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NOVAstorys --- Susann Obando–Amendt – Mond im schwarzen Spiegel Regina Schleheck – Eijeijei Alexa Rudolph – Nur ich und ein Eimerchen Janika Rehak – Motherhood – Eine Annäherung Monika Niehaus – Wenn die Menschen Seepferdchen wären ... Marianne Labisch – Suche Nicole Hobusch – Emma Gabriele Behrend – Motherhood V Heidrun Jänchen – Ich bin die Auferstehung und das Leben Sarah Raich – Der Termin Bonnie Jo Stofflebeam – Die Beschädigten Sonya Dorman – Das tiefste Blau der Welt NOVAsekundär --- Jasmina Tešanovic – Kein Abschluss
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: November 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Gabriele Behrend
Illustrationen: nur in der Printausgabe
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Redaktion NOVAstorys: Marianne Labisch
Redaktion NOVAsekundär: Dominik Irtenkauf
Redaktion Grafik: Christian Steinbacher
Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
www.nova-sf.de
www.facebook.com/novamagazin
www.twitter.com/novamagazin
ISSN: 1864 2829
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 435 9
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 708 4
Ein freundliches Hallo in die Runde …
Für die aktuelle NOVA-Ausgabe haben wir nur Autorinnen eingeladen, uns Geschichten zu schreiben, und ihnen die Aufgabe gestellt, sich mit dem Themenkomplex Mutter, Geburt, Erziehung und Gleichberechtigung zu beschäftigen. Zu überlegen, ob es in Zukunft dabei bleiben wird, dass ausschließlich Frauen Kinder zur Welt bringen, oder ob neue Wege beschritten werden, ob Männer vielleicht auch dazu befähigt sein werden, ob der Nachwuchs vielleicht wie bei Huxley aus Flaschen kommen wird oder ob 3-D-Bio-Drucker womöglich auch Kinder liefern können. Sich den weiteren Verlauf ebenso vorzustellen und zu überlegen, ob Frauen die Kinder direkt an Androiden übergeben, um nahtlos weiter arbeiten zu können oder ob es vielleicht eine Trendwende geben wird, die heute schon zu denken gibt und Frauen zurück zu Heim und Herd kehren.
Es war ein Experiment, um Frauen für die SF zu begeistern und sich zu wagen, bei NOVA Texte einzureichen. Wir in der Redaktion finden, dass es sich gelohnt hat, einmal neue Wege zu beschreiten und ausschließlich mit eingeladenen Autorinnen zu arbeiten, aber keine Bange, das wird nicht so bleiben. Ab der nächsten Ausgabe werden Sie wieder Geschichten lesen, die uns auf dem herkömmlichen Weg erreicht haben.
Wir schließen allerdings nicht aus, dass es vielleicht auch noch mal eine Ausgabe geben wird, in der wir den Männern die Möglichkeit bieten, sich mit den Themen Vater, Geburt, Erziehung und Gleichberechtigung zu beschäftigen. ;-)
Wir wünschen Ihnen gute Unterhaltung.
Marianne Labisch und das Team NOVA
Mein Schutzengel war dieses Licht. Ein sanftes rotes Kinderlicht, das mich Nacht für Nacht behütete und die Ängste vertrieb. Auch jetzt umgab es mich wie ein Wall der Sicherheit, doch als ich die Augen öffnete und den Kopf vom Kissen hob, stimmte etwas nicht. Verschlafen schaute ich auf die Digitalanzeige des Weckers: 4:38 Uhr.
Noch so viel Zeit bis zum Aufstehen.
Warum war ich aufgewacht?
Verwirrt reckte ich den Kopf und vernahm ein elektronisches Zirpen. Ich fuhr im Bett hoch. Durch das Nachtlicht erkannte ich jeden Gegenstand, der sich in meinem Zimmer befand, den Schrank, die Regale mit Büchern und Modellen aus dem Physikunterricht, den Schreibtisch mit den Monitoren und der phosphoreszierend umrandeten Wandbuchse für den Computerzugang. Alles sah aus wie immer, nirgends blinkte ein Warnlicht oder ertönte ein Knistern.
Hatte ich mich verhört?
Ich stieg aus dem Bett und spähte in alle Richtungen. Alles war still, trotzdem durchschritt ich mein Zimmer und lauschte. Nichts. Nur mein Herz wummerte im wilden Takt – fast wie bei der Aufnahmeprüfung für die einzige Förderklasse hier an der Iain-Campbell-Schule.
Wie von selbst huschte mein Blick zu der Aufnahmeurkunde, die gerahmt an der Wand hing. Das Wort AUSGEZEICHNET sprang sofort in die Augen. Dass ich mich deswegen gar nicht stolz fühlte, machte mich ein wenig traurig. Doch wie hätte ich es auch sein sollen, die Bewerbung um den Platz an der Campbell-Schule war Mas Idee gewesen, nicht meine, nur für sie hatte ich mich ins Zeug gelegt. Ich wollte sie stolz machen. Nichts trieb mich so an wie das Strahlen ihrer Augen, wenn sie mich ansah, und die Gewissheit, dass sie immer für mich da sein würde.
Ich hatte immer bei ihr bleiben dürfen, nie hatte sie mich in ein Internat geschickt, ganz gleich, wie herausfordernd Mas tägliche Arbeit als Ärztin auch gewesen war.
Gerade schaute sie mich aus dem digitalen Fotorahmen heraus an – und ich blickte zu ihr in unsere Vergangenheit.
Dort saßen wir auf der großen Treppe des Ubald-Klinikums für Kinder-und Jugendmedizin, nachdem Ma eine Stelle als Fachärztin bekommen hatte, kurz nach dem Ausbruch dieser Poliomyelitis-Epidemie, hervorgerufen 2038 durch ein mutiertes Wildvirus. Vier Jahre hatte sie wie eine Löwin für ihre kleinen Patienten gekämpft. Doch dann hatte sie sich hierher versetzen lassen. An die Medizinische Gesamt-Fakultät für Humanmedizin in der ehrwürdigen Altstadt von Werrn. Ma hatte in der Forschung mitarbeiten wollen, um Menschen und Zukunft einander näher zu bringen.
Unser Willkommensgeschenk war eine Luftaufnahme von Werrn gewesen, Ma hatte sie über meinen Schreibtisch gehängt. Jeden Tag sah ich dieses Foto an und jedes Mal bekam ich eine Gänsehaut.
Ma hatte recht. Diese Stadt mit ihrem angegliederten modernen Forschungsbezirk schenkte so viel Hoffnung und so viele Chancen. Von oben gesehen wirkte die Fakultät wie eine Stadt neben einer Stadt. Hier wurde ein gewaltiges Areal von Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten mit vielen Hörsälen geboten, dazu Kliniken und Ambulanzen. Wer die Welt verändern wollte, wurde hier von klein auf zu einem ganz schlauen Kopf ausgebildet. In Werrn forschten sie sogar an dem Undenkbaren, wie Ma sich auszudrücken pflegte. Ob in Bereichen der Human- und Molekularbiologie, Biotech, Pharma oder Robotik, überall wurden Dinge neu gedacht und weiter entwickelt, für die Gesundheit, für uns Menschen.
Es war beeindruckend. Und beklemmend zugleich. Gebäude reihte sich an Gebäude, ein Komplex an den nächsten. In ihnen gab es fast mehr Forschungslabors als Familien und Ma selbst verbrachte viel Zeit im Labor. Dies war ihre Welt. Hier war sie die Ärztin, die sie immer hatte sein wollen. Eine, die nicht nur behandelte, sie wollte etwas zum Besseren verändern, wirksamere Heilmittel, gesündere Kinder, das trieb sie an. Nur ich vermisste etwas. Unbeschwertheit, unseren Garten von früher und die Pforte, die zum See hinab führte, den Geruch von Buntstiften und Zeichenpapier. Hier in diesem medizinischen Schmelztiegel gab es keine Orte für Rückzug und Stille. Alles war bestimmt von Lernen und Arbeiten, nie schien der Moment wichtig, immer nur die Zukunft. Diese Maxime hatte Ma so sehr in sich aufgenommen, dass sie nicht nur Schicht um Schicht arbeitete, sondern zunehmend darauf achtete, ob ich mit ähnlichem Eifer meine Aufgaben anging. Schwer fiel mir das nicht, nur … Mas Erwartungen, die Schule, dieses ganze Forschungsgelände mit seinen Zugangs-Codekarten und den je nach Sicherheitsstufe abgegrenzten pharmazeutischen Bereichen, all das ließ mich eine Enge fühlen, die mit jedem schulischen Erfolg drückender wurde.
Nachdenklich trat ich an meinen Schreibtisch. Dieses Luftbild zeigte die Foschungsstadt, geprägt durch Linien, gezogen durch Dächer, Straßen und Mauern, alles schien so streng, ganz im Gegensatz zur Stadt daneben, in der sich Straßen, Häuser und Plätze viel lückenhafter, grüner und freiwilliger zu einer Einheit zusammenfügten. Die alte Stadt wirkte unendlich freundlicher, obwohl dort viele Menschen mit Lebenserfahrungen aus bewegten Jahrzehnten einen mühsamen Lebensabend verbrachten. Viele lebten von der Hand in den Mund, und doch freier, unbeobachteter, im Gegensatz zu mir, der man keinen Müßiggang zugestand.
Ich schauderte.
Wenn Ma wüsste, welchen Schatz ich zusammengetragen hatte, um all das zu ertragen. Ich hatte ihn gut versteckt, ganz in der Nähe, damit ich danach greifen konnte, wenn ich Mut brauchte oder Trost. Jetzt war so ein Moment. Sehnsüchtig suchte ich in meinem Schreibtisch nach meinem Skizzenbuch, versteckt zwischen Schulmaterial aus den letzten drei Jahren. Ich schlug es auf und blätterte durch die Seiten. Betrachtete meine Zeichnungen, Menschen aus der Stadt mit verwitterten Gesichtern, eine einsame Mohnblume, deren rote Blätter ich auf dem Papier erahnen musste, meine Ma mit ihrer Teetasse, seitenweise Porträts von Aidan mit seinen geheimnisvollen Augen, bei dessen Anblick sich meine Wangen anfühlten wie nach einem überlangen Sonnenbad. Schnell blätterte ich weiter. Zu Staren mit gepunktetem Gefieder, und Meisen, hoch in der Luft, wo sie die Stadt und alle Menschen unter sich ließen und nichts ihren Flug durch den Himmel behinderte. Ich blätterte und blätterte, bis ich auf die Schatten stieß, Bleistiftschatten, die das ganze Blatt einnahmen, ohne wirkliche Klarheit. Manchmal malte ich sie, meine Hand schuf sie wie von selbst, weil mein inneres Auge nach manchen Träumen genau das sah.
Schatten. Umrisse. Schemen eines Gesichtes, das mir irgendwie vertraut vorkam.
Sssssd.
Ich zuckte zusammen, schlug das Buch zu und bedeckte es im Schreibtischfach mit allem, was ich greifen konnte.
Sssssd.
Da war es wieder, dieses sonderbare Zirpen.
Hektisch sah ich mich um.
Die Fotorahmen flimmerten, das Nachtlicht flackerte und erlosch. Alles wurde dunkel und der Schreck darüber quetschte mir die Luft aus den Lungen. Ich stand auf, streckte die Arme aus und begann zu tasten. Fühlte bald den Rahmen des Fensters, die Lamellen der Jalousie, die ich beiseite zerrte, doch auch draußen war es zu dunkel, um wirklich die Häuser und Fußwege zu erkennen.
Ich riss den Fensterflügel auf und guckte hinaus. Nachtluft strich über mein Gesicht, über mir entdeckte ich Sterne in einer Wolkenlücke, doch unten auf den Straßen brannte nicht eine Laterne. Merkwürdig.
Ein Stromausfall? Das war unmöglich, das gesamte Forschungsareal produzierte und speicherte Tag und Nacht seinen eigenen Strom, damit die Labors, Kühl- und Sicherheitsbereiche versorgt blieben. Alle verfügbaren Energiequellen waren Teil dieses Sicherungssystems. Solar, Windturbinen, Wasserstoff-Brennstoffzellen, sogar Wasserkraft, gespeist über ein eigenes Pumpspeicherkraftwerk im nahe gelegenen Mittelgebirge. Darüber hatte ich eine Hausarbeit schreiben müssen, kaum dass ich in den Physik-Zusatzkurs ›Energiestabilität & -sicherheit‹ gekommen war. Ich hatte mit Ma die Windturbinen der Stadt besichtigt, die Solardächer und das Kraftwerk ein paar Kilometer weiter. Dieses vielschichtig angelegte Stromnetz konnte nicht zum Erliegen kommen, es sei denn … das hier hatte jemand bewusst herbeigeführt.
In den dunklen Straßenschluchten jaulten Sirenen. Scheinwerfer flammten auf, enttarnten unbeleuchtete Fahrzeuge vor dem Zugang zu unserem Haus und dunkle Gestalten. Etwas knallte, scharf und laut, Menschen, die sich bisher in die Schatten gedrückt hatten, brachen hervor und flüchteten zu den wartenden Wagen.
Jäh wich ich vom Fenster zurück.
Wieder ein Knall, ein ohrenbetäubender Donner. Etwas Grelles blitzte auf und fiel prasselnd in sich zusammen. Ich drückte mich gegen die Wand und wollte gar nicht wissen, was es gewesen war.
Der Schrecken auf der Straße. Der Pulsschlag in meinen Ohren. Und diese Finsternis ringsum, wann ging das verdammte Licht wieder an?
Hinter der Wand polterte es, als wäre etwas Großes dagegen geschlagen, jemand riss meine Zimmertür auf und ein dünner Lichtstrahl bohrte sich in meine Augen.
»Alix, Alix, bist du hier?«
»Ma? Bist du das?«
»Gott sei Dank!«
Sie schlang ihre Arme um mich, als wollten sie mir die Luft abdrücken. Dabei verschwand der Lichtstrahl hinter meinem Rücken, vermutlich eine Taschenlampe. Zwischen uns raschelte ihr Laboranzug, nicht einmal die Haarhaube hatte sie abgenommen.
Ich klammerte mich an Ma fest, sie hatte die Dunkelheit vertrieben. Wenn sie mir jetzt noch die Angst nehmen könnte!
Ich kniff die Augen zusammen.
»Was ist passiert?«, fragte ich verstört. »Der Strom hätte nie ausfallen dürfen und draußen auf der Straße waren plötzlich diese schwarz gekleideten Personen. Wer sind die, was wollen die?«
»Das weiß ich nicht.« Ma umarmte mich noch fester. »Aber im Labor sind Unbefugte eingedrungen, wir fürchten, dass sie Proben oder Daten stehlen wollten. Wir haben alles gesichert, die Zugänge neu codiert und die Security verständigt. Doch dann hieß es, die Night Hunter seien in diese Wohnbereiche eingedrungen. Ich hatte solche Angst.«
»Was sind Night Hunter?« Verwundert sah ich sie an, da dämmerte es mir. »Meinst du wirklich ›Jäger‹? Oder Diebe, so wie Robin Hood? Nehmen, wo etwas zu holen ist? Aber hier ist doch nichts zu holen.« Für einen Moment war mir nach Lachen, dann erstarrte ich vor Schreck. »Mo-Moment, du hast gefragt, ob ich da bin. Ma, wa-warum hast du gefragt, ob ich da bin?«
Ma zog mich wieder in ihre Arme, ihre Wange presste sich an meine.
»Weil auf dem Weg hierher mehrere Appartementtüren offen standen, unsere auch, und weil alles so still gewesen ist. Alix, außer dem stillen Alarm im Labor hat es keinen anderen gegeben. Was auch immer da geschehen ist, es muss verdammt geschickt eingefädelt gewesen sein.«
Ich wand mich aus Mas Umarmung. »Unsere Appartementtür stand offen? Heißt das, jemand war hier, in unserer Wohnung?« Meine Stimme wurde immer lauter. »Ich bin vorhin aufgewacht. Und aufgestanden. Ich weiß nicht genau, was mich geweckt hat, nur dass ich etwas gehört habe, einen elektrisch klingenden Ton.«
»Türöffner«, stammelte Ma. »Sie müssen mit Infrarot-Sensoren gemerkt haben, dass du wach warst oder dass sie am falschen Ort waren. Oder sie sind von draußen gestört worden.«
»A-aber Ma, wir haben doch nichts Wertvolles, nichts, was diese Leute hätten haben wollen, oder?«
Ma umfasste mein Gesicht. Sie wollte etwas sagen, da flammten im Flur die Deckenlampen auf und in meinem Zimmer das rote Nachtlicht. Ma ließ mich los, trat an die Steckdose und zog die Nachtlampe ab.
»Ich dachte, du schaffst es inzwischen ohne«, murmelte sie. »Alix, das ist doch nicht normal. Du gehörst zu den Schlauesten aus drei Jahrgängen, da passt so ein, nun ja, Verhalten einfach nicht. Willst du das an der Uni später weiter machen? Jede Nacht das Licht einschalten wie für ein Kleinkind?«
»Ich hab Angst im Dunkeln.«
»Ich weiß!« Ma fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wenn ich jetzt fragen würde: noch mal therapeutische Hilfe?«
»Nein, Ma!« Ich schrie fast. »Ich will das nicht noch mal. Ich habe Angst, verstehst du nicht? Ich brauche einfach nur – ein bisschen Licht.«
Sie senkte den Kopf.
»Ma, es tut mir leid.«
»Nein, Schatz, alles gut. Ich habe verstanden, okay? Ich habe – verstanden.«
Ma schob das Nachtlicht wieder in die Steckdose.
»Na los, ins Bett. Wenigstens für ein paar Minuten. Ich verstehe, dass das gerade ein riesiger Schreck war, doch in vier Stunden hat euer Kurs Theorieprüfung und diese Prüfung ist wichtig für dich, für uns. Ich hörte von Uni-Niveau. Hast du gelernt?«
»Scheiße!« Ich schlug mir die Hand an die Stirn. »Wie wäre es«, fragte ich, »statt mit einer extra Stunde Schlaf mit einer Tasse extra starkem Kaffee?«
Ma schmunzelte. Ohne ein Wort ging sie aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte ich das Mahlwerk des Kaffeevollautomaten in der Küche.
Hurtig zog ich das Skizzenbuch unter dem Schulstapel hervor und betrachtete noch einmal Aidans Porträt. Dann versteckte ich das Buch unter meiner Matratze.
Ich fühlte mich, als wären mir Flügel gewachsen. Meine Erinnerungsfähigkeit war in ungeahnte Höhen geschnellt, ich konnte mich an alles erinnern, was ich für die Zwischenprüfung zusammengetragen hatte, und das so deutlich, als würde ich es sehen, jedes Wort der Lehrtexte, jeden Merksatz, jede einzelne Grafik.
Ich trank den letzten Schluck Kaffee und wollte die Tasse in die Küche bringen, doch auf der Schwelle zum Wohnbereich blieb ich stehen.
Ma hatte die Nachrichten eingeschaltet. Auf dem großen Wandbildschirm flimmerte ein gutes Dutzend Nachrichtenkanäle nebeneinander, hausinterne, regionale, globale. Sprecherinnen und Sprecher berichteten wild nebeneinander über alles, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte, und sie sparten nicht mit Bildmaterial.
Eine Verfolgungsjagd mehrerer Autos bei Nacht neben offenen Wohnungstüren vor dunklen Fluren. Verdorrte Felder und Rinnsale ehemaliger Flüsse neben startenden Kampfdrohnen. Und Menschen, Mengen von Menschen. Alte und noch Ältere. Einige in Anzug, andere bekümmert und unrasiert, Schlange stehend vor den Billigmärkten. Oder zusammen sitzend auf den Bänken in der Sonne.
Ich musste wegsehen, ich hielt dieses Bild- und Tonfeuerwerk nicht aus. Ma hingegen verfolgte jeden Beitrag, betrachtete alle Fotos, Reportagen und Bildsequenzen, die nebeneinander liefen, nicht ein Wort schien ihr zu entgehen. Sie sah besorgt aus.
»Ma, alles in Ordnung?«
Sie schaute zu mir und ihre Augen strahlten wieder voller Energie.
»Hier, bei uns? Ja«, erwiderte sie. »Sonst eher weniger.«
»Was meinst du?«
Ma nahm die Fernbedienung vom Tisch und zoomte den hausinternen Nachrichtenkanal in den Vordergrund. Die Verfolgungsszene wiederholte sich. Ich sah dunkle Fahrzeuge durch fast unbeleuchtete Straßen rasen, dass sie vor diesem Haus hielten, dass vermummte Personen junge Menschen in Nachtwäsche auf die Straße zerrten und mit Gewalt in die Fahrzeuge verfrachteten. Junge Leute wie mich. Dann wieder der dunkle Vorplatz, als wäre nichts passiert.
»Erschreckende Bilder, die von den solarversorgten Überwachungssystemen eingefangen wurden«, sickerte die Stimme des Nachrichtensprechers in mein Ohr. »Innerhalb von Minuten gelang es vermummten Personen, in die Wohnebenen der Internatsblöcke 17 bis 21 vorzudringen und, offenbar gezielt, einigen der dort untergebrachten Studenten habhaft zu werden.« Und wie um mein Blut gefrieren zu lassen, wurden Aufnahmen einer Bodycam der hinzugerufenen Security eingeblendet, die verwüstete Wohnräume zeigten und eine von Fingern verwischte Blutspur an der Wand. »Angaben zu den Opfern dieser Entführung machte der Sicherheitsdienst bisher nicht, betonte jedoch, dass keine Lösegeldforderungen eingegangen seien.«
Lösegeld? Ich öffnete den Mund und, obwohl ich reden wollte, bekam ich vor Schreck die störrischen Silben auf meiner nicht Zunge zu fassen.
Ma sah mich an.
»Entführt?« Ich konnte nur noch flüstern. »Diese Hunter letzte Nacht haben Studenten entführt? Wen? Ich meine, Aidan wohnt auch in Block 18.«
Ma seufzte. »Oh Alix, bitte, du hast doch nicht wirklich ein Auge auf diesen Jungen geworfen? Er musste eine Klasse wiederholen, du hast eine übersprungen und viel beeindruckendere Fähigkeiten als er, ihr seid überhaupt nicht geschaffen füreinander.«
»Abeli aus meiner Klasse wohnt auch in Block 18, was ist mit ihr? Von ihr hältst du doch eine Menge.«
»Weil ihr viel gemeinsam habt und du dir noch so einiges bei ihr abgucken könntest.«
»Ma, es geht gerade nicht darum, wer hier der Beste in der Schule ist! Es geht um die Nachrichten. Dass Studenten entführt worden sind. Wer um Gottes willen entführt Menschen?«
Ma holte tief Luft.
»Die, die Nachwuchs nötig haben.«
»Ist so was schon einmal vorgekommen, dass – Studenten entführt wurden?«
»Nicht bei uns. Vor einiger Zeit soll es an Universitäten in Ulm, Rom und Bordeaux Entführungen von Studenten gegeben haben. Deshalb wurden auch hier Vorsichtsmaßnahmen für die Internatsblöcke umgesetzt, du weißt schon, das vom Stromnetz unabhängiges Kamerasystem, Sicherheitsschlösser, Security. Unsere Wohnanlagen galten bisher als sicher vor Eindringlichen. Man vermutete hinter all dem nämlich professionelle Night Hunter, Menschenhändler. Na ja, bei der weltweiten Nachfrage an ausgebildeten Arbeitskräften wundert mich das eigentlich nicht. Manchen ist nichts heilig.«
Ein drängender Piepton erklang. In der obersten Ecke vom Nachrichtenbildschirm blinkte das rote Chatzeichen. Ma zoomte es heran, öffnete den Call und sah sich Doktor Albaas gegenüber, dem freundlichsten Mitarbeiter ihrer ganzen Abteilung.
»Doktor Mamaska, Alix, es freut mich, Sie beide wohlbehalten zu sehen. Nun scheue ich mich nicht mehr, Doktor Mamaska noch einmal ins Labor zu bitten. Ich weiß, wir hatten eine aufregende Nacht, aber es gibt noch einiges zu tun.«
»Bin gleich auf dem Weg«, erwiderte Ma und schloss den Call.
»Geh nicht«, bat ich, »ich könnte ein wenig Gesellschaft brauchen.«
Ma lächelte. »Wir schaffen das schon. Viel Glück für deine Prüfung, pass auf dich auf, ja?«
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und verließ die Wohnung. Verstört schaute ich ihr nach, sah, wie die Tür hinter ihr zu glitt, nahm wahr, dass ich das Türblatt anstarrte und Sorge in mir aufstieg.
Was, wenn Aidan entführt worden war?
Unruhig sah ich zur Uhr, lief durch alle Räume, stand wieder vor der Tür und berührte den Türöffner, trat auf die Schwelle und sah mich vorsichtig um. Im Korridor vernahm ich leise die Stimmen mehrerer Männer. Ein Wachmann in schwarzer Uniform stand in der Nähe, das Funkgerät halb gehoben. Er musste das Aufgleiten der Tür gehört haben und sah mir erwartungsvoll entgegen, dann machte er eine Geste, als wollte er mich zurückscheuchen. Ich nickte automatisch, zögerte jedoch. Der Wachmann drehte den Kopf und inspizierte die andere Seite des Korridors, da hastete ich los, so, wie ich war, huschte barfuß zum nächsten Treppenhaus und war gerade einen Absatz hinaufgesaust, als ich mit jemandem zusammenstieß. Erschrocken prallten wir zurück.
Aidan stand vor mir, vor Schreck erstarrt, dann schaute er mich so erleichtert aus schimmernden Augen an, dass ich seinen Blick einfach nur festhalten wollte.
»He, Leute, kommt schon, jeder huscht fix in sein Körbchen!«
Hinter Aidan war ein Wachmann aufgetaucht und zog ihn von mir fort. Aidan stemmte sich gegen seinen Griff, ohne mich aus den Augen zu lassen. Auch hinter mir musste jemand vom Wachschutz stehen, denn mir wurde eine Uniformjacke umgelegt. Das plötzliche Gefühl von Schwere auf meinen Schultern ließ mich zusammenfahren, der Blickkontakt zu Aidan riss ab.
»Kommt, Leute, jeder in sein Quartier.«
Ein Arm legte sich um mich, ich wurde mit sanftem Druck fortgeführt, dabei wollte ich nicht, ich drückte meinen Rücken durch und fuhr herum, um mich aus dieser ungewollten Umarmung zu drehen.
Der Mann in Schwarz überragte mich um mindestens eine Kopflänge und war breit wie ein Schrank. Über seine Schulter hinweg sah ich, wie Aidan, der noch immer nach mir Ausschau hielt, die Treppe hinaufgezogen wurde. Dann entschwand er meinem Blick und ich, ich fühlte mich, wie aus einem Traum erwacht.
»Komm, gehen wir zurück.«
Die ruhige tiefe Stimme des Wachmanns ließ mich zusammenzucken, verwirrt sah ich dem Mann ins Gesicht, musterte das grau melierte Haar und diese ruhige unerschrockene Miene. Mit leichtem Kopfnicken deutete er hinter uns, ich folgte seiner Aufforderung und lief widerspruchslos zu meiner Wohnung zurück. Dort reichte ich ihm seine Jacke, schloss augenblicklich die Eingangstür und verharrte einen Moment.
Aidan hatte mich gesucht.
Ich seufzte, sank an der Tür hinab zu Boden und schlang meine Arme um die angezogenen Knie.
»Kommen Sie herein«, ein Physikreferendar winkte uns in den Prüfungsraum, »suchen Sie sich einen Platz und bitte, lassen Sie sich von den anwesenden Men in Black nicht verunsichern, sie sind hier, um für Ihre Sicherheit zu sorgen, auch wenn die Direktion felsenfest davon überzeugt ist, dass für Schülerinnen und Schüler wie Sie zu keinem Zeitpunkt Gefahr gedroht hat. Nichtsdestotrotz sind wir wachsamer als sonst und nun, willkommen bei der Grundlagenprüfung für Industriebots.«
Einige kicherten, mir war nicht danach. Nervös musterte ich die anwesenden Wachleute auf dem Flur, dann die im Prüfungsraum und vor allem diese schrecklichen kleinen separaten Tische mit den unbequemen Stühlen dahinter. Da streifte etwas meinen Arm. Aidan schob sich gerade zwischen mir und einem der Tische hindurch. Eigentlich wäre zwischen uns genug Platz gewesen, um ohne jede Berührung vorbeizukommen, und als hätte er meinen Gedanken erraten, trat er dicht zu mir heran.
»Geht es dir gut, Alix?«, er flüsterte und mit jedem Wort wurden seine Wangen rosiger. »Ich wollte dich gestern Nacht nicht erschrecken, ich wollte dich nur sehen, sehen, dass dir nichts passiert ist.«
»Ging mir auch so«, erwiderte ich überrascht und sah, wie seine Miene erstrahlte. Gern hätte ich noch etwas gesagt, nur damit er mich länger anschaute. Da drängte uns der Referendar auseinander, ich las Maxim auf seinem Namensschild, er wies Aidan von mir weg.
»Bitte, finden Sie Ihre Plätze, die Zeit, die Zeit!«, sprach er förmlich und deutete auf einen Tisch, fast am anderen Ende des Saals. Aidan lief hinüber, Maxim sah mich über die Schulter an, sein Blick war kurz und herablassend. Schnell nahm ich am erstbesten Tisch Platz und sortierte umständlich meine Sachen. Jemand kicherte hinter meinem Rücken, dem Klang nach ein Mädchen, und ich, ich fühlte mich wie in einem Käfig ohne Gitter, weggesperrt. Kontakt zu niemandem. Am liebsten hätte ich die Prüfung sausen lassen.
»Wollen wir?«, fragte Maxim süffisant, trat an das Dozentenpult und gab die Aktivierungsdaten für das Prüfungsprogramm in das Lehrerterminal ein. Die Tablets für uns Prüflinge, eingelassen in die Tischplatte, leuchteten auf, die Aufgaben auf Uniniveau waren frei gegeben. Unsicher schaute ich durch den Raum und fand Aidans Blick. Er sah mich an, weiter nichts, und doch war da eine Bewegung in seinem Gesicht, ein Lächeln, das mir Mut machte und mich Maxim und das Kichern hinter mir vergessen ließ.
Ich konnte nicht erklären, wie, aber ich flog mit Hochgeschwindigkeit durch die Prüfungsaufgaben. Ich markierte Lösungen, tippte Rechenaufgaben und Antworten in digitale Prüfungsblätter, wertete Diagramme und Graphen aus, korrigierte eine vorgegebene Programmierungssequenz, schrieb eine weitere um und kürzte sie dabei um mehr als die Hälfte. Ganz verwundert schaute ich mich nach dem letzten Aufgabenbereich nach einem weiteren Arbeitsblatt um, fand aber keins. Um mich herum rechneten, schrieben und grübelten meine Kommilitonen über digitalen Folien und Graphen. Einige musterten mich pikiert, doch nur für einen Moment, denn die Prüfungszeit floss unbarmherzig von der Uhr.
Gern wäre ich aufgestanden und hätte mir in der Cafeteria einen Kaffee gekauft, doch in einer Prüfung aufstehen und gehen war nicht erlaubt, Mitschüler durften nicht gestört werden. Gelangweilt prüfte ich meine Ergebnisse, fand aber weder Fehler noch eine übersehene Aufgabe. Verdrossen sah ich aus dem Fenster in den Himmel, bis ein Vogel mit rotem Kopf und schwarzgefiederter Augenbinde draußen auf dem Sims landete. Ich rührte mich nicht, um das putzige Wesen nicht zu erschrecken, das mit schräg gelegtem Kopf zu uns herein sah. Vorsichtig sah ich mich um, niemand beobachtete mich und ich könnte tun, als ob ich noch arbeitete. Ganz behutsam langte ich nach dem Bleistift, nahm ein Blatt Notizpapier und begann den Vogel zu skizzieren. Stirn, Scheitel, Nacken, den Schwanz. Immer deutlicher verwoben sich zarte, verwischte und kräftige Striche zu einem so klaren Bild, von man meinen konnte, das Tier säße auf der Tischplatte.
»Mm krrrmm.« Das Räuspern neben mir ließ mich zusammenzucken. Ich hatte nicht gemerkt, dass Maxim näher getreten war und mir über die Schulter sah. Er musterte mich, dann streckte er seine Hand aus, seine Finger krallten sich wie die Beine einer Spinne todbringend um meinen Papiervogel.
»Würden wir freie kreative Kunst wünschen, stünde Kunstunterricht auf dem Lehrplan«, fügte er scharf hinzu und sperrte den Zugang zu den Prüfungseingaben. »Doch wenn ich mich recht entsinne, ist dieses Fach dort nicht zu finden. Folgen Sie mir.«
Geschockt sah ich hoch. Noch nie hatte ein Lehrer während einer Prüfung einen Schüler heraus beordert. Ringsum hoben die Prüflinge die Köpfe, einige neugierig, manche erschrocken, andere musterten mich zornig, weil ich Unruhe brachte, während sie Aufgaben bearbeiten sollten, die über das Vorankommen an dieser Schule entschieden. Vor Scham hätte ich sterben können. Nach dem heutigen Tag würde ich kaum noch jemandem in die Augen sehen können.
Schamesrot folgte ich dem Referendar aus dem Prüfungssaal und durch die Gänge zum Wartebereich für die Schüler gegenüber des Zugangs zum Professorenflügel.
»Setzen Sie sich.«
Maxim wies auf die freien Stühle. Kaum hatte ich mich gesetzt, hörte ich eilige Schritte von den Treppen her, Ma kam so schnell auf mich zu, als befürchtete sie, mir sei etwas Übles zugestoßen. Ich stand auf und sie riss mich in ihre Arme, doch bevor ich ein Wort sagen konnte, öffnete sich die Flügeltür und Ma wurde in den Professorensaal gerufen. Ehe ich wusste, wie mir geschah, starrte ich auf die wieder geschlossenen Türen. Ratlos nahm ich Platz. Ich sah nicht aus dem Fenster, ich hob auch nicht den Kopf, wenn Stimmen an mir vorüberzogen. Erst als die große Tür erneut geöffnet wurde und Ma heraus trat, sah ich auf. Im gleichen Moment starb die Hoffnung, dass meine Vogelzeichnung nur eine Lappalie wäre.
Ma war blass und dieses Mal loderte in ihren Augen so etwas wie Zorn. Sie entfaltete meine Skizze und hielt sie mir so dicht unter die Nase, dass ich unwillkürlich zurückwich.
»Musste das sein? In der wichtigsten Prüfung des Semesters?«
»Ma, ich war fertig und außerdem – es ist nur ein Vogel.«
»Alix, es war mitten in der Prüfung!« Mas Unterkiefer zitterte. »Die Prüfung, mit der du dich gegen die Besten der aktuellen Jahrgänge im Kampf um die raren Kursplätze für Nano-Robotik behaupten solltest. Stattdessen zeichnest du in der wichtigsten Prüfungsstunde des Semesters einen Rotkopfwürger. Du tanzt nicht, du malst dich eigensinnig aus der Reihe.«
»Sorry, Ma«, sagte ich kleinlaut. »Es ist nur, dass ich nicht so ganz verstehe, wieso du so wütend auf mich bist. Ich dachte, du weißt noch, wie das ist. Dieses Malen müssen. Du hast früher doch auch gemalt, Menschen, Schmetterlinge, bei dir sah immer alles wie echt aus. Diese Liebe habe ich von dir geerbt. Ich hätte nie gedacht, dass es schlecht sein würde, das zu lieben, was du liebst.«
Ma rutschte die Contenance aus dem Gesicht.
»Siehst du mich malen? Habe ich jemals Stift anstatt der Pinzette in die Hand genommen so wie du heute? Weißt du, Alix, der Unterschied zwischen uns beiden ist, dass ich hier Verantwortung trage, damit es Menschen wie dir künftig gut geht. Diese Fähigkeiten wurden mir mitgegeben, und wenn du mir ähnlich sein willst, dann werde deinen wirklich wichtigen Fähigkeiten gerecht, anstatt deine Zeit mit diesen nutzlosen Kritzeleien zu verplempern. Dir wurde so ein unglaubliches Talent in die Wiege gelegt, und du missbrauchst es für das hier.«
Sie schüttelte meine Zeichnung vor meinem Gesicht. Ich schluckte. Schluckte noch einmal. Wollte fragen, was sie mir eigentlich sagen wollte. Tief in meiner Brust zog sich etwas zusammen und stellte sich einem plötzlichen Gedanken in den Weg wie ein Polizist, der jemanden nicht passieren lässt.
»Alix, sieh mich an!«
Verschreckt sah ich ihr in die Augen.
»Überlege dir gut, ob du nach Fähigkeiten oder nach Fertigkeiten beurteilt werden willst. Ich muss jetzt zurück und du hast, so wie ich gehört habe, für einige Stunden im Selbststudium zu tun. Wir sehen uns heute Abend.«
Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange und ging und ich, ich sah ihr nicht hinterher. Ich bewegte mich erst, als ich sie nicht mehr hören konnte, und lief durch die Flure, ohne aufzusehen. Einmal schrammte ich haarscharf an dem Security-Mitarbeiter vorbei, der mich zu meiner Wohnung zurückgeleitet hatte, und irgendwie brauchte ich länger zur Bibliothek als sonst. Dort verbarg ich mich hinter einem der letzten Computerterminals im Raum. Las, machte Notizen für meine Semesterarbeit und vergaß doch gleich wieder, was ich geschrieben hatte. Meine Stunde für den frei gewählten Zusatzkurs »Umgang mit älteren Menschen« brachte ich hinter dem Tresen in dem kleinen Café nahe des Unigeländes zu, allerdings waren mir mein Lächeln und meine Sinne so eingefroren, dass ich erst wahrnahm, wie mitleidig mich die alten Damen ansahen, als mir eine die Hand auf den Arm legte.
Wieder daheim schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Schniefend blätterte ich mich durch mein Skizzenbuch, bis es an der Tür rüttelte. Dann noch einmal. Ma rief leise meinen Namen, fragte, ob alles in Ordnung sei, doch ich stellte mich schlafend, bis ich tatsächlich einschlief.
Mas zaghaftes Klopfen weckte mich – und ihre Stimme, die von Frühstück sprach und ob ich nicht in die Küche kommen wolle. Ich wollte nicht, musste aber, schlurfte in die Küche, ohne mehr zu sehen, als Mas Hände auf dem Küchentisch. Ich starrte auf meinen Teller, auf Toast, Blaubeer-Pancake und Kaffee.
»Alix, es tut mir leid.«
Stumm griff ich nach der Kaffeetasse, nahm einen Schluck und bekam ihn fast nicht hinunter.
»Alix, bitte, höre mir zu. Ich war gestern so wütend, so überfordert. Es gab so viel zu tun, und dann kam ausgerechnet Doktor Albaas mit der Nachricht, du hättest statt die Prüfung zu machen einen Vogel gezeichnet. Und irgendjemand rief, dass du mehr als nur einen Vogel hättest, wie sinnlos du dein Talent verschwendest, dann machten sich manche über das Nachtlicht lustig und Kollegen, mit denen ich mich sonst so gut verstehe, die haben mir lachend den Rücken zugedreht. Ich kam mir so allein vor, Alix. Ist es wirklich zu viel verlangt, dich deinen naturwissenschaftlichen Fähigkeiten zu widmen, um die dich so viele beneiden? Begreif doch endlich! Du bist von den Engeln geküsst.«
Ich starrte sie an. Dann schoss mir das Wasser nur so aus den Augen.
»Du hast es denen erzählt? Du hast erzählt, dass ich ein Nachtlicht brauche? Und jetzt bedauerst du, dass du dich allein fühlst?!« Ich sprang vom Tisch auf.
»Alix, versteh doch, hast du dich noch nie mit Freunden über das unterhalten, was dich bedrückt?«
»Ich hab keine Freunde, Ma! Mir gehen immer alle aus dem Weg. Also erzähle mir bloß nichts übers Alleinsein, nur weil du einmal alleine warst.«
Ich rannte in mein Zimmer und hatte das Gefühl, ich müsste schreien. Voller Zorn warf ich das Nachthemd auf mein Bett, beschränkte mich im Bad auf eine kleine Wäsche und stand wenige Augenblicke später in Schuluniform und mit Rucksack an der Wohnungstür.
»Alix!«
Es kostete mich alle Kraft, zurückzublicken. Ma sagte kein Wort, doch ihre Augen baten mich um Verzeihung. An jedem anderen Tag hätte mich ihr Blick glücklich gemacht, heute war es nicht genug. Ich wollte gehen, da hielt sie mir eine Tüte entgegen, mein Frühstück. Fast hätte ich sie damit stehen lassen. Dann riss ich ihr die Tüte aus der Hand und stürmte wütend in meinen neuen Tag.
Mas Worte hallten in mir nach wie Worte aus einer fremden Sprache, deren Bedeutung ich nicht verstand, aber zu fühlen begann. Zu fühlen, wie ihre Botschaft irgendwo in meinem Kopf gegen eine mentale Tür bummerte, die ich wiederum versuchte, geschlossen zu halten. Doch so sehr ich mich auch dagegen stemmte, die Erkenntnis sickerte durch Ritzen und kämpfte mit dem sonderbaren Polizisten auf meiner Gedankenstraße.
Nie zuvor hatte Ma von mir verlangt, meine Selbstbestimmung aufzugeben. Sie hat mich immer träumen lassen und sich gefreut, als ich eines Tages zu zeichnen anfing, wie sie. Nie hatte sie mich fühlen lassen, dass sie sich schämte, weil ich anders war. Eigensinniger oder eigenfühliger als die Schüler und Studenten, die taten, was von ihnen verlangt wurde, die lernten, was verlangt wurde, die arbeiteten, was verlangt wurde. Bis heute. Auf einmal schien ich ihr nicht mehr genug, auf einmal sollte ich mein Innerstes ablegen und mich fremdbestimmen lassen.
Reduziert auf eine Funktion im System.
Fast wäre ich gegen die nächste Ecke gelaufen.
Wie konnte Ma das sagen? Sie selbst liebte das Malen doch so sehr, hatte Bilderbücher erschaffen, Comics und die Werke von Picasso, Franz Marc und Böcklin vergöttert. Hatte sie mir nicht vor langer Zeit gesagt, Malen sei Freiheit, die sie niemals aufgeben würde? Die ich niemals aufgeben dürfe? Weil wir damit unsere Welten erschaffen könnten und dieser hier entkommen, wann immer mir wollten?
Und heute, heute hatte mich Ma mit einem Blick angesehen, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht kannte. Als hätte ich einer fremden Frau gegenübergestanden.
»Frau Anderson, wo wollen Sie hin?«
Eine Hand legte sich um meinen Oberarm, sodass ich stehen blieb und Frau Doktor Simoni erschrocken ins Gesicht sah.
»Wollen Sie Ihre Ethikaufgaben genauso leichtfertig angehen wie die Robotik-Prüfung?«, fragte sie.
»Mit den Prüfungsfragen war ich fertig«, erwiderte ich hilflos.
Doktor Simoni ließ mich los und ich begriff, dass wir nicht allein waren. Wieder standen um uns herum Sicherheitskräfte, unter ihnen auch der mir schon bekannte Wachmann mit den grau melierten Haaren. Er beobachtete mich ohne jede Regung, ebenso die Lehrer, die darauf achteten, dass die Schüler und Schülerinnen in dem grundsätzlich erbetenen Abstand voneinander auf den Beginn der Ethik-Exkursion warteten. Ich entdeckte Aidan, Abeli und Alja aus meinem Jahrgang und noch weitere Schüler, dazu Studenten aus der Universität für Sozialpädagogik ein paar Straßen weiter. Abeli maß mich mit spöttischem Blick, Aidan hingegen rührte sich nicht, er wirkte so abwesend, als sähe er niemanden um sich herum.
»Hier sind Ihre Tablets und die gestatteten Fragen für die Interviews innerhalb der Ihnen zugewiesenen städtischen Altersgruppe«, klärte Doktor Simoni uns auf. »Arbeiten Sie alle Umfragen vollständig und umfassend ab, Ihre Semesterarbeit wird maßgeblich darauf aufbauen. Fragen?«
Sie blickte streng in die Runde.
»Ich muss mal in den Raum um die Ecke«, bemerkte ich verlegen.
»Machen Sie es kurz«, erwiderte Doktor Simoni und ich lief begleitet von unterdrücktem Kichern in den Nebenflur zu den Toilettenräumen. Dort schaufelte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, um damit die beißenden Worte abzuwaschen. Du schaffst das, spornte ich mich an, holte tief Luft und verließ mit zitternden Knien den Toilettenraum. Draußen griff jemand meine Hand, es war Aidan.
»Alix, ist alles in Ordnung mit dir?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nimm dir das nicht zu Herzen, okay?«, flüsterte er. »Das wollen die doch nur. Die haben doch keine Ahnung!«
»Ahnung wovon?«, fragte ich.
»Dass du etwas Besonderes bist«, antwortete er und wurde so rot, dass er sein Gesicht kurz abwandte. »Jetzt verschwinde ich mal um die Ecke«, bemerkte er und ging an mir vorbei, sein Handrücken strich über meinen. Ich wünschte mir, der Moment möge noch ein bisschen anhalten, da schlossen sich seine Finger wieder sachte um meine und gaben sie nur zögernd frei.
Noch ganz in Gedanken erreichte ich unsere Ethikgruppe.
Doktor Simoni empfing mich mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr, ich schaute nach einem Platz, an dem ich nah, doch mit dem erwünschten Abstand zu den nächsten Schülern stehen konnte. Als ich an Abeli vorüberkam, wisperte sie kaum hörbar: »Hat Mami ihrem Wunderkind Frühstück eingepackt?«