Wehe, du irrst dich - Susanne Mischke - E-Book

Wehe, du irrst dich E-Book

Susanne Mischke

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Beschreibung

Als dem beliebten Hannoveraner Barbier Moussa die Halsschlagader mit einem Rasiermesser durchtrennt wird, steht das Team um Hauptkommissar Bodo Völxen vor einem besonders kniffligen Fall. Kunden, Kollegen und sogar Verwandte haben offene Rechnungen mit dem Opfer, das ein Leben auf Messers Schneide geführt hat – und im Hinterzimmer des Barbershops deutet alles auf zwielichtige Machenschaften hin. Besonders Ermittler Erwin Raukel, selbst treuer Stammgast bei Moussa, ist fest entschlossen, den Mörder zu fassen. Unterstützung kommt von unerwarteter Seite – in Form einer dem Team nur allzu bekannten Ermittlerin, die den Fall in eine neue Richtung lenkt … Ein ermordeter Barbier, ein mysteriöses Hinterzimmer und das beliebteste Ermittlerteam Hannovers »Akribisch und grundsolide erzählt Susanne Mischke von den sechs Ermittlern.« ― NDR Kultur "Neue Bücher"  »Keine Superhelden im Kampf gegen das Böse, sondern eher Feld-, Wald- und Wiesenpolizisten mit Macken, aber auch Talenten. Gerade diese Charakterisierung macht die Lektüre zum Lesevergnügen mit Spannung.« ― Westfalen-Blatt  

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Inhaltsübersicht

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Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1

In seinem gestreiften Bademantel und den Gummistiefeln steht Hauptkommissar Bodo Völxen am verwitterten Zaun der Schafweide. Er fröstelt. Mitte März sind die Nächte noch empfindlich kühl, aber nun blitzen die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont und lassen unzählige Spinnweben über der schütteren Grasnarbe silbrig aufleuchten. Im kahlen Geäst des Apfelbaums sitzen drei Krähen und beäugen ihn misstrauisch. Völxen liebt die Ruhe am Morgen, die nur von Vogelgezwitscher durchbrochen wird. Die Welt wirkt wie neu erschaffen und menschleer. Dennoch hätte er es heute noch ein Viertelstündchen länger im Bett ausgehalten. Er muss gähnen. Verdammt, wo bleibt denn der Friese? Sieben Uhr war abgemacht, zeitig genug, damit der Modellathlet vor Dienstbeginn noch sein Sportprogramm absolvieren kann. Mit dem Rad bis zur Dienststelle fahren, zweimal um den Maschsee rennen oder ähnliche Torturen.

Oscar läuft schwanzwedelnd am Zaun entlang in Erwartung der üblichen Prozedur, die jeden Morgen nach einer exakten Choreografie abläuft: Sein Mensch geht durch das Gatter, überquert forschen Schrittes die Weide, öffnet den Schafstall, dreht sich um und sprintet zurück zum rettenden Gatter, verfolgt von einer wütenden Bestie, welche wiederum von Oscar verbellt und dadurch erst recht angestachelt wird. Manchmal bekommt der Terriermischling ein Stück Wolle zu fassen, wenn es ihm gelingt, Amadeus in die Haxen zu zwicken. Heute geschieht nichts dergleichen. Die Schafe sind noch immer im Stall. Sein Herrchen steht am Zaun und starrt Löcher in die Luft. Frustriert sucht der Hund nach einem Alternativprogramm und findet es auch, indem er einen Maulwurfshügel auseinandernimmt.

Auch Völxen wird langsam ungeduldig. Hat Tadden ihn vergessen?

Natürlich nicht. In dieser Sekunde verlässt er diese lächerlich winzige Behausung, die er ausgerechnet auf Köpckes Grundstück platzieren musste, welcher die Miete dafür vermutlich in bar einsteckt. Mit seinen langen Beinen federt Oberkommissar Tadden leichtfüßig über Köpckes Wiese, überquert den Hof und joggt den holprigen Feldweg entlang auf ihn zu.

»Moin!«, grüßt er zackig und nicht die Spur atemlos.

Oscar, dankbar für jede Ablenkung, begrüßt ihn freudig. Man kennt sich. Nicht erst seit Tadden in der Nachbarschaft wohnt, sondern auch von der Dienststelle, zu der der Hund bisweilen mitgenommen wird.

»Verschlafen?«, erkundigt sich der Hauptkommissar ein wenig frostig.

»Beinahe. Aber gleich geht es los.«

Joris Tadden holt eine kleine Fernbedienung aus seiner Hosentasche und zählt mit schnarrender Stimme herunter: »Two, one, zero …«

War ich mit knapp über dreißig eigentlich auch noch ein solcher Kindskopf? Jedenfalls konnte ich schon damals nicht so schnell und ausdauernd laufen, gesteht Völxen sich ein. Er war mehr ein Denker, weniger ein Sportler.

Tadden drückt auf den Knopf.

Beide blicken gespannt auf den Stall, in dem die vier Schafe und der Bock nachts eingeschlossen sind, damit sie sicher sind vor herumstreifenden Wölfen.

Eine Sekunde verstreicht, zwei, drei.

Völxen zieht skeptisch seine Augenbrauen zusammen, deren borstige Dichte an Schuhbürsten oder sehr haarige Raupen erinnert. Er denkt dabei über eine angemessene Reaktion angesichts des Reinfalls nach, da hebt sich wie durch Zauberhand die Luke am Schafstall, an der Tadden und der Hühnerbaron während der letzten drei Tage gebastelt haben.

»Tatsächlich. Es klappt«, stellt Völxen fest, wobei er sich bemüht, anerkennend, aber nicht allzu begeistert zu klingen.

»Mit einem W-LAN-Verstärker und der App lässt sich das Tor von überall her öffnen und schließen. Oder man programmiert die Uhrzeit einfach ein.«

»Mal sehen.« Völxen hat es nicht so mit Apps und dem Programmieren.

Beide verharren am Zaun und starren auf die Öffnung, die groß genug ist, um auch einem Schafbock mit eindrucksvollem Gehörn einen bequemen Durchgang zu erlauben. Theoretisch. In der Praxis geschieht nichts. Die Minuten vergehen. Oscar verliert die Nerven, schlüpft unter dem Gatter durch, rast über die Weide und umrundet kläffend den Stall. Eine der Krähen stößt einen Ruf aus, der ihre Missbilligung zum Ausdruck bringt. Doch die Vögel kennen den Hund längst und bleiben daher seelenruhig auf dem Apfelbaum sitzen.

»Warum kommen sie nicht raus? Kapieren sie es nicht?« Tadden klingt enttäuscht.

»Das oder aus Bosheit. Zumindest, was Amadeus angeht.«

»Sein Problem. Irgendwann wird er schon rauskommen. Oder eine der Damen ist so schlau.«

Völxen ist da nicht so sicher, will Tadden aber nicht die Illusionen rauben. Der Junge hat es wirklich gut gemeint. Seine Konstruktion dient nicht nur der Bequemlichkeit, sie soll in erster Linie verhindern, dass sein Vorgesetzter sich jeden Morgen der Mordlust seines Schafbocks aussetzt. Bis jetzt erreichte dieser stets im letzten Moment das Gatter und konnte es gerade noch schließen, ehe der Bock sein Gehörn mit Karacho gegen die Bretter donnern ließ. Aus Amadeus’ Sicht ist es daher durchaus verständlich, sollte das alte Biest die neue Technik schlichtweg ignorieren. Wer gibt schon gerne ein lieb gewordenes Ritual freiwillig auf?

»Das wird schon«, versichert er entgegen seiner Überzeugung. »Danke, Tadden.«

»Dafür nicht.«

Beide wenden sich zum Gehen. Taddens Handy klingelt. Während er das Gespräch annimmt und zuhört, lässt sein Gesichtsausdruck bereits Ungemach ahnen. Völxen ist jedenfalls schon mal vorsorglich stehen geblieben.

Und genau so kommt es auch.

»Wir haben einen Leichenfund in der Altstadt. Ein Mann liegt tot in einem Friseursalon.«

Schlagartig kann Völxen sein ländliches Idyll nicht mehr so recht genießen. Die andere Welt, die der menschlichen Abgründe und der Gewaltverbrechen, streckt ihre Tentakel nach ihm aus. Der Hauptkommissar reagiert mit der Routine seiner über dreißig Dienstjahre. »Spurensicherung, Rechtsmedizin?«

Tadden fragt nach. »Sind informiert. Zwei Streifen sind bereits vor Ort.«

»Wir können zusammen fahren«, schlägt Völxen vor. »Treffen wir uns in einer halben Stunde bei mir auf dem Hof.«

»In einer halben Stunde?« Tadden reckt trotzig das Kinn vor. In den dunkelgrauen Augen des Ostfriesen spiegelt sich Verwunderung, wenn nicht gar Missbilligung.

»Wir sind die Ermittler, Tadden, nicht die Feuerwehr. Wenn wir losstürzen wie die Anfänger, stehen wir nur mit knurrenden Mägen herum und warten. Frühstücken wir lieber erst mal und werfen uns in Schale. Außerdem gibt es Kollegen, die deutlich näher am Tatort wohnen.«

Tadden nickt widerstrebend. »Dann also …«, ein Blick auf sein Smartphone, »… nullsiebenachtundreißig auf Ihrem Hof.« Diese Art der Zeitangabe hat sich bei ihm während seiner Dienstzeit bei der Bundeswehr eingeschliffen. Er weiß aber, dass Völxen solche Mätzchen nicht schätzt. »Äh, ich meine …«

»Sagen wir Viertel vor acht, zivile Zeit«, bestimmt der Hauptkommissar. »Ich muss mich ja auch noch rasieren.«

»Jawohl, Herr Hauptkommissar.«

In seinen Gummistiefeln schlurft Völxen durch den Garten zurück ins Haus. Die Schneeglöckchen liegen wie ein dichter Teppich um den Holzschuppen, aus dem Beet spitzeln die Blätter von Tulpen hervor, und die Forsythie beginnt zu blühen. Oscar ist es nach wie vor nicht gelungen, den Bock herauszulocken, obwohl er sämtliche Provokationen durchgespielt hat, einschließlich der, direkt am Türpfosten das Bein zu heben. Völxen ruft nach ihm. Mit verdächtigem Übereifer kommt der sonst eher renitente Terrier angerannt, offenbar dankbar, den Ort seiner Schmach ohne Gesichtsverlust verlassen zu dürfen.

Als Völxen sich vor der Terrasse seines umgebauten alten Bauernhofes noch einmal umwendet, ist Tadden bereits in seinem Bauwagen verschwunden. Amadeus streckt vorsichtig den Kopf aus der Luke. Verstört blickt er sich um. Niemand da, den er auf die Hörner nehmen kann.

2

In Todesnähe spürt man sich am meisten.

Beim ersten Mal war es noch schiere Panik, die von Hauptkommissar Erwin Raukel Besitz ergriff, und hätte er nur die geringste Chance gesehen, schnell genug aus dem tiefen Ledersessel herauszukommen, wäre er geflohen, ungeachtet des Gespötts. Allein sein kompakter Körperbau und eine gewisse altersbedingte Trägheit verhinderten ein Entkommen in letzter Sekunde. So viel Realist war er selbst im Angesicht der Gefahr für Leib und Leben. Blieb nur, sich unter seinem Umhang an die Sessellehne zu krallen und sein Schicksal zu akzeptieren. Wie kurios, dachte er dabei, das Letzte, was ich sehen werde, ist ein schmunzelnder George Clooney mit Fünftagebart.

Längst hat er diese unbegründeten Ängste abgelegt, doch ein bisschen Adrenalin schießt nach wie vor durch seine Adern, kaum dass das Rasiermesser seine Haut berührt. Sogar jetzt, da er vor dem heimischen Badezimmerspiegel steht und notgedrungen selbst Hand an sich legt, suchen ihn diese morbiden Gedanken heim: ein falscher Schnitt, eine fahrige Bewegung nur …

Seit seinem ersten Besuch im Barbershop Clooney ist ein Jahr vergangen, und inzwischen genießt Raukel sogar den kleinen Kick, eine Art Angstlust, die sich einstellt, sobald er sich dem Können von Moussa Abou ausliefert. Einmal in der Woche gönnt er sich das Vergnügen einer ebenso professionellen wie traditionellen Rasur, samt allem Drum und Dran. Die Rasur mit einem sehr scharfen Messer ist dabei nur das Hochamt, der ultimative Nervenkitzel. Zur Behandlung gehört noch viel mehr, und das meiste davon ist ausgesprochen wohltuend. Da sind die warmen Tücher, die wohlriechenden Schäume und Cremes, die Öle und Salben, die Gesichtsmassage, die edlen Rasierwässerchen, der Duft des Minztees und der eine oder andere Malt Whisky, mit dem man sich, falls nötig, Mut antrinken kann. Die Einrichtung des Barbershops ist traditionell-gediegen – halbhohe Wandtäfelungen aus dunklem Holz, hohe, goldgerahmte Spiegel, weinrote Barbiersessel im Stil der Fünfzigerjahre. Das Ambiente erinnert Raukel an englische Clubs aus alten Krimis. Und wie es sich in einem solchen Club gehört, finden hier gepflegte Männergespräche statt: Sport, Autos und Frauen sind die vorherrschenden Themen, außerdem der neueste Klatsch und Tratsch, der in der Landeshauptstadt kursiert. Das Sahnehäubchen ist die wirklich gut sortierte Bar, und es gibt sogar ein Klavier. In unregelmäßigen Abständen veranstaltet Moussa Whiskyverkostungen mit Musik, wobei Raukel auf die Musik notfalls verzichten könnte.

Das Clooney liegt strategisch günstig am Ende der Knochenhauerstraße, eine Lage, die ein sehr gemischtes Publikum zur Folge hat. Es verkehren dort – neben Hipstern, maghrebinischen Halbstarken und Spielern von Hannover 96 – auch einige Zuhälter und Türsteher aus dem benachbarten Rotlicht- und Amüsierbezirk sowie der eine oder andere Staatsdiener aus dem ebenfalls nicht weit entfernten Landtag. Für einen Kriminalbeamten wie ihn ist dieser Ort eine reich sprudelnde Quelle wichtiger Informationen, und ginge es auf dieser Welt halbwegs gerecht zu, würde die Kostenstelle der Polizeidirektion Hannover die Rechnungen für die Behandlungen als dienstliche Aufwendungen anerkennen.

So oder so, das Clooney ist wie eine kleine Insel der Seligen. Wo sonst sind Männer heute noch unter sich? Okay, nicht ganz unter sich. Die Friseurin Nicole ist definitiv kein Mann, aber zum Glück weiß das Frauenzimmer, wann es den Mund zu halten hat. Eine seltene Tugend heutzutage.

Ja, Moussa hat seinen Laden und seine Leute im Griff.

Meistens versucht Raukel einen Termin am Freitag zu bekommen. Charlotte Engelhorst, auf deren Landsitz er häufig seine Wochenenden verbringt, legt Wert auf eine gepflegte Erscheinung und glatt rasierte Wangen. Selbstverständlich macht er das keineswegs nur ihretwegen, wo käme man denn da hin? Nein, der Besuch dort ist für Raukel, der auch sonst einen verfeinerten Lebensstil pflegt, längst zu einer Annehmlichkeit geworden, die er nicht mehr missen möchte.

Er wischt sich den Rest Rasierschaum vom Hals und greift zu dem Eau de Toilette mit der orientalischen Note, das Moussa ihm empfohlen und verkauft hat. Eigentlich ist das Zeug viel zu edel und kostspielig für den Alltag und die Banausen auf der Dienststelle. Aber Frau Cebulla, die Sekretärin des Kommissariats, hat ihm neulich versichert, sein Wohlgeruch versüße ihr den Arbeitstag. Um dem alten Mädchen eine Freude zu machen, gibt er etwas davon auf seine Handflächen und tätschelt sich über Hals und Wangen. Danach geht er hinüber in sein Schlafzimmer und kleidet sich an. Durch das gekippte Fenster dringen Vogelstimmen. Von denen ist er wach geworden, schon kurz vor sieben. Eigentlich noch nicht wirklich seine Zeit, es wird gerade erst hell. Nervige Viecher! Immerhin, der Frühling lässt grüßen. Auf der Grünfläche der Wohnanlage blühen schon Krokusse und Blausterne. Früher wäre ihm so etwas gar nicht aufgefallen. Erst seit er regelmäßig mit Charlotte Engelhorst verkehrt, einer ehemaligen Gartenbloggerin, Biogärtnerin und Mordverdächtigen, achtet er auf so etwas. Auch wenn Charlottes Garten inzwischen etwas verwildert ist.

Im Flur lärmt sein Handy. Es ist der Klingelton, den er Völxen zugeordnet hat. Was will denn dieser tumbe Bewohner der ländlichen Peripherie in aller Herrgottsfrühe von ihm? Senile Bettflucht? Steht er grundsätzlich mit den Hühnern auf?

»Völxen, was kann ich für dich tun? Zu so früher Stunde?«

»Es gibt einen Toten.«

»Die gibt es jeden Tag.«

»Männliche Leiche in einem Friseursalon, vermutlich Fremdeinwirkung«, dringt es im schönsten Beamtenduktus an Raukels Ohr. »Ich schick dir die Adresse, es ist in der Altstadt. Wir treffen uns später dort.«

»Aber ich habe noch keinen Bissen …« Aufgelegt. Das war es dann wohl mit seinem Frühstück.

Warum schickt der Schafstrottel nicht erst mal die ehrgeizige Jugend dorthin? Rifkin, Tadden oder Rodriguez? Aber Tadden lebt ja inzwischen auch da draußen in den Büschen, fällt ihm ein. Die zwei sind neuerdings sozusagen Nachbarn. Und Rodriguez zählt erstens nicht mehr zur Jugend, außerdem ist er seit gestern im Mutterschutz. So nannte es Raukel während der vergangenen Wochen stets mit einem Grinsen. So lange, bis das spanische Weichei drohte, Völxen die Schnapsverstecke in Raukels Büro zu verraten. Als ob der die nicht schon längst kennen würde.

Früher hätten sechs Monate Elternzeit für jeden männlichen Polizisten das Ende der Karriere bedeutet. Heutzutage werden sie dafür noch gelobt und gefeiert. Trotzdem – dass Rodriguez, der kleine Macho, sich überhaupt darauf eingelassen hat? Wahrscheinlich steckt seine Gattin Jule dahinter. Eine von Ehrgeiz zerfressene, humorlose Streberin, die um der Karriere willen dem armen Würmchen vorzeitig die Mutterbrust entreißt. Zum Glück hat sie schon vor etlichen Jahren das Kommissariat verlassen. Nicht ganz freiwillig, und auch der Schafstrottel hätte sein Schätzchen liebend gerne behalten. Aber Ehepaare dürfen nun einmal nicht auf derselben Dienststelle arbeiten, und Fernando Rodriguez hatte die älteren Rechte. Außerdem erhoffte sich Jule eine steile Karriere beim LKA.

Nun darf Rodriguez also ein halbes Jahr lang Windeln wechseln, Fläschchen geben und den Kinderwagen in Hannover-Linden herumkarren. Wenigstens lernt das Kind dabei gleich eine Menge Fremdsprachen.

Andererseits wird Rodriguez’ Fehlen im Dienst nicht groß auffallen, überlegt Raukel. Selten war der Spanier besonders hilfreich. Im Gegenteil, der Kollege schob in letzter Zeit oft eine ruhige Kugel. Man wird kaum merken, dass er nicht da ist.

Noch immer ist unklar, wer ihn ersetzen wird. Vielleicht eine knackige Anwärterin. Der würde Raukel sogar ein Plätzchen in seinem Einzelbüro frei machen …

In der Altstadt, hat Völxen gesagt. Raukels Wohnung in der Calenberger Neustadt liegt quasi in der Nachbarschaft. Deswegen hat er wohl ihn angerufen. Der Gedankengang ist sogar halbwegs nachvollziehbar.

Pling. Die SMS ist da.

Das kann nicht sein. Das darf nicht sein! Die Adresse in der Knochenhauerstraße kennt Raukel nur zu gut. Von wegen Friseursalon. Das ist der Barbershop Clooney! Die Erkenntnis trifft Raukel wie eine Faust in den Magen. Um seine Fassung wiederzuerlangen, wendet er sich reflexhaft seiner ansehnlichen Hausbar zu und gönnt sich einen Schluck vom alten Schotten auf den Schrecken. Dann reißt er sein Sakko vom Garderobenhaken und eilt, so rasch ihn seine Füße tragen, zum Ort des Verbrechens.

3

»Warum hast du Joris nicht gefragt, ob er mit uns frühstücken möchte? Wenn ihr schon mal ausnahmsweise zusammen zum Dienst fahrt.« In Sabines Tonfall schwingt ein ganz leiser Vorwurf mit.

»Das nennst du Frühstück?«, erwidert Völxen.

Kaffee – Fehlanzeige. Stattdessen ergießt sich aus der Teekanne ein Gebräu in seine Tasse, das jetzt bereits dieselbe Farbe aufweist, in der es seinen Körper wieder verlassen wird. Wo ist das Brot? Da ist nur Knäcke. Als Aufstrich gibt es Diätmargarine und Magerquark mit Kräutern aus dem eigenen Hochbeet. Völxen inspiziert den Kühlschrank. Grünzeug, Joghurt, Senf. Resigniert schließt er die Tür. Im Brotkasten findet er eine angebrochene Packung Toast, er steckt zwei Scheiben in den Toaster. Sein Tun wird misstrauisch beäugt von Sabine, die damit beschäftigt ist, lauter sehr gesunde Sachen in den Behälter des Mixers zu werfen.

Fastenzeit. Die schlimmsten Wochen des Jahres. Für jede Saison denkt sich Sabine irgendwelche trendigen Quälereien aus. Angeblich geschieht dies alles nur zu seinem Besten.

Dieses Jahr soll er, wenn es nach seiner Gattin geht, auf Koffein und Alkohol verzichten, Kohlenhydrate, insbesondere Zucker, meiden und keine ungesunden Fette zu sich nehmen. Damit er es nicht vergisst, hängt am Kühlschrank eine Auflistung gesunder Lebensmittel unter einem Smiley. Rechts daneben, unter einem Totenkopfsymbol, stehen die ungesunden Sachen. Im Grunde alles, was das Leben lebenswert macht. Sogar ein Frühstücksei gibt es nur noch sonntags. Aber das Schlimmste sind die langen Abende, wenn er vor einem angeblich mit Fruchtgeschmack aromatisierten Mineralwasser sitzt oder – Gipfel der Perversion – einem alkoholfreien Wein. Die einzige Rettung ist der Hühnerbaron, der, wenn er zum Feierabend an den Zaun der Schafweide kommt, stets ein lauwarmes Herrenhäuser für sich und seinen Nachbarn mit sich zu führen pflegt. Vorgestern hat er mit einem breiten Grinsen eine Flasche Alkoholfreies aus seiner Latzhose hervorgezaubert. Völxen fand das gar nicht lustig.

Er probiert den Tee. Ungenießbar wäre zu viel gesagt. Er ist einfach nur komplett geschmacklos.

Noch dazu wird ihn heute nicht einmal Frau Cebulla retten, in deren Büro sich ein High-End-Kaffeeautomat befinden sowie eine bunte Auswahl an Keksen. Denn er muss ja gleich von hier aus zu einem Tatort, und erfahrungsgemäß lungert man dort gut und gerne mal ein paar Stunden herum.

Neidisch schielt Völxen hinüber zu Oscar. Dem Hund wurden keinerlei Fastenprozeduren auferlegt. Der darf unbehelligt sein gewohntes Futter in sich hineinschlingen.

Sabine stoppt den Mixer, wendet sich um und stützt die Hände in die Seiten. Eine Pose, bei der grundsätzlich Vorsicht geboten ist. »Du bist doch nicht etwa immer noch sauer auf den Jungen, weil er dich nicht gefragt hat, ob er sein Tiny House auf Köpckes Grundstück stellen darf?«

Sein Tiny House äfft Völxen in Gedanken nach. Auf Koffeinentzug ist er überaus misslaunig, ganz besonders am Morgen. Da sollte man ihm nicht auch noch mit Vorhaltungen kommen.

»Ich finde, es hätte sich gehört.«

»Und dann hättest du Nein gesagt, oder wie?«

Völxen fischt die fertigen Toastscheiben heraus, verbrennt sich auf dem Weg zum Tisch daran die Finger und bleibt die Antwort schuldig.

Ja, es stört ihn, dass sein Mitarbeiter seit dem letzten Sommer in knapp zweihundert Metern Entfernung von seiner Schafweide wohnt. Obgleich Tadden sich in den vergangenen Monaten sehr bemüht hat, ihm nicht auf die Nerven zu gehen. Nur selten und auf ausdrückliche Einladung hat er sich den Winter über zu einem Feierabendbier zu ihm und dem Hühnerbaron gesellt.

Trotzdem. Es gehört sich einfach nicht, ihm derart auf die Pelle zu rücken.

»Ich dachte, du magst ihn. Schließlich hast du ihn eingestellt«, bohrt Sabine nach.

»Mögen ist für mich grundsätzlich kein Einstellungskriterium.«

Denn wäre es so, dann hätte es Erwin Raukel niemals in sein Kommissariat geschafft.

»Es geht ums Prinzip. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps!«, setzt er hinzu.

»Altmännersprüche!«

»Als Ermittler ist er völlig in Ordnung. Aber ich frage mich schon, was mit ihm nicht stimmt. Erst wohnt er fast ein Jahr lang in der Wohnung von Pedro Rodriguez, im alten Kinderzimmer von Fernando – wovon der im Übrigen auch nicht begeistert war –, und nun setzt er uns seinen albernen Bauwagen vor die Nase.«

»Vor die Nase wäre, wenn er in unserem Garten stünde.«

»Das fehlt noch!«

»Vielleicht ist er einsam und sucht Familienanschluss.«

»Ausgerechnet bei uns?«

»Hat er keine Freundin? Was ist mit der, die auf Odas Abschiedsfest dabei war? Die war recht hübsch, auf eine intellektuelle Art.«

»Was weiß denn ich?«, grunzt Völxen, denn es ist unter seiner Würde, Taddens Liebesleben mit seiner Ehefrau zu diskutieren. Erst recht nicht so früh am Morgen und schon gar nicht ohne Kaffee und ein ordentliches Frühstück.

Während er von seinem Toast mit dem unvermeidlichen Kräuterquark abbeißt, muss er an seine Schulzeit denken, an die älteren Mädchen aus dem Lyzeum, die er sehr anziehend fand, vermutlich, weil sie so unerreichbar waren. Seither hat sich viel verändert. Erst neulich musste er sich von seiner Tochter Wanda darüber aufklären lassen, was eine Freundschaft plus bedeutet. Eine solche scheint sie mit ihrem Mitbewohner Christoph, einem angehenden Tierarzt, zu pflegen.

»Vielleicht könnten wir ihn mit Wanda verkuppeln. Ein paar ostfriesische Gene in der Familie, das wäre doch was.«

Völxen wirft den Toast auf den Teller und blickt seine Gattin argwöhnisch an. Auch nach über dreißig Jahren Ehe ist er bei ihr nie sicher, was Spaß ist und was sie am Ende gar ernst meint.

»Untersteh dich!«, knurrt er vorsichtshalber.

Doch da sie offenbar der Hafer sticht, führt sie aus: »Ein gut aussehender, handwerklich und technisch begabter Schwiegersohn, was will man mehr?«

»Hör auf mit dem Unsinn!«

»Nicht jeder würde seine Freizeit für deinen Schafstall opfern.«

Vielleicht, spekuliert Völxen, ist das Taddens Art, sich für sein Versäumnis in Sachen Bauwagen zu entschuldigen.

»Das mit der Luke hat jedenfalls geklappt.«

»Siehst du. Ist doch toll.«

»Amadeus ist da anderer Meinung.«

»Das glaube ich gern.«

»Ah, da ist er.« Sabine deutet auf den Hof.

»Auf die Minute. War ja klar.«

4

Moussa Abou starb direkt unter den Augen von George Clooney, der übergroß und in Schwarz-Weiß von der Wand lächelt. Der Schauspieler, den Völxen eher glatt rasiert im Gedächtnis hatte, trägt auf diesem Bild einen Fünftagebart. Vielleicht waren es auch nur drei. Wer wohl auf die Idee kam, den Barbershop ausgerechnet nach einem Star zu benennen, dem ein Bart gar nicht steht? Das mit dem Friseursalon war von der Leitstelle nicht ganz korrekt kommuniziert worden, obwohl hier natürlich auch Haare geschnitten werden.

Der Barbershop vermittelt ein edles Ambiente. Rote Kunstlederstühle vor goldgerahmten Spiegeln, eine hüfthohe Wandvertäfelung aus dunklem Holz, aus dem auch die lange Theke im Eingangsbereich besteht. Das alles war sicher nicht billig. Darüber hinaus hat man, was die Dekoration angeht, Humor bewiesen. Zwischen den Spiegeln hängen Porträts von barttragenden Tieren: Walross, Ziegenbock, Rauhaardackel, ein Appenzeller Barthuhn, ein Bartgeier, eine Inkaseeschwalbe, deren Bart an den von Salvador Dalí erinnert, und ein Kaiserschnurrbart-Tamarin, ein kleiner Affe, dessen weißer Bart dem des letzten deutschen Kaisers ähnelt. Die Bilder sind am Rahmen beschriftet für Kunden, die, genau wie der Hauptkommissar, nur die ersten drei Tiere auf Anhieb erkennen.

Widerstrebend reißt Völxen sich von der Menagerie los und nimmt den Toten in Augenschein. Er liegt inmitten einer Blutlache auf dem Dielenboden, gleich neben der rechten, dem Eingang abgewandten Seite des Empfangstresens. Der Oberkörper ragt quer in den Salon, dort hat sich das meiste Blut ausgebreitet, es reicht fast bis zum Metallfuß des gegenüberliegenden Barbierstuhls, dem zweiten von acht Plätzen, wenn man von der Tür aus zählt. Es ist an manchen Stellen schon angetrocknet.

Der Mann liegt auf der Seite, das Gesicht wird halb bedeckt von dunklen Locken. Er trägt schwarze Hosen aus Leder, das weiße Hemd hat sich teilweise mit Blut vollgesogen. Es spannt sich über den breiten Rücken, die kräftigen Schultern und die trainierten Oberarme. Solche Muskeln bekommt man nicht vom Haareschneiden. Vermutlich ging der Mann regelmäßig zum Krafttraining, was das eng geschnittene Hemd hervorheben sollte. Sein linker Arm ist angewinkelt, der rechte ausgestreckt, die Hand ist blutverschmiert. Auch an seiner schwarzen Lederhose kann man beim genauen Hinsehen angetrocknetes Blut erkennen.

»Was für ein Gemetzel!«

Hauptkommissar Völxen lässt sich selten an einem Tatort zu derlei Worten hinreißen, doch gerade kann er es anders nicht ausdrücken.

Veronika Kristensen beendet ihre Examinierung der Leiche und antwortet: »Gemetzel würde ich nicht sagen, auch wenn es übel aussieht. Das war schnell und effektiv. Wer immer es war, hat keine Sekunde gezögert. Ein präziser Schnitt und ratsch …« Sie illustriert ihre Ausführung mit einer anschaulichen Geste. »Eine durchtrennte Arteria carotis blutet wie verrückt. Daher die Sauerei.«

Wie sie da steht und den Tathergang auf ihre einprägsame Weise interpretiert, erinnert sie Völxen an ihre Mutter Oda Kristensen, seine langjährige Mitarbeiterin, die nun leider mit ihrem chinesischen Wunderheiler nach Frankreich gezogen ist. Veronika gleicht ihrer Mutter sehr. Nicht nur im Aussehen, mit ihren eisblauen Augen und dem blonden Haar, das im Moment von der Schutzhaube des weißen Anzugs verdeckt wird. Auch Gestik und Wortwahl sind ähnlich unverblümt und drastisch wie seinerzeit bei Oda, die die Dinge stets schonungslos beim Namen zu nennen pflegte.

»Was?« Den aufmerksamen Blicken der jungen Rechtsmedizinerin ist sein Lächeln nicht entgangen.

»Nichts.« Ihm ist heiß in seinem Schutzanzug.

»Das war jemand, der mit einem Rasiermesser gut umzugehen wusste.«

»Ein Rasiermesser?«

»Ist noch nicht erwiesen. Aber naheliegend«, findet sie.

Dass ein Rasiermesser ein gefährliches Instrument ist, weiß niemand besser als der Hauptkommissar, der sich bisweilen mit dem ererbten Exemplar seines Großvaters rasiert. Was selten ohne Blutvergießen endet.

Ein paar von diesen Messern liegen aufgereiht in einer Vitrine. In der Nähe der Leiche befand sich keines, auch nicht unter dem Körper, das haben die Spurensicherer und Veronika Kristensen bestätigt.

»Abwehrverletzungen?«

»Keine. Was bemerkenswert ist«, meint Veronika.

»Wieso?«

»Ein Rasiermesser verlangt nach Nähe. Außerdem muss die Klinge zuerst ausgeklappt werden, und man kann damit nicht zustechen, nur schlitzen. Der Angreifer hat sich entsprechend vorbereitet, ohne dass sein Opfer es bemerkte, und hat dann entschlossen und ohne Zögern gehandelt.«

»Sehr anschaulich, wie Sie das beschreiben.«

»Ich gebe mir die allergrößte Mühe.«

»Schließen Sie ein gewöhnliches Messer komplett aus?«

»Nicht, wenn es eine sehr scharfe Klinge hat. Ein Skalpell käme eventuell auch infrage. Dr. Bächle wird sich den Schnitt im Institut sicher noch genauer betrachten und kann Ihnen dann mehr dazu sagen.«

»Wie lange ist es her?«

»Der Todeszeitpunkt war um 23:56 Uhr.«

»Ach.«

Veronika schenkt ihm ein breites Lächeln. »Das sagt seine Smartwatch, und es deckt sich mit meinen bescheidenen Erkenntnissen.«

So eine hat Sabine ihm vor Jahren, als die Dinger in Mode kamen, auch einmal verpasst. Völxen fühlte sich damit ungebührlich kontrolliert und hat den Fitnesstracker Oscar umgehängt, da der Hund sich im Allgemeinen deutlich mehr bewegt als er. Natürlich flog der Schwindel auf. Seither liegt das Gerät in irgendeiner Schublade.

»Was machte er bloß um Mitternacht noch hier drin?«

Veronikas Frage holt den kurz abwesenden Völxen wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

»Das wird nur eine der Fragen sein, die wir klären müssen«, antwortet er. »Gibt es sonst etwas Interessantes?«

»Seine Sneaker.«

Völxen betrachtet sie etwas genauer. »Stimmt. Die sind ausgesprochen hässlich.« Mit ihrer dicken Sohle sehen sie aus, als hätte sie ihm ein Orthopäde verschrieben.

»Die kosten vierstellig.«

»Was Sie nicht sagen.« Nicht seine Welt. Mit den Statussymbolen der heutigen jungen Männer kann er wenig anfangen. Aber da der Tote sowohl seine teuren Kloben als auch seine Smartwatch noch trägt, wurde er zumindest nicht deswegen ermordet.

Er versucht, den Leichnam und das Blut, so gut es geht, zu ignorieren und sich auf die Details zu konzentrieren. Auf dem Empfangstresen liegt ein Schlüsselbund neben der Kasse. Hat das Opfer seinen Mörder damit selbst hereingelassen?

Hinter dem Tresen, gleich neben dem Clooney-Bild, steht ein mannshohes Regal mit Pflegeprodukten, die man an die Kunden verkauft. Im obersten Fach reihen sich einige Pokale und kleine Figuren aneinander. Es sind Trophäen von Wettbewerben, die Schildchen am Sockel tragen Moussa Abous Namen. An der Wand links daneben hängen vier schlicht gerahmte Porträtfotografien der Beschäftigten, versehen mit Namen und ihrer Funktion im Barbershop. Oben hängt Moussa, der Chief Barber. In der zweiten Reihe hängen Vittorio, Second Barber und Stylist, daneben Nicole, Stylist, und Said, Junior Barber. Darunter gibt es eine Hakenleiste, die Platz bietet für vier Ledergürtel mit Taschen und Halterungen, in denen Scheren, Kämme, Pinsel und Rasiermesser stecken. Völxen sieht sich die Gürtel genauer an. In jeden wurde auf die Innenseite ein Name mit schwarzem Filzstift geschrieben: Nicole, Vittorio, Said, Moussa. Im Gürtel von Vittorio steckt ein Rasiermesser. Vielleicht, überlegt der Hauptkommissar, lässt man einen Junior Barber nicht mit einem so gefährlichen Instrument wie einem Rasiermesser auf die Kundschaft los, und eine Friseurin braucht wahrscheinlich auch keines. Aber müsste nicht in der Schürze des Chief Barber ein Rasiermesser stecken? Erwin Raukel hat Völxen doch schon einige Male vorgeschwärmt, wie kunstvoll der Chef dieses Ladens mit dem Messer umzugehen weiß.

Ob der Tote auch wirklich der Chef des Barbershops sei, hat Völxen sich kurz nach seiner Ankunft bei Erwin Raukel vergewissert.

»Wie sollte ich ihn, bitte schön, nicht erkennen?«, erwiderte dieser entrüstet. »Der Mann ist mir jede Woche ziemlich nah auf den Pelz gerückt. So jemanden erkennt man im Schlaf!«

5

»Warum stehen wir hier nur blöd herum?«, fragt Tadden.

»Glaub mir: Da drin willst du nicht wirklich sein, da sieht es aus wie in einem Schlachthaus.« Erwin Raukel schüttelt sich, um seine Schilderung zu untermalen. Er sieht noch immer mitgenommen aus. Kein Wunder. So einen Anblick braucht wirklich niemand, schon gar nicht auf nüchternen Magen, und erst recht nicht, wenn man den Ermordeten auch noch kennt.

Nach seinem Eintreffen und einem kurzen Blick auf den Toten in der Blutlache hat er beschlossen, lieber draußen an der frischen Luft auf Völxen zu warten. Nicht etwa, weil er sich vor seinen Pflichten drücken wollte! Nein, es geschah einzig und allein aus Rücksicht auf die Spurensicherung, deren Mitarbeiter es gar nicht schätzen, wenn zu viele Ermittler über den Tatort trampeln. Was ihm bei Frau Wetter, der leitenden Kriminaltechnikerin, auch prompt einen Pluspunkt eintrug, bei seinem Vorgesetzten allerdings ein Stirnrunzeln hervorrief.

Tadden fühlt sich unwohl. Er ist nicht hier, um nur dazustehen und darauf zu warten, dass Völxen wiederkommt. Er hat das Gefühl, dass die uniformierten Beamten der drei Streifenwagen, die vor Ort sind, ähnlich denken.

Die Kollegen haben die schmale Straße in beiden Richtungen abgesperrt. Nun sind sie damit beschäftigt, Neugierige abzuwehren und Passanten zu bitten, einen Umweg zu nehmen.

»Wir könnten doch schon mal die Nachbarn befragen«, schlägt Tadden vor.

»Es wäre besser, wenn wir dafür den ungefähren Todeszeitpunkt kennen würden«, antwortet Raukel.

»Auch wieder wahr.«

»Zügle deinen Tatendrang, junger Freund, und genieße den Frühlingsmorgen in Hannovers pittoresker Altstadt – oder dem, was noch davon übrig ist.«

»Das ist nicht viel.« Taddens Heimatstadt Leer hat in dieser Hinsicht deutlich mehr zu bieten, obwohl sie viel kleiner ist.

»Wohl wahr«, muss Raukel zugeben und erteilt dem Ostfriesen eine kleine Lektion in Stadtgeschichte. »Zu Kriegszeiten hoffte man, die Engländer würden die Stadt nicht bombardieren, weil unser hiesiges Adelsgeschlecht, die Welfen, mit dem englischen Königshaus verwandtschaftlich eng verbandelt sind.«

»Offensichtlich vergebens.«

»Was seinerzeit den Bomben entgangen ist, haben die Architekten der Nachkriegszeit plattgemacht. Ein Frevel, der an manchen Stellen nur noch getoppt wurde durch das, was sie anschließend draufgebaut haben. Vom historischen Kern – wobei da auch nicht jedes Haus aus dem Mittelalter stammt – sind deshalb nur wenige Straßenzüge übrig geblieben, hübsch eingebettet zwischen Klerus, Fluss und Sündenpfuhl.«

Er hat recht. Geht man nur ein paar Schritte weiter, landet man im Rotlichtviertel der Stadt. Folgt man der Straße in östlicher Richtung, kommt man direkt zur Marktkirche, einem Schmuckstück der Backsteingotik. Noch näher an ihrem Tatort liegt die etwas kleinere Kreuzkirche. Nach Süden hin wird die Altstadt von der Leine begrenzt, wobei die meisten Bauten am Flussufer erst in den letzten Jahren entstanden sind.

Tadden interessiert sich im Augenblick jedoch mehr für die anwesenden Personen respektive eine ganz bestimmte.

»Was ist mit ihr?« Er deutet mit einer unauffälligen Kopfbewegung auf die dunkelhäutige Frau, die mit stoischem Gesichtsausdruck an einem der Streifenwagen lehnt. Ihr Haar türmt sich, verflochten mit einem farbenfrohen Tuch und echten oder falschen Zöpfen, zu einem imposanten Gebilde auf ihrem Kopf. Schmuck baumelt an Hals und Ohren, breite Ringe zieren ihre Finger, ein blaugrün changierendes langes Gewand umhüllt den fülligen Körper. Über ihren Schultern hängt ein Umhang aus dunkelgrünem Seidensamt mit einem breiten Fellkragen in Leopardenmuster. Tadden wäre nicht verwundert, sollte es sich um echtes Leopardenfell handeln. Ihre bloßen Füße stecken, der Jahreszeit nicht unbedingt angemessen, in goldfarbenen, hinten offenen Sandaletten.

»Sie hat die Leiche gefunden«, antwortet Raukel.

»Hast du sie schon befragt?«

»Nicht wirklich«, antwortete Raukel. »Sie ist mir unheimlich.«

»Echt jetzt?« Tadden glaubt, sich verhört zu haben.

»Ich kenne sie. Man nennt sie die Madame. Sie huscht öfter mal durch den Salon und verschwindet im Hinterzimmer. Und was sie dort treibt …« Raukel hebt vielsagend die Hände.

»Was wollte sie wohl so früh in dem Laden?«

»Angeblich putzen. Aber frag sie ruhig selbst«, rät ihm Raukel.

»Mir ist sie auch unheimlich«, gesteht Tadden.

»Moin zusammen!«

Elena Rifkin hat ihr Rennrad an einen Laternenpfahl gekettet und schlüpft unter dem Flatterband durch, nachdem sie sich bei einer Beamtin in Uniform ausgewiesen hat. Sie erhascht einen Blick durch die Eingangstür des Barbershops, die gerade von einem der Spurensicherer geöffnet wird. Ein Mann liegt in einer Blutlache, halb verdeckt von einem Tresen. Die Tür schließt sich wieder. Sie besteht aus einem schwarzen Metallrahmen mit einer Milchglasscheibe. Was wenig Sinn ergibt, denn die zwei großen Scheiben zur Straße hin sind klar und gewähren jedem Passanten Einsicht, wenn nicht gerade wie jetzt die Straße abgesperrt ist.

»Was ist denn los?«, will Rifkin von ihren Kollegen wissen.

»Der Tote ist Moussa Abou, der beste Barbier der Stadt«, jammert Raukel. »Mein Barbier! Warum muss ausgerechnet ihm so etwas passieren?«

»Wo ist Völxen?«

»Da drin«, antwortet Tadden.

»Und warum steht ihr zwei nur herum?«

»Jetzt fängt die auch noch an!«, beschwert sich Raukel. »Wir warten hier, wie befohlen, bis unser allseits geschätzter Vorgesetzter wieder rauskommt. Findet euch damit ab.«

Normalerweise ist Elena Rifkin die Letzte, die sich von Raukel etwas befehlen lässt, aber nun steht sie, genau wie ihre beiden Kollegen, schweigend und in Gedanken versunken da. Doch je länger es dauert, desto mehr verspürt Rifkin eine aufkommende Gereiztheit. Sie hätte frühstücken sollen, ehe sie losfuhr. Aber seit einigen Tagen hat es ihr den Appetit verschlagen. Genauer gesagt seit Sonntag. Seit Tadden ihr beim gemeinsamen Joggen durch die Eilenriede gesagt hat, dass Katrin wieder da ist. Seine Katrin. Oder auch nicht seine, das scheint noch nicht ganz klar zu sein. Katrin mit dem Germanistikstudium, zuletzt Praktikantin des Goethe-Instituts in Singapur. Es spricht für sich, dass es Tadden offenbar danach drängte, ihr von Katrins Rückkehr zu berichten. Das, und dass er sich nach dem Joggen gleich auf sein Rad geschwungen hat. Ohne bei ihr zu duschen und ohne dass sie im Schlafzimmer gelandet sind.

6

Völxen atmet schwer. Der Anzug verursacht einen Hitzestau, und der Blutgeruch macht ihm zu schaffen.

In seinen Überziehern umrundet er vorsichtig die Lache, geht vorbei an den Barbierstühlen und den Spiegeln und betritt ein kleines Büro, das gleichzeitig als Lagerraum für Shampoos, Haarfärbemittel und diverse Mittel zur Bartpflege dient. Eine flache Deckenleuchte verströmt ein kühles LED-Licht, zusätzlich brennt die Schreibtischlampe.

»War das Licht hier an?«, fragt Völxen einen der Spurensicherer.

Der Mann nickt. »Decken- und Tischlampe. Und zwar nur hier, nicht vorn im Salon. Wir haben alles so gelassen.«

Völxens Blick streift die Regale. Was es nicht alles an Bartpflegeprodukten gibt! Wie viel Geld er gespart hat, indem er bisher bartlos durchs Leben ging. Über einer Tür, deren obere Hälfte aus dickem, geriffeltem Glas besteht, ist ein Schild mit der Aufschrift Notausgang angebracht. Völxen drückt auf die Klinke. Abgeschlossen. Der Schlüssel steckt von innen. Er dreht ihn um und öffnet die Tür, die dabei einen knarzenden Laut von sich gibt. Sehr oft scheint sie nicht benutzt zu werden – den Spinnweben nach zu urteilen. Sie führt hinaus auf einen asphaltierten Hof mit Mülltonnen und einem rostigen Fahrradständer. Darin steht ein Damenrad, das einen Platten hat und aussieht, als wäre es schon lange nicht mehr benutzt worden. In einem Blumentopf kümmert eine Pflanze vor sich hin, in der Erde des Topfs stecken Zigarettenkippen, einige liegen auch auf dem Boden. Sie sind stark ausgebleicht und verwittert. Hier wurde schon lange nicht mehr gefegt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs blickt man auf eine Mauer. Rechts geht es zu einem überwölbten Durchlass zur Straße. Mülltonnen stehen an der Wand. Völxen nimmt noch einen Atemzug frische Luft, dann wendet er sich wieder um und geht zurück an seinen Tatort.

Wenn nur im Büro Licht brannte, dann hat Moussa Abou sich wahrscheinlich dort aufgehalten, ehe sein Mörder vorbeikam. Auf dem Schreibtisch liegen ein aufgeschlagener Ordner mit Rechnungen, ein Smartphone, ein Kalender mit Kundenterminen. Manche Menschen sind ja eher nachtaktiv. Ein Kristallglas mit einem kleinen Rest darin steht neben der Tischlampe. Völxen schnuppert. Whisky eindeutig. Raukel könnte wahrscheinlich die Marke bestimmen.

Er studiert die Doppelseite des gestrigen Tages mit den Kundenterminen. Keine bekannten Namen. Den Kalender wird er zur Dienststelle bringen lassen, die Kundenkartei ebenfalls. Das Handy geht an die Kriminaltechnik.

Er verlässt das Büro und begibt sich in den hinteren Teil des Salons, dorthin, wo das Klavier steht. Eine weiß gewandete Gestalt kniet mit einem Fotoapparat vor dem Gesicht auf dem Boden. Was es zu fotografieren gibt, ist dem Hauptkommissar ein Rätsel, aber er ist ja auch kein Kriminaltechniker. Allerdings erkennt er an ihrem runden, drallen Gesäß eindeutig Frieda Wetter, die Leiterin der sechsköpfigen Truppe der Spurensicherung. Er räuspert sich.

Sie lässt die Kamera sinken, wendet sich mit erstaunlicher Gelenkigkeit um und mustert ihn von unten herauf streng durch ihr schwarzes Brillengestell.

»Starren Sie mir etwa auf den Hintern?«

»Frau Wetter! Das würde ich niemals wagen.«

Sie richtet sich auf, wobei Völxen ihr galant behilflich ist.

»Ehe ich es vergesse«, beginnt er, »wären Sie so nett, sämtliche Rasiermesser einzusammeln, fürs Labor? Sowohl die in der Vitrine als auch das in dem Gürtel von Vittorio und wo immer Sie sonst noch welche finden.«

»Aber sicher doch.« Ihre Stimme verrät die starke Raucherin.

»Können Sie mir schon etwas sagen?«, erkundigt sich der Hauptkommissar vorsichtig.

»Ich kann Ihnen zumindest sagen, was wir nicht gefunden haben: blutige Fußspuren. Demnach ist der Täter sofort nach der Tat geflohen. Ein Einbruch war es nicht. Die Tür ist intakt, sowohl die Vordertür als auch die vom Hinterhof zum Büro und die Fenster auch. In der Kasse sind etwa vierhundert Euro Wechselgeld, und der Whisky in dem Schränkchen hinter dem Klavier ist auch noch da. Da sind ein paar richtig teure Flaschen dabei.«

Man sollte den Kollegen Raukel vorsichtshalber filzen.

»Der Schrank ist verschlossen«, fügt sie hinzu, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Aber kommen Sie, ich zeige Ihnen was.«

Mit einem koketten Hüftschwung schlängelt sich die Kriminaltechnikerin an diversen Schildchen vorbei und bleibt vor dem Klavier stehen. Die Wand, vor der das Instrument steht, ziert eine schwarze Tapete mit einem ornamentalen Muster in Violett- und Brauntönen, die in Kombination mit dem schwarz glänzenden Klavier sehr edel wirkt.

»Sehen Sie es?« Frieda Wetter blickt ihn erwartungsvoll an.

»Es ist ja wohl nicht zu übersehen. Nur frage ich mich, was ein Klavier in einem Barbershop verloren hat.«

»Doch nicht das!« Ihr Kichern klingt wie Kettenrasseln. »Da ist eine Tapetentür.« Frau Wetter rüttelt an einem bronzefarbenen Knauf mit einem eingelassenen Schlüsselloch, der sich tatsächlich sehr unauffällig ins Tapetenmuster einfügt. Auch die Fugen zwischen Tür und Wand sind so schmal, dass sie kaum auffallen.

»Heiliger Strohsack! Die sieht man ja wirklich so gut wie gar nicht.«

»Was der Sinn einer Tapetentür ist«, antwortet sein Gegenüber. »Den Schlüssel dazu konnten wir noch nicht finden. Sollen wir sie aufbrechen?«

»Sachte, sachte, Frau Wetter. Wahrscheinlich verbirgt sich dahinter eine schnöde Putzkammer. Vielleicht hat die Putzfrau, die die Leiche fand, den Schlüssel. Aber danke, dass Sie mich auf die Tür hingewiesen haben. Ich hätte sie glatt übersehen.« Völxen merkt selbst, dass er ein bisschen schleimig klingt, aber andererseits ist es immer von Vorteil, sich mit der Kriminaltechnik gutzustellen.

»Dafür sind wir ja da.« Die Umgarnte lächelt zufrieden, während sie eine ihrer knallroten Haarsträhnen wieder unter die Kapuze schiebt. Ihr Alter lässt sich nur schwer schätzen, aber eine undichte Stelle in ihrer Abteilung hat Völxen verraten, dass sie sechsundvierzig ist.

»Kann die Leiche weggebracht werden?«, ruft von vorne Veronika Kristensen. Mit ihrem Alukoffer in der Hand steht sie abwartend da.

»Einen Moment noch.« Völxen holt das Handy des Toten. »Vielleicht lässt es sich per Fingerabdruck entsperren?«

»Und das soll ich jetzt versuchen«, schlussfolgert Veronika mit einem schalkhaften Lächeln. Sie weiß, dass Völxen es nicht so mit Leichen hat. Es reicht ihm, wenn er sie ansehen muss. Angefasst hat er seit Jahrzehnten keine mehr, und wenn es nach ihm geht, kann das auch gerne so bleiben.

»Sie sind zu gütig.« Er streckt ihr das Telefon entgegen.

Sie wischt über den Bildschirm und stellt fest: »Das arbeitet mit Gesichtserkennung.« Ehe Völxen intervenieren kann, hat sie den Toten umgedreht. Seine Augen sind halb geschlossen, und eine Wange ist bläulich angelaufen. Die typischen Totenflecken. »Tja, mal schauen, ob der Algorithmus die Livores wegrechnet.«

Der Hauptkommissar stöhnt gequält auf.

Veronika hält das Handy vor das entstellte Gesicht. »Klappt nicht. Die Augen … Ich versuche mal … « Sie macht sich an den Lidern zu schaffen.

Völxen wendet sich ab. Er verspürt einen Anflug von Übelkeit, was bestimmt daher rührt, dass man ihn an einem vernünftigen Frühstück gehindert hat. »Lassen Sie es sein!«, fleht er. »Wir schaffen es auch so.«

»Funktioniert auch nicht.« Veronika gibt ihm mit einem bedauernden Achselzucken das Handy zurück. Er reicht es Frau Wetter, die es eintütet.

»Jetzt gehört er ganz euch«, sagt Völxen zu Veronika.

»Wir haben uns ebenfalls sattgesehen«, bestätigt Frau Wetter.

Nichts wie raus hier! Vorsichtig, um die Spurensicherer nicht noch auf den letzten Metern unnötig zu erzürnen, umrundet er die zahlreichen Schilder mit den Nummern und strebt der Tür entgegen.

7

Kaum ist Völxen wieder im Freien, schält er sich, so schnell er kann, aus dem Schutzanzug und streift die Plastiküberzieher von seinen Schuhen. Obwohl ihm warm geworden ist, lässt er sich von Tadden seine Jacke reichen, denn es ist nach wie vor recht frisch. Die Morgensonne hat im März noch wenig Kraft.

Rifkin ist inzwischen eingetroffen, er begrüßt sie.

»Konntest du da drin irgendwelche bahnbrechenden Erkenntnisse gewinnen?«, erkundigt sich Raukel.

Völxen meint einen gewissen, für Raukel typischen spöttischen Unterton herauszuhören. Manchmal hat Völxen einfach keinen Nerv für Raukels unterschwellige Aufsässigkeit und schon gar nicht am Morgen und nach einem lausigen Frühstück. Darum stellt er die Gegenfrage: »Kennst du die Tapetentür hinter dem Klavier?«

»Ja. Raffiniert, was? Wenn man’s nicht weiß, sieht man sie kaum. Was ja auch der Sinn einer Tapetentür ist«, setzt Raukel hinzu, der seinen Schock offenbar überwunden hat und allmählich zu seiner üblichen Geschwätzigkeit zurückfindet. »Keine Ahnung, was die Madame dahinter treibt.«

»Welche Madame? Wovon redest du?«, geht Völxen dazwischen.

»Na, von ihr!« Raukel schielt verstohlen hinüber zu dem Streifenwagen, neben dem nach wie vor die Finderin des Leichnams starr und wie angewachsen steht.

»Sie hat die Leiche gefunden, als sie zum Putzen kam«, erinnert Tadden seinen Vorgesetzten.

»Die Tür benutzt immer nur sie«, weiß Raukel zu berichten. »Keine Ahnung, was sich dahinter verbirgt. Manchmal kommt sie mit einem Espresso oder einem Tee heraus. Ab und zu verschwinden Leute mit ihr dahinter und kommen eine Ewigkeit nicht mehr zum Vorschein. Vielleicht auch nie mehr«, fügt er düster hinzu.

»Leute? Was für Leute?« Völxens Geduldsfaden wird heute wieder arg strapaziert.

»Kunden vom Barbershop. Es wird gemunkelt, dass man sich von ihr die Karten legen lassen kann. Ist ja nicht mein Ding, dieser Hokuspokus. Ich bin ein Mann des Geistes und der Wissenschaft. Aber wer an so etwas glauben will …«

»Ist sie nun die Putzfrau oder die Hexe vom Dienst?«, fragt Rifkin.

»Ich habe sie noch nie mit einem Feudel gesehen«, antwortet Raukel, muss aber einräumen, dass er auch noch nie so früh hier war. »Wieso, was ist denn hinter der Tapetentür?«

»Sie ist abgeschlossen«, erklärt Völxen. »Jemand sollte die Dame um den Schlüssel bitten.«

»Ich mach das«, sagt Tadden und setzt sich in Bewegung.

Völxen schaut auf die Uhr. Der Barbershop öffnet um neun, jetzt ist es zehn vor neun. Bald müssten die drei Angestellten ihren Dienst antreten: Vittorio, Nicole und Said.

Außerdem erwartet Völxen noch jemanden: die Vertretung für Fernando Rodriguez. Sie wurde bereits per SMS informiert, dass sie sich den Weg zur Dienststelle sparen und gleich hier erscheinen soll. Sie müsste jeden Moment auftauchen. Völxen ist ein wenig nervös. Es gab wegen dieser Personalie im Vorfeld einigen Hickhack, und erst gestern Nachmittag kam auf den letzten Drücker das endgültige Okay des Vizepräsidenten. Darum weiß bisher nur er, Völxen, der Dienststellenleiter des Kommissariats für Todesdelikte, davon. Der Rest seiner Truppe ist noch ahnungslos. Wie werden sie reagieren? Bestimmt werden sie ihm Geheimniskrämerei vorwerfen, vielleicht nicht direkt, aber hinter seinem Rücken.

Völxen wendet sich erneut an Raukel. »Erzähl uns doch ein bisschen etwas über Moussa Abou.«

Da Raukel sich gerne reden hört, kommt er dieser Bitte bereitwillig nach. »Moussa war ein sehr guter Barbier und obendrein der kleine Sonnenkönig im Viertel. Er war witzig und charmant. Die Seele des Ladens. Alle mochten ihn.«

»Mindestens eine Person ja wohl nicht«, meint Rifkin trocken.

»Familie?«, fragt Völxen.