Nur nicht zu den Löwen - Lizzie Doron - E-Book

Nur nicht zu den Löwen E-Book

Lizzie Doron

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Beschreibung

Eine Frau befreit sich aus dem Selbstbetrug ihres Lebens Tag für Tag steht Rivi Greenfeld am Fenster ihrer Wohnung und beobachtet das Treiben der Menschen auf der Straße. Doch inzwischen ist Neve Tzedek das angesagteste Viertel Tel Avivs, eine junge Unternehmerin will das Gebäude abreißen lassen, Rivi soll diesen Ort verlassen, der ihr ganzes Leben, all ihre Erinnerungen birgt. Aber Rivi ist eine kämpferische Frau: Als aller Widerstand zwecklos wird, beginnt sie, den Menschen zu schreiben, die ihr etwas bedeutet haben. Davon, wie ihr einst mächtige Männer des Landes verfielen, sie viele weitere behelligten – und sie am Ende ihres Lebens doch allein ist. Erst im Schreiben wird ihr klar, wie schwer sie an ihrer Rolle als Frau trug. Sie findet einen Weg, ihr Leben neu zu erzählen.

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Über das Buch

Tag für Tag steht Rivi Greenfeld am Fenster ihrer Wohnung und beobachtet das Treiben der Menschen auf der Straße. Inzwischen ist Neve Tzedek jedoch das angesagteste Viertel Tel Avivs, eine junge Unternehmerin will das Gebäude abreißen lassen, Rivi soll diesen Ort verlassen, der ihr ganzes Leben, all ihre Erinnerungen birgt. Aber Rivi ist eine kämpferische Frau. Als aller Widerstand zwecklos wird, beginnt sie zu schreiben: an Freunde, Geliebte, ihre verstorbenen Eltern. Davon, wie ihr einst mächtige Männer des Landes verfielen, sie viele weitere behelligten – und sie am Ende ihres Lebens doch allein ist. Erst im Schreiben wird ihr klar, wie schwer sie an ihrer Rolle als Frau trug.

Lizzie Doron

Nur nicht zu den Löwen

Roman

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

So erfuhr ich allmählich etwas von ihr.[1]

Peter Handke, Wunschloses Unglück

00:30

[email protected]

Odelia Or, ich grüße Sie. Es wird Sie überraschen, diese Mail von mir zu bekommen. Aber bitte, tun Sie mir den Gefallen und lesen Sie, was ich Ihnen zu sagen habe.

Ich bin Rivi Greenfeld, die Alte, die immer am Fenster steht, das wissen Sie ja, aber wir kennen uns nicht wirklich. In den letzten sechs Jahren haben Sie, zusammen mit anderen, versucht, mich zu überzeugen, ich möge der Zerstörung meines Zuhauses zustimmen, »Räumung-Neubezug« heißt das Ganze, an die Einzelheiten des Plans kann ich mich nicht erinnern, aber soweit ich verstanden habe, stehen Sie an der Spitze der Korona, die mich dazu bringen will, den Plan zu billigen. Als Sie das erste Mal damit ankamen, habe ich Ihnen gesagt, ich hätte schon genug zerstört und keinen weiteren Bedarf an Zerstörung. Wenn ich mich richtig entsinne, rissen Sie damals ein Paar runde, braune (nebenbei bemerkt schöne) Augen auf und schienen etwas sagen zu wollen, aber da hatte ich die Tür schon zugemacht, bevor Sie sagen konnten, was Sie sagen wollten.

Nur, damit Sie es wissen, weniger als eine Minute danach habe ich die Tür wieder aufgemacht, um zu erklären, dass ich – zugegeben – nicht immer mit anderen Menschen synchronisiert bin.

Wie auch immer, ein paar Tage später habe ich kapiert, Sie organisieren da einen richtigen Feldzug, um Ihr Ziel zu erreichen. Ihr Freund Oded Tick ist dabei einer Ihrer treuesten Soldaten. Als er vor meiner Tür stand, habe ich gleich gecheckt, das ist einer von diesen Start-up-Mogulen, die sich wie Könige fühlen, und tatsächlich: Er bot mir an, meine Wohnung zum Doppelten des Marktpreises zu kaufen. Es dürfte Ihnen bekannt sein, ich habe auch ihm schlicht und ergreifend Nein gesagt und wollte schon die Tür schließen, doch er hat schnell seinen Fuß und gleich danach seinen Kopf reingeschoben.

»Für Ihre Zukunft«, sagte er.

»Meine Zukunft ist kurz«, antwortete ich.

»Aber Sie könnten sich noch Träume erfüllen, mit dem Geld, das Sie kriegen«, sagte er.

Ich sagte, ich hätte das meine ausgekostet, und dass er sich das Ganze abschminken könne.

Einige Monate danach, ich stand gerade am Fenster, sah ich Sie mit drei Männern auf meine Wohnung zumarschieren. Da wurde mir klar, dass Sie genauso versessen auf Stadterneuerung sind wie die Siedler auf jedes Fitzelchen unseres biblischen Landes. Und dass es Krieg geben würde. Ich beschloss, Sie auf die sanfte Tour zu besiegen, bat herein, bemühte mich, freundlich zu sein. In der Regel gelingt mir das nicht, ich gehöre zu denen, die im Zwischenmenschlichen ein bisschen zurückgeblieben sind, auf jeden Fall aber wollte ich mich erklären. Ich wollte, dass man versteht, dieser Ort ist nicht nur ein Zuhause, es ist eigentlich ein Museum, oder, wenn Sie so wollen, eine Gedenkstätte für alles, was mir im Leben passiert ist. Und noch passieren wird. Sie senkten den Blick. Dieser Moment ist bei mir hängen geblieben, ich glaubte, ich hätte es geschafft, Sie davon zu überzeugen, die Sache sein zu lassen.

Entsprechend überrascht war ich, als vor zwei Jahren ein weiterer Kamerad Ihrer Brigade hier aufkreuzte, ein Joav oder Nimrod, nageln Sie mich auf den Namen nicht fest, Sie wissen sicher, von wem ich spreche. Auch da stand ich gerade am Fenster, und er sagte: »Hören Sie gut zu.«

»Ich höre gut zu«, erwiderte ich.

»Ich habe fünf Kinder und brauche mehr Platz, klar?!«

»Klar«, sagte ich.

»Sie verstehen?!«

»Sicher verstehe ich«, sagte ich. »Aber, was man meinen Eltern in Europa angetan hat, wird man mir hier ganz sicher nicht antun. Und Ihre fünf Kinder sind einzig und allein Ihr Problem.«

Sagen Sie, wie ertragen Sie solche Typen? Aber lassen wir das. Die Wahrheit ist, ich hatte diese Räumung-Neubezug-Geschichte schon ganz vergessen, immerhin waren inzwischen fast sechs Jahre vergangen, als wir vor einigen Monaten wieder an meinem Fenster zusammentrafen und Sie mir sagten, es hätten schon alle unterschrieben und nur ich würde die Realisierung des Projekts verzögern.

Ich war erfreut, die Verzögerin zu sein. Ich habe weiterhin geglaubt, es würde mir gelingen, den Abriss des Hauses und des ganzen Viertels von der Tagesordnung zu bekommen, doch vor drei Wochen habe ich in der WhatsApp-Nachbarschaftsgruppe gesehen, dass Ihr Projekt jetzt doch konkret wird. Ich fühlte mich in Bedrängnis, und obwohl ich insgeheim wusste, die Lage ist aussichtslos, füllte ich meinen Kopf mit Träumen und mein Herz mit Hoffnungen, betete, dass irgendetwas Ihren Plan noch durchkreuzen werde.

So habe ich bis zum heutigen Abend überlebt.

Und heute Abend, als ich das Klopfen an der Tür hörte, durch den Türspion spähte und Sie sah, war ich so erschrocken, dass ich die Tür nicht aufgemacht habe. Erst, nachdem Sie weg waren, habe ich den Umschlag von der Fußmatte aufgehoben. Ich habe sofort verstanden, dass es ein Räumungsbeschluss vom Gericht ist. Habe verstanden, dass es nicht mehr in meiner Hand liegt, mich und mein Zuhause zu retten, habe eingesehen, dass mein Widerstand ein bloßes Rückzugsgefecht war, dass ich wohl verloren habe und gezwungen sein werde, in die Ersatzwohnung zu ziehen, bis der Neubau fertig ist und ich, Ihnen zufolge, wieder herkommen kann. Dazu will ich Ihnen sagen, in meinem Alter weiß nur Gott allein, ob ich zurückkehren werde.

Rivi Greenfeld, die Nachbarin

verschickt

01:22

WhatsApp

Lieber Noah, verzeih die späte Stunde. Ich wollte dich nur informieren, heute Abend hat mich die Hiobsbotschaft erreicht: mir bleiben noch sechs Tage bis zum Abbruch des Hauses.

Noah, du hast leider recht behalten.

04:00

WhatsApp

Noah, ich entsinne mich, du hast mir vor vielen Jahren einmal gesagt, deine Wunde werde bis zum Tod nicht heilen. Und heute Nacht verstehe ich dich, heute Nacht weiß ich, dieses Zuhause wird bis zu meinem Tod bei mir sein, seine Zerstörung wird bis zu meinem letzten Atemzug eine schwärende Wunde bleiben, aber vor allem spüre ich, dass ich den Kampf aufnehmen muss. Du kennst mich, ich habe nie gekämpft oder etwas in die Waagschale geworfen, was einem Kampf gleichkommt, aber in den letzten Stunden bin ich zu dem Entschluss gekommen, diese Welt nicht stillschweigend zu verlassen.

Es reicht.

04:10

[email protected]

Junge Dame, diese Worte hier werden um vier Uhr morgens geschrieben. Wenn ich mich nicht irre, und das tue ich nicht, dann sind Sie vor sechs Jahren hergezogen, genau in der Woche, in der mein neues Leben beginnen sollte und ich den geruhsamen Tagen meiner Pensionierung entgegensah. Ich hatte bescheidene, nicht allzu weitreichende Pläne, wollte mein Leben in dem Haus beschließen, in dem es begonnen hatte, hoffte, in meiner Wohnung zu sterben, in meinem eigenen Bett. Und dann sind Sie aufgetaucht und sagten, Sie seien die neue Nachbarin und wollten versuchen, die anderen Bewohner zu überzeugen, beim Stadterneuerungsprogramm mitzumachen. Glauben Sie mir, bis heute Abend habe ich nicht geglaubt, Sie würden mit Ihrem unheilvollen Plan Erfolg haben, und als ich den Gerichtsbeschluss in den Händen hielt, sah ich das schwarze Loch des Todes vor mir. Ich verabscheue den Tod, die bloße Idee davon. Sie sind noch jung, der Tod belastet Sie noch nicht, genauso wenig wie Gedenktage und Sehnsuchtsanfälle nach Verstorbenen. Wenn ich über mich selbst nachdenke, ist es schwer zu verstehen, wie ich trotz allem von Zeit zu Zeit solche Lebenslustattacken habe. Aber das ist eine andere Geschichte.

Auf jeden Fall ist mir wichtig, dass Sie verstehen, ich habe mein ganzes Leben viele Ängste mit mir herumgeschleppt, und am meisten habe ich mich davor gefürchtet, irgendwann einmal vertrieben oder zu einem Flüchtling zu werden. Meine Eltern waren nämlich welche, und sie haben mich gelehrt, etwas vom Schicksal eines Flüchtlings zu verstehen. Und damit Sie es wissen, Ihre Freunde, die Sie mir ins Haus geschickt haben in der Hoffnung, ihnen würde gelingen, mich zur Aufgabe meiner Wohnung zu überreden, haben mich wahnsinnig gemacht. Wie sie sich vor mir aufgebaut haben. Sofort stand mir die gesamte jüdische Geschichte vor Augen.

Aber, ich will Ihnen auch sagen, ich bin kein Unmensch, trotz meines Schmerzes verstehe ich Sie und Ihre Freunde durchaus, verstehe, dieser Ort hat für euch keine Geschichte, ich bin mir dessen bewusst, dass all die netten jungen Damen und Herren heutzutage Renovierungen brauchen. Aber wir haben, tut mir leid, das zu sagen, hier nun mal einen Interessenskonflikt. Ich gestehe, ich hatte gehofft, Sie und all diese jungen Leute, die Anbauten, Parkplätze und alle möglichen Extras wollen, besiegen zu können. Ich nehme an, aus Ihrer Sicht bin ich bloß ein Hindernis, und auch in diesen Momenten, da der anbrechende Tag nicht mehr fern ist, hoffe ich noch immer, es wird ein Wunder geschehen und euer Plan sich in Wohlgefallen auflösen.

Rivi

nicht verschickt

04:47

WhatsApp

Noah, ich konnte keinen Schlaf finden und habe die ganze Nacht mit Gott und der Welt abgerechnet. Und vor allem hab ich Odelia mit E-Mails bombardiert, auch wenn ich die letzte nicht abgeschickt habe. Noah, ich hatte das Gefühl, ich müsste das tun. Denkst du, ich bin wahnsinnig geworden?

Bye,

Rivi

Noch sechs Tage

08:09

[email protected]

Guten Morgen, Odelia. Irgendwie begreife ich inzwischen, dass ich Sie in der Sache mit dem Haus nicht wirklich werde besiegen können, aber mir ist dennoch wichtig, dass Sie und Ihre Freunde etwas über mich erfahren, dass Sie wissen, ich bin nicht nur die Alte am Fenster, auf deren Wünsche man keine Rücksicht zu nehmen braucht, weil sie (in Ihren Augen) schon nicht mehr zu diesem Ort und in diese Zeit gehört. Mir ist wichtig, dass Sie wissen, auch wenn ich von hier weggehe und nicht zurückkehre, ich und viele andere haben an diesem Ort ausgesät und gepflanzt, unser Herz und unsere Seele haben hier Wurzeln geschlagen. Deshalb habe ich mir heute Nacht geschworen, ich werde meine und unsere Geschichte nicht einfach so in Vergessenheit geraten lassen. Mir ist wichtig, dass Sie verstehen, von dem Augenblick, als Sie gestern gegangen sind, bis zu diesem Moment jetzt beherrscht mich der Gedanke, dass unsere Welt grausam ist, dass es keinen Ort und kein Mitleid gibt für eine ältere und vor allem einsame Frau. Ich möchte Ihnen sagen, ungeachtet meines Alters, das in Ihren Augen gewiss biblisch anmutet, denn so ist das nun mal bei jungen Menschen, wobei ich, nebenbei gesagt, gerade mal neunundsechzig Jahre und vier Monate alt bin, habe ich weder den Kontakt zum Leben verloren noch bin ich beschränkt oder gar dement, ja, mein Gesundheitszustand ist alles in allem durchaus akzeptabel. Vor allem aber habe ich das Gefühl, nicht nachgeben zu dürfen. Mein ganzes Leben lang habe ich nachgegeben, aber damit ist jetzt Schluss. So lange dieses Haus nicht abgerissen ist, werde ich jedem, der an meinem Leben Anteil genommen hat, schreiben, wie mir zumute ist.

Ich hoffe, meine Worte werden mit Respekt aufgenommen, so wie ich hoffe, nicht zu übertreiben.

Es grüßt Sie,

Ihre Nachbarin Rivi

verschickt

08:12

Wie konnte ich bloß?

Ich bin schweißgebadet, gehe unter die Dusche, begegne mir selbst im Spiegel. Schon seit Jahren halte ich von Spiegeln lieber Abstand, doch heute und angesichts der Umstände beschließe ich, nachsichtig mit mir zu sein, ich gehe mit dem Gesicht nah heran und denke, dass trotz allem noch Überreste von Schönheit an mir sind, das Haar ist noch voll, und wenn ich lächle, leuchten meine Zähne. Meine Haut erscheint mir vollkommen glatt, aber ich sage mir, das ist vermutlich dem Grauen Star geschuldet. Der Graue Star ist eigentlich ein großherziges Geschenk der Natur für eine wie mich, denke ich, ja, für alternde Menschen generell, und plötzlich kommt mir wie aus dem Nichts die Frage: Wozu sind alte Menschen in unserer Welt überhaupt noch gut? Und gleich darauf die Antwort: Wir Alten sind dazu bestimmt, Geschichten zu erzählen.

09:11

[email protected]

Hey, Michael,

long time, was? Ich nehme an, in dem Moment, in dem du realisierst, du hast eine E-Mail von Rivi Greenfeld, wirst du unwillkürlich den Finger nach der Löschtaste ausstrecken, aber vielleicht regt sich nach sechs Jahren Funkstille bei dir auch so was wie Neugier und du wirst das hier lesen.

Also Folgendes, gestern am frühen Abend bekam ich die Mitteilung, dass das Stadterneuerungsprojekt dort, wo ich wohne, in Kürze beginnen wird und dass ich meine Wohnung räumen muss. Ich dachte, ich sterbe, aber bisher ist das noch nicht passiert, im Gegenteil, nach der Hiobsbotschaft gestern ist etwas in mir erwacht und ich empfand das Bedürfnis, mit mir selbst und mit den Leuten zu reden, die Teil meines Lebens gewesen sind.

Und, schau, du stehst, wie in der Vergangenheit, noch immer ganz oben auf meiner Liste.

»Rivi, Schatz, du hast der hebräischen Sprache einen großartigen Dienst erwiesen, der Punktierung, den Satzzeichen und unserer Zeitung ohnehin, aber du weißt auch, die Zeiten sind gerade nicht einfach und Printmedien schon nicht mehr das, was sie mal waren, und ohnehin bleibt dir ja nur noch ein Jahr bis zur Pensionierung.«

Erinnerst du dich?

So hast du es gesagt, Wort für Wort. Ich habe zugehört und geschwiegen, und als du fertig warst, habe ich wie eine Schauspielerin in einem amerikanischen Film einen Karton genommen, der auf dem Flur stand, habe alles, was auf meinem Schreibtisch lag, eingepackt, habe das Büro geräumt und die Zeitungsredaktion verlassen, in der ich fast fünfzig Jahre gearbeitet hatte.

»Wie ist es?«, hast du mich eine Woche später am Telefon gefragt.

Ich habe nicht geantwortet, du weißt ja, dass ich bei dir nicht besonders gut bin, wenn es ums Reden geht.

»Das wird schon«, hast du versprochen.

Wie gesagt, es sind jetzt sechs Jahre, seit ich etwas von dir gehört habe. Ich nehme an, du weißt, wie verzweifelt ich dich geliebt habe, aber heute will ich nicht über die Liebe reden, heute will ich um alles trauern, was ich verloren habe. Die Arbeit, die vielen Jahre tagtäglichen Austauschs. Mit ein paar kurzen Sätzen von dir abserviert, fand ich mich ohne Job und ohne dich wieder. Und in knapp einer Woche werde ich mich auch ohne mein Zuhause wiederfinden.

verschickt

09:15

Ich war einmal eine Schnecke oder Schildkröte, und wenn man mir mein Haus zerstört, bleibt die Haut nackt und ungeschützt, und das brennt, brennt fürchterlich.

10:48

[email protected]

Hey, Ido, ich hoffe, es geht dir gut. Ich brauche bitte deine Hilfe. Seit gestern Abend habe ich heftige Panikattacken, du weißt schon, Pulsrasen, Schwindelgefühl, Schweißausbrüche und eine Million Gedanken, die mir durch den Kopf rasen, genau wie damals. Bitte stell mir ein Rezept für Xanax aus.

Ich danke dir,

Rivi

verschickt

11:10

[email protected]

Hey, Noah, ich laufe über von Worten und habe beschlossen, mir alles von der Seele zu schreiben. Ich werde erklären, warum. Gestern Abend, als mir klar wurde, der Countdown der Terminatorin hat begonnen, wollte ich nur noch schreien. Für einen Moment hatte ich sogar vor, mich für Facebook oder Instagram vor die Kamera zu stellen und der ganzen Welt zu erzählen, dass man mir das Haus abreißt, aber obwohl ich ganz gut bin mit all den neuen Technologien, befürchtete ich, mich bloß lächerlich zu machen, also beschloss ich stattdessen Mails zu schreiben. Tagebücher oder Briefe, die mit der Post verschickt werden, sind ja nicht mehr das Genre, wie die Millennials sagen.

Glücklicherweise habe ich das Gefühl, mein Verstand ist noch zu gebrauchen, mein Erinnerungsvermögen glasklar, und – ich trage ein gewaltiges Wissen über das Leben mit mir herum. Man sollte mich nicht unterschätzen, besonders meine jungen Nachbarn nicht, für die ich nur eine kauzige Alte bin, die an ihrem Fenster rumhängt.

Ich schreibe dir bloß, damit du Bescheid weißt. Schreibe dir, weil du ein Freund bist. Schreibe auch, damit mein Herz nicht einstürzt, schreibe, um nicht verrückt zu werden. Und weil ich weiß, dass du genau wie ich verstehst, das Leben ist nicht nur Gegenwart und Zukunft, es besteht, in unserem Fall zu unserem Leidwesen, vor allem aus Vergangenheit.

Deine Winderin roter Kränze

verschickt

11:34

WhatsApp

Du bist unschlagbar, Michael. Schreibst: »Sorry.« Ein Wort, und das war’s. Sag mal, bist du noch ganz dicht?

Das ist alles, was du mir zu sagen hast?

»Sorry«? Was soll das? Hast du mich vergessen? Meine Wohnung? Das Zimmer meiner Mutter?

Du warst und bist ein Narzisst.

nicht verschickt

11:49

Michaels »Sorry« brachte mich zum Weinen, dabei dachte ich, ich hätte schon verlernt zu weinen, aber anscheinend ist das eine Fähigkeit, die da ist und wiederkommt, auch wenn man das schon vergessen hat. Ich fürchte, ich habe noch immer nicht aufgehört, ihn zu lieben, und allein diese Furcht macht mich wahnsinnig, nein, sie erschreckt mich. Bloß nicht unterkriegen lassen, sage ich mir – ein neues Mantra …

12:12

[email protected]

Hey, Michael, ich hab dein »Sorry« gelesen. Dir weiter zu schreiben, fällt mir nicht leicht, aber ich gebe nicht nach, diesmal nicht.

Wer wüsste besser als du, dass unsere Beziehung im Wesentlichen auf Beruflichem basierte, aber wir hatten – zumindest aus meiner Warte – auch noch eine weitere, parallele Verbindung. Von dem Moment an, als wir uns das erste Mal begegnet sind, befand ich mich in einem Zustand ständiger Verliebtheit, konnte dich nicht anschauen, ohne ein Beben am ganzen Körper zu spüren. (Lass mich dir gleich zu Beginn meiner Ausführungen sagen, in allem, was ich dir schreibe, sollst du bitte keinen Vorwurf sehen, danach ist mir heute wirklich nicht, heute erzähle ich nur mich selbst. Ich habe nichts Wertvolleres als Geschichten, und wenn dieses Haus abgerissen ist, wird mir außer diesen Geschichten nichts bleiben. Vor vielen Jahren hast du mir einmal gesagt, du habest keine Angst vor Gott, nur vor Frauen, die zu viel reden. Also werde ich dir wohl ein bisschen Angst machen, denn ich habe vor zu reden, aber du hast wirklich nichts zu befürchten. Was ich mir wünsche, ist, dass du es liest, und noch ein bisschen mehr, dass du dabei ein leichtes Bedauern empfindest. Das würde mir schon genügen.

Ich habe mich immer mit wenig zufriedengegeben.

Ich hoffe, das Schreiben verschafft mir ein wenig Ruhe. Und ich hoffe, nicht pathetisch zu sein.

Fortsetzung folgt.

verschickt

14:20

[email protected]

Wieder ich. Wie du sicher inzwischen verstanden hast, kreisen meine Gedanken heute um viel Verlorenes, und in hohem Maß um dich; von all den Erinnerungen kommt mir ausgerechnet immer wieder der Augenblick in den Sinn, in dem ich einen Blick in deinen Terminkalender warf und entdeckte, du hast einen Tisch für zwei in einem Restaurant reserviert, und ich glaubte zu verstehen, du hast deinen Terminkalender absichtlich offen auf dem Tisch liegen lassen. Ich dachte, auf deine sonderbare Weise lädst du mich zum Essen ein.

So kam es, dass ich nach einem Jahr gemeinsamer Arbeit und zum Schweigen verurteilter Liebe meiner Sehnsucht einen Schritt voran erlaubte, du erinnerst dich sicher, wie ich, übertrieben geschminkt und in einem weißen Kleid, wie eine Braut, in dem Restaurant auftauchte, nur um dich dort bei einem romantischen Stelldichein mit Nicky zu erwischen. Wenn ich mich recht entsinne (und ich entsinne mich recht), arbeitete Nicky damals für ein Konkurrenzblatt. Ich war wie im Schock, stand da wie erstarrt, aber mir war bewusst – du hattest mich gesehen und, schlimmer noch, ignoriert.

Am nächsten Morgen bin ich in dein Büro, hatte vor, alles zu beichten, aber ich bekam kalte Füße und wollte schon kehrtmachen, doch da bist du hinter deinem Schreibtisch aufgestanden, kamst auf mich zu und hast mich in die Arme genommen.

»Rivi«, hast du gesagt, »vergiss, was du gesehen hast, das war ein Arbeitsessen, mehr nicht.«

Zwar ließen mir die Streicheleien keine Ruhe, mit denen du Nicky in dem Restaurant bedacht hattest. Andererseits weckte die Umarmung, die du mir gönntest, Hoffnungen, und ich wusste nicht, was gilt nun, das Streicheln von Nicky oder die Umarmung für mich.

Ein paar Tage danach standest du plötzlich in meinem Büro.

»Rivi, du hast die Festanstellung! Von heute an sind wir beide zusammen bis zur Pensionierung«, das sagtest du, und in mir überschlug sich alles, ich dachte tatsächlich, du wärst der Mann meines Lebens. Du, und nicht Arik, der zu dem Zeitpunkt ohnehin schon auf Tauchstation gegangen war.

»Ich hab das große Los gezogen«, sagtest du noch.

Aus der Distanz der Jahre kann ich sagen, ab diesem Moment war ich, was uns betrifft, von einem Illusionssyndrom befallen. Und ich denke, dich trifft zumindest eine Mitschuld.

Fast fünfzig Jahre kennen wir uns, und nie haben wir über uns – über mich und dich geredet. Doch jetzt werde ich einige der Pandorabüchsen meines Lebens öffnen. Ich werde unsere lang währende und leidvolle Beziehung rekonstruieren, wobei ich nicht umhinkann, zu denken, heutzutage würde man dich vermutlich wegen sexueller Ausbeutung in einem Abhängigkeitsverhältnis drankriegen.

Aber keine Sorge, du und deine Taten, ihr seid längst verjährt.

Gehab dich wohl,

Rivi

verschickt

15:45

[email protected]

Michael, die Erinnerungen reißen nicht ab. Ich denke an den Tag, an dem alles begann. Arik Packer, der Kommandeur meiner Einheit und dein Jugendfreund, hatte mich zu dir geschickt. Ich war gerade mal einundzwanzig und trat an einem heißen Sommertag mittags in deinem Büro an. Du saßt hinter einem mit Akten überladenen Schreibtisch, ein blendend aussehender Mann von zweiunddreißig Jahren. Arik hatte angedeutet, du seist, obwohl verheiratet, noch immer einer der meistbegehrten Männer der Stadt. Und dass du ein Genie wärst, das hat er auch gesagt.

Ich erinnere mich, du trugst Jeans und ein schwarzes T-Shirt, hinter dir das Fenster, um dich der Rauch deiner Zigarette. Du sagtest: »Herzlich willkommen, meine Schöne«, und ich wurde rot, wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Meine Augen folgten dem sich kräuselnden Rauch, und dann bemerkte ich an der Wand hinter deinem Schreibtisch das Bild einer hübschen Frau, die sich in deine Arme schmiegt. Ich erinnere mich, dass ich sofort eifersüchtig auf sie war, und als würdest du spüren, was mir durch den Kopf ging, sagtest du, »Wow, ich dachte nicht, dass du so schön bist«. Ich blieb stumm, auch als du mir mitteiltest, ich bekäme die Stelle als Korrektorin.

Ein Augenblick weicher Knie. Ich wusste eigentlich nicht, was das bedeutet, Korrektorin bei einer Zeitung zu sein. Aber Arik hatte mich zu dir geschickt, er wusste, was gut für mich war, also willigte ich ein.

So war ich damals, ein einfältiges junges Ding.

Du strecktest mir deine Hand hin, wünschtest mir viel Erfolg, und während wir noch in einem langen Händedruck gefangen waren, sagtest du, man habe dir zugetragen, dass ich mich beim Redigieren von Tagesbefehlen bewährt und den Herren Offizieren ihre Rechtschreib- und Grammatikfehler korrigiert hätte. Ich bemerkte ein winziges, angedeutetes Lächeln, das sich auf deine Lippen stahl, und dieses Lächeln machte mir klar, Arik hatte dir verraten, dass seine Frau uns auf die Schliche gekommen war, weshalb er mich verschwinden lassen und für meine Entlassung sorgen musste, und so endete zu meinem Bedauern das Kapitel Armee in meinem Leben. Immerhin konnte ich mich damit trösten, dass ich, dank der Freundschaft zwischen Arik und dir, in den Genuss einer Anstellung als Korrektorin kam.

Um ehrlich zu sein, ich hatte keine Ahnung, was ich in