, halt, halt!«, ruft Völxen und hebt die Hände, um dem Geschnatter Einhalt zu gebieten. »Frau Martínez, bitte …« Die Tochter des Toten blickt Völxen aus großen, mit Wimperntusche verschmierten Augen an. Die Kombination Tanzschüler – Polizist scheint sie für einen Moment zu verwirren. Dann zeigt sie hinter sich und presst mit erstickter Stimme hervor: »Mein Vater! Jemand hat ihn überfallen. Wo bleibt denn nur dieser verdammte Notarzt!«

Völxen nähert sich dem leblosen Körper und erkennt sofort, dass Aurelio Martínez keinen Arzt mehr braucht. An seinem Hinterkopf klafft eine blutige Wunde, die wahrscheinlich von dem großen silbernen Kerzenleuchter stammt, der direkt neben ihm liegt. Wer immer Martínez erschlagen hat, hat nicht lange nach einer Waffe suchen müssen. Das exakte Double des Leuchters steht auf der linken Seite eines Kaminsimses, und soweit Völxen sich erinnern kann, stand die Tatwaffe letzte Woche auf der rechten.

Martínez trägt den schwarzen Anzug vom letzten Mal und dieselben Lackschuhe. Die toten Augen starren ins Leere.

Völxen wendet sich ab und begegnet Albas Blick, in dem er dennoch einen Funken Hoffnung zu bemerken glaubt. Vorsichtshalber schüttelt er dezent den Kopf und fragt: »Wer hat ihn gefunden?«

Alba Martínez scheint außerstande, die Frage zu beantworten, sie hat die Hände vors Gesicht geschlagen, ihre Schultern zucken.

»Dieser Daniel.«

Die Antwort kommt von der Aufgedonnerten. Ein purpurrotes Kleid umschließt ihre Gestalt wie ein Kokon und endet über den knochigen Knien, das schwarze Haar türmt sich über der blassen Stirn zu einem verschlungenen Kunstwerk, dessen Krönung eine rote Feder ist, farblich passend zum blutroten Lippenstift. Völxen muss unweigerlich an einen Kakadu denken. Ein Cape in blaugrün changierendem Muster rundet das Outfit ab.

»Er leitet den Hip-Hop-Kurs. Streetdance, wie man das inzwischen nennt«, fügt sie hinzu.

»Und Sie sind?«, fragt Völxen.

»Pauline Kern. Ich wohne in diesem Haus.« Sie betont dies so hoheitsvoll, dass Völxen sich wundert, dass sie nicht das Wort residiert benutzt hat.

»Sie ist meine Untermieterin. Wir wohnen oben, in der Dachwohnung. Ich bin Caroline Wagner«, mischt sich nun die andere Dame in das Gespräch. Ihre Figur ist gedrungen, in ihren Augen glitzern Tränen, ihre schlaffen Wangen hängen traurig herab und ziehen die Mundwinkel mit. Während der Kakadu es offenbar darauf anlegt, um nichts in der Welt übersehen zu werden, scheint diese nach Unauffälligkeit zu streben: grauer Rock, beigefarbene Bluse, Strickjacke im selben Ton, kein Make-up, und das braune Haar hat einen praktischen Schnitt.

»Sagen Sie, wo bleiben die nur so lange?« Caroline Wagner hat die Frage in vorwurfsvollem Ton an Völxen gerichtet.

»Wen meinen Sie?«, erwidert dieser.

»Na, die Polizei und der Notarzt!«

Ist der Frau seine Anwesenheit als Vertreter der Staatsgewalt nicht genug, oder hat sie nicht zugehört, als er sich vorgestellt hat? »Ich bin die Polizei«, stellt Völxen klar. »Haben Sie den Notruf verständigt?«

»Ja. Also, nein«, stammelt Frau Wagner sichtlich verwirrt.

»Daniel Brock war das«, geht Alba Martínez dazwischen. »Der, der meinen Vater gefunden hat.«

»Wann war das?«, fragt Völxen.

»Vor einer Ewigkeit!«, ruft Frau Wagner mit hysterischem Unterton.

»Wir haben ihn vor die Tür geschickt. Er hält uns die Schaulustigen vom Leib«, erklärt ungefragt der Kakadu.

»Und was machen Sie dann noch hier?«, fragt Völxen.

»Bitte?«, kommt es schrill vor Entrüstung.

»Das ist ein Tatort, Sie sollten hier ebenfalls nicht herumlaufen«, wendet sich Völxen an die beiden älteren Damen. »Gehen Sie bitte nach oben in Ihre Wohnung, und warten Sie dort auf mich, ich habe noch Fragen.«

Pauline Kern flattert mit wehendem Cape die Treppe hinauf, Caroline Wagner folgt mit müden Schritten. Auch Alba Martínez macht Anstalten, der Anweisung des Hauptkommissars nachzukommen, aber Völxen hält sie zurück. »Frau Martínez, einen Augenblick noch.«

Die Angesprochene bleibt am Fuß der Treppe stehen, die rechte Hand liegt auf dem Knauf des Treppenpfostens. Kein Ehering, stellt Völxen fest.

Alba Martínez hat wenig Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Sie ist eher kurzgliedrig und stämmig, und ihr fehlt, zumindest auf den ersten Blick, das Geschmeidige, Elegante, das ihn umgab. Doch sie ist eine gute Tänzerin, das konnte Völxen letzte Woche beobachten. Beim Tanzen fiel mit einem Schlag alles Plumpe, Schwerfällige von ihr ab, und sie bewegte sich schnell, leicht und lässig. Man konnte sehen, dass das Tanzen ihre Leidenschaft ist, nicht nur ein Job.

Damit sie nicht ständig ihren toten Vater vor Augen hat, bittet Völxen sie an die Bar, welche sich im Durchgang zwischen dem Foyer und dem Tanzsaal befindet. Ein verspiegeltes Regal beherbergt eine eindrucksvolle Auswahl an Likören, Whisky, Wodka und Sherry. Zwei Bistrotische mit Barhockern und eine Sitzgruppe mit vier Ledersesseln runden das Ensemble ab. In einem davon hat Völxen letzten Samstag stumm und einsam gelitten, fällt ihm ein.

»Ich nehme an, Sie wohnen ebenfalls hier?«, beginnt er.

Sie nickt. »Im zweiten Stock. Mein Vater im ersten.«

»Wohnt außer Ihnen und den beiden Damen sonst noch jemand im Haus?«

»Nein. Ich lebe allein, genau wie mein Vater. Unsere Mutter ist schon vor vielen Jahren gestorben.«

»Sie haben Geschwister?«

»Einen älteren Bruder. Rafael. Er lebt schon seit Jahren in Barcelona.«

»War sonst noch jemand im Haus, als Ihr Vater gefunden wurde?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, niemand.«

»Haben heute schon andere Kurse stattgefunden?«

»Salsa von elf bis zwölf und Lindy Hop von eins bis zwei. Und um vier sollten Tango und Streetdance beginnen. Streetdance im kleinen Saal, Tango hier, wie gehabt.« Sie deutet in Richtung Tanzsaal, dessen Flügeltüren weit geöffnet sind.

»Sie sagten vorhin, Ihr Vater wäre überfallen worden …«

»Was denn sonst? Er hat sich die Verletzung ja wohl nicht selbst beigebracht«, erwidert sie patzig.

»Haben Sie einen Verdacht?«

»Nein.«

»Fehlt denn etwas?«

»Ich glaube nicht. Eigentlich gibt es im Erdgeschoss ja auch nichts zu stehlen«, fügt sie mit einem ratlosen Schulterzucken hinzu.

»Demnach gibt es also in den anderen Stockwerken sehr wohl etwas zu stehlen?«

»Mein Vater besitzt einige Kunstwerke.«

»Waren Sie schon in seiner Wohnung, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist?«

»Nein. Wir haben hier unten auf den Notarzt gewartet. Seine Wohnungstür hat ein Sicherheitsschloss, und es gibt eine Alarmanlage. Da wäre niemand unbemerkt eingedrungen.«

»Wo ist der Schlüssel zu seiner Wohnung?«

»Moment.« Sie geht hinter die Theke der Bar, öffnet eine Schublade und hält dann einen Schlüsselbund in die Höhe. »Den hat er immer dort reingetan.«

»Daran ist auch der Schlüssel für die Haustür, nehme ich an?«

»Ja.« Sie legt die Schlüssel wieder zurück, und ehe der Hauptkommissar reagieren kann, hat sie schon eine Flasche Sherry geöffnet und nach einem Glas gegriffen. Völxen kennt sich mit Sherry nicht aus, aber der Schluck, den Alba sich genehmigt, scheint ihm recht großzügig bemessen.

»Entschuldigen Sie. Möchten Sie auch?«

Völxen verneint und bittet sie, von nun an nichts mehr anzufassen.

»Wo waren Sie, als Sie diesen Daniel …?«

»Brock«, hilft Alba ihm weiter.

»… rufen hörten?«

»In meinem Arbeitszimmer, Bürokram erledigen.«

»Im zweiten Stock«, wiederholt Völxen nachdenklich. »Das hört man, wenn unten jemand ruft?«

»Jedenfalls habe ich es gehört«, antwortet sie.

»Waren Sie die Erste, die herunterkam?«

»Pauline war fast gleichzeitig auf der Treppe. Oder war es Caroline? Entschuldigen Sie, ich bin völlig durcheinander.«

»War die Eingangstür abgeschlossen?«

»Ich nehme an, mein Vater hat sie aufgeschlossen, als er runterkam. Oft kommen die Kursteilnehmer extra zeitig und trinken vor dem Kurs noch ein Glas mit ihm. Wenn keiner kam, dann hat er sich trotzdem an die Bar gesetzt, Musik gehört und einen seiner stinkigen Zigarillos geraucht. Die raucht er nämlich bloß hier unten.«

»War Musik an, als Sie Ihren Vater fanden?«

»Nein.«

»Ihr Vater war schon umgezogen für den Kurs, Sie dagegen nicht. Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht«, setzt Völxen vorsichtig hinzu.

Letzten Samstag hatte Alba Martínez ein seitlich geschlitztes schwarzes Kleid und hohe Schuhe an, das Haar war zu einem straffen Knoten geschlungen und ihr Gesicht stark geschminkt. Heute dagegen trägt sie Jeans und flache, ausgetretene Schuhe, das kastanienbraune Haar ist achtlos zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie hat außer der verschmierten Wimperntusche kein Make-up aufgelegt, soweit Völxen das beurteilen kann.

»Richtig«, bestätigt sie. »Ich wollte heute Pauline den Vortritt lassen. Ich hatte schon die Vormittagskurse und außerdem noch im Büro zu tun.«

»Ich brauche die Namen und Adressen der Teilnehmer sämtlicher Kurse, die zurzeit hier stattfinden«, fordert Völxen.

»Ich drucke sie Ihnen aus.«

»Ach ja, eines noch, Frau Martínez. Bis auf Weiteres betritt niemand die Wohnung Ihres Vaters. Auch Sie nicht.«

Sie nickt und durchquert das Foyer, den Kopf gesenkt wie ein Pferd am zu kurzen Zügel, vermutlich, um den Toten nicht ansehen zu müssen. Der rote Läufer, mit dem die Treppe bespannt ist, verschluckt ihre eiligen Schritte. Draußen jaulen endlich die Sirenen.

Völxen nutzt den Moment, um sich am Tatort umzuschauen. Die halbhohe, dunkle Holzvertäfelung des Foyers bildet einen harten Kontrast zu dem hellen Marmorboden und der Einfassung des Kamins aus dunkelgrauem Granit. Die Wände sind zartgelb gewischt, an der Decke prangt Stuck, ein ausladender Leuchter aus Kristallglas verbreitet Grandezza und wirft bunte Prismen an Decke und Wände. Auf der rechten Seite befinden sich drei Türen, zwei schmale sind mit damas und caballeros in Goldbuchstaben beschriftet, die dritte führt in einen weiteren Übungsraum, der jedoch kleiner und schlichter ist als der große Saal. In einer Ecke liegt ein Stapel Matten, wie man sie vom Turnunterricht her kennt. An der Stirnseite des Foyers gibt es eine weitere Tür, über der ein beleuchtetes Notausgang-Schild angebracht wurde. Sie ist abgeschlossen, stellt Völxen fest. Wahrscheinlich wird sie nur zu den Tanzstunden aufgesperrt, wenn überhaupt.

Völxen nähert sich der Leiche und beugt sich zu dem Körper hinab. Dabei beengt ihn die Hose seines Anzugs, und sein Rücken bringt sich mit einem warnenden Stich in Erinnerung. Er versucht, all dies zu ignorieren, und schnuppert. Ein Duft nach Zedern und Zitrus weht ihn an. Er stammt vom Parfum oder dem Rasierwasser, oder was immer so ein Stenz wie Aurelio Martínez benutzt. Jedenfalls duftet es exquisit. Auch einen Hauch von Tabakgeruch kann Völxen wahrnehmen. Die eben erwähnten Zigarillos, vermutlich.

Plopp. Auf einmal wird Völxen ganz leicht um die Taille. Er richtet sich mühsam auf und blickt an sich hinab. Der Knopf der Hose, wo ist der? Jedenfalls nicht mehr dort, wo er hingehört, da hängt nur noch ein loser Faden. Völxen tritt einen Schritt zurück und blickt sich auf dem Boden um. Er weiß nicht einmal, wie der Knopf aussieht. Vermutlich dunkel, genau wie der Anzug. Den müsste man eigentlich gut sehen können auf dem hellen Boden. Vielleicht ist er auf dem glatten Marmor weggeschlittert wie ein Curlingstein. Fluchend geht Völxen erneut in die Knie. Auf allen vieren scannt er den Fußboden ab. Dieser verdammte Knopf muss doch zu finden sein!

Die Tür geht auf, und zwei Streifenbeamte kommen herein, gefolgt von einem Notarzt und zwei Sanitätern.

»Sie da! Darf ich fragen, was Sie da tun?«, blafft einer der beiden Beamten Völxen an, und der andere meint: »Yoga. Der herabschauende Hund!«

Dieser Komiker hat Völxen gerade noch gefehlt. Abgesehen davon, dass die Spurensicherung nicht begeistert sein wird, wenn hier nun auch noch zig Einsatzkräfte herumtrampeln, die gar nicht benötigt werden.

Ächzend begibt sich der Hauptkommissar wieder in die Senkrechte, dabei schließt er rasch sein Sakko, streicht sich glättend übers Revers und zückt dann seinen Dienstausweis. »Hauptkommissar Völxen, Polizeidirektion, Kommissariat für Tötungsdelikte. Ich inspiziere den Tatort.«

Der Notarzt drängelt sich wortlos an ihm vorbei.

Völxen ruft ihm hinterher: »Es handelt sich definitiv um Fremdverschulden. Ich verständige die Rechtsmedizin.«

»Ich will nur nachsehen, ob er wirklich tot ist«, meint der Arzt, der die Ruhe weghat. Stumm öffnet er seinen Koffer und streift sich Handschuhe über.

»Scheiße, was ist denn da passiert?«, fragt nun der Witzbold, der damit vermutlich die Leiche von Aurelio Martínez meint.

Völxen ist kurz davor, diesen Kerl ordentlich zurechtzustutzen, spart sich aber die Mühe und bittet den älteren Beamten, der einen kompetenteren Eindruck auf ihn macht, die Personalien sämtlicher Leute aufzunehmen, die vor der Villa herumstehen. »Dazu die Aussagen, um welche Uhrzeit sie angekommen sind, und zwar möglichst genau. Die blonde Frau im grünen Kleid können Sie auslassen, die gehört zu mir.«

»Geht klar«, antwortet der Mann und macht seinem Kollegen ein Zeichen zu verschwinden.

Die zwei Rettungssanitäter stehen dagegen noch unschlüssig in der Tür. »Sie sind leider vergeblich gekommen. Der Mann ist tot«, erklärt Völxen.

»Kann ich bestätigen!«, ruft der Notarzt, der fertig ist mit der Begutachtung der Leiche. »Exitus, definitiv, da ist nichts mehr zu machen.«

»Sag ich doch«, knurrt Völxen, während der Arzt seinen Koffer schnappt und zusammen mit den Sanis den Ort des Geschehens verlässt.

Völxen ist wieder allein. Mit dem Toten. Eine Aura der Einsamkeit umgibt den reglos daliegenden Körper, und Völxen muss daran denken, wie Martínez noch vor einer Woche mit Sabine übers Parkett glitt. So leicht hat es ausgesehen, so elegant, und hinter der feierlich-ernsten Miene, die Martínez an den Tag legte, konnte man die Leidenschaft dieses Mannes für diesen Tanz erahnen.

Tanz sei die ursprünglichste aller Kunstformen, hat Martínez am Beginn seiner kleinen, launigen Einführungsrede gemeint. Später, als Völxen sich mit den Grundschritten und den ersten Figuren des Tangos abmühte, konnte er allerdings so gar nichts Ursprüngliches mehr daran entdecken, und von Leichtigkeit konnte erst recht keine Rede sein.

Irgendwie, findet Völxen nun, hat die Szenerie etwas Operettenhaftes: der elegante Raum, der opulente Lüster direkt über der Leiche, der feine Anzug des Toten, sein pomadisiertes Haar. Dem perfekten Sitz seiner Frisur konnte nicht einmal der Schlag auf den Kopf etwas anhaben, und Völxen muss, völlig unpassend, an die Drei-Wetter-Taft-Werbung denken, die es zum Kult geschafft hat. Ebenso stilvoll ist die Mordwaffe, der vermutlich antike Silberleuchter, der ein beachtliches Gewicht haben dürfte. Völxen hat darauf verzichtet, sein Pendant auf dem Kamin hochzuheben. Nicht, solange er keine Handschuhe trägt. Der Tatort ist ohnehin schon reichlich kontaminiert, die Kriminaltechnik wird not amused sein.

Dieser Gedanke bringt ihn zurück zu seinen Pflichten. Er greift zum Handy, bestellt die Spurensicherung her und schickt eine Whatsapp-Nachricht an seine Leute, mit der Adresse der Tanzschule und dem Text Mordfall, bitte SOFORT kommen. Das Gute an dieser Kommunikationsmethode ist, dass er sehen kann, ob die Nachricht gelesen wurde, und damit die früher so beliebte Ausrede wegfällt, man hätte die Nachricht zu spät entdeckt, während sie in Wirklichkeit einfach nur frech ignoriert wurde. Mal sehen, denkt der Hauptkommissar, wer gleich auf der Matte stehen wird und wer nicht.

Danach versucht er es auf gut Glück bei Dr. Bächle, und wie durch ein Wunder erreicht er den Chef der Rechtsmedizin auf dessen Mobiltelefon. Allerdings ist Dr. Bächle nicht begeistert über Völxens Bitte, die Leichenschau persönlich vorzunehmen. Er sei mitten in einem Seminar, lässt er den Hauptkommissar wissen.

Ein Seminar am Samstag? Golf für Fortgeschrittene?

»Dr. Bächle, ich bitte Sie! Es wäre mir ein Anliegen, diesen Fall in den allerbesten Händen zu wissen.«

»Ihre Schleimerei zieht bei mir ned«, wehrt der Schwabe ungehalten ab, lenkt dann aber doch ein und kündigt an, in einer Viertelschtund am Ort des Geschehens zu sein.

»Also, läuft doch«, stellt Völxen fest, nachdem er aufgelegt hat.

Letzte Gelegenheit, noch einmal nach dem verschwundenen Knopf zu suchen. Doch da wird schon wieder die Eingangstür geöffnet.

»Zurückbleiben! Das ist ein Tatort!«, herrscht Völxen den Eindringling an. Es ist der bärtige Türsteher.

»Daniel Brock«, stellt dieser sich erneut vor. »Ich habe ihn gefunden. Der Kollege da draußen meinte, das soll ich Ihnen sagen.«

Völxen schickt ihn in den Raum mit den Matten. »Warten Sie da drin auf mich, ich komme gleich.«

Er tritt hinaus ins Freie und holt erst einmal tief Luft. Jetzt, ohne Knopf an der Hose, geht das ja wieder. Der Witzbold und sein Kollege nehmen, wie befohlen, die Personalien der Leute auf.

Völxen stößt jenen kurzen Pfiff aus, mit dem er sonst Oscar zu sich ruft. Es klappt – sogar deutlich besser als bei seinem Hund. Sabine, die sich mit einem Paar unterhält, dreht sich um und eilt auf ihn zu. »Stimmt es, dass er mit einem Kerzenleuchter erschlagen wurde?«

»Sieht so aus. Aber …« Er legt den Finger an den Mund.

Ihre Stimme klingt dünn und aufgeregt. »War es einer von diesen zwei silbernen, die auf dem Kaminsims gestanden haben? Die sind mir beim letzten Mal sogar noch aufgefallen, weil sie so prunkvoll ausgesehen haben.«

Völxen verweigert eine Antwort.

»Ich habe etwas erfahren«, sprudelt Sabine hervor. »Es ist wohl allgemein bekannt, dass Martínez die Frauen ein wenig zu sehr liebte.«

»Ach ja?«

»Und es waren fast immer die von anderen.«

Darauf wäre ich nie gekommen, grollt Völxen im Stillen. Laut sagt er: »Fahr nach Hause, Sabine. Sieh nach, was unsere Bestie in der Zwischenzeit angerichtet hat. Ich werde hier noch eine ganze Weile zu tun haben.«

Sie streckt die Hand aus. »Den Autoschlüssel.«

Völxen will schon in seine Hosentasche greifen, da bemerkt er, wie ihre Hand zittert. Bisweilen vergisst er, wie der Tod auf Menschen wirkt, die nicht so häufig wie er damit zu tun haben. Nicht, dass er abgestumpft wäre. Der Anblick einer Leiche geht ihm immer noch nah, anderenfalls würde er sich ernsthaft Sorgen um seinen Gemütszustand machen. Auch der Tod von Aurelio Martínez lässt ihn nicht kalt, im Gegenteil. Mit schlechtem Gewissen erinnert er sich an die finsteren, boshaften Gedanken, die er noch vor Stunden hegte. Zum Glück hat er diese wenigstens für sich behalten.

»Nimm dir ein Taxi, Sabine. Du bist durcheinander, so solltest du besser nicht fahren.«

Er hat mit Widerspruch gerechnet, immerhin ist ein Taxi zu ihnen aufs Land nicht gerade billig, aber Sabine meint: »Du hast recht, ich bin ziemlich durch den Wind.« Sie holt ihr Handy heraus und sucht nach der eingespeicherten Nummer des Taxiunternehmens.

Vorn an der Straße, gleich hinter dem Streifenwagen, parkt ein wohlbekannter Kombi ein. Die Kriminaltechnik. Das ging ja flott.

Völxen drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich muss wieder. Trink zu Hause einen Schnaps, und leg dich aufs Sofa!«

Daniel Brock hat sich eine Fleecejacke übergezogen und sitzt breitbeinig auf einem Klappstuhl. Seine Füße in den Retro-Sneakers wippen auf und ab. In weiser Voraussicht hat er schon mal einen zweiten Stuhl für Völxen dazugestellt. Ein Mann, der mitdenkt.

Erschöpft und dankbar lässt der Hauptkommissar sich darauf sinken und sagt ohne Umschweife zu seinem Gegenüber: »Erzählen Sie mir etwas über sich und darüber, wie Sie die Leiche gefunden haben.«

»Okay, ich heiße Daniel Brock, ich bin vierunddreißig, Sportlehrer an der IGS Roderbruch, ich wohne in Döhren und gebe nebenbei diese Streetdance-Kurse.« Er wartet, als rechne er mit einer Frage von Völxen, aber dieser bedeutet ihm mit einer Handbewegung weiterzumachen. »Der Kurs fängt um vier an, aber ich bin immer schon etwas früher da, um die Matten auszubreiten und die Anlage zu überprüfen. Es war 15:38 Uhr, als ich hier angekommen bin. Die Tür war schon offen – nicht weit offen, sie war schon zu, aber der Schnapper war oben, sodass man sie aufdrücken kann. Ich geh also rein und seh ihn da liegen. Ich bin sofort hin, habe nachgesehen, ob er noch lebt, aber er war schon tot. Da war ja auch das Blut am Kopf und auf dem Fußboden … Ich habe nach seinem Puls getastet, an der Hand und am Hals. Da war nichts mehr.« Er schüttelt zur Bekräftigung seiner Worte energisch den Kopf.

»Haben Sie bei Ihrer Ankunft irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Fremde Menschen oder Fahrzeuge auf dem Grundstück?«

»Nein, es war alles wie immer.«

»Wie ging es weiter, nachdem Sie seinen Tod festgestellt hatten?«

»Ich habe laut nach Frau Martínez gerufen.«

»Warum?«

»Hätte ich warten sollen, bis sie runterkommt und über seine Leiche stolpert?«, entgegnet er ein wenig aufsässig.

»Was passierte dann?«

»Ich habe den Notruf gewählt, und während ich telefoniert habe, kamen sie auch schon runter.«

»Wer sie?«

»Na, Alba und die zwei Schreckschrauben.«

»Alle gleichzeitig?«, erkundigt sich Völxen.

»Ich denke, Alba kam zuerst und kurz danach die zwei anderen. So genau weiß ich es nicht mehr. Ich bin zum Telefonieren rausgegangen, weil ich inzwischen den Notruf dranhatte, und die drei haben so laut durcheinandergekreischt, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand.«

»Die Jugendlichen da draußen – gehören die zu Ihnen?«

»Ja.«

»Einen Streetdance-Kurs würde man nicht unbedingt in diesem Ambiente vermuten«, bemerkt der Hauptkommissar.

»Alba hat darauf bestanden. Es war ihre Idee. Der Kurs kann über die Stadt Hannover gebucht werden. Er richtet sich an Kinder aus sozial schwachen Familien und kostet die Schüler fast nichts. Mein Honorar und die Raummiete werden auch von der Stadt bezahlt.«

»Verstehe«, murmelt Völxen. Er findet es immer wieder erstaunlich, welche Blüten das Bemühen reicher Menschen treibt, nicht abgehoben und dekadent zu wirken. Und doch bewirkt es genau das Gegenteil. Wer weiß, fragt sich Völxen, aus welchen Quellen dieser Reichtum hier stammt. Selten sind diese Gewässer ja vollkommen ungetrübt.

»Ich gebe diese Kurse nun schon seit drei Jahren, es ist noch nie etwas vorgefallen«, reißt ihn Brocks Stimme aus seinen Betrachtungen. »Außer dass vielleicht mal einer eine Kippe auf den Rasen geworfen hat.«

»Warum betonen Sie das? Verdächtigen Sie Ihre Schüler?«, entgegnet Völxen.

»Nein, natürlich nicht«, wehrt Brock ab. »Aber ich weiß genau, dass bei Ihnen bereits die Alarmglocken schrillen. Ist doch so, oder?« Brock blickt ihn halb fragend, halb herausfordernd an.

»Was hielt Aurelio Martínez vom sozialen Engagement seiner Tochter?«

»Er war wohl nicht sonderlich begeistert darüber. Er war höflich und sehr distanziert, hat aber nicht rumgemotzt oder so. Dafür war er zu sehr Gentleman.«

»Hat denn jemand rumgemotzt?«

Daniel Brock zeigt mit dem Finger zur Decke. »Die zwei Schatullen von oben haben andauernd gestichelt. Manche Leute pflegen eben ihre Vorurteile und ihren Dünkel, weil sie sonst nichts anderes haben. Da kann man nichts machen.«

»Wohin führt die Tür an der hinteren Wand des Foyers?«

»In einen Lagerraum, und von dort aus geht es in den hinteren Garten. Sie ist aber immer abgeschlossen, ich musste noch jedes Mal außen rum, auch heute, ich hab’s probiert.«

»Warum wollten Sie denn durch die Hintertür ins Haus?«, wundert sich der Hauptkommissar.

»Ich stelle mein Rad immer hinten im Garten ab«, erklärt Brock. »Ist ein teures Teil, das muss nicht jeder gleich von der Straße aus sehen. Man kann ja nie wissen – selbst in einer Gegend wie dieser hier.«

»Herr Brock, Sie sagen, es war 15:38 Uhr, als Sie ankamen. Woher wissen Sie das so genau?«

»Ich stoppe immer, wie lange ich brauche.« Der Kursleiter streckt Völxen sein linkes Handgelenk mit dem Fitnesstracker entgegen.

Völxen nickt. So eine Fessel hat Sabine ihm auch schon einmal aufgenötigt. Der Apparat sollte Völxen zu weniger Gewicht und mehr Disziplin in Sachen Bewegung und Sport verhelfen. Hat er aber nicht, vor allem, weil Völxen öfter einmal mogelte und den Tracker Oscar umschnallte, um den Schrittzähler zu manipulieren. Was Sabine dann leider herausfand. Das Ding liegt seit Monaten in einer Schublade, und da kann es von ihm aus auch bleiben.

»Das wäre vorerst alles, Herr Brock. Wenn Sie rausgehen, bitten Sie doch netterweise Ihre Schüler, noch zu bleiben. Meine Kollegen und ich hätten noch Fragen an sie.«

»Ich werde es ausrichten.«

»Wie sind Sie erreichbar?«

Brock diktiert Völxen seine Nummer ins Handy, ehe er aufspringt und mit federndem Schritt davoneilt. Auch Völxen quält sich wieder in die Höhe. Sein Kreuz schmerzt. Und dabei hat er nicht mal getanzt.

Kapitel 2 – Beziehungen

Das Handy klingelt. Erwin Raukel robbt bis an die Bettkante, hebt seine Hose vom Boden auf und zieht das Telefon aus der Tasche.

»Errrwin, mein Hase«, gurrt es dicht neben seinem Ohr, »sag nicht, du musst mich schon wieder verlassen!«

Irina hat die seidene Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen und zieht einen Schmollmund.

»Ich fürchte, doch, mein Mausezahn!« Raukel wälzt sich vom Bett und schaut sich suchend um. Wo ist denn bloß seine Unterhose hingekommen?

»Och, Errrwin!« Ihr Lächeln, gespielt einschmeichelnd und unterwürfig, macht die Sache nicht einfacher.

Seit ein paar Wochen hat Raukel seine Nachbarin endlich da, wo er sie haben will: in seinem Bett. Wobei es heute genau genommen nicht sein Bett ist, sondern ihres. Sie wohnt im Block gegenüber, und als er sie das erste Mal – leicht bekleidet – auf ihrem Balkon stehen sah, raubte es ihm schier den Atem. In der Folgezeit hat er ihr des Öfteren vom Balkon über den Hinterhof hinweg zugewinkt. Irgendwann erwiderte sie seine Signale. Als Nächstes lockte Raukel das Objekt seiner Begierde mit einer Flasche Champagner, und wenige Minuten später stand sie in voller Pracht und Schönheit vor seiner Tür. So führte eins zum anderen.

»Ich dachte, wir gehen noch in die Stadt, trinken irgendwo einen Aperitif und machen uns einen netten Abend«, mault Irina enttäuscht.

»Ich hätte dich so gerne ausgeführt, aber das müssen wir verschieben, mein Mausezahn. Das Ministerium … sie sind einfach unberechenbar.« Er drückt einen saftigen Schmatz auf ihr zartes Ohr.

»Sicher, mein Hase, ich weiß, du bist ein wichtiger Mann. Trotzdem ist es schade.« Sie klimpert ihn mit ihren falschen Wimpern an und gibt ein apartes Schniefen von sich.

»Mir tut es auch leid, dass ich schon gehen muss, glaub mir«, säuselt Raukel. »Aber die Pflicht ruft, ich werde gebraucht!«

Eigentlich ist es ihm lieber, wenn sie sich bei ihm treffen, denn ihre Wohnung ist nicht unbedingt nach seinem Geschmack. Zu viele Duftkerzen und ästhetische Verirrungen, wie sie für Frauenwohnungen typisch sind. Aber heute hat es sich anders ergeben, und das kommt ihm jetzt gelegen. Anderenfalls müsste er sie mühsam aus seiner Wohnung hinauskomplimentieren. So kann er einfach seine Klamotten aufsammeln und gehen, jetzt, da er endlich auch seine Unterhose gefunden hat.

Schwein gehabt, denkt er und schlüpft in sein Hemd.

Noch vor einer Viertelstunde hätte Raukel den Ton, der die Chat-Nachricht ankündigt, wahrscheinlich gar nicht gehört, weil er sich sozusagen noch in der Hitze des Gefechts befand, doch jetzt kommt ihm der Ruf des Ministeriums überaus gelegen, erspart er ihm doch eine Menge Aufwand, sowohl in zeitlicher als auch in finanzieller Hinsicht. Die netten Abende mit Irina gestalten sich nämlich stets recht kostspielig. So aufgeschlossen Irina sonst auch sein mag, an gewissen Traditionen scheint sie sehr zu hängen, und eine Tradition ihres Heimatlandes besagt, dass beim Ausgehen grundsätzlich der Mann bezahlt.

Auf dem Klingelschild ihrer Haustür steht ein unaussprechlicher Nachname, der von Irinas erstem Ehemann, einem Finnen, stammt, aber ursprünglich kommt Irina aus Sibirien, wo sie angeblich 1982 geboren wurde. Damit wäre sie heute neununddreißig. Raukel schätzt sie eher auf Ende vierzig oder sogar ein paar Jährchen darüber, aber was macht das schon? Wenn er mogelt, was seinen Beruf angeht, darf man ihr doch wenigstens einen kleinen Abzug beim Lebensalter zugestehen. Zumal sie wirklich prächtig in Form ist.

Ende der Leseprobe