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Wie in einem Brennglas findet sich in der Geschichte Südtirols die Geschichte des 20. Jahrhunderts wieder: Vergewaltigung einer Minderheit durch die Faschisten, das Zusammenspiel der Diktatoren Hitler und Mussolini, das 1939 mit der "Option" zur "ethnischen Säuberung" führen sollte. Nach 1945 in den Mühlen des Kalten Krieges, keine Rückkehr nach Österreich, dafür eine Autonomie, die sich als Scheinautonomie erwies. Dann Bomben, Tote, Terror und mit dem "Paket" 1969 der zweite Versuch einer Autonomie, der heute von vielen Modellcharakter zugesprochen wird. Rolf Steininger legt mit seinem neuen Buch erstmals eine Gesamtdarstellung der Südtirolfrage vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart vor. Für wichtige Bereiche - z.B. Bombenkrieg, Gruber-De Gasperi-Abkommen, Erstes Autonomiestatut 1948, die Entwicklung bis 1969 - verwendet der Autor bislang nicht zugängliches Material aus verschiedenen Archiven. Ergänzt wird der Band durch 155 Fotos, von denen zahlreiche erstmals veröffentlicht werden, ein ausführliches Literaturverzeichnis, einen bibliographischen Essay, 44 Fragen und Thesen sowie eine detaillierte Zeittafel und ein Personenregister. Ein wichtiges Buch für alle Freunde Südtirols, das durch seinen klaren Aufbau und die verständliche Sprache auch dem Nichthistoriker einen Einstieg in die jüngste Geschichte Südtirols ermöglicht.
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Seitenzahl: 860
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Rolf Steininger
Südtirolim 20. Jahrhundert
Vom Leben und Überleben einer Minderheit
StudienVerlag
InnsbruckWienMünchenBozen
© 1997 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck
e-mail: [email protected]
Internet: www.studienverlag.at
3. Auflage 2004
Satz: Studienverlag
Umschlag: BitArt-Axel Steininger
Umschlagbild: Bozen 1979: Schützen aus Nord- und Südtirol vor dem Siegesdenkmal. In der ersten Reihe: Hofrat Walter Zebisch, Karl Mitterdorfer; in der zweiten Reihe: Bruno Hosp, Michl Ebner
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-7065-5788-7
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Vorbemerkung
I. November 1918 - Juli 1919: Die Militärregierung
1. Kriegsende und Besatzung
2. Ettore Tolomei (I)
II. 1918/19: Die Teilung Tirols
III. Die Entwicklung bis zur Machtergreifung der Faschisten 1922
1. Die Regierung Nitti
2. Autonomie für Südtirol – ein „Staat im Staate“?
3. 10. Oktober 1920: Die Annexion
4. 24. April 1921: „Blutsonntag“ in Bozen
5. 15. Mai 1921: Parlamentswahlen
6. Juli 1921 bis Februar 1922: Die Regierung Bonomi
7. 1. Oktober 1922: Der Marsch auf Bozen
IV. 19221926: Die Entnationalisierungspolitik der Faschisten
1. Der gescheiterte Burgfrieden
2. Ettore Tolomei (II): Die „Provvedimenti“
3. Italienische Ortsnamen - der Name „Tirol“ verboten
4. Die Ausschaltung der deutschen Presse
5. Die Italianisierung der Schule - die „Lex Gentile“
6. Die Katakombenschule
7. Ettore Tolomei (III): Toponomastik und „Säuberung“ der Familiennamen
V. 19271938: Die Entnationalisierungspolitik der Faschisten
1. Die Errichtung der Provinz Bozen
2. Das Siegesdenkmal
3. Die Zerstörung Südtiroler Denkmäler
4. Weitere faschistische Denkmäler
5. Wasserkraftwerke
6. Öffentliche Bauten und Stadtplanung in Bozen
7. Die Bozner Industriezone
VI. 19201933: Zwischen Rom, Berlin, Innsbruck und Wien
1. Wien und Innsbruck
2. Berlin
VII. 19221938: Südtirol, Hitler und der Nationalsozialismus
1. Hitler und Südtirol
2. Der „Völkische Kampfring Südtirols“ (VKS)
VIII. 1939: Die Option
1. Der Anschluß Österreichs
2. Das englische Angebot im Herbst 1938
3. Das „Hitler-Mussolini-Abkommen“
4. Die Haltung des VKS
5. Gehen oder bleiben? Die Entsolidarisierung unter den Südtirolern
6. Die katholische Kirche
IX. 19401943: Die Umsiedlung
1. Erste Maßnahmen
2. Umsiedlungsapparat und Wiederansiedlung
3. Probeumsiedlungen
X. 19431945: Wiedervereinigt in der „Operationszone Alpenvorland“
1. Gauleiter Franz Hofer und sein „Königreich“
2. Im Bombenkrieg
3. Der Widerstand
4. Die „Alpenfestung“ und das Ende
5. Neubeginn am 8. Mai: Die Gründung der Südtiroler Volkspartei (SVP)
XI. 1945/46: Keine Rückkehr nach Österreich
1. 14. September 1945: „Die Grenze mit Österreich bleibt unverändert.“
2. Herbst 1945: Österreichs Forderung nach Rückkehr Südtirols
3. Januar bis März 1946: Beratungen in Washington und London
4. März 1946: Die Konferenz der stellvertretenden Außenminister
5. Die Politik Wiens im Frühjahr 1946
6. 1. Mai 1946: Die Außenminister lehnen die Rückgabe Südtirols erneut ab
7. Österreich fordert das Pustertal - und Gruber hat einen neuen Plan
8. 24. Juni 1946: Die Außenminister lehnen die Rückgabe des Pustertales ab
XII. 5. September 1946: Das Gruber-De Gasperi-Abkommen
1. Resignation in Wien und neue Überlegungen in London
2. Das Abkommen und seine Aufnahme in den Friedensvertrag mit Italien
3. Die Krise in Paris: Für wen Autonomie?
4. Bilanz
XIII. 1947/1948: Der Weg zum ersten Autonomiestatut
1. Erwartungen der SVP
2. Frühjahr 1947: Die Lage in Südtirol
3. Keine österreichische Note
4. Die SVP-Führung in Rom
5. Kein „sofortiges Eingreifen“ Wiens
6. Autonomie für die Region „Trentino-Tiroler Etschland“
7. Das Pariser Abkommen „nunmehr verwirklicht“? Der Perassi-Brief
XIV. 1947/48: Rückoption und Rücksiedlung
1. 2. Februar 1948: Das „Optantendekret“
2. Die Rücksiedlung
Exkurs: Eine Südtirolerin erinnert sich
XV. 19481969: Von der Scheinautonomie zum „Paket“
1. „Los von Trient!“
2. Die Südtirolfrage vor der UNO
3. Die Attentate
4. Auf dem Weg zum „Paket“
XVI. Die Entwicklung bis zum Jahre 1987
1. Erste Maßnahmen: Neues Autonomiestatut, Schule und Proporz
2. Die Volkszählung von 1981
3. Rückverweisungen und Gleichstellung der deutschen Sprache
4. Das Tiroler Gedenkjahr 1984
5. Die Wahlerfolge des MSI
6. Der Protest der Schützen
XVII. Das Jahr 1988: Alfons Benedikter gegen Silvius Magnago
XVIII. Von der „Streitbeilegung“ 1992 bis heute
Schlußbetrachtung
Anhang
I. Abkürzungsverzeichnis
II. Archivalien
III. Literaturhinweise
IV. Bibliographischer Essay
V. Zeittafel
VI. Fragen und Thesen
VIII. Personenregister
Wer an der Universität Innsbruck Zeitgeschichte lehrt, kommt irgendwann an einem Thema nicht vorbei: Südtirol. Wie in einem Brennglas findet sich in der Geschichte dieses Landes die Geschichte des 20. Jahrhunderts wieder. Es ist alles da: der Erste Weltkrieg mit seinen verheerenden Auswirkungen, die „Friedensverträge“, mit denen zahlreiche Minderheitenprobleme erst geschaffen und verschärft wurden. Ein fast hundertprozentig deutschsprachiges Südtirol, das seit mehr als fünf Jahrhunderten zu Österreich gehört hatte, wurde Italien als „Kriegsbeute“ zugeschlagen – mit der Grenze am Brenner; ein Österreich, das in seiner Schwäche Südtirol nicht beistehen konnte, Vergewaltigung einer Minderheit durch die Faschisten, die Auswirkungen des aufkommenden Nationalsozialismus und schließlich am Ende einer ersten Phase das Hitler-Mussolini-Abkommen aus dem Jahre 1939, das zum Experiment einer „ethnischen Säuberung“ werden sollte. 86 Prozent der Südtiroler trafen damals die Wahl – Option wurde das genannt –, das Land zu verlassen und „Reichsdeutsche“ zu werden; rd. 75.000 gingen tatsächlich. Die Auswirkungen dieser Entscheidung lassen sich von der höchsten Ebene der Regierungen bis hinunter ins kleinste Dorf verfolgen und sind bis heute nicht vergessen.
Dann der Zweite Weltkrieg – mit Italien erst auf der einen, dann auf der anderen Seite – und die entsprechenden Auswirkungen auf Südtirol. Nach Kriegsende ein Italien, das sich demokratisch gab, und ein Südtirol, das frühzeitig in die Mühlen des Kalten Krieges geriet. Eine Rückkehr nach Österreich wurde von den Siegern abgelehnt; sie hielten an der Brennergrenze fest. Auf Druck der Briten kam es dann im September 1946 zu einem Autonomieabkommen zwischen Österreich und Italien. Deutschland spielte nach 1945 keine Rolle mehr, sondern das Österreich der Zweiten Republik, das seit 1946 zwar „Schutzmacht“ Südtirols, aber besetzt und schwach war und erst mit Abschluß des Staatsvertrages 1955 langsam aktiv wurde.
Italien hatte Südtirol 1948 eine Autonomie zugestanden, die sich als Scheinautonomie erwies. Enttäuschte Hoffnungen führten so Ende der fünfziger Jahre zur Verschärfung der Lage in Südtirol – mit der Forderung nach Selbstbestimmung und dann nach einer wirklichen Autonomie. Es folgte Österreichs Weg zur UNO, der begleitet war von Bombenattentaten in Südtirol. Dann gab es Tote, schließlich 1969 mit dem „Paket“ den zweiten Versuch einer Autonomie. Nach jahrzehntelangen Verhandlungen endlich 1992 die offizielle Beilegung des Streits zwischen Österreich und Italien mit einer Autonomie, die als Modell für die Lösung der mit dem neuen Nationalismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts einhergehenden Probleme dienen könnte.
Etwa 40 Kilometer südlich von Innsbruck liegt jene Brennergrenze, hinter der die Ortsnamen zweisprachig sind und wo – zur Überraschung so mancher Touristen aus Deutschland – plötzlich Italien ist, wo die Leute deutsch sprechen, aber auch italienisch, wo man auf dem Waltherplatz in Bozen einen Cappuccino trinken kann und sich mancher fragen mag, wie alles gekommen ist.
Seit Jahren habe ich mich mit diesem Thema am Institut für Zeitgeschichte beschäftigt, Semester für Semester Seminare durchgeführt – großteils mit Studierenden aus Südtirol –, zahlreiche Diplomarbeiten sind entstanden; die erste Dissertation nach Aufnahme meiner Arbeit in Innsbruck 1983 habe ich über Südtirol anfertigen lassen (M. Verdorfer). 1987 habe ich die Darstellung „Los von Rom? Die Südtirolfrage 1945/46 und das Gruber-De Gasperi-Abkommen“ vorgelegt, anschließend verschiedene Aufsätze zum Thema. 1988 haben wir am Institut für Zeitgeschichte eine Vortragsreihe über „Tirol und der Anschluß“ durchgeführt, ein Jahr später eine ähnliche Veranstaltung zum Thema „Option“, 1992 dann eine Vortragsreihe über „Tirol im Ersten Weltkrieg“. Die Vorträge wurden jeweils in Innsbruck und Bozen gehalten, die entsprechenden Veröffentlichungen außerordentlich positiv aufgenommen.
Von 1994 bis 1997 habe ich ein Forschungsprojekt zum Thema „Südtirol nach 1945“ geleitet. Beteiligt waren Dr. Leopold Steurer (Meran), Dr. Michael Gehler und Mag. Eva Pfanzelter, M.A. (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck). Finanziell unterstützt (Archivreisen) wurde das Projekt vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Wien) und dem Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank. Erste Ergebnisse liegen vor: 1. Die Dokumentation von Michael Gehler (Hrsg.), Verspielte Selbstbestimmung? Die Südtirolfrage 1945/46 in US-Geheimdienstberichten und österreichischen Akten, Innsbruck 1996, 642 Seiten. 2. Meine dreibändige Darstellung „Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947–1969“, Bozen 1999 (Bd. 1: 1947– 1959, 710 Seiten; Bd 2: 1960–1962, 690 Seiten; Bd 3: 1962–1969, 750 Seiten), die Anfang 1999 erscheinen wird. Leopold Steurer arbeitet mit italienischen Akten am Thema „Rückoption“, Eva Pfanzelter an ihrer Dissertation „Die USA und Südtirol“. In Zusammenarbeit mit der Südtiroler Landesregierung leite ich z. Zt. ein weiteres Forschungsprojekt zum Thema „Auswanderung“. Dabei geht es um jene Südtiroler, die von Ende der vierziger bis in die sechziger Jahre das Land verlassen mußten, um woanders – zumeist in Deutschland – Arbeit zu finden.
Nach all diesen Aktivitäten, zu denen noch zahlreiche Veranstaltungen und Tagungen in Südtirol kommen, war es einfach an der Zeit, die Dinge einmal zusammenzufassen und eine Gesamtdarstellung zur Südtirolfrage vorzulegen, die bis in die Gegenwart führt. Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, folgende Erläuterungen zum Titel des Buches: Mit „Südtirol“ meine ich die „Südtirolfrage“. Entsprechend setzt die Darstellung mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ein. Erst seit diesem Zeitpunkt gibt es ja das, was wir unter „Südtirolfrage“ verstehen. Zum Untertitel: Unter „Minderheit“ verstehe ich hier die deutschsprachigen Südtiroler in Italien, auch wenn sie logischerweise in Südtirol selbst Mehrheit waren und sind. Beim „Leben und Überleben“ – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft [!] – kann sich jede/r Leser/in ihre/seine eigenen Gedanken machen. Vielleicht geht es ja in einer gesicherten Autonomie erst recht ums Überleben! Von daher habe ich mit Absicht nicht die chronologische Reihenfolge „Überleben und Leben“ gewählt; und von daher steht auch mit Absicht im letzten Satz der Schlußbetrachtung dieses Buches das Wort „Überleben“ – als Mahnung des damaligen (1992) SVP-Obmannes Roland Riz.
Zu Inhalt und Aufbau des Buches: Es ist eine Mischung aus alt und neu, wobei das Neue allerdings überwiegt. Bei den Kapiteln I bis VII sowie IX und X habe ich mich an der vorliegenden Literatur orientiert, ergänzt um einige Aspekte aus italienischer Sicht. Kapitel VIII entspricht weitgehend meinem Beitrag in dem von Klaus Eisterer und mir herausgegebenen Sammelband „Die Option“, der schon seit längerer Zeit vergriffen ist. Kapitel XI und XII sind eine aktualisierte Zusammenfassung meiner o.g., ebenfalls vergriffenen Arbeit über die „Südtirolfrage 1945/46 und das Gruber-De Gasperi-Abkommen“. Die Kapitel XIII und XIV sind aus bislang nicht zugänglichen Akten gearbeitet; es sind die gekürzten Einleitungskapitel aus „Südtirol zwischen Diplomatie und Terror“. Wer mit der Geschichte Südtirols bereits vertraut ist, aber etwas Neues erfahren möchte, der möge die Lektüre mit diesen Kapiteln beginnen. Kapitel X,2 ist ebenfalls neu; hier bin ich meinem Kollegen Ass.Prof. Dr. Thomas Albrich zu besonderem Dank verpflichtet. In Kapitel XV werden neue Ergebnisse aus „Südtirol zwischen Diplomatie und Terror“ wiedergegeben. In den Anmerkungen wird auf die entsprechenden Kapitel dort verwiesen. Bei den Kapiteln XVI bis XVIII stütze ich mich weitgehend auf zeitgenössische Literatur, Zeitschriften, Zeitungen usw.
Der bibliographische Essay kann als Einstieg in die Thematik dienen. Die „Fragen und Thesen“ sind als Anregung für eine Diskussion oder als Vorbereitung auf eine Prüfung gedacht; so oder ähnlich lauten jedenfalls meine Prüfungsfragen. Die Literaturhinweise habe ich mit Absicht sehr ausführlich gehalten und im Sinne der „Benutzerfreundlichkeit“ nach bestimmten Zeitabschnitten gegliedert. Wer gar keine Zeit zum Lesen hat und dennoch wissen möchte, wie es gewesen ist, kann sich anhand der Bilder einen Überblick über die Geschichte Südtirols im 20. Jahrhundert verschaffen (die Legenden sollten allerdings schon gelesen werden). Eine Zeittafel und ein Personenregister runden das Ganze ab.
Zum Schluß ein Wort des Dankes: an erster Stelle meinen bewährten Sekretärinnen Eva Plankensteiner und Mag. Ulrike Scherpereel; dann all jenen Kolleginnen und Kollegen, auf deren Arbeiten ich aufbaue, den Mitarbeitern in den genannten Archiven, den Studierenden, mit denen ich in Seminaren immer wieder über dieses Thema diskutiert habe und die darüber ihre Dissertationen, Seminar- und Diplomarbeiten geschrieben haben, sowie jenen Damen und Herren bzw. Institutionen, die Bildmaterial zur Verfügung stellten (und die im Anhang gesondert aufgeführt werden). Für kritische Lektüre des Manuskripts und so manchen Hinweis in zahlreichen Gesprächen möchte ich insbesondere Dr. Leopold Steurer, DDr. Günther Pallaver, Mag. Eva Pfanzelter, M.A., und Mag. Harald Dunajtschik danken. Eva Pfanzelter und Harald Dunajtschik haben auch die Druckfahnen gelesen und waren bei so mancher Recherche eine große Hilfe. Last but not least danke ich Frau Elfriede Sponring vom StudienVerlag für die Betreuung der Arbeit beim Verlag, Bernhard Klammer für Layout und Satz und meinem Sohn Axel für die Umschlaggestaltung.
Meine Südtiroler Studenten/innen erzählen mir immer wieder, wie wenig sie in der Schule über die Geschichte ihres Landes gehört haben. Offensichtlich gibt es hier ein Defizit. Über die Geschichte Südtirols kann man aber gar nicht genug wissen! Ein Volk, das seine Vergangenheit nicht kennt, wird auch seine Zukunft nicht meistern können. Niemand kann auf Dauer vor der Geschichte davonlaufen. Die Zukunft zu gestalten ist jeweils die Aufgabe einer neuen Generation. Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, wie es gewesen ist – um zumindest den Versuch machen zu können, aus der Vergangenheit zu lernen. Das alles gilt noch viel mehr für eine Minderheit. Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist Voraussetzung für das Leben und Überleben auch und gerade einer Minderheit – da mag eine Autonomie noch so gut sein. Wenn unsere Bücher dabei helfen, hat sich die Arbeit allemal gelohnt.
Innsbruck, im August 1997 Rolf Steininger
1. Kriegsende und Besatzung
2. Ettore Tolomei (I)
Am 3. November 1918 wurde in der Villa Giusti in Abano in der Nähe von Padua der Waffenstillstand zwischen Österreich-Ungarn und Italien geschlossen. Anschließend begann die kampflose Besetzung Südtirols durch italienische Truppen, die bereits am 4. November Salurn, den Mendelpaß und Schluderns erreichten. Es war zwar Waffenstillstand, aber die Lage war alles andere als friedlich. Die k.u.k. Truppen lösten sich im Chaos auf. Erschöpft und hungernd strömten sie durch Südtirol über den Brenner nach Österreich zurück. Raub und Plünderungen waren an der Tagesordnung. Wie chaotisch die Situation damals war, wird in der Pfarrchronik von Kastelruth anschaulich beschrieben:
„Allerseelenwoche [...]. Zug auf Zug fährt gegen den Brenner, vollgepfropft mit den Soldaten. Auf den Waggonstiegen, Perrons, Wagendächern – alles voll Soldaten. Manche werden abgestreift in den Tunnels, überfahren, niemand kümmert sich. Auf der Straße – alles voll Soldaten, endlose Reihen, Tag und Nacht. Die Züge hören auf zu fahren, aber auf dem Bahngleise dafür endlose Reihen von Soldaten, müde zum Umfallen, hungrig, verdrossen, verzweifelt ziehen sie einher. Ein Bild zum Weinen. Manche schießen wild umher. Es ist lebensgefährlich.“1
In der Zeitung „Der Tiroler“ hieß es am 8. November über die Lage in Gries bei Bozen:
„Was Gries seit dem Allerseelentage durch die zurückflutende Soldateska gelitten hat, ist gar nicht zu sagen. Das waren nicht mehr Soldaten, sondern eine wilde Horde, welche einer Lawine gleich alles vernichtete und verwüstete. Die hohen Herren Stabsoffiziere der k.u.k. Heereskorpskommandos hatten sich und ihre Damen bereits am Freitag, den 1. November, mit dem Wiener Schnellzug in Sicherheit gebracht, und nun konnten die herrenlosen Truppen in Gries rauben und plündern, wie sie wollten [...]. Straßen und Wege waren voll von Fuhrwerken! [...] Wie es in den Straßen aussieht, ist unbeschreiblich. Dies ist ein Ende, ein Ende mit Schrecken!“2
Das Kommando der 11. österreichisch-ungarischen Armee ersuchte den italienischen Generalstabschef Armando Diaz, die Eisenbahnlinien Trient-Brenner und Franzensfeste-Bruneck zu besetzen, um so einen geordneten Durchzug der k.u.k. Truppen zu ermöglichen, was dann auch geschah. Andere italienische Truppenverbände drangen über das Stilfser Joch in den Vinschgau ein und besetzten am 5. November Meran. Von der Mendel kommend erreichte eine Kavalleriepatrouille am 6. November Bozen, am nächsten Tag schließlich besetzten Truppen der 7. Armee die Stadt. Aus Südtiroler Sicht stellte sich das folgendermaßen dar:
„Heute, Donnerstag, vormittags, sind italienische Truppen in der Stärke von einigen Bataillonen Infanterie sowie etwas Kavallerie in Bozen eingerückt. Sie besetzten vor allem die Wachtposten und den Bahnhof, um den geregelten Abtransport der österreichisch-ungarischen Truppenteile nach Norden zu sichern, sowie die Reichsstraße, um dafür Sorge zu tragen, daß das auf dem Heimmarsch befindliche österreichische und ungarische Militär auf der Marschstraße bleibt und etwa zu Plünderungen geneigte Individuen von Ausschreitungen gegen die Bevölkerung abgehalten werden, so daß unsere Gegend Hoffnung hat, vor Furchtbarem verschont zu werden, welches gar viele Häuser an der Heeresstraße, insbesondere im Eisacktal betroffen hat [...]. Die unhaltbaren Zustände, welche sich allerorts durch den regellosen, in vollständiger Auflösung erfolgten Rückzug der eigenen Truppen, insbesondere in Bozen herausgestellt haben, bildeten eine ungeheure Gefahr für Leben und Eigentum der Bevölkerung. Die Heeresleitung, insofern sie überhaupt noch vorhanden war, sah sich der Lage völlig machtlos gegenüber [...]. Daher wandte sich unsere Heeresleitung mit dem dringenden Ersuchen an die italienische Heeresleitung, den Anmarsch zu beschleunigen, den Ordnungsdienst in Bozen zu übernehmen und nach Beseitigung der derzeitigen Unordnung den Truppenabmarsch, der sonst unmöglich gewesen wäre, möglichst rasch durchzuführen. Diese Aufgaben haben die italienischen Truppen heute bereits übernommen. Der Stadtmagistrat forderte die ganze Bevölkerung auf, sich dem Unabwendbaren mit Ernst und Ruhe zu fügen und den Anordnungen aller Behörden unbedingt Folge zu leisten.“3
Der italienische General Enrico Caviglia erklärte nach der Besetzung Bozens, daß die italienischen Truppen in der Stadt ausschließlich den Sicherheitsdienst übernehmen würden und daß sie sich „nur als Gäste im fremden Hause ansehen [...], daß die nationalen Gefühle der Bevölkerung durchaus geschont werden sollen und daß diesbezüglich die vollkommene Freiheit der Bevölkerung in jeder Weise gewährleistet ist“.4
Von Bozen drangen die Truppen dann durch das Eisacktal Richtung Brenner vor. Der Vorstoß erfolgte sehr langsam, da bayerische Truppen in Nordtirol eingerückt waren. 1500 von ihnen erreichten am 8. November Franzensfeste; am folgenden Tag waren sie in Brixen. Daraufhin beschloß General Guglielmo Pecori-Giraldi, auf schnellstem Wege zum Brenner vorzustoßen; er befürchtete, daß sich Teile der in Auflösung befindlichen österreichisch-ungarischen Verbände den deutschen Truppen anschließen könnten. Die bayerischen Truppen zogen aber wieder ab, und die Italiener konnten am 10. November den Brennerpaß besetzen. In Südtirol selbst waren sie in kürzester Zeit bis in die entlegensten Täler und die höchstgelegenen Dörfer und Weiler vorgestoßen.
Der Artikel 4 des Vertrages von Villa Giusti bot den Italienern auch die Möglichkeit, Nordtirol zu besetzen; auf alliierter Seite wollte man die Voraussetzungen für eine mögliche Invasion Deutschlands von Süden her schaffen; in diesem Fall hätte das Land als Aufmarschgebiet gedient. Und so besetzten italienische Truppen am 23. November auch Innsbruck und weitere Gebiete Nordtirols. In ganz Tirol standen 80.000 bis 100.000 italienische Besatzungssoldaten.
Die Südtiroler Bevölkerung reagierte auf die Okkupation im ersten Moment mit lähmendem Entsetzen, ungläubigem Staunen und Zurückhaltung. Über das Eintreffen der Italiener heißt es in der Chronik von Kastelruth:
„14. November: Die ersten Italiener kommen. Vormittags Quartiermache, etwas scheu, aber ruhig. Nachmittags eine ganze Kompanie Soldaten. Die Offiziere scheinen etwas verärgert, weil kein Empfang stattfand. Die Bevölkerung aber ist müde, müde, vollständig interesselos. Es wird Reis, Suppe unentgeltlich verteilt an arme Kinder, welche jedoch von manchen trotz der Lebensmittelnot nicht angenommen wird.“5
Auf das, was man jetzt erlebte, war man nicht vorbereitet gewesen. Über Nacht war die Welt mit der bewährten Ordnung, die sich in den Begriffen „Gott-Kaiser-Vaterland“ ausgedrückt hatte, zusammengebrochen. Von November 1918 bis zum 31. Juli 1919 unterstand Südtirol einer Militärregierung unter General Guglielmo Pecori-Giraldi. Pecori-Giraldi war 1856 in Florenz geboren, hatte an den Kolonialkriegen in Eritrea (1903) und Libyen (1911) teilgenommen und war 1915 zum Oberkommandierenden der 1. italienischen Armee ernannt worden.
Die Zeit der Militärregierung wird von den italienischen Historikern, die sich mit Südtirol beschäftigen – Sergio Benvenuti, Mario Toscano, Luciano Dallago, Paolo Alatri oder Antonio Zieger -, nur kurz behandelt und sehr positiv dargestellt. Alle betonen das tolerante und gemäßigte Vorgehen von Pecori-Giraldi. Ausführlicher beschäftigt sich Umberto Corsini mit diesem Zeitraum. Für ihn war
„in Wahrheit die ganze Tätigkeit der Militärregierung von gewissenhaftem Respekt für Freiheit und Mäßigung inspiriert worden. Man kann nicht auf diese Zeit der außerordentlichen Verwaltung zurückblicken, [...] ohne die Leute aufrichtig zu bewundern, die damals im liberalen und demokratischen Italien die Macht innehatten. [...]. In der gesamten Tätigkeit des Militärgouverneurs [...] erschien der Geist der Mäßigung, des Respekts für die lokalen Traditionen, für den Charakter der Völker, für ihre Geschichte und des aufrichtigen Verständnisses für die deutschsprachige Minderheit, das man als exemplarisch bezeichnen kann.“6
Für ihn war die Arbeit Pecori-Giraldis von „Unparteilichkeit, Gerechtigkeit und von genauestem Verständnis der Probleme“ geprägt.7
In einem abschließendem Rechenschaftsbericht beschrieb Pecori-Giraldi seine Tätigkeit selbst so: „Diese Duldsamkeit [...] verwirrte natürlich auch die Ansichten unserer größten Gegner [...], und sie sind nun schweren Herzens gezwungen zu bestätigen, daß wir sie nicht schlecht behandelt haben.“8 Auch in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung wird anerkannt, daß sich Pecori-Giraldi in seiner Politik von liberalen und gemäßigten Grundsätzen und von Rücksicht auf die deutschsprachige Minderheit leiten ließ.
„Wie hätte sich dieses Südtirol, wie das Verhältnis Österreichs zu Italien (oder Tirols zu Italien) entwickelt, wenn man 1919 in Rom die Berichte des ersten Militärgouverneurs [...] gründlicher gelesen, wenn man seine Ratschläge befolgt hätte?“
Diese Frage stellt Claus Gatterer mit Blick auf vier Berichte, die Pecori-Giraldi über das Trentino und Südtirol am Ende seiner Tätigkeit verfaßte und in denen er gleichzeitig versuchte, der Regierung in Rom Ratschläge zur Behandlung der neuen Staatsbürger zu geben. „Man behauptet“, so Gatterer weiter, „Militärs hätten Zement im Hirn. Am Beispiel des Generals Pecori-Giraldi können wir beweisen, daß die Regel, die gewiß einiges für sich hat, Ausnahmen zuläßt.“ Nach Gatterer hätte „ein aufgeklärter, verständigungsbereiter Südtiroler vielfach keine besseren Ratschläge geben können“.9
Was ist so bemerkenswert an diesem General? Wohl in erster Linie die Tatsache, daß er sich den radikalen Entnationalisierungsbestrebungen italienischer Nationalisten vehement widersetzte. Dabei stand für ihn allerdings von Anfang an außer Frage, daß Südtirol bei Italien bleiben würde. Er wünschte sich nur andere Methoden. Es ging vorerst darum, den Besitz Südtirol zu sichern. Entsprechend sahen die von ihm durchgeführten Maßnahmen aus. Da war zunächst jene berühmte Proklamation, mit der er am 18. November die Grundzüge seiner Politik darlegte. In dieser zweisprachigen Proklamation, die in allen Südtiroler Gemeinden ausgehängt wurde, hieß es:
„An die Bevölkerung des ALTO ADIGE:
Der italienische Staat, gestützt auf Grundsätze der Freiheit und Gerechtigkeit, bekundet hiermit seinen Willen, daß im Lande und in der Welt das feste Bewußtsein des unabänderlichen Zusammengehörens der erlösten Gebiete mit dem Vaterlande besteht, gleichzeitig wird er die in denselben wohnenden Staatsangehörigen fremder Zunge mit Gerechtigkeit und Liebe behandeln. Indem nun Italien auf die Behauptung des eigenen Rechtes und der eigenen Schaffenskraft in diesen Landesteilen besteht, legt es jeden Gedanken an Vergewaltigung seiner Untertanen anderer Rasse oder anderer Zunge ab, mit denen es vielmehr gegenseitige brüderliche Beziehungen knüpfen will.
Die italienische Bevölkerung der Val d’Adige, Isarco, Gardena, Badia und Marebbe (Etsch- und Eisacktal, Gröden, Abtei und Enneberg) sowie die in irgendeiner Gemeinde ansässigen Italiener werden dank der Fürsorge der Gemeinden und der jeweiligen als zweckmäßig erachteten Unterstützung der Regierung italienische Schulen bekommen.
Im gemischtsprachigen Gebiete werden gemischtsprachige Schulen errichtet werden. Für die deutsche Bevölkerung können von den Gemeinden die deutschen Volksschulen behalten werden. Den bestehenden privaten und konfessionellen Schulen wird das Recht eingeräumt, die deutsche Unterrichtssprache beizubehalten, vorausgesetzt, daß der Lehrplan und die Schulbücher mit der Würde und den Rechten Italiens in keinem Widerspruch stehen.
Die Gerichts- und Verwaltungsbehörden werden vorläufig die Aussagenablegung und die Aktenführung sowohl in der italienischen Amtssprache als auch in der deutschen Sprache, wo sie Umgangssprache ist, vornehmen.
Bürger!
Während die vielsprachige österreichische Monarchie hier verfassungsmäßig das Nationalgefühl aller Völker in der Schule hätte schonen müssen, das italienische Volk in diesen Tälern vergewaltigt und unterdrückt hat, ist Italien gewillt, als einzige vereinte Nation mit voller Gedanken- und Wortfreiheit den Staatsangehörigen anderer Sprache die Erhaltung eigener Schulen, eigener Anstalten und Vereine zu gestatten.
Auf Grund dieser Prinzipien steht zu erwarten, daß jede Sprach- und Kulturfrage eine baldige friedliche Regelung finden wird.
Dato a Trento, addi 18 novembre 1918
Il Tenente Generale Comandante della 1a Armata G. Pecori-Giraldi.“
Die Besetzung Südtirols war fast reibungslos vor sich gegangen; zu ernsteren Zwischenfällen war es nicht gekommen. Die Bevölkerung folgte dem Aufruf der Militärs, Ruhe und Disziplin zu bewahren; die Soldaten selbst verhielten sich korrekt. Otto von Guggenberg, Rechtsanwalt und Politiker aus Brixen (später, 1947 bis 1952, Generalsekretär der SVP), beschrieb das folgendermaßen: „Die Offiziere bewiesen eine aufrechte Haltung. Sie erkundigten sich auch vielfach nach der Verpflegungslage und boten aus freien Stücken Unterstützung an, vor allem in Form von Lebensmitteln.“10
Aber schon bald wurde deutlich, daß Südtirol besetzt war und unter Militärverwaltung stand. Das Land wurde sofort nach der Besetzung hermetisch von Österreich und dem Ausland abgeriegelt. Damit war jeder Personen- und Warenverkehr mit Nordtirol und Österreich unterbunden.11 Telegraphische Apparaturen und Brieftauben mußten abgegeben werden. Bei Mißachtung dieser Verordnungen drohten hohe Kerkerstrafen. Die Presse wurde einer strengen Zensur unterworfen. Die deutschsprachigen Zeitungen waren der Willkür des italienischen Zensors ausgeliefert, der seine Aufgabe mit übertriebener Genauigkeit ausführte. Seine Aufgabe bestand darin, den „gefährlichen Inhalt“ in den Artikeln zu zensurieren; dazu gehörten die Frage des Selbstbestimmungsrechts, der Friedenskonferenz, die wirtschaftliche Notlage Südtirols und die Tätigkeit von Politikern in Südtirol. In jeder Stadt, in der eine Zeitung erschien, gab es einen Zensor. Eduard Reut-Nicolussi, einer der bekanntesten Südtiroler Vertreter in der provisorischen österreichischen Nationalversammlung 1918/19, Abgeordneter im römischen Parlament 1921-1923, der 1928 Südtirol verlassen mußte und dann nach 1945 in Innsbruck aktiv war (als de facto-Leiter der Landesstelle für Südtirol der Tiroler Landesregierung und bis 1958 Professor für Völkerrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Innsbruck), schrieb dazu über Meran:
„Strenge Pressezensur ist den Meranern sicherlich nichts Neues. Auch der k.u.k.- Zensor war in diesen vier harten Jahren zuweilen recht emsig [...]. Gestrichen wird jetzt gut zehnmal soviel wie früher, aber die weißen Flecken müssen stets mit einem zumeist genau vorgeschriebenen Füllsel verdeckt werden. Sogar die durch die Streichung unterbrochenen Sätze müssen wieder verbunden werden, was nicht selten deren Sinn just in das Gegenteil des beabsichtigten Sinnes verkehrt. Der italienische Zensor will vorerst dadurch erzielen, daß das Blatt vollständig unzensuriert aussieht [...]. Der italienische Zensor in Meran strich bisher glattweg alles weg, was die Blätter von Bissolati [ein Gegner der Annexion Südtirols] den XIV Punkten Wilsons vom Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Böhmen oder anderswo brachten, selbst wenn die Nachrichten aus italienischen Zeitungen entnommen waren [...]. Schreiben die Blätter von ‘unseren’ Kriegsgefangenen, ‘unseren’ Soldaten und dgl. wird das Wort ‘unseren’ gestrichen. Heißt ein Titel ‘Wilson gegen Annexionen’ wird eine ‘Rede Wilsons’ daraus gemacht [...]. Der Leser erhält den Eindruck, als stünde das Blatt ganz auf italienischer Seite.“12
Auch im Post- und Telegraphenbereich gab es harte Einschränkungen. Nach Österreich, Deutschland, Ungarn, Bulgarien und in die Türkei durften keine Briefe mehr geschickt werden. Aus diesen Ländern kommende Briefe wurden nicht an die entsprechenden Adressaten verteilt. Alle übrigen Briefsendungen waren der Zensur unterworfen.
Gleich nach der Besetzung verbot das Comando Supremo, das militärische Oberkommando in Padua, die Einfuhr von österreichischem Geld: Die im Umlauf befindlichen Kronen galten noch als legales Zahlungsmittel. Die deutschsprachigen Bezirkshauptleute wurden allmählich durch italienische Kommissare ersetzt – sicherlich eine der einschneidendsten Maßnahmen der Militärregierung, weil damit ein großer Teil der österreichischen Verwaltung liquidiert wurde. Dies war ein eindeutiger Verstoß gegen die Waffenstillstandsbedingungen, genauso wie die Entscheidung, die Beamten in Südtirol einfach vor die Wahl zu stellen, entweder beim italienischen Staatsdienst um eine Arbeitsstelle anzusuchen oder die Beamtenstelle aufzugeben. Die Funktionen des früheren Landgerichts von Innsbruck übernahm eine Sektion des Oberlandesgerichtes in Trient, der das Kreisgericht Bozen und alle Bezirksgerichte unterstanden. Die Verwaltungskompetenzen übernahm das „Generalsekretariat für Zivilangelegenheiten“ beim militärischen Oberkommando. Im Bereich der Gemeindeverwaltung blieben lediglich die vor dem 3. November 1918 gewählten Volksvertreter und die Bürgermeister im Amt. Mit diesen Maßnahmen wurden zwar teilweise Bestimmungen des Waffenstillstandsabkommens und der Haager Landkriegsordnung verletzt, aber sie hatten mit einer konsequenten Entnationalisierungspolitik noch nichts zu tun. So kam es etwa im Bereich Schule zu keinen tiefgreifenden Maßnahmen. Die Südtiroler durften die deutschen Schulen behalten und auch weiterhin selbst führen, auch wenn in Städten wie Bozen, Meran oder Brixen und in einigen Orten des Unterlandes und der ladinischen Täler italienische Schulen errichtet wurden. Es kam allerdings zu gewissen Modifikationen, die dem deutschen Schulwesen einen italienischen Anstrich geben sollten. Der Religionsunterricht wurde zum Freifach erklärt. Dies führte dazu, daß das bei der überwiegend katholisch-konservativen Bevölkerung und beim Klerus Südtirols bereits seit der Zeit des „Kulturkampfes“ bestehende Feindbild vom „liberal-freimaurerischen Kirchenstaatsräuber Italien“ weiter gestärkt wurde. Entsprechend der Verordnung des Comando Supremo vom 15. Januar 1919 wurde Vaterlandskunde der österreichisch-ungarischen Monarchie durch die Geschichte und Geographie Italiens ersetzt, wobei besonders das Risorgimento und der Krieg hervorgehoben werden sollten, und in den deutschen Schulen wurde die italienische Sprache zur zweiten Unterrichtssprache (in den italienischen Schulen Südtirols konnte hingegen das Deutsche durch Englisch oder Französisch ersetzt werden). Immerhin sprach sich Unterrichtsminister Agostino Bernini im Juli 1919 bei einem Besuch Südtirols für die Erhaltung der bestehenden Einrichtungen, für das Belassen der Schultypen, der Lehrerbildung, der Prüfungen und Lehrpläne aus.13
Wie soll man diese Politik insgesamt beurteilen? Zunächst einmal bleibt festzuhalten, daß Fakten gesetzt wurden, um den neuerworbenen Besitz Südtirol zu sichern. Von einer gezielten Entnationalisierungspolitik kann dagegen noch nicht gesprochen werden. Mitentscheidend hierfür dürfte allerdings auch gewesen sein, daß die Regierung in Rom Österreich und den Alliierten bis zur Entscheidung der Friedenskonferenz in Paris auf keinen Fall Argumente hinsichtlich einer eventuell zu befürchtenden nationalen Unterdrückung der deutschsprachigen Minderheit geben und die Aufnahme entsprechender Schutzbestimmungen in den Friedensvertrag vermeiden wollte. Ministerpräsident Vittorio Orlando und Außenminister Giorgio Sidney Sonnino, die beide nationalen Kreisen nahestanden, waren einer raschen Entnationalisierung nach dem Waffenstillstand keineswegs abgeneigt. Diese Tendenz äußerte sich vor allem durch die Tatsache, daß sie Ettore Tolomei nach der Besetzung Südtirols als „Kulturkommissar“ nach Bozen entsandten. Orlando änderte angesichts der schwierigen Situation bei den Pariser Friedensverhandlungen seine Taktik. Am 14. April 1919 schickte das Comando Supremo auf seine Anordnung hin Pecori-Giraldi ein Telegramm, in dem dieser aufgefordert wurde, in Südtirol eine minderheitenfreundliche Politik zu betreiben:
„Der Ministerpräsident ordnet an, daß bei der Anwendung der erteilten Weisungen in Bezug auf die Behandlung des cisalpinen Deutschtums mit größter Vorsicht vorgegangen werde. Stop. Im Gegenteil, er empfiehlt, die Maßnahmen zu mäßigen.“14
Das Ziel dieser Weisung war, den an der Friedenskonferenz beteiligten Mächten eine demokratische und minderheitenfreundliche Behandlung der Südtiroler zu demonstrieren.15 Das ändert allerdings nichts am obersten Ziel von Orlando und Sonnino, nämlich der friedlichen Durchdringung und langsamen Assimilierung Südtirols.16
Der extremste italienische Nationalist war Ettore Tolomei. Ein Erbe seines „Werkes“ ist noch heute in jeder Südtiroler Gemeinde zu sehen: die doppelsprachigen Ortsbezeichnungen. Die endgültige Inbesitznahme und Italianisierung Südtirols waren die beiden wichtigsten Anliegen Tolomeis. Die Realisierung dieser beiden Punkte – mit beinahe allen Mitteln – machte er zu seiner Lebensaufgabe. Als die Faschisten 1922 an die Macht kamen, schlug seine Stunde. Wer war dieser Mann? Tolomei (1865-1952) stammte aus einer italienischnationalgesinnten Familie aus Rovereto. Über seine Mutter kam er bereits in frühester Jugend in Kontakt mit Südtirol; er verbrachte viel Zeit bei seinen Großeltern in Glen bei Neumarkt. Auf ähnliche Weise lernte er die Dolomiten bei Cortina d’Ampezzo kennen, wo Verwandte ein Hotel besaßen. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Rovereto begann er 1883 in Florenz sein Studium der Geschichte und Geographie. Das zweite Studienjahr verbrachte er in Rom, wo er in Verbindung zur nationalistischen „Dante Alighieri-Gesellschaft“ trat. Nach dem Studium war er als Lehrer zunächst in Tunis (1888) tätig, dann an den italienischen Schulen von Saloniki (ab 1894), Smyrna (1897) und Kairo (ab 1898). 1901 kehrte er nach Italien zurück und erhielt im Außenministerium eine Stelle im Generalinspektorat für die italienischen Schulen im Ausland. Sein Kampf um den Gewinn Südtirols für Italien begann bereits im März 1890, als die erste Ausgabe der von ihm initiierten und mitherausgegebenen Wochenschrift „La Nazione Italiana“ erschien. Die selbstgestellte Hauptaufgabe dieses Kampf- und Propagandablattes war die Popularisierung der nationalen und kulturellen Vorstellungen der „Dante Alighieri-Gesellschaft“. Außerdem wollte sie insgesamt zur Förderung ihrer irredentistischen Konzepte im Sinne des aufkommenden Nationalismus beitragen. Sie war eindeutig als Kampf-und Propagandablatt konzipiert. Den thematisch breitesten Raum nahmen Aufsätze über die beiden „klassischen Ziele“ des Irredentismus, „Trento e Trieste“, ein. Mehrere Artikel behandelten aber auch Gebiete in der Levante oder Nordafrika. Sie griffen damit dem späteren Programm des faschistischen Nationalismus, dem Traum vom Mittelmeerimperium und der Wiederherstellung der Größe des Alten Rom, vor.
Die in diesen Jahren entstandene „Naturgrenztheorie“ wurde von Tolomei begeistert aufgenommen. Bereits in der ersten Nummer der „Nazione Italiana“ berichtete er darüber und unterstrich seine Artikel durch kartographische Darstellungen. Für ihn war im „Alto Trentino“, wie er Südtirol damals noch nannte, das ladinische Element von besonderem Interesse. Er erkannte damals zwar noch die ethnische Eigenständigkeit der Ladiner an, hielt aber die Assimilation ihrer Sprache an das Italienische für eine notwendige Voraussetzung zur Verwirklichung seines Programms: Das Ladinische betrachtete er als das lateinische Element in Südtirol. Durch eine Italianisierung der Ladiner hoffte er einen italienisch-ladinischen Keil in das deutschsprachige Gebiet zu treiben, der die „Re-Italianisierung“ begünstigen würde. Die Deutschsprachigen waren „Eindringlinge“ in italienisches Gebiet, die nun mit Absorbierung oder Aussiedlung zu rechnen hatten.
Im Dezember 1890 mußte die „Nazione Italiana“ aus finanziellen Gründen eingestellt werden. Von dieser ersten journalistischen Unternehmung Tolomeis sind aber zahlreiche formale und inhaltliche Züge in die größere Publikation des „Archivio per l’Alto Adige“ übergegangen. Das breit angelegte thematische Spektrum, später im „Archivio“ auf Südtirol beschränkt, umfaßte hier wie dort eine Vielfalt an historischen, geographischen, literarischen, kunstgeschichtlichen, toponomastischen, ökonomischen und folkloristischen Beiträgen. Auch kann man bereits in der „Nazione Italiana“ jenes für Tolomei bezeichnende Argumentationsverfahren feststellen, bei dem ideologische Denkschemata prägend auch auf die mit wissenschaftlichem Anspruch geschriebenen Artikel einwirken.
Der Gründung des „Archivio per l’Alto Adige“ gingen journalistische Tätigkeiten Tolomeis bei den Zeitschriften „Giornaletto“ und „Minerva“ voraus, ebenso im Jahre 1904 seine Besteigung – die er als Erstbesteigung deklarierte, obwohl diese bereits 1895 durch Fritz Koegel stattgefunden hatte – des Glockenkarkopfes (auch Glockenkarkofel) in den Ahrntaler Alpen, den er zur „Vetta d’Italia“ erklärte. Die Wahl des Namens entsprach der „Naturgrenztheorie“ und stattete diese Region mit dem äußeren Anschein der Italianität aus. Damit setzte Tolomei ein eindeutiges Zeichen für seinen Kampf um den Gewinn Südtirols für Italien. Das Instrument in diesem Kampf wurde das „Archivio“, dessen erste Ausgabe im August 1906 in Glen bei Neumarkt erschien.
Entsprechend dem Programm des „Archivio“, das den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und strengste Objektivität erhob – wobei Anspruch und Wirklichkeit sehr weit auseinanderklafften -, wollte Tolomei die „Italianität“ Südtirols beweisen und propagieren. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit schien durch die Mitarbeit namhafter Wissenschaftler aus dem Königreich Italien gewährleistet.
Tolomei selbst meinte, daß der erste Band des „Archivio“ in seiner Konzeption und Ausstrahlung für die österreichisch-tirolische Öffentlichkeit einem Machwerk verräterischer Gesinnung gleichkommen müßte. Er berichtete sogar mit Stolz von deutschen Demonstrationen gegen ihn und das „Archivio“ in Neumarkt.
Die österreichischen Behörden reagierten zunächst zurückhaltend. Das entsprach dem toleranten Pressegesetz, ging aber auch auf eine Fehleinschätzung der politischen Absichten Tolomeis zurück. Das änderte sich in den folgenden Jahren und führte zu einer Reihe von Prozessen und Verurteilungen, die Tolomei unter dem Schlagwort „Pressekampf gegen Österreich“ („Battaglia di stampa contro l’Austria“) wirkungsvoll für Propagandazwecke ausnützte. Die Tatsache, daß die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift vor allem in öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken auflag, verhalf ihr indirekt zu einem hohen Maß an Autorität; mit der Zeit erhielt sie sogar den Charakter eines Handbuchs oder Quellenwerkes. Für die Bevölkerung Italiens war es ab 1914 die einzige Quelle zur Südtirolfrage.
Tolomei war aber auch in anderer Hinsicht aktiv: Er ließ Flugblätter mit Angaben über die „wahren“ ethnographischen Verhältnisse in Südtirol und Postkarten mit kartographischen Darstellungen der Region verbreiten; sein Bericht über die Besteigung der „Vetta d’Italia“ und Listen italianisierter Ortsnamen Südtirols wurden kostenlos an die Abonnenten des „Archivio“ verschickt. Mitarbeiter der Zeitschrift wurden zu den verschiedensten Kongressen der „Dante Alighieri-Gesellschaft“ und zu den „Congressi Geografici Italiani“ entsandt. Tolomeis Aktion war durchaus erfolgreich. Die Zeitschrift fand in Italien schon bald die gewünschte Verbreitung, die von ihm besorgten italienischen Ortsnamen wurden allmählich in Landkarten, Lehrbücher, öffentliche Fahrpläne, Zeitungen und Zeitschriften aufgenommen. Bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges gelang es Tolomei, das Gebiet zwischen Salurner Klause und Brenner mit einem Anschein von Italianität zu versehen, der von einem Großteil der über die lokalen Verhältnisse unkundigen Leserschaft als allgemein verbindlicher Rechtsanspruch aufgefaßt wurde. Im „Archivio“ wurden zwar alle möglichen Themen abgehandelt, aber bestimmte Themenschwerpunkte kristallisierten sich immer mehr heraus: Neben Beiträgen zur Illustration der Naturgrenzen – etwa in Form der Wasserscheidentheorie – wurde die Toponomastik immer wichtiger. Tolomei begriff die toponomastischen Studien als „Re-Italianisierungswerk“ der angeblich vor nicht allzulanger Zeit gewaltsam germanisierten Orts- und Flur-, aber auch Familiennamen.
Seit 1915 wurde das „Archivio“ in Rom gedruckt. In den nun verlegten „Serie di guerra“ läßt sich hinsichtlich des Themenspektrums und des Mitarbeiterstabs eine signifikante Veränderung feststellen: Den überwiegenden Teil der Beiträge verfaßte Tolomei jetzt selbst. Der wissenschaftliche Anspruch des „Archivio“, der besonders durch die Mitarbeit kompetenter Fachleute gewährleistet werden sollte, erwies sich nun als bloßes Dekor, das gerade in den Kriegsjahren nur dürftig die rein propagandistische Tendenz der Zeitschrift zu überdecken vermochte. 1915 verbreitete Tolomei bereits ausführlich seine Vorstellungen über eine mögliche Annexion Südtirols und über die in diesem Falle zu treffenden Maßnahmen. Mehrere diesbezügliche Denkschriften gingen an den damaligen Ministerpräsidenten, an andere Regierungsstellen und verschiedene nationale Vereinigungen. Für die deutsche Bevölkerung war die Assimilierung vorgesehen, auch der Gedanke einer eventuellen Aussiedlung tauchte bereits auf. Im „Archivio“-Band 11 von 1916 veröffentlichte Tolomei dann sein erstes „Prontuario dei nomi locali dell’ Alto Adige“ mit der Übersetzung von ca. 10.000 Orts- und Flurnamen. Es waren ganz oberflächliche Übersetzungen, oftmals ohne Kenntnis der etymologischen Bedeutung des deutschen Namens; manchmal war der deutschen Bezeichnung lediglich eine italienische Endung angehängt worden.17 Ein weiteres Betätigungsfeld der Jahre 1916/17 bildete die Anfertigung von geographischen Karten für das „Istituto De Agostini“, das die italienische Namensgebung Tolomeis unterstützen sollte.
Die Besetzung Südtirols durch italienische Truppen war für Tolomei ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur „Wiedergewinnung“ Südtirols. Für ihn ging es jetzt darum, die Situation radikal zu verändern und den Südtirolern zu zeigen, daß ihr Land endgültig italienischer Besitz war. Bereits im Oktober 1918 wurde in Rom das „Büro für die Behandlung des Cisalpinen Deutschtums“ eingerichtet. Daß Ministerpräsident Vittorio Orlando den Gedanken Tolomeis nicht so furchtbar weit entfernt stand, macht die Tatsache deutlich, daß er dieses Büro im November als „Kommissariat für die Sprache und Kultur des Oberetsch“ nach Bozen verlegte und Tolomei zum Leiter dieser Institution ernannte. Für sein Kommissariat konnte Tolomei einige Räume des Bozner Stadtmuseums requirieren.18
Die Aufgabe des Kommissariats faßte Tolomeis Mitstreiter Adriano Colocci-Vespucci in seinem Tagebuch in einem Satz zusammen: „Der Zweck des Kommissariats war die Durchdringung der Italianität beim ersten Zusammentreffen mit der Bevölkerung.“19 Nach Meinung Tolomeis durfte es „keine Art von cisalpiner deutscher Autonomie“ geben: „Das Alto Adige muß ein unlösbarer Bestandteil der Venezia Tridentina bleiben.“ Um dies zu erreichen, hieß es in einem Sofortprogramm: „Sofortige Erlassung von Regierungsdirektiven über die Behandlung des cisalpinen Deutschtums – keine Gewaltätigkeit, aber auch keine Schwäche; dem gemischtsprachigen Gebiet Stempel der Italianität aufprägen!“20 Dem Militärgouverneur Pecori-Giraldi wurde Mitte November 1918 eine Liste mit 22 Südtiroler Persönlichkeiten überreicht; diese politisch „gefährlichen“ Elemente sollten zwangsweise entfernt oder interniert werden. Was diese Liste betraf, so stellte Pecori-Giraldi später lakonisch fest: „Die Maßnahme der Internierung haben wir in einem einzigen Fall angewandt [...]. Wir gingen vom Grundsatz aus, daß wir keine Märtyrer schaffen wollten.“21 Auch bei den anderen Punkten konnten sich Tolomei und sein Kommissariat nicht durchsetzen. Der Militärgouverneur hatte andere Vorstellungen von italienischer Politik in Südtirol, und von der Regierung in Rom kam mit Blick auf die laufenden Verhandlungen in Paris ebenfalls keine ausreichende Unterstützung für Tolomei. So beschränkte sich die Tätigkeit des Kommissariats hauptsächlich auf provokatorische Demonstrationen gegenüber den Südtirolern.22 Neben Pecori-Giraldi war der Generalsekretär des Amtes für Zivilangelegenheiten beim italienischen Oberkommando, General Agostino D’Adamo, einer der hartnäckigsten Gegner des Kommissariats. Er wollte es sogar auflösen lassen, was ihm allerdings nicht gelang. Immerhin konnte er durchsetzen, daß das Oberkommando die Verlegung des Kommissariats nach Trient veranlaßte.23 Colocci-Vespucci schrieb entsetzt in sein Tagebuch: „Die einzige Phase der Italianität bis jetzt ist dieses Kommissariat, das Ettore Tolomei [...] hier heroben errichtet hat, und D’Adamo will es auslöschen!“24
Nach heftigem Protest Tolomeis bei Außenminister Sonnino hob die Regierung die Entscheidung des Oberkommandos am 18. Dezember 1918 wieder auf. Damit wurde das Kommissariat zwar gerettet, aber es blieb in seiner Arbeit auch weiterhin ziemlich erfolglos. Der größte Konflikt zwischen Militärregierung und Tolomeis Kommissariat entzündete sich im Bereich der Toponomastik.25 Schon im November 1918 forderte das Kommissariat von der Militärregierung die sofortige Einführung von italienischen Ortsbezeichnungen in allen Gemeinden und an den Bahnhöfen.26 Dabei stützte es sich auf Tolomeis „Prontuario“. Das Kommissariat wandte sich auch direkt an die Regierung in Rom und forderte, daß das „Prontuario“ als Grundlage für die Benennung der Ortsnamen in Südtirol verwendet werden sollte. Diese Forderung wurde in Rom nicht nur abgewiesen, die Regierung hielt auch weiterhin an den deutschen Bezeichnungen fest. So waren in den von der Staatsbahn am 20. November 1918 veröffentlichten Fahrplänen die Namen aller Bahnhöfe Südtirols in deutscher Sprache abgedruckt.27 Auch in den von Pecori-Giraldi später erlassenen Manifesten wurden im Unterschied zum ersten Erlaß vom 18. November deutsche Ortsbezeichnungen verwendet. Pecori-Giraldi rechtfertigte seinen Widerstand mit dem Hinweis, daß „unverantwortliche Elemente, gedeckt durch den Namen, das Prestige und die Stärke des Heeres“ auf dem Gebiet der Toponomastik nicht vollendete Tatsachen schaffen könnten, die dem „Ansehen Italiens bei dieser Bevölkerung“ nur geschadet hätten.28 Verärgert fuhr Colocci-Vespucci mit zwei Soldaten die Bahnlinie entlang, um die deutschen Ortsnamen zu überpinseln und durch italienische zu ersetzen,29 die dann von der italienischen Armee wieder entfernt wurden.30
Auch in drei anderen Bereichen, die später noch eine entscheidende Rolle spielen sollten, war dem Kommissariat aufgrund der Interventionen des Oberkommandos kein Erfolg beschieden. Zum einen ging es um die Gründung einer italienischen Tageszeitung mit dem Namen „Isarco“, zum anderen um den Versuch, deutsche Ländereien und Realbesitz Italienern zu übertragen. Das Kommissariat nahm Kontakt mit der italienischen Hoteliersvereinigung auf, um den Ankauf von Hotels in Südtirol zu forcieren. Im Februar 1919 intervenierte das Comando Supremo, genauso wie bei dem Versuch des Kommissariats, italienische Schulen in Ortschaften mit italienischer Bevölkerung einzurichten und die deutschen Schulen in den ladinischen Tälern in italienische umzuwandeln. Man hatte dafür sogar schon Lehrkräfte aus ganz Italien gewonnen, die bereit waren, zu diesem Zweck nach Südtirol zu kommen.31 Colocci-Vespucci schrieb enttäuscht in sein Tagebuch, Südtirol habe „noch fast nichts von seinem österreichischen Charakter verloren“.32 Erst Ende April 1919, als klar war, daß Südtirol als Kriegsbeute Italien definitiv zugeschlagen würde, gab Orlando seine Zurückhaltung auf. Er genehmigte neue Richtlinien zur Behandlung des „Germanismo cisalpino“, die unter maßgeblichem Einfluß Tolomeis ausgearbeitet worden waren. Sie sahen u.a. vor: 1. Entfernung „pangermanistischer“ Persönlichkeiten; 2. sofortige Errichtung italienischer Schulen gemäß dem Manifest vom 18. November 1918; 3. Einführung der italienischen Nomenklatur; 4. Errichtung der Einheitsprovinz Trient; 5. möglichst weitgehende Unterbrechung der Beziehungen mit Nordtirol. Die sofortige Durchführung dieses Programms scheiterte allerdings wiederum an Militärgouverneur Pecori-Giraldi und D’Adamo. Für sie war dies der falsche Weg, die Südtiroler für Italien zu gewinnen.
Der neue Ministerpräsident Francesco Nitti sah die Dinge ähnlich. Tolomei zog daraufhin die Konsequenzen und löste das Kommissariat am 10. September 1919 selbst auf. Wäre die innenpolitische Entwicklung in Italien in den nächsten Jahren anders verlaufen, wäre dies wahrscheinlich auch das politische Ende von Tolomei gewesen. Wir wissen, daß es anders kam und Tolomeis Stunde erst noch kommen sollte.
1 Rainer Seberich, Vom Alten zum Neuen Kastelruth, Kastelruth 1850-1927, in: Gemeinde Kastelruth. Vergangenheit und Gegenwart. Ein Gemeindebuch zum 1000-Jahr Jubiläum der Erstnennung der Orte Seis und Kastelruth, hrsg. v. Josef Nössing, Kastelruth 1983, S. 305-327, hier S. 320.
2 Staffler/Hartungen, Geschichte Südtirols, S. 50.
3 „Der Tiroler“, zit. ebd., S. 49.
4 Cäcilia Alber, Südtiroler Landesgeschichte im Spiegel der liberalen „Meraner Zeitung“ (1900-1926), Dipl. Innsbruck 1989, S. 103.
5 Seberich, Kastelruth, S. 320.
6 Corsini, Trentino, S. 155 f.
7 Corsini, Pecori-Giraldi, S. 21.
8 Zit. n. Falkensteiner, Südtirolpolitik, S. 28.
9 Gatterer, Aufsätze und Reden, S. 113; Ders., Kampf, S. 115 f.
10 Trafojer, Lage, S. 26.
11 Diese Art der „Separierung“ hatte es allerdings bereits während des Krieges unter dem österreichischen Militärkommando gegeben. Vgl. Eisterer/Steininger, Tirol im Ersten Weltkrieg, S. 150.
12 Zit. n. Trafojer, Lage, S. 88 f.
13 Ebd., S. 50 f.
14 Zit. n. Falkensteiner, Südtirolpolitik, S. 27.
15 Adler, Minderheitenpolitik, S. 21.
16 Steurer, Südtirol 1918-1945, S. 189.
17 Bis heute ist die Ortsnamengebung ein heiß diskutiertes Thema in Südtirol. S. dazu Steurer, Glaubenskrieg, sowie Südtiroler Schützenbund, „Colle oder Pichl“.
18 Framke, Kampf, S. 91.
19 Zit. n. Trafojer, Lage, S. 63 f.
20 Zit. n. Gatterer, Kampf, S. 296.
21 Gatterer, Aufsätze und Reden, S. 125.
22 Framke, Kampf, S. 91.
23 Vgl. Schober, Tiroler Frage, S. 186.
24 Zit. n. ebd.
25 Gatterer, Kampf, S. 296.
26 Vgl. Framke, Kampf, S. 92.
27 Vgl. Trafojer, Lage, S. 67.
28 Zit. n. Gatterer, Kampf, S. 296.
29 Vgl. Schober, Tiroler Frage, S. 186.
30 Vgl. Gatterer, Kampf, S. 296.
31 Vgl. Trafojer, Lage, S. 66.
32 Zit. n. Gatterer, Kampf, S. 295.
Die militärische Niederlage der Mittelmächte besiegelte auch das Schicksal Tirols. Alle Versuche von seiten Österreichs und Tirols, die Einheit des Landes zu retten, schlugen fehl. Am Ende der Friedensverhandlungen in Saint Germain wurde Südtirol als „billige“ Kriegsbeute Italien zugeschlagen und am 10. Oktober 1920 offiziell annektiert. Bei allen Untersuchungen über dieses Thema steht ein Mann im Mittelpunkt, der letztlich für diese Entscheidung verantwortlich gemacht wird: der amerikanische Präsident Woodrow Wilson. Er galt seit den von ihm im Januar 1918 verkündeten „14 Punkten“ als Garant für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Grundlage künftiger Friedensverhandlungen werden sollte. Am Ende waren die von der Mißachtung dieses Prinzips Betroffenen zutiefst enttäuscht und voll Verachtung für diesen Mann. Das betraf nicht nur Österreich und Tirol, sondern auch Deutschland. Als Wilson 1924 starb und in Washington auf den Botschaftsgebäuden die Fahnen auf Halbmast gesetzt wurden, erhielt der deutsche Botschafter aus Berlin die Anweisung, dies nicht zu tun – ein diplomatischer Eklat erster Ordnung. Es ist erstaunlich und zugleich bedauerlich, daß nach fast 80 Jahren immer noch keine aus den Quellen gearbeitete Darstellung vorhanden ist, die Aufschluß über die Entscheidungen auf alliierter Seite gibt, die letztlich zur Teilung Tirols führten.
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