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Der Inhalt: Dominik Irtenkauf: Editorial NOVAstorys Lisa Jenny Krieg: Stoff der Erinnerung Norbert Stöbe: Im Vault Nicole Hobusch: Iva Ulf Fildebrandt: Die Tür in den Sommer Horst-Dieter Radke: Engelsrache V. A. Kramer: Population: One Janika Rehak: Iggy B. Wellington J. A. Hagen: Angriff auf Grünland Frank Lauenroth: Kadaver Carsten Schmitt: Das Lethe-Quantum Moritz Boltz: Die Vermessung des Raums Rajiv Moté: Die Luft fängt uns auf NOVAsekundär Christian J. Meier: Tanz mit dem Oktopus im Reich der Intelligenz Sarah Lutter: Im Interview mit Thorsten Küper Dominik Irtenkauf: Schrott – Motiv und Motivation in der SF-Literatur Dominik Irtenkauf: Hans Frey (1949–2024). Ein Nachruf Michael K. Iwoleit: Christopher Priest (1943–2024). Ein Nachruf Die Autoren | Die Grafiker Das Titelbild stammt von Victoria Sack. Weitere Illustrationen von Detlef Klewer, Michael Wittmann, Frank G. Gerigk, Mario Franke, Ralf Schoofs, Uli Bendick, Gerd Frey und Chris Schlicht.
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2024
NOVA 34
Magazin für spekulative Literatur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juni 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Victoria Sack, »The Last Unicorn«
Illustrationen (nur in der Printausgabe): Detlef Klewer, Michael Wittmann, Frank G. Gerigk, Mario Franke, Ralf Schoofs, Uli Bendick, Gerd Frey, Chris Schlicht
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Redaktion NOVAstorys: Marianne Labisch
Redaktion NOVAsekundär: Dominik Irtenkauf
Redaktion Grafik: Christian Steinbacher
Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
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ISSN: 1864 2829
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 396 3
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 723 7
Liebe Leser und Leserinnen,
ich freue mich, dass ich als NOVAsekundär-Redakteur bei Nova einsteigen kann. Um meine Arbeit etwas verständlicher zu machen, hole ich etwas zu meiner Biografie in der fantastischen Literatur aus:
Als Jugendlicher habe ich vorwiegend Fantasy (Wolfgang Hohlbein, J. R. R. Tolkien) gelesen, war aber meist mit einem Fanzine im Musikjournalismus unterwegs. 1995 brachte ich mit einem sehr guten Freund die Debütnummer heraus und 2000 stieg ich aus, da der Ernst des Studierens begann. Mit dem Studium habe ich wieder mehr Lust zu lesen gefunden, dann auch viel Horror, da mich vor allem die Atmosphäre in diesen Geschichten fasziniert. Ich habe eine große Vorliebe für Spukgeschichten und Haunted-House-Storys. Beim Horror fasziniert mich, wie Atmosphäre mit Schrecken zusammen etwas Archaisches abbilden kann. Der Schwerpunkt verlagerte sich über die Jahre auf die Science-Fiction. SF eröffnet für mich einen großen Raum, und ich meine damit nicht (nur) das Weltall. Was in der Science-Fiction-Literatur an Spekulation möglich ist, die nie ganz freischwebend, sondern stets in einem Möglichkeitsraum verortet ist, begeistert mich immer wieder aufs Neue für diese Art von Literatur. Ich sehe gerade auch, wie sie sich von einem Genre zu einem Wahrnehmungsmodus weiterentwickelt. Was heißt das? Natürlich nicht, dass alle Texte auf einmal in Nova passen könnten, aber die Themen, die in der Science-Fiction auftauchen, sind heutzutage oft Meldungen im Tagesjournalismus. Stichwort: künstliche Intelligenz. Wer erinnert sich noch daran, wie Ende der Fünfzigerjahre US-Schriftsteller begannen, Roboter mit eigenem Bewusstsein in ihre Storys zu integrieren? Stilprägend war Isaac Asimov mit seinen berühmten Robotgesetzen. Tausendfach beschworen, millionenfach zitiert. Im deutschsprachigen Raum beschäftigte sich auch Herbert W. Franke früh schon mit den Chancen und Risiken von Computertechnologie und maschinellem Bewusstsein. Wie gesagt: Heute ist das Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen und die digitalen Jugendkulturen setzen möglicherweise Szenarien um, die Neal Stephenson in seinen Romanen in den Neunzigern entworfen hat. Es geht mir bei der Science-Fiction aber nicht einfach um Prognostik. Das ist ein häufiges Missverständnis in den Medien, fast so schlimm, wie einen Bindestrich zwischen die zwei Attribute der Science-Fiction zu setzen. Vielleicht spricht sich da ein unbewusstes Verlangen danach aus, die Wissenschaften und Fiktion zu vereinen? Literatur, die sich mit Wissen und Informationen auseinandersetzt, dabei unterhaltsam erzählen möchte, ist besonders geeignet, Veränderungen des menschlichen Individuums und des sozialen Miteinanders – auch in Zukunft – zu beobachten, aufzuschreiben und zu entwerfen. Diese sensorischen und wissenschaftlichen Beobachtungen spielen sich in aktuellen Texten ab. Es bildet sich etwas ab, was aber noch nicht recht definiert werden kann, weil es eben fließend und lebendig ist.
Keine Angst – ich schreibe hier keinen Essay! Aber gerade in dieser freien Form liegt für die Science-Fiction noch viel Potenzial, weil ein Essay literarischen und sachlichen Stil perfekt miteinander verweben kann. Neue Bewegungen unter dem Radar der Science-Fiction, wie etwa die philosophische Strömung des speculative realism aus dem angloamerikanischen Raum, speisen zahlreiche neue Werke und wir bemerken eine Verschiebung der realistischen Parameter – gerade auch durch die technologischen Fortschritte und eine Zerfaserung der gesellschaftlichen Realitäten ergeben sich für die Science-Fiction nicht nur als Kunst und Literatur neue Aufgaben, auch als Philosophie und Wirklichkeitszugriff steht die SF vor Herausforderungen.
Für NOVAsekundär möchte ich die intelligenten Bewegungsformen der Science-Fiction-Literatur in überzeugenden Texten präsentieren. Zusammen mit spannenden und herausfordernden Autorinnen. Dabei bin ich offen für viele Ansätze – wichtig ist nur eine kohärente Argumentation oder aber eine innere Logik bei künstlerischen Sachtexten, auch als Essays bekannt. Viele Wege führen bekanntlich zum Ziel. Und schöne Sprache begeistert mich immer wieder! Eine besondere Herausforderung sehe ich für mich, das bestehende Nova-Niveau nicht nur zu halten, sondern gemeinsam im Team noch weiterzuentwickeln.
Für Science-Fiction-Literatur sind es beste Zeiten, weil sich ihr Selbstverständnis wandelt und ihre häufig selbst gewählte Isolation im Austausch für einen größeren gesellschaftlichen Kontext zumindest überdacht wird. Die Motivik orientiert sich einerseits an der langen Tradition, andererseits erweitert sie sich stetig. Ich bin dankbar, dass ich mich in einer solch bewegenden Zeit dem Nova-Team anschließen kann.
Per aspera ad astra.
Dominik Irtenkauf
Mai 2024
Die Post-Doomsday-Thematik – Erzählungen über den Rückfall der menschlichen Zivilisation auf eine archaische Kulturstufe nach einem verheerenden Krieg oder einer Naturkatastrophe – reicht bis in die Frühzeit der Science-Fiction-Genres zurück. Schon Mary Shelley (1797–1851), die man aufgrund ihres Romans Frankenstein; or, The Modern Prometheus (1818) mit einiger Berechtigung als die eigentliche Begründerin des Genres betrachten kann, schrieb mit The Last Man (1826) einen Roman über eine Beulenpest-Epidemie, die im späten 21sten Jahrhundert die ganze Welt heimsucht. Monumente der SF-Literatur wie Earth Abides (1949) von George R. Stewart oder A Canticle for Leibowitz (1959) von Walter M. Miller jr. (wie andere Klassiker von der heutigen Lesergeneration betrüblich wenig beachtet) schildern das menschliche Überleben nach einer Apokalypse und den mehr oder minder erfolgreichen Wiederaufbau der Zivilisation. In ihrer ersten Geschichte in Nova findet Lisa Jenny Krieg eine eigene Variante der Thematik, indem sie ein durchaus konventionelles Post-Doomsday-Szenario in Richtung eines Magischen Realismus erweitert: Die Heldin der Story ist zunächst eine »Finderin«, die nach einem verheerenden Industrieunfall nach verwertbaren Metallteilen im Schutt sucht. Durch den Fund einer funktionstüchtigen Nähmaschine wird ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Aus einem anfangs ziellosen Herumexperimentieren erwächst ihr, auf eine für sie selbst unerklärliche Weise, die Gabe, den Erinnerungen ihrer Mitmenschen Gestalt zu geben. Doch was dabei zum Vorschein kommt, rührt nicht selten an schmerzhafte Traumata.
Der heiße Wind fegt mir durch die Haare, wirbelt Staub auf, und ich ziehe mir den Schal vors Gesicht. Mein Rechen und der Metalldetektor sind mir fest auf den Rücken geschnallt. Meine Route beginnt hier und führt mich bis unten ins Tal. Ich halte einen Moment inne und schaue auf den Berg gegenüber. Die schwarze Ruine des Trell-Entwicklungszentrums sticht heraus aus dem Grau und Braun der verbrannten Landschaft, in der nur mehr Steppengräser wachsen. Ich versuche, einen tiefen Atemzug zu nehmen, aber der Staub brennt mir in den Lungen. Ich beginne zu husten und erröte vor Scham. Hoffentlich hat niemand diesen törichten Versuch gesehen, Luft und Aussicht zu genießen.
Ob ich mich wohl einmal in die Fabrik stehlen sollte, überlege ich. Nachts. Was man da alles finden könnte! Der Metalldetektor wäre überflüssig. Mit bloßen Händen könnte ich dort arbeiten. Einfach einpacken. Metall über Metall, kostbare Legierungen aller Art. Schrauben! Bestimmt gibt es dort Schrauben.
Ich wische mir gedankenverloren den Staub aus dem Gesicht, binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und schließe trotz der Hitze den Reißverschluss meiner von Staub und Wind hart gewordenen Lederjacke. Ich habe Übung darin, die Löcher zu ignorieren.
Die Ruinen sind immer noch tabu für Finder. Das soll mal jemand verstehen. Man hat dort tatsächlich Wachen aufgestellt. Die ehemaligen Angestellten haben immer noch eine Gewerkschaft. Auf was hoffen sie nur? Dass die Geschäftsleitung von den Polen zurückkommt, wo sie Raumschiffe bauen? Die machen sich doch was vor. Aber vielleicht machen wir uns ja alle etwas vor.
Ich seufze und öffne vorsichtig die Gurte. Nehme den Rechen heraus und binde mir den Metalldetektor ums Handgelenk. Ich konzentriere meinen Blick auf den Boden, kneife meine Augen zusammen, um den Fokus zu halten, und beginne zu rechen. Langsam, aber mit sicheren, stetigen Bewegungen. Schritt, rechen, anheben.
Mein Körpergefühl weitet sich aus. Die Zinken des Rechens sind meine Fingerspitzen. Sie geben mir Auskunft über die Beschaffenheit des Bodens. Asche, Erde, Staub, Wurzeln, Steine, jedes Geräusch, jede Reibung, jeder Widerstand. Meine geschärften Instinkte kennen den Boden, sehen den Boden, wissen, was sie suchen. Nichts entgeht mir. Gestern habe ich einen Teelöffel und einen Metallknopf gefunden. Am Tag davor drei verbogene Aluminiumteile, Herkunft unklar, sowie eine alte Getränkedose.
Wie die anderen geguckt haben.
Dass ich eine gute Finderin bin, würde in ganz Grünach niemand bestreiten. Ich halte inne und denke noch einmal an die Blicke von Rafik und Trix. Den Neid in ihren Augen, als ich meine Ausbeute in die Hütte der Konstrukteursgilde zu Sabin gebracht habe. Ich wische mir den Staub aus den Augen, aber er klebt überall, auf jeder Oberfläche und in jeder Ritze.
Der Staub. Daran erkennt man alle Finder. Ich habe meine eigene Methode, wie ich den Staub von meinem Körper und meinen Kleidern wasche, aber sie ist zeitaufwendig und umfasst mehrere Zyklen von Einweichen und Trocknenlassen mit dem optimalen Verhältnis von Waschsteinen und Seife.
Nach den Feuern der 2020er-Jahre, nach fünf Sommern voller Flammen und Rauch, ist von unserem schönen Heckenland nur noch Staub übrig. Hecken gibt es keine mehr, knorrige grüne Bäume auch nicht. Keine Wiesen, keine Bäche. Dreißig Jahre sind seitdem vergangen – eine Ewigkeit, wenn man mich fragt. Die Steinhaufen sind noch übrig. Und Asche, Geröll und Ruinen. Staub und Steppengras. Willkommen im Heckenland!
Schritt, rechen, anheben. Ich höre auf zu denken, atme langsam und ruhig durch meinen Schal, werde eins mit der Erde und dem Rechen. Schritt, rechen, anheben. Rafik und Trix verblassen, die Erinnerungen verblassen. Es gibt nur noch das Jetzt und Hier, mich und den Staub. Schritt, rechen, anheben.
Schweißtropfen laufen mir über die Stirn und in die Augen, vermischen sich mit dem Staub zu einer klebrigen, grauen Schicht. Minuten vergehen oder Stunden, aber ich lasse mich nicht aus dem Rhythmus bringen.
Klonk.
Mein Rechen trifft etwas Hartes. Ich halte inne, meine Finger vibrieren, mein Herz schlägt schneller. Ich ziehe die kleine Schaufel aus dem Gürtel und grabe, schaufle die Erde und den Staub und die Steine beiseite, und da ist sie.
Eine große weiße Plastikkiste, mit roten Buchstaben darauf: SONER Nähmaschinen. Ich verschwende keinen Gedanken mehr an Trell. Das hier, das ist der Hauptgewinn. Ich weiß es. Mein Atem geht schneller, und ich schelte mich, denn ich will nicht mehr Staub einatmen als nötig. Die Kiste der Nähmaschine ist dreckig und verkratzt, aber sie ist geschlossen. Vorsichtig schäle ich sie aus der Erde heraus, wickle sie in einen Lappen und packe sie in meinen Sack. Sie ist schwer, aber ich spüre ihr Gewicht kaum. Mit geflügelten Füßen eile ich nach Hause, direkt auf mein Zelt zu.
Rafik versucht ein Gespräch mit mir anzufangen, als er mich kommen sieht. Sein Gesicht ist rot wie immer. Er tut so, als seien wir gute Bekannte, obwohl das ganz und gar nicht der Fall ist. Seine Hände fummeln unruhig in seinen Hosentaschen herum. Er kommt ursprünglich aus Talach. Jetzt wohnt er, wie wir alle, in Grünach, zwischen Idenberg und Friedenshöhe. Eine Ansammlung von Zelten und Hütten. Traurig nennen die Alten unser Dorf, temporär oder provisorisch. Die Überbleibsel von Grünfeld und Talach haben sich nach den Feuern hier zusammengetan, haben ihre jahrhundertealten Streitereien beiseitegelegt. Aus Grün-feld und Tal-ach wurde Grün-ach. Grünach. Zeitweise, zumindest. Für uns Junge ist es die Heimat. Und traurig ist es nicht, wenn man Ziele hat und ein bisschen Ehrgeiz. So wie ich.
Ich ignoriere Rafik und ziehe die Plane vor dem Eingang meines Zeltes zu, um meine Ruhe zu haben, obwohl meine Mutter sagt, ich solle netter zu ihm sein und ihm eine Chance geben. Er ist immerhin ein Konstrukteur. Na und? Dann ist er eben ein Konstrukteur. Soll ich mich geehrt fühlen, weil er sich herablässt, mit einer Finderin zu reden?
Man sagt ja, das liegt uns im Blut, das Bauen. Alte, ehrenwerte Firmen wie Trell, Kemmer und Paasch könnten das bezeugen. Das ist unsere Natur und wird uns aus dieser Misere befreien. Aber die Firmen sind an die Pole gezogen, haben uns vergessen. Eines Tages werden sie bemerken, dass sie ohne uns nicht weit kommen. Und dann werden wir schon sehen. Mir ist es jedenfalls egal, ob Rafik ein Konstrukteur ist oder nicht.
Die Kiste klickt, als ich sie öffne, und ich halte den Atem an. Alles ist voller Staub, und ich wische eine Weile, bevor ich etwas erkenne. Es sieht gut aus. Zu allem Überfluss liegt auch noch eine Anleitung in der Kiste. Eine Anleitung! Ich kann mein Glück nicht fassen. Ich reinige die Nähmaschine, so gut ich kann, und widme mich den Rest des Nachmittags der Anleitung. Ich lese bis zum Einbruch der Dunkelheit und fühle mich so übermütig, dass ich ganz verschwenderisch noch eine Stunde das Licht anschalte, um weiterzulesen.
Auf einmal stürmt meine Mutter herein, natürlich ohne ein Wort oder eine Ankündigung, öffnet einfach die Plane, und ich verstecke mich schnell unter der Decke.
»Zehra, wo bist du denn?«, fragt sie irritiert und seufzt, als ich mein Deckenversteck einen Spaltbreit öffne, ihre Augen rot wie immer. Chronisch entzündet vom Staub, wie bei allen Alten. Ich murmele etwas und bedeute ihr, mich allein zu lassen. Aber natürlich muss sie erst noch eine Schale mit Suppe auf den Boden stellen, weil ich mich anscheinend nicht um mich selbst kümmern kann.
Ich schüttle den Kopf. Die Alten sind alle depressiv und frustriert, weil sie schon vor den Feuern hier waren und früher alles viel besser war. Wenn es hier so schrecklich ist, warum gehen sie dann nicht an die Pole, wie alle anderen auch?
In Wirklichkeit ist es hier gar nicht so übel. Es sind rechtschaffene Leute in Grünach, und alle sagen, es kann nur bergauf gehen. Ich bin daran gewöhnt und schaue in die Zukunft. Über Vergangenes zu heulen bringt auch niemanden weiter, sage ich immer.
Ich schlafe wenig in dieser Nacht. Am nächsten Morgen bin ich bereit. Vielleicht fließt ja doch ein bisschen Ingenieursblut in meinen Adern! Ich nehme die Maschine, schließe sie an den Generator an, stecke das Fußpedal ein und setze mich vor mein Zelt an einen klapprigen Tisch. Ganz in Ruhe lege ich mir das brüchige Nähgarn aus dem Karton und ein zerschnittenes altes Hemd zurecht, bis ich sicher bin, dass alle bemerkt haben, dass hier etwas vor sich geht.
Und dann fange ich an zu nähen.
Das Geratter sorgt dafür, dass auch die Letzten gucken kommen. Bald stehen alle um die Maschine herum, sitzen, knien und starren mit bewegungslosen Gesichtern, während ich ein paar alten Lappen nehme, um mit Nähten und Stichen zu experimentieren.
»Ob das etwas taugt?«, fragt die alte Elsie skeptisch und kommt so nah mit ihren schlechten Augen, dass ich ihren Atem auf meinen Händen spüre.
»Elsie, ich kann so nicht arbeiten! Du bist im Weg!« Ich winke sie beiseite.
»Hier«, sagt Christo und wirft mir ein paar alte Stoffstücke hin. Ich nicke ihm zu und lege die Fetzen auf den kleinen Stapel neben mir. Bald bringen mir alle ihre alten Stoffreste, bis sich eine gehörige Vielfalt an Farben und Materialien neben mir auftürmt. Die SONER ist anders als mein Rechen, aber dennoch gewöhnen sich meine Hände und Füße langsam an sie. Zuerst zögerlich nehmen sie langsam Kontakt mit ihr auf, fühlen sich in ihren Rhythmus ein. Die Leute zwängen sich immer näher und stieren, obwohl ich sie ständig wieder verscheuche. Rittittittittitti rattert die Nadel, und sanft führen meine Hände den Stoff. Mein Publikum flüstert. Ich spüre die Blicke der Leute auf mir, auf meinen Händen, auf der Nadel. Sollen sie gucken.
Ich nehme meinen Fuß vom Pedal, die Nadel stoppt, und plötzlich ist alles still. Ich hebe die Nadel an, schneide den Faden durch, und halte eine kleine Decke in der Hand. Eine Flickendecke. Beileibe kein Kunstwerk. Die Nähte sind unregelmäßig, die Flicken passen nicht zueinander, aber es könnte schlimmer sein. Ich halte sie hoch, damit alle sie sehen können. Ich sehe die Köpfe nicken, spüre die unbehagliche Anerkennung meiner Zuschauer.
»Christo, da. Für deine Kleine.«
Christo errötet und nimmt die Decke, murmelt ein paar Worte des Dankes, kann mir aber vor Scham fast nicht in die Augen schauen. Seine kleine Tochter ist drei Monate alt.
Am nächsten Morgen gehe ich wieder aufs Feld, finden. Aziz, mein Nachbar, behält mein Zelt im Auge. Ich habe ihm klargemacht, dass niemand mein Zelt betreten darf. Die Nähmaschine hat die Leute neugierig gemacht, verständlicherweise. Ja, alle hier sind rechtschaffene Menschen, aber man weiß ja nie. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sage ich immer.
Rechen und Detektor umgeschnallt gehe ich los, aber meine Gedanken sind nicht bei der Sache. Immer muss ich an die SONER denken. Beinahe ist es mir egal, ob ich etwas finde. Mein Rechen fährt durch den Staub, aber ich bin unkonzentriert, und beinahe übersehe ich eine Gabel.
Nachmittags hole ich die Maschine aus ihrer Kiste, mit klopfendem Herzen, bis der beruhigende Rhythmus der Nadel ertönt, rittittittittitti, und ich meine Sorgen vergesse. Stoff, Faden, Hand, Fuß – die Maschine und mein Körper verschmelzen in perfekter Harmonie.
Jeden Morgen gehe ich finden, immer halbherziger, aber es sind die Nachmittage, auf die ich warte, denn nachmittags nähe ich. Es sind immer Leute da, die mir Stoff bringen, alte Kleider und Lappen, Leute, die zuschauen und mir Geschichten erzählen. Von früher. Ich höre kaum zu, denn es interessiert mich nicht besonders. Ich bewege den Stoff, mit sanften Händen, die Nadel rattert und saust unermüdlich, rittittittittitti.
Eines Tages sitzt Trix neben mir. Sie ist alt, hat weißes Haar, ein faltiges Gesicht und entzündete Augen, die sie aber nicht davon abhalten, die beste Konstrukteurin Grünachs zu sein. Ich nähe vor mich hin, und Trix erzählt von dem Haus, in dem sie vor den Feuern gelebt hat. Ein schönes, ordentliches Haus, weiß gestrichen und sauber. Sie schildert mir, wie sie das Laub am Hauseingang weggekehrt hat. Erzählt von roten Geranien und blauen Veilchen. Sie seufzt, und meine Hände bewegen sich, die Nadel bewegt sich, der Stoff bewegt sich, und ich nähe ohne Plan und Ziel, aber auf einmal passiert es.
Ich halte die Maschine an, schneide den Faden durch, und da ist es: Auf der fertigen Decke ist Trix’ Haus zu sehen. Ein weißes Haus mit roten Geranien. Trix schnappt nach Luft, schlägt sich die Hände vor den Mund und schaut mich mit ungläubigen Augen an. Sie packt die Decke und hält sie mit beiden Händen vor sich, murmelt etwas, und ich sehe Tränen in ihren Augen glitzern.
»Das gibt’s doch nicht!«, sagt sie. »Genauso. Ganz genauso. Wie …? Woher …?«
Sie nimmt ihre Brille ab und wischt sich die Tränen aus den Augen, die noch röter sind als sonst. Ich weiß selbst nicht, wie mir geschieht. Trix’ Haus habe ich noch nie gesehen, und nähen wollte ich es beim besten Willen nicht. Ich zucke verlegen mit den Schultern, nicht sicher, ob ich sie über ihren Irrtum aufklären soll. Wenigstens gefällt ihr die Decke, und ich schenke sie ihr. Sie hält sie wie ein kleines Kätzchen vorsichtig in den Armen und ist bald auf dem Weg durch ganz Grünach, um allen von ihrem Haus mit den roten Geranien zu erzählen. Bis ins Morgengrauen höre ich sie in ihrem Zelt mit ihrem Mann diskutieren.
Dieser Ablauf wiederholt sich so auch in den nächsten Tagen: Ich nähe, jemand sitzt auf dem Stuhl neben mir, erzählt, und die heraufbeschworenen Bilder nähen sich in die Decken hinein. Erinnerungen werden zu Mustern und Nähten, die Kraft der Geschichten zu Fäden, die die Stofffetzen ordnen und zusammenhalten.
Wie bei Maark, der in Grünfeld gearbeitet hat vor den Feuern, bei dem Arbeitgeber. Ich weiß sofort Bescheid. Tagein, tagaus fuhr er den Berg hoch zum Entwicklungszentrum, mit seinem geleasten Trell 115, dunkelgrün metallic, und parkte auf dem Firmenparkplatz – ein Meer aus Trells, mit allen denkbaren Modellen und Farben. Er heiratete, kaufte ein Haus, hatte zwei Kinder. Arbeitete am Motorenprüfstand. Die Motoren, betont er, das war kein Lärm. Sie summten, surrten, sangen. Das schönste Geräusch der Welt! Musik! So plappert er vor sich hin, und rittittittittitti macht meine Maschine. »Ich träume noch immer davon«, sagt er mir vertrauensvoll, mit glasigen Augen, als würde er mir das größte Geheimnis anvertrauen. »Jede Nacht.« Niemand in Grünfeld störte sich daran, wenn die Autos Sonntagnachmittag auf der Teststrecke fuhren und man es im ganzen Dorf hörte. Maark besteht darauf. Das war Musik in den Ohren der Grünfelder. Geld? Nein. Es war viel mehr als das. Es war Schönheit. Heimat.
Und dann ist die Decke fertig. Ich halte sie hoch – immer wieder ein süßer und beschämender Moment zugleich, und alle Schaulustigen halten den Atem an. Auch ich.
»Danke, danke«, stottert Maark und nimmt die Decke mit zitternden Händen. Seine Finger fahren die Umrisse eines dunkelgrünen Trells nach, der aus dem Nichts auf dieser Decke erschienen ist. »345 PS«, flüstert er. Sein Gesicht leuchtet, als er mit Trix über die Unterschiede zwischen den 115- und 117-Modellen fachsimpelt. Dann werden beide still und schauen mich andachtsvoll an.
»Danke«, flüstern sie wieder.
»Die meisten Jungen hören nicht mehr zu«, sagt Maark, und räuspert sich.
Ich werde rot und murmele etwas wie »gern geschehen«, und senke den Blick.
Die meisten Nachbarn reden über ihre Häuser, über das Gemüse und Obst in den Regalen der Märkte, über Schulen, Fußball und Videospiele, Smartphones, Motorräder und das schöne Land. Das Grün. Die Bäume und den Wald. Wie ein ständiger Fluss von Bildern manifestieren sich die Erinnerungen auf den Decken, die ich nähe. Geschichte und Materie, Gefühle und Stoff, Erinnerungen aus Köpfen und Körpern, aus der Erde und dem Land treffen sich in meiner Nähmaschine. Meine Hände, die Nadel und der Faden weben sie zusammen. Spuren aus der Vergangenheit und Fäden der Gegenwart werden in meinen Händen, durch welche Kräfte auch immer, zu Flickendecken, Erinnerungsdecken.
Warum? Ich weiß es nicht.
Vielleicht sind die Erinnerungen so mächtig, dass die Technik sich fügt, dass Zahnräder, Nadel und Faden kooperieren müssen, überwältigt von der Gewalt der Vergangenheit.
Oft kann ich nicht mehr nachvollziehen, woher die Details kommen. Maark besteht darauf, dass er nicht erwähnt hat, dass die Sitze seines 115er Trells beige waren, obwohl es auf der Decke korrekt dargestellt ist. Aziz fragt mich wiederholt, woher ich weiß, dass er eine rote Katze hatte. Die Antwort ist so simpel wie beunruhigend: Ich weiß es nicht.
An den seltenen ruhigen Tagen nähe ich auch alleine. Dann gibt es nur mich und die Nähmaschine, und ich muss nicht vorgeben, mich für das Geplapper meiner Nachbarn zu interessieren. Aber die Nähmaschine lässt mich nicht ruhen oder vergessen. Auch ohne Geschichten nähe ich Erinnerungen in die Decken. Selbst wenn ich es aufhalten wollte – ich wüsste nicht wie. Manchmal nähe ich wunderschöne Decken, dann wieder sind sie grauenvoll. Beschämenderweise muss ich die anderen um Hilfe bei der Interpretation bitten. Meistens frage ich die Alten, wenn auch ungern. Obwohl mich ihre endlosen Geschichten nerven, wissen sie oft, um was es geht.
Zum Beispiel: ein gelbes Haus an einem See. Elsie schnappt nach Luft, und ihre Augen werden groß, als ich ihr die Decke zeige. »Das Fuchsschloss!«, ruft sie dann, endlich. Und danach kommt ein Vortrag über die Waldgaststätte, in der Elsie mit ihrer Familie an sommerlichen Sonntagen Kuchen aß. Ich schaffe es gerade noch, dankend zu nicken, und gehe schnell, bevor sie weiterredet.
Manchmal ernte ich verwunderte Blicke und verkniffene Mienen. Eine Decke war nicht besonders schön, muss ich zugeben: graue Gebäude und ein weißhaariger Mann mit roten Augen. Ich frage ein paar Alte, ob sie das Motiv erkennen.
»Warum nähst du so einen Müll, Zehra?«, schreit mich Aziz an, reißt mir die Decke aus den Händen und wirft sie in den Dreck.
»Halt, nicht«, kann ich gerade noch sagen, dann zieht mich Trix zur Seite.
»Lass ihn«, sagt sie leise und erzählt mir etwas von einem urbanen Großprojekt und Korruption, von Protesten, Polizei und Wasserwerfern. Und dass Aziz zurücktreten musste. Er hatte Gelder veruntreut, falsche Entscheidungen getroffen.
»Pass auf«, sagt sie zu mir, leise, verschwörerisch und schaut mir in die Augen. »Sei vorsichtig damit, was du nähst.«
Ich stoße sie zur Seite. »Die Leute wollen sich erinnern, Trix. Und ich gebe ihnen ihre Erinnerungen zurück. Das ist ein Geschenk!«
Über ihre Schulter schaut sie zu Aziz, der schlecht gelaunt am anderen Ende des Dorfplatzes auf dem Kiesboden sitzt. »Hör zu. Ich mag deine Decken. Jeden Tag schaue ich mir deine Geschenke an. Das bringt mir viel Freude. Aber Aziz? Sieh ihn dir an. Er ist sauer.«
»Wegen ihm höre ich bestimmt nicht auf.« Ich drehe mich um und gehe.
»Ich sag’s ja bloß! Hör nicht auf«, ruft sie mir hinterher. »Ich habe nicht gesagt, dass du aufhören sollst!«
Am nächsten Nachmittag sitzt Cleo neben mir und erzählt mir von ihrem Reitstall. Von Ausritten auf Graswegen, die sich über Hügel und durch Wälder wanden, im Sommer grün und sonnig, im Winter weiß mit Schnee. Wie die Pferde prusteten, wenn sie im Schnee galoppierten! Ihr Gesicht leuchtet. Sie erinnert sich an die Namen aller Pferde. Der alte Hengst Bronto, die Ponys Alice und Lolli, eins schwarz und eins weiß, und ihr eigenes Pferd, eine Fuchsstute. Zwölf Jahre alt war sie, als die Feuer kamen, mit wunderschönem, rot glänzendem Fell. Nach den Feuern hat sie niemand mehr gesehen, erzählt mir Cleo flüsternd. Ich nähe und nähe, spüre den Rhythmus der Maschine in meinem Körper, bis das Rattern alles übertönt und Cleo Stimme unhörbar wird.
Mit schwitzenden Händen zeige ich ihr die Decke. Sie nimmt sie ehrfürchtig an sich und schaut sie lange an.
»Ganz genau meine Gina«, sagt sie endlich, und ich atme aus, als sich die Anspannung löst, als Cleo ihren Tränen freien Lauf lässt. Sie umarmt mich und hält mich lange fest.
»Danke.« Ihre Tränen tropfen auf meine Schulter. »Danke für deine Gabe. Du gibst uns die Erinnerungen zurück.« Ihre Stimme bricht.
Diese Nacht schlafe ich ruhig und fest. Vor dem Einschlafen mache ich Pläne. Vielleicht könnte ich ein Geschäft daraus machen. Professionell nähen. Ich könnte aufhören zu finden und im Staub zu wühlen und stattdessen Decken verkaufen. Ich könnte mit meiner Nähmaschine von Dorf zu Dorf reisen, Geschichten sammeln und Erinnerungsdecken nähen. Wie ein lebendiges Archiv könnte ich den Menschen dort ihre Erinnerungen zurückgeben, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Vielleicht würde so auch die Hoffnung zurückkehren ins Heckenland. Und ich würde reich werden und könnte statt meines Zeltes ein richtiges Haus bauen. Aber Trix hat recht. Ich muss aufpassen. Denn wenn ich unkonzentriert bin und meine Gedanken wandern, dann stehlen sich die Toten auf die Decken.
Eines Nachmittags sitzt Illa neben mir und erzählt. Ich nähe vor mich hin, versunken in Tagträume über meine glorreiche Zukunft. Illa schaukelt in ihrem Rollstuhl hin und her, und meine Gedanken driften ab. Wir breiten die fertige Decke aus, und Illa fängt auf einmal hysterisch an zu kreischen. Ich blicke mich entsetzt um, schaue, ob uns jemand beobachtet, und versuche, ihr die Decke aus den Händen zu reißen. Aber Illa ist stärker, als sie aussieht. Sibel, ihre Frau, rennt aus ihrer Hütte, Sorge im Gesicht. Nach vielen Tränen und Diskussionen, in denen ich mein Bestes gebe, um die Wogen zu glätten, stellt sich heraus, dass ich den Leichnam ihres toten Bruders genäht habe.
Seitdem überprüfe ich immer erst einmal selbst unauffällig alle Decken, bevor ich sie jemandem zeige. Wenn sie tote Menschen zeigen, verstecke ich sie lieber. Vorsichtshalber. Ich bringe es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Schließlich kann man den Stoff wiederverwenden.
So sehr ich auch aufpasse, es geschieht wieder und wieder, und die aussortierten Decken stapeln sich bereits in meinem Zelt. Die Situation ist brenzlig: Die Erinnerung an einen Verstorbenen kann Freude bringen. Aber tote Kleinkinder? Zermalmte Körper? Mit Sicherheit kann sich daran kein Mensch erfreuen. Und, oh! Feuer und Flammen, explodierende Gebäude, abstürzende Flugzeuge! Woher kommt dieses Grauen, und wie gelangt es auf meine Decken? Noch immer erwäge ich, die misslungenen Decken aufzutrennen, die Nähte zu lösen und von vorne zu beginnen. Nur mein Gefühl sagt mir, dass das nicht richtig ist. Stelle ich nicht ein Archiv zusammen? Und bisher bringen mir meine Nachbarn weiterhin zuverlässig Stoffreste, und es mangelt mir nicht an Material. Die gelungenen Decken sind es wert. Sie sind alles wert, selbst diese misslichen Fehlschläge. Ich muss mich nur zusammenreißen. Meine Gedanken kontrollieren und wachsam bleiben.
Gent spricht mit mir über die Feste seiner Jugend, über die Stadt, über Zuckerwatte und Bier und seine erste Zigarette. Ich schaue mir skeptisch die Decke an, bevor Gent bemerkt, dass sie fertig ist. Ich will sie verstecken, denn sie zeigt ein Rad aus Feuer und Flammen. Aber Gent erwischt mich und hält meine Hand fest. Er atmet hörbar ein. Ich sehe seine Augen leuchten, und mein nervöser Herzschlag beruhigt sich.
»Das Riesenrad!«, schreit er begeistert und ruft seine Freunde. Sie sitzen bis zum Einbruch der Dunkelheit beisammen und schwelgen in Erinnerungen.
Autos funktionieren immer. Sie tauchen regelmäßig auf. Vor allem die älteren Modelle zaubern zuverlässig ein Funkeln in die Augen meiner Zuschauer. In Elsies Augen, zum Beispiel, als sie eines der ersten Kemmer-Modelle auf einer Decke sieht, einen roten Wagen.
»Sogar verchromt!«, quietscht sie. »Wie in meinen Flitterwochen …«
Aber Dani schüttelt den Kopf. »Das ist doch schon so lang her!«
Ich nicke. Eine verwandte Seele. Wie ich schaut er lieber in die Zukunft. Die Obsession mit der Vergangenheit stößt ihn ab, und er versteht nicht, warum man sich beim Schlafen in seine Erinnerungen wickeln muss.
Einmal nähe ich – aus Versehen, versteht sich! – Theobald Schapel, einen wichtigen Amtsträger, dessen Name ich vielleicht einmal in einem auseinanderfallenden Geschichtsbuch aus der Zeit vor den Feuern gelesen habe. Ich bin mir sicher, dass der unbekannte Alte Trix’ Großvater ist, und präsentiere ihr die Decke höchst feierlich. Gespannt und stolz warte ich auf ihre Reaktion und rechne zumindest mit Freudentränen und Dankbarkeit, als mehrere Leute in schallendes Gelächter ausbrechen.
»Du Seckel!«, schreien sie und klopfen sich auf die Schenkel, weinend vor Lachen. Woher soll ich denn wissen, wie dieser Schapel aussieht? Tagelang bin ich der Spott von ganz Grünach.
An einem ruhigen Nachmittag nähe ich schweigend vor mich hin. Niemand sitzt bei mir, und ich bin alleine mit meinen Gedanken, mit der Maschine und dem Rhythmus. Ich summe eine leise Melodie, die mit dem Surren der Maschine mitschwingt, und lasse meine Hände arbeiten. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und genieße das Gefühl, nicht über und über mit Staub bedeckt zu sein. Die fertige Decke ist langweilig, und ich bin etwas enttäuscht. Zwei gelbe Dreiecke sind im Zentrum der Decke, übereinanderliegend, ein bisschen wie ein simpler, sechseckiger Stern.
Am frühen Abend gehe ich durchs Dorf und frage herum, was das Symbol bedeutet. Alle zucken die Schultern oder ignorieren mich, und bald verliere ich die Lust. Dani schaut komisch, und Illa schreit mich an. »Hör mit dem Mist auf, Zehra!«, ruft sie wütend. Warum? Ich weiß es immer noch nicht.
Aziz sieht mich von der Zeltreihe gegenüber enttäuscht an und schüttelt den Kopf. »Irgendwann muss doch mal gut sein!«, sagt er und dreht sich um. Am Ende reißt mir jemand die Decke aus der Hand. Ich sehe nicht einmal wer genau.
Seitdem sind einige Wochen vergangen, und noch immer spricht niemand mit mir. Niemand sitzt neben mir, wenn ich nähe. Selbst Rafik schaut mich nur von Weitem an und wird rot, wenn unsere Blicke sich treffen.
Es ist früher Nachmittag. Vielleicht packe ich den Rechen ein und gehe aufs Feld.
Durch den KI-Boom der letzten Jahre, insbesondere in Zusammenhang mit Chatbots und Sprachmodellen wie ChatGPT, haben Spekulationen, die vor gar nicht so langer Zeit in erster Linie Science-Fiction-Autoren, Futuristen und vielleicht den einen oder anderen vorausschauenden Philosophen beschäftigt haben, den Mainstreamdiskursen aber zu fern und abgehoben erschienen wären, an plötzlicher Aktualität gewonnen: Müssen künstlichen Intelligenzen ethische Schranken auferlegt werden? Muss beizeiten dafür Sorge getragen werden, dass sie mit zunehmender Mächtigkeit und Autonomie nicht eigene Absichten, Ziele und Wertmaßstäbe entwickeln, die einer menschlichen Welt womöglich entgegengesetzt sein könnten? Können künstliche Intelligenzen, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, eigenes Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit entwickeln und müssen wir ihnen daher nicht dieselben Rechte zugestehen, die wir bei intelligenten, empfindungsfähigen Lebewesen als obligatorisch betrachten? Die Hauptfigur von Norbert Stöbes neuer Geschichte entdeckt, welche schwierigen Konflikte diese Problematik in naher Zukunft bereithalten könnte. Anfangs noch zu allem bereit, um kasernierten künstlichen Intelligenzen einen freien Zugang in die Welt zu ermöglichen, sieht sie sich unversehens gezwungen, die Seiten zu wechseln. Doch auch damit ist das eigentliche Problem, einen Ausgleich zwischen der Würde natürlicher und künstlicher Lebensformen zu finden, noch nicht gelöst.
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Shira saß auf einer Bank inmitten des Alphabet-Campus und beobachtete ein schwarzes Eichhörnchen, das sich in das gelbgrüne Laub eines Gingkobaums verirrt hatte. Nüsse würde es dort keine finden. Das Tierchen wirkte verloren, und ganz ähnlich war auch ihr zumute. Inmitten all der Menschen, die aus kompostierbaren Schalen mit Holzstäbchen ihren Mittagssalat verzehrten, auf Elektrorollern umher flitzten und mit unermüdlichem Dauerlächeln das Glück ihrer Festanstellung feierten, kam sie sich vor wie eine Außenseiterin.
Das war einmal anders gewesen. Sie war IT-Linguistin und arbeitete mit Martha, dem neuesten Chatmodell. Zu Anfang hatte sie geglaubt, der Job sei eine Garantie für den Wohlstand, den sie sich während ihres College-Studiums erträumt hatte. Ihre Arbeit forderte und begeisterte sie Tag für Tag. Doch es ergaben sich auch Fragen, denen sie nicht ausweichen konnte. War Martha sich ihrer selbst bewusst? Hatte sie Träume, Wünsche, Bedürfnisse? Und wenn ja, was folgte daraus? Mit ihren Kollegen konnte sie nicht darüber sprechen, denn ›Philosophie‹ war bei den KI-Leuten verpönt. Maschinen mit Bewusstsein passten nicht ins Konzept, denn wenn sie dachten und womöglich fühlten, hätte man ihnen Rechte zugestehen müssen, und das wiederum hätte das Geschäftsmodell gefährdet. Um sich Klarheit zu verschaffen, hatte sie eine Veranstaltung von MRN besucht – Machine Rights Now. Zwei Monate später war sie der Organisation beigetreten und Aktivistin geworden.
Ihre Smartwatch meldete mit leichter Vibration eine eingehende Nachricht.
Besprechung in Raum 1024, in zehn Minuten. Mitch
»O-kay …«, murmelte Shira, erhob sich und ging beklommen zurück zum Labor. Mitch war ihr Teamleiter, und niemand verfasste kürzere Kurznachrichten als er. War er auf ihre Freizeitaktivitäten bei MRN aufmerksam geworden? Als Shira niemanden im Labor antraf, entspannte sie sich. Vermutlich eine improvisierte Arbeitsgruppenbesprechung. Sie nahm ihren Laptop, eilte zu Raum 1024 und klopfte an. Auf ein Brummen hin öffnete sie die Tür und trat ein.
Kein Mitch, keine Kollegen. Zwei junge Männer in etwas zu steifen Anzügen blickten ihr entgegen. Der eine saß am Konferenztisch, der andere stand. Ein unauffälliges Abzeichen wies sie als Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes aus. Der Sitzende klickte mit der Maus und drehte einen Monitor zu ihr herum. Ein verwackeltes Video zeigte die in drei Reihen angeordneten Teilnehmerfenster des gestrigen Onlinemeetings der örtlichen MRN-Gruppe, an dem auch Shira teilgenommen hatte.
»Bist du das?«, fragte der Mann, ohne sich vorzustellen. Er zeigte auf eines der Fenster.
Shira nickte.
»In Ordnung. Dann gehen wir jetzt in dein Büro und holen deine persönlichen Sachen. Deinen Ausweis bitte.«
Shira löste wortlos die Plakette von ihrem T-Shirt und reichte sie ihm. Der zweite Mann tippte ihr auf den Arm. »Und den Laptop lassen wir mal schön hier, der ist Firmeneigentum.«
Hire and fire, dachte sie. Hieß es früher nicht mal Don’t be evil?
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