Novembertage - Rolf Steininger - E-Book

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Rolf Steininger

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Beschreibung

Ein Jahrhundert der Extreme: Rolf Steininger schildert anhand von 21 "Novembertagen", welche Ereignisse und Entscheidungen des 20. Jahrhunderts unsere Welt nachhaltig geprägt haben. Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Extreme: Die erste Hälfte wurde von zwei Weltkriegen geprägt, die zweite vom Kalten Krieg. In dieser Zeit kam es zu Ereignissen und Entscheidungen, die die Geschichte nachhaltig geprägt haben. Dabei fällt ein interessantes Phänomen auf: Erstaunlich viele dieser geschichtsträchtigen Momente fanden im November statt - seien es das Ende des Ersten Weltkrieges, der Hitlerputsch von 1923, der nationalsozialistische Pogrom an den Juden 1938 oder der Fall der Berliner Mauer. Der renommierte Zeithistoriker Rolf Steininger untersucht 21 dieser "Novembertage" näher. Beginnend mit der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 bis hin zur Ermordung von Israels Regierungschef Yitzhak Rabin am 4. November 1995 nimmt er diese Schicksalstage des 20. Jahrhunderts ins Visier. Übersichtlich, lebendig und fundiert schildert er, was unsere Welt geprägt, erschüttert und verändert hat.

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Rolf Steininger

Novembertage

Rolf Steininger

Novembertage

Entscheidungen und Ereignisseim 20. Jahrhundert

StudienVerlag

InnsbruckWienBozen

Inhalt

Einleitung

1.    2. November 1917: Die Balfour-Deklaration: „Nationale Heimstätte für das jüdische Volk.“

2.    7. November 1917: Die Russische Revolution

3.    3.–12. November 1918: Das Kriegsende in Deutschland und Österreich

4.    9. November 1923: Der Hitler-Putsch

5.    9. November 1938: Die Pogromnacht

6.    22. November 1942: Die Einkesselung der 6. Armee in Stalingrad

7.    1. November 1943: Die Moskauer Deklaration

8.    29. November 1947: Die UNO-Resolution 181: Teilung Palästinas in zwei Staaten

9.    24. November 1950: Die Volksrepublik China greift in den Koreakrieg ein

10. 1. November 1952: Die Zündung der ersten Wasserstoffbombe „Ivy Mike“

11. 4. November 1956: Sowjetische Truppen schlagen den Volksaufstand in Ungarn nieder

12. 5. November 1956: Großbritannien, Frankreich und Israel führen Krieg gegen Ägypten

13. 17. November 1957: Der Südtiroler Protest in Sigmundskron

14. 10. November 1958: Chruschtschow löst die Berlinkrise aus

15. 1. November 1963: Diems Sturz und Ermordung

16. 22. November 1963: Die Ermordung von John F. Kennedy

17. 5. November 1968: Die Wahl von Richard M. Nixon zum US-Präsidenten

18. 22. November 1969: Die Entscheidung für die Autonomie Südtirols

19. 20. November 1977: Der Besuch von Ägyptens Präsident Sadat in Jerusalem

20. 9. November 1989: Der Fall der Berliner Mauer

21. 4. November 1995: Die Ermordung von Yitzhak Rabin

Einleitung

Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Extreme. Die erste Hälfte wurde von zwei Weltkriegen geprägt, die zweite vom Kalten Krieg. Dabei wird beim Rückblick auf den Ersten Weltkrieg oft der bekannte amerikanische Diplomat George F. Kennan zitiert, der diesen „großen Krieg“ im Jahre 1979 einmal – in deutscher Übersetzung – die „Urkatastrophe des 20 Jahrhunderts“ genannt hat. Das englische Original zeigt dabei sehr viel präziser, was Kennan meinte. Er spricht von der „seminal catastrophe of this century“. Seminal kommt von semen, der Same. Kennan wollte damit sagen, dass im Ersten Weltkrieg der Same für weitere Katastrophen angelegt war. Die größte Katastrophe war zweifelsohne der Zweite Weltkrieg, weil es nach 1918 nicht gelang – um im Bild zu bleiben –, den Samen für das Unkraut Krieg zu vernichten. Der Erste Weltkrieg führte zum Untergang der Monarchien in Deutschland, in Österreich-Ungarn und in Russland und zum Zerfall des Osmanischen Reiches und legte den Grundstein für etliche der nachfolgenden Katastrophen. Mit dem Kriegsende 1918 und den Friedensverträgen von 1919 wurde der Friede jedenfalls nicht gewonnen, weder in Europa, noch im Nahen Osten. Das vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson verkündete Selbstbestimmungsrecht wurde nicht realisiert, stattdessen in den sogenannten Friedensverträgen willkürlich neue Grenzen gezogen und zahlreiche Minderheitenprobleme geschaffen. Der Vertrag von St. Germain machte aus Österreich ein Land, das „niemand wollte“ und letztlich 1938 im Anschluss an Deutschland endete. Der Vertrag von Versailles war für die Deutschen von Anfang an „unannehmbar“. Der Artikel 231, in dem die Alleinschuld für diesen Krieg Deutschland zugewiesen wurde, vergiftete das politische Klima in Deutschland von Anfang an und trug viel zum Scheitern der Weimarer Republik bei. Der amerikanische Außenminister Robert Lansing beurteilte den Vertrag von Versailles, den er mit zu verantworten hatte, 1921 einmal so:

„Prüft den Vertrag und ihr werdet finden, dass Völker gegen ihren Willen in die Macht jener gegeben sind, die sie hassen, während ihre wirtschaftlichen Quellen ihnen entrissen und anderen übergeben sind. Hass und Erbitterung, wenn nicht Verzweiflung, müssen die Folgen derartiger Bestimmungen sein. Es mag Jahre dauern, bis diese unterdrückten Völker im Stande sind, ihr Joch abzuschütteln, aber so gewiss wie die Nacht auf den Tag folgt, wird die Zeit kommen, da sie den Versuch wagen.“

Es dauerte genau 18 Jahre, bis Nazideutschland diesen Versuch wagte. Das Ergebnis ist bekannt. Und insofern erfüllte sich das, was Frankreichs Marschall Ferdinand Foch 1919 nach der Unterzeichnung gesagt hatte: „Dies ist kein Frieden. Es ist für 20 Jahre ein Waffenstillstand.“

Genauso kam es. Adolf Hitler plädierte zwar öffentlich für eine Revision von Versailles, tatsächlich plante er aber von Anfang den Krieg, den er 1939 entfesselte und der mit dem Unternehmen „Barbarossa“ – dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 – zum ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg der Neuzeit wurde. Nirgends wird die Verflechtung von Ideologie und Kriegsführung so deutlich wie in diesem Krieg. Ideologie hieß: Ostexpansion, Eroberung, Beherrschung und Ausbeutung des europäischen Teiles der Sowjetunion als „Lebensraum“ für die deutschen „Herrenmenschen“, Ausrottung des Bolschewismus, Vernichtung des Judentums. Mit dem Untergang der 6. Armee im Winter 1942/43 in Stalingrad war dann allerdings nicht nur für alle sichtbar der Mythos von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht dahin, Stalingrad wurde auch zu einem der entscheidenden militärischen Wendepunkte im Zweiten Weltkrieg.

Wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde aber auch am Ende des Zweiten Weltkrieges der Friede nicht wirklich gewonnen. Es gab zwar die Vereinten Nationen, aber nicht die „eine Welt“, die dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt vorgeschwebt hatte. Das Gegenteil war der Fall. Mit dem Sowjetdiktator Stalin war eine Kooperation über den Krieg hinaus nicht möglich. Es begann das, was als Kalter Krieg in die Geschichte eingegangen ist. Bis 1990/91 war die Welt in zwei Lager geteilt, die sich unversöhnlich gegenüberstanden: auf der einen Seite die westlichen Demokratien unter Führung der USA, auf der anderen Seite die kommunistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion. Mit der Atombombe waren beide Seiten in der Lage, sich gegenseitig zu vernichten. Aber dazu ist es nicht gekommen: Die Bombe sorgte dafür, dass der Kalte Krieg ein kalter Krieg blieb. Das änderte allerdings nichts daran, dass es zahlreiche Krisen, Kriege und Stellvertreterkriege gab: es gab weiter Minderheitenprobleme, es gab den Koreakrieg, es gab und gibt die Dauerkrise im Nahen Osten mit gleich mehreren Kriegen, es gab den Ungarnaufstand, die Berlinkrise, die Kubakrise und Amerikas Weg in den Vietnamkrieg. Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 läutete dann eine neue Phase in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West ein. Als der Kalte Krieg mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 zu Ende ging, war das allerdings nicht das Ende der Geschichte, wie es damals auch hieß.

Lässt man das 20. Jahrhundert Revue passieren, so kann man etwas Erstaunliches feststellen: Einige der wichtigsten Entscheidungen und Ereignisse fallen immer in einem bestimmten Monat, nämlich im November. Ich habe 21 dieser „Novembertage“ einmal näher untersucht. Es beginnt mit dem

2. November 1917, der sogenannten Balfour-Deklaration – so genannt nach dem britischen Außenminister Arthur James Balfour – mit der Zusage der britischen Regierung gegenüber den Zionisten, sie beim Aufbau einer „nationalen Heimstätte in Palästina“ zu unterstützen. Ein Dokument mit Auswirkungen im Nahen Osten bis auf den heutigen Tag. Am

7. November 1917 übernehmen die Bolschewisten in Russland die Macht. Der Sieg der Kommunisten führt zur Sowjetunion, die immerhin bis 1991 existiert. Dann der

3.–12. November 1918: Ende der Monarchien und Kriegsende für Deutschland und Österreich mit verheerenden Folgen für beide Länder, die in den folgenden Jahren nicht zur Ruhe kommen. Eine Konsequenz für Deutschland ist am

9. November 1923 der Versuch Adolf Hitlers, die Macht an sich zu reißen. Der Hitler-Putsch mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle scheitert bekanntlich, aber Hitler wird trotzdem später „Führer“ und Reichskanzler des Deutschen Reiches und gibt am

9. November 1938 grünes Licht für die sogenannte Reichskristallnacht, der Pogrom gegen die Juden, ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Holocaust. Hitler entfesselt den Zweiten Weltkrieg, wo am

22. November 1942 die Einkesselung der 6. Armee vor Stalingrad durch die Rote Armee den Untergang dieser Armee einleitet, der gleichzeitig zum Wendepunkt des Krieges wird. Am

1. November 1943 veröffentlichen die Außenminister Großbritanniens, der Sowjetunion und der USA zum Abschluss ihrer Konferenz in Moskau die „Moskauer Deklaration“, die zur „Geburtsurkunde“ von Österreichs 2. Republik wird und gleichzeitig den „Opfermythos“ dieser Republik begründet. Am

29. November 1947 entscheidet die UNO die Teilung Palästinas in zwei Staaten, einen jüdischen und einen arabischen, und institutionalisiert damit nachgerade den Nahostkonflikt. Am

24. November 1950 greift die Volksrepublik China in den Koreakrieg ein und stellt die Truman-Administration damit vor die Alternative: Ausweitung des Krieges mit Einsatz der Atombombe oder Waffenstillstand. Am

1. November 1952 zünden die Amerikaner die erste Wasserstoffbombe. Damit beginnt eine neue Runde im Wettrüsten. Am

4. November 1956 schlagen sowjetische Truppen den Aufstand in Ungarn gewaltsam nieder. Die USA greifen nicht ein. Damit wird eine unsichtbare Linie bestätigt: Osteuropa bleibt sowjetisches Herrschaftsgebiet. Am

5. November 1956 überfallen Großbritannien, Frankreich und Israel Ägypten. Damit wird gleichzeitig das Ende der britischen Herrschaft im Nahen Osten eingeläutet; die USA übernehmen ihre Position. Am

17. November 1957 protestieren 35.000 Südtiroler auf Schloss Sigmundskron gegen die italienische Politik in ihrem Land. Von nun an weht ein scharfer politischer Wind in Südtirol. Am

10. November 1958 löst Sowjetdiktator Chruschtschow mit einer Rede im Moskauer Sportpalast die neue Berlinkrise aus. Der Bau der Mauer und die zurückhaltende Reaktion des Westens führt letztlich zu Willy Brandts „Ostpolitik“. Am

1. November 1963 wird Südvietnams Regierungschef Diem gestürzt und am nächsten Tag ermordet. Damit beginnt der Weg der USA in den „Sumpf“ Vietnam. Am

22. November 1963 wird US-Präsident John F. Kennedy ermordet, ein emotionales Ereignis der ganz besonderen Art. Für viele ist dies das abrupte Ende einer neuen Zeit, für die der dynamische Präsident geradezu zum Symbol geworden ist und der bei den zwei größten Krisen des Kalten Krieges – Berlin und Kuba – das „finale Scheitern“, sprich Atomkrieg, letztlich verhindert hat. Am

5. November 1968 wird Richard M. Nixon zum 37. Präsidenten der USA gewählt. Er hat die Wahl mit dem Versprechen gewonnen, den Krieg in Vietnam zu beenden und wird der erste Präsident, der einen Krieg verliert und zurücktreten muss. Am

22. November 1969 treffen die Südtiroler eine Entscheidung für die Autonomie, die heute vielfach als Modell für die Lösung von Minderheitenkonflikten in anderen Ländern gilt. Am

20. November 1977 besucht Ägyptens Präsident Sadat den Erzfeind aller Araber, Israel, und hält vor der Knesset in Jerusalem eine bedeutende Rede. Am Ende steht der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel. Am

9. November 1989 fällt die Berliner Mauer, ein Ereignis, mit dem das Ende des Kalten Krieges eingeläutet wird. Am

4. November 1995 wird Israels Premierminister Yitzhak Rabin ermordet. Sein Tod bedeutet das Ende des Friedensprozesses im Nahen Osten.

Diese 21 „Novembertage“ waren von Januar bis Mai 2018 jeweils am Samstag von 19:40 bis 20:00 Uhr Thema einer Hörfunkserie auf Rai Südtirol. Mein besonderer Dank gilt der Programmdirektorin von Rai Südtirol, Frau Dr. Renate Gamper, für die gute Zusammenarbeit und das freundliche Arbeitsklima im Funkhaus in der Bozner Mazzinistraße. Die Texte werden hier gesammelt vorgelegt. Für die Übernahme danke ich dem Studienverlag, und hier insbesondere dessen Verleger Markus Hatzer, der dem Projekt spontan zustimmte. Dr. Harald Dunajtschik möchte ich herzlich für die kritische Lektüre des Manuskripts danken.

Nach dem Ersten Weltkrieg sind die Briten die Herren im Nahen Osten. Palästina ist britisches Mandatsgebiet. Im Bild: britische Soldaten im jüdischen Viertel von Jerusalem. Im Hintergrund der Felsendom.

1.

2. November 1917: Die Balfour-Deklaration: „Nationale Heimstätte für das jüdische Volk.“

Am 2. November 1917 schickte der britische Außenminister Arthur James Balfour folgenden Brief an den Präsidenten der Zionistischen Föderation in Großbritannien, Lord Lionel Walter Rothschild:

„Lieber Lord Rothschild,

ich habe die große Freude, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgende Sympathieerklärung für die jüdisch-zionistischen Bestrebungen zu übermitteln. Sie hat dem Kabinett vorgelegen und wurde von ihm gebilligt.

Die Regierung Seiner Majestät betrachtet die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen und wird keine Mühe scheuen, um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei allerdings von der Voraussetzung ausgegangen wird, dass dabei nichts geschieht, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der in Palästina bestehenden nicht-jüdischen Gemeinden oder die Rechte und die politische Stellung der Juden in irgendeinem anderen Lande beeinträchtigen könnte.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung der Zionistischen Förderation zur Kenntnis bringen würden.

Ihr ergebener Arthur James Balfour.“

Diese sogenannte Balfour-Deklaration ist ein Schlüsseldokument des 20. Jahrhunderts und ein Meilenstein in der Geschichte der zionistischen Bewegung und des Staates Israel. Sie hat die Entwicklung im Nahen Osten bis heute geprägt.

Bevor ich näher auf dieses Dokument und seine Vorgeschichte eingehe, werfen wir einen Blick auf die damalige Gesamtlage. Wir befinden uns im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges, in dem der Nahe Osten neben Europa der Hauptschauplatz dieses Krieges war. Die Briten suchten dort im Kampf gegen das Osmanische Reich Verbündete und fanden sie in den Arabern.

Berühmt ist das Schreiben des britischen Hochkommissars in Ägypten, Sir Henry McMahon, an Hussein, den Sherif von Mekka, vom 24. Oktober 1915, in dem es heißt:

„Großbritannien ist bereit, die Unabhängigkeit der Araber anzuerkennen und zu unterstützen innerhalb der Länder, die in den vom Sherif von Mekka vorgeschlagenen Grenzen liegen. Dies wird zu einer festen und dauerhaften Allianz führen, deren unmittelbare Ergebnisse die Vertreibung der Türken aus den arabischen Ländern und die Befreiung der arabischen Völker vom türkischen Joch sein werden, das seit vielen Jahren schwer auf ihnen gelastet hat.“

Acht Monate später, am 15. Juni 1916, erklärten die Araber der Türkei den Krieg. Die Briten erklärten später, der Sherif habe seinen Teil des Abkommens nicht erfüllt: Es habe keinen allgemeinen Aufstand gegeben. Tatsächlich aber war Großbritannien zu keinem Zeitpunkt bereit gewesen, ein großarabisches Reich zu akzeptieren.

Das wird deutlich am sogenannten Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916. Sir Mark Sykes war Nahostexperte im britischen Kriegskabinett, Georges Picot französischer Generalkonsul in Beirut, bevor er Vertreter der französischen Botschaft in London wurde.

In diesem Abkommen wurden die Interessensphären der beiden Mächte abgegrenzt. Die Briten wollten eine Einflusszone vom Mittelmeer bis zum heutigen Irak schaffen, als Verbindungslinie nach Indien, ihrer wichtigsten Kolonie.

Ein zweiter Punkt sollte erst in den folgenden Jahrzehnten besondere Brisanz erhalten: Erdöl. Seit 1907 wurde Öl im südlichen Irak und im südwestlichen Teil des Iran gefördert. Unter Marineminister Winston Churchill war die britische Marine 1912 von Kohle auf Öl umgestellt worden; von daher wurde Öl für die britische Kriegsführung immer wichtiger.

Verwendet man die Namen der später entstandenen Staaten, so sah die Aufteilung etwa folgendermaßen aus: Syrien, Libanon und Nordgaliläa sollten an Frankreich, der mittlere und südliche Irak an Großbritannien fallen, der größte Teil Palästinas einer internationalen Verwaltung unterstellt werden. Die Bucht von Haifa sollte als britische Enklave einen Sonderstatus erhalten und über eine Eisenbahnlinie mit Bagdad verbunden werden. Haifa selbst würde Endpunkt einer Ölpipeline aus dem Irak sein. Der von den Briten den Arabern zugesagte Staat sollte in eine französische Einflusszone im Norden und eine britische im Süden aufgeteilt werden. Palästina – nach heutigen Grenzen der südliche Libanon, die syrischen Golanhöhen, Israel, die Westbank, der Gazastreifen und das westliche Jordanien – war gewissermaßen ausgeklammert worden. Es sollte ein international kontrolliertes Gebiet werden. Im britischen Kriegskabinett setzte sich aber schon bald die Auffassung durch, dass dieses Gebiet unter allen Umständen unter alleinige britische Kontrolle gebracht werden müsse. Vor allen Dingen der südafrikanische General Smuts, Mitglied des Kriegskabinetts, sah darin die einzige Möglichkeit, Ägypten und den Suezkanal zu schützen. Jede andere Macht in Palästina müsse zu einer Bedrohung für das britische Weltreich werden.

Eine entsprechende Entscheidung traf das Kriegskabinett am 1. Mai 1917.

Die Zionisten in Großbritannien, angeführt von Chaim Weizmann, nutzten dies für ihre Ziele: Palästina als Staat für die Juden. Weizmann war eine der überragenden Gestalten des Zionismus, damals zwar ein Staatsmann ohne Staat – er wurde 1949 der erste Präsident Israels –, aber er kann zu den eigentlichen Siegern des Ersten Weltkrieges gezählt werden. Geboren 1874 in Russland als Sohn einer wohlhabenden Familie war er 1892 nach Deutschland gegangen, hatte dort Chemie studiert, bevor er 1897 in die Schweiz ging, wo er 1899 an der Universität Freiburg promovierte. 1901 war er bereits Professor an der Universität Genf, bevor er dann 1904 an die Universität Manchester wechselte.

Der Erste Weltkrieg wurde für ihn zum Triumph. Ab 1916 leitete er das Forschungslaboratorium der Britischen Admiralität und entwickelte ein Verfahren zur künstlichen Herstellung von Azeton, einem wichtigen chemischen Bestandteil von Sprengstoffen. Er war ein glühender Zionist und ein begnadeter Lobbyist – und er nutzte seine gesellschaftlichen Kontakte. Ihm gelang es, wichtige Persönlichkeiten in Großbritannien, vor allem den einflussreichen Herausgeber des „Manchester Guardian“, C.P. Scott, für die Idee des Zionismus und die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina zu gewinnen. Außenminister Balfour, der an einer Stelle einmal meinte: „Ich bin ein Zionist,“ traf Rothschild und Weizmann am 19. Juni 1917 und bat um den Entwurf einer entsprechenden „Formel“.

Die Gründe für diesen Schritt waren vielfältig, wobei es primär um die erwähnte Kontrolle des Landes zur Absicherung des Suezkanals ging. Wichtig war, die amerikanischen Juden zu gewinnen. Man hoffte, dass jene Juden, die Einfluss auf Präsident Woodrow Wilson hatten, ihn davon überzeugen konnten, die britische Besatzung Palästinas zu akzeptieren.

In den USA lebten damals etwa 4 Millionen Juden, die zunächst wenig mit dem Zionismus anfangen konnten. Die zionistische Bewegung erhielt erst während des Ersten Weltkrieges größeren Zulauf: Die Mitgliedszahlen stiegen von 5.000 auf 150.000. Einer der führenden Zionisten war Louis Brandeis, der 1917 als erster Jude überhaupt Mitglied des Obersten Gerichts in Washington geworden war. Präsident Wilson hatte schon damals eine Vorliebe für die Selbstbestimmung der Völker geäußert – offiziell dann im Januar 1918 mit seinen berühmten 14 Punkten. Zionismus schien jetzt umso attraktiver, denn dies bedeutete auch jüdische Selbstbestimmung in Palästina, aus britischer Sicht der geeignete Deckmantel für eine britische Kontrolle des Gebiets, die Wilson ansonsten wohl als imperialistische Aktion der Briten nicht akzeptiert hätte. Auch Frankreich befürwortete inzwischen eine „Wiedergeburt der jüdischen Nation“ in Palästina, wie der französische Außenminister Jules Cambon klarmachte. Würde man den Zionismus fördern, würde man das vielzitierte Weltjudentum für sich gewinnen, es könnte möglicherweise dazu führen, die russischen Juden dazu zu bringen, Russland zum Weiterkämpfen zu veranlassen. Möglicherweise wollte man auch einer deutschen Zusage an die Juden Mittel- und Osteuropas zuvorkommen, dort einen eigenen Staat zu errichten.

Weizmann legte einen Entwurf vor, wonach die britische Regierung „die Wiederherstellung Palästinas als nationale Heimstätte des jüdischen Volkes“ akzeptieren und sich verpflichten sollte, „ihr Bestes zu tun, die Erreichung dieses Ziels zu sichern“. Was damit gemeint war, war auch klar: ganz Palästina als jüdischer Staat. Den Arabern sollten alle möglichen Garantien für kulturelle Autonomie gegeben werden, aber „der Staat muss jüdisch sein“.

In London stellte sich zunächst der für Indien zuständige Minister, Edwin Montagu, einziger Jude im Kriegskabinett, gegen eine solche Erklärung. Er fürchtete, dass bei einem möglichen Judenstaat die Auseinandersetzung über die doppelte Loyalität der Juden wieder heraufbeschworen würde und die Stellung der assimilierten Juden gefährdet werden könnte. Für ihn waren die Juden keine Nation, und eine „nationale Heimstätte“ würde sie zu Fremden in jenen Ländern machen, in denen sie lebten. In einem Schreiben an Premierminister Lloyd George wies er darauf hin, dass jede antisemitische Organisation und jede antisemitische Zeitung fragen würde, mit welchem Recht ein jüdischer Minister in der britischen Regierung tätig wäre, wenn doch Palästina die nationale Heimstätte des jüdischen Volkes sei. Wie solle er, so fragte er, mit den Indern verhandeln, wenn die britische Regierung öffentlich erklären würde, dass seine Heimat irgendwo in der Türkei liege?

Sir Alfred Milner, ebenfalls Mitglied des Kriegskabinetts, war zwar für eine Erklärung, wonach die britische Regierung die Errichtung einer Heimstätte für das jüdische Volk unterstütze – allerdings nur in Palästina. Es sollte darin mit Blick auf die Araber und die Sicherheit der eigenen politischen Interessen weder die Rede von Staatsbildung sein noch dass eine solche Heimstätte ganz Palästina umfasse. Er bestand zudem auf Garantien für die in Palästina lebenden Araber.

George Curzon, wenig später Außenminister, wollte wissen, wie denn die Moslems in Palästina entfernt werden sollten, damit Juden dort einwandern konnten. Seiner Meinung nach hatte das Land nur für wenige Menschen Platz, und die 500.000 Moslems würden sich nicht damit zufrieden geben, „entweder von den jüdischen Einwanderern enteignet zu werden oder als simple Holzhacker und Wasserträger zu dienen“. Mark Sykes sah das anders. Für ihn war klar, warum Palästina ein so wenig einladendes Land geworden war: Die Araber, „von Natur aus eine faule und träge Rasse“, hätten das Land einfach vernachlässigt. Bei entsprechendem Bemühen könne die Bevölkerung in sieben Jahren verdoppelt werden. Curzon widersprach: Seiner Meinung nach konnte Palästina auf diese Weise nicht weiterentwickelt werden. Es sei notwendig, die heiligen Stätten der Moslems und Christen in Jerusalem und Bethlehem weiter zu kontrollieren. Das würde bedeuten, dass die Juden keine Hauptstadt in Palästina bekommen würden.

Am 31. Oktober genehmigte das Kriegskabinett die oben zitierte Deklaration, die am 2. November an Rothschild geschickt wurde. Der letzte Halbsatz ging auf die Einwände von Montagu zurück, der vorletzte Absatz nahm Rücksicht auf Milners Einwände mit Blick auf die Zukunft der 90-prozentigen Mehrheit der Araber in Palästina (zu jenem Zeitpunkt etwa 500.000 gegenüber 50.000 Juden); es ging hier nur noch um ihre bürgerlichen und religiösen Rechte, was implizierte, dass die politischen Rechte für die Juden reserviert waren, sobald sie eine Mehrheit erreicht hatten. Dass die 90-prozentige arabische Mehrheit dabei als „nicht-jüdische Gemeinden“ bezeichnet wurde, war bezeichnend.

Obwohl die Deklaration nicht alle Wünsche der Zionisten erfüllte, schrieb Weizmann damals an Balfour: „Seit Kyros dem Großen hat es kein Bekenntnis mehr gegeben, das von größerer politischer Klugheit und nationaler Gerechtigkeit gegenüber dem jüdischen Volk geprägt war als diese denkwürdige Erklärung.“

Die Hoffnungen hinsichtlich der Juden in Deutschland und Österreich wurden nicht erfüllt, obwohl über den deutschen und österreichischen Truppen Flugblätter abgeworfen wurden, in denen die Juden aufgefordert wurden, sich den Entente-Mächten zuzuwenden, da diese die jüdische Selbstbestimmung unterstützten. Nichts dergleichen geschah. Und in Russland übernahmen die Bolschewisten am 7. November 1917 die Macht und eröffneten Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich.

Auf den Kriegsverlauf hatte das Dokument demnach keine Auswirkungen, aber es wurde 1922 in das britische Völkerbundmandat für Palästina übernommen, wurde damit Völkerrecht und verpflichtete die Briten, bei der Schaffung jener „nationalen Heimstätte in Palästina“ für das jüdische Volk „keine Mühe zu scheuen“. Dass sie dabei am Ende scheiterten, ist eine andere Frage.

 

Literatur:

Rolf Steininger, Der Nahostkonflikt, Frankfurt am Main 2005/2018.

Rolf Steininger, Deutschland und der Nahe Osten. Von Kaiser Wilhelms Orientreise

1898 bis zur Gegenwart, Reinbek 2015.

Rolf Steininger, Der Große Krieg 1914–1918 in 92 Kapiteln, Reinbek 2016.

Rolf Steininger (Hrsg.), Der Kampf um Palästina 1924–1939, München 2007.

 

Hörfunk:

Die Entstehung Israels: Von der Basler Resolution 1897 bis zur Unabhängigkeitserklärung 1948; Ö1 Betrifft Geschichte: Februar 2018, abrufbar unter www.rolfsteininger.at

Die Zahl 7, der Zionismus und der Staat Israel; Rai Südtirol, 7x 20 Minuten, jeden Samstag im Dezember 2017;

Die Vorgeschichte Israels, 20 Min., 6.5.2018, Rai Südtirol; abrufbar unter www.senderbozen.rai.it (Radio, Mediathek)

Die Russische Revolution: Für viele Menschen beginnt ein neues Zeitalter.

2.

7. November 1917: Die Russische Revolution

Am 2. November 1917 hatten die Briten in der sogenannten Balfour-Deklaration den Zionisten zugesagt, bei der Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk keine Mühe zu scheuen. Eine der Überlegungen dabei war die Hoffnung gewesen, die russische Führung – zumeist Juden – dazu zu bringen, Russland zum Weiterkämpfen zu veranlassen. Nur fünf Tage später war das Thema erledigt: am 7. November übernahmen die Bolschewisten die Macht in Russland und eröffneten Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich.

Wie war es dazu gekommen?

Versorgungsmängel, Lebensmittelknappheit, Hunger, um sich greifende Krankheiten: das waren Symptome einer Kriegswirtschaft, die es in verstärktem Umfang in allen am Krieg beteiligten Ländern gab. Auch in Russland, aber nur dort hatten sie schon im Frühjahr 1917 zur Revolution geführt.

Anfang März 1917 reichten die Getreidevorräte für die Hauptstadt Petrograd nur noch für ein paar Tage. Die Ankündigung, Brot zu rationieren, führte zur Explosion. Am 23. Februar (8. März; in Russland galt der von der orthodoxen Kirche beibehaltene alte julianische Kalender, der 13 Tage hinter dem im Westen üblichen gregorianischen Kalender zurücklag; am 14. Februar 1918 von den Bolschewiken abgeschafft) demonstrierten Textilarbeiterinnen in Petrograd mit der Forderung nach Brot; am nächsten Tag protestierten bereits 200.000, am 25. Februar kam es zum Generalstreik.

In der Vergangenheit hatte die zaristische Regierung solche Unruhen jeweils gewaltsam niedergeschlagen. Das gelang jetzt nicht mehr: die gesamte Petrograder Garnison lief nämlich zu den Demonstranten über. Es bildete sich eine Konkurrenzverwaltung: auf der einen Seite die Regierung, auf der anderen Seite außerhalb des Parlaments das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjet als Arbeiter- und Soldatenrat, der zu zwei Dritteln aus desertierten Soldaten bestand. Immerhin befürworteten beide Gremien eine Fortsetzung des Krieges: die Regierung aus nationalistischen Gründen und um weiter Partner des Westens zu bleiben, das Exekutivkomitee aus Furcht, eine Niederlage gegen Deutschland würde zur Gegenrevolution führen. Für beide war auch klar, dass dies nur ohne Zar Nikolaus gehen würde, der für bis dahin 2,7 Millionen Tote und Verwundete und vier Millionen Kriegsgefangene verantwortlich war. Der Zar trat denn auch folgerichtig am 2. März zurück, nachdem ihm am Tag zuvor sein Generalstabschef klargemacht hatte:

„Eine Revolution in Russland bedeutet eine schmachvolle Beendigung des Krieges mit all ihren unvermeidlichen und für Russland schlimmen Folgen.

[…] Es ist unmöglich, von der Armee ungerührt zu verlangen, Krieg zu führen, während im Hinterland eine Revolution vor sich geht.“

Der Führer der Bolschewisten, Wladimir Iljitsch Lenin, erfuhr im Exil in Zürich von den Vorgängen in Russland und sagte deutschen Diplomaten bei Gelingen der Revolution einen sofortigen Friedensschluss zu, falls ihm die Reichsregierung die Rückreise nach Russland ermöglichen würde. Die Deutschen sagten zu. Das Ergebnis waren 82 Millionen Goldmark Unterstützung für Lenin – nach heutigem Wert etwa 500 Millionen Euro – und der legendäre plombierte Bahnwaggon, der Lenin und seine Genossen von Zürich über Frankfurt am Main und Berlin auf die Insel Rügen brachte; von dort ging es über Kopenhagen und Stockholm weiter nach Petrograd.

Um nicht in den Verdacht der Kollaboration mit den Deutschen zu geraten, hatte Lenin auf exterritorialen Status des Waggons bestanden – und ganz pragmatisch durch einen Kreidestrich deutsches von russischem Territorium getrennt. Für die Benutzung der Toiletten entwickelte er ein der Kriegslage angepasstes spezielles System von Bezugsscheinen. Am 16. April traf er in Petrograd ein und verkündete noch am Bahnhof seine „Aprilthesen“: Frieden ohne Annexionen und Kontributionen! Alle Macht den Sowjets! Keine Unterstützung der provisorischen Regierung! Zerschlagung des bürgerlichen Staates! Enteignung des adligen Grundbesitzes! Keine parlamentarische, sondern eine Räterepublik! Der Stockholmer Resident des deutschen Geheimdienstes telegrafierte nach Berlin: „Lenin Eintritt nach Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch.“

Der neue russische Ministerpräsident hieß Fürst Georgi Lwow, der neue Kriegsminister Alexander Kerenski, der General Brussilow zum Generalstabschef ernannte. Der begann am 18. Juni 1917 die zweite nach ihm benannte, vermeintlich letzte Offensive. Die scheiterte bekanntlich. Es kam zu Befehlsverweigerung und massenhafter Fahnenflucht. Während deutsche und österreichische Truppen bei ihrer Gegenoffensive weit nach Osten vorstießen, kam es in Petrograd Mitte Juli erneut zu Massendemonstrationen, wo Lenin versuchte, seine Aprilthesen zu verwirklichen. Kerenski konnte den Aufstand aber niederschlagen, die Partei wurde verboten, Lenin flüchtete nach Finnland. Für die Bolschewiki insgesamt ein Desaster.

Kerenski ernannte den für seine Disziplin berüchtigten Kosakengeneral Lawr Kornilow zum Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte, in der Hoffnung, damit wieder Ordnung in die meuternden Truppen bringen und die innenpolitische Lage stabilisieren zu können. An der Front wurde die im Zuge der Februarrevolution abgeschaffte Todesstrafe wieder eingeführt. Unter den Soldaten erzeugte dies, so schrieb eine Sekretärin des Zentralkomitees der Bolschewiki in einem Brief, „einen fürchterlichen Aufruhr und eine Explosion der Feindschaft gegenüber den Offizieren“. Kornilow wollte dann aber die Regierung stürzen und selbst die Macht übernehmen. In einem Aufruf an das russische Volk verkündete er:

„Russen! Unser Land stirbt, die Stunde seines Todes ist nahe. Ich muss jetzt offen handeln. Ich, General Kornilow, erkläre, dass die Provisorische Regierung unter dem Druck der bolschewistischen Mehrheit des Sowjets im Einverständnis mit dem deutschen Generalstab steht. Sie ist drauf und dran, die Armee zu morden und das Land in den Ruin zu stürzen.“

Der Putschversuch scheiterte mithilfe der Roten Garden, die Kerenski bewaffnen ließ. Das Juli-Desaster war damit vergessen, die Reputation der Bolschewiki unter den Massen höher als je zuvor. Das Verbot ihrer Partei wurde aufgehoben, verhaftete Funktionäre wurden freigelassen; darunter Leo Trotzki, der im Mai 1917 aus dem New Yorker Exil zurückgekehrt war. Lenin blieb zunächst im Versteck in Finnland. Von dort schrieb er: „Abwarten wäre Verbrechen, Verzögerung Verrat an der Revolution und bedeutet den Tod.“ Er drängte zum Aufstand.

In dieser innenpolitisch äußerst labilen Lage in Russland starteten die Deutschen eine neue Offensive. General Ludendorff war davon überzeugt, dass jetzt der Moment gekommen war, der russischen Armee den Todesstoß zu versetzen und das russische Baltikum einzunehmen. Am 3. September besetzten Verbände der 8. Armee Riga, nachdem die Russen am Tag zuvor die Stadt in aller Eile geräumt hatten. Von Riga aus konnte Petrograd unter Druck gesetzt werden. In den folgenden fünf Wochen bauten die Deutschen ihren Erfolg durch ein erstmals durchgeführtes kombiniertes Unternehmen von Heer und Marine in der Rigaer Bucht aus. An dieser Operation „Albion“ waren ein 25.000 Mann starkes Landungskorps und von der Hochseeflotte 11 Linienschiffe, 9 Kleine Kreuzer, 41 Torpedoboote, mehrere Minensuchboote und etwa 100 Marineflugzeuge beteiligt.

Die Regierung unter Kerenski erwartete den deutschen Vormarsch auf Petrograd und bereitete die Evakuierung Revals und die eigene Verlegung nach Moskau vor, was die Sowjets als Verrat verurteilten. Sie richteten ein Militärisches Revolutionskomitee ein, das die Verteidigung der Hauptstadt übernehmen sollte. Anfangs war es noch überparteilich besetzt, doch rasch wurde es allein durch die Bolschewiki kontrolliert, vor allem durch Trotzki. Er baute es zur Kommandozentrale des bolschewistischen Aufstands aus. Den Bolschewiki unter Führung Lenins gelang es, die Führung dieses Komitees zu übernehmen. Es war Lenin, der den Aufstand dann herbeiführte. In den frühen Morgenstunden des 25. Oktober, der 7. November, besetzten aufständische Soldaten auf Befehl des Revolutionskomitees die strategisch wichtigen Einrichtungen der Stadt. Die Regierungssoldaten im Winterpalast gaben ihren Widerstand auf, Kerenski flüchtete in die amerikanische Botschaft.

Am 18. November schlugen die Führer der bolschewistischen Revolution, Lenin und sein Außenminister Leo Trotzki, durch Funkspruch allen kriegführenden Mächten einen Waffenstillstand vor. Die Alliierten lehnten ab, die Mittelmächte stimmten zu. Am 15. Dezember 1917 wurde in Brest-Litowsk der Waffenstillstand unterschrieben.

Am 22. Dezember 1917 begannen dort dann auch die Friedensverhandlungen zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten. Verhandlungsführer waren für das Deutsche Reich Richard von Kühlmann (Staatssekretär des Auswärtigen Amts, d.h. Außenminister) und General Max Hoffmann (als Vertreter der Obersten Heeresleitung; er sprach fließend Russisch); für Österreich-Ungarn Außenminister Ottokar Graf Czernin; für Bulgarien Ministerpräsident Wassil Radoslawow und für das Osmanische Reich Außenminister Talât Pascha.

Am 31. Dezember 1917 schrieb der bekannte Aristokrat und Kosmopolit Harry Graf Kessler in sein Tagebuch: „Mit der russischen Revolution, dem russischen Frieden und der Einmischung Amerikas in Europa ist das Jahr 1917 eines der denkwürdigsten Jahre der Weltgeschichte.“

Die sowjetrussische Delegation wurde in der ersten Verhandlungsrunde bis zum 6. Januar 1918 von Adolf Abramowitsch Joffe geleitet, „ein erst vor kurzem aus Sibirien entlassener Jude“, wie sich Czernin später erinnerte. Nach dem ersten Abendessen notierte Czernin: