Das Schweigen meiner Mutter - Lizzie Doron - E-Book

Das Schweigen meiner Mutter E-Book

Lizzie Doron

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Beschreibung

Ein Photo. Ein Garten, Tel Aviv, 50er- Jahre. Im Vordergrund ein kräftiges kleines Mädchen, den Blick in die Kamera gerichtet, einen zweifelnden oder auch verzweifelten Blick, vielleicht blendet aber auch nur die Sonne. Im Hintergrund ein Gebüsch, und dort, eingerahmt von einem kleinen weißen Kreis, ein weiteres Gesicht. Fast unkenntlich, winzig und fern. Ist das der Vater, den das Mädchen nicht kannte? Nach dem es wieder und wieder vergeblich fragte und dann – längst erwachsen – zu forschen begann? Eine atemlose Suche nach Sinn und Begründung eines, wie sichzeigen wird, wahnwitzigen Geheimnisses.  

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Seitenzahl: 236

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Lizzie Doron

Das Schweigen meiner Mutter

Roman

Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler

Deutscher Taschenbuch Verlag

2013

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe:

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41719-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14254-0

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

Für Dani – alles, was ich mir wünschen konnte

»Gestreckt, nach oben, deutet Der Finger zur Decke Erwachsene, kommt Nehmt die erhobene Hand Zieht sie aus der Kindheit.«

aus: Orit Gidali, »Mädchen«

1

ICH KAM SPÄT AM ABEND nach Hause.

»Hi, Alisa, ich bin’s«, empfing mich die Nachricht auf dem Anrufbeantworter. »Also … ruf mich zurück.«

Dorits Stimme hatte den Tonfall, der schlechten Nachrichten vorbehalten war.

»Ich habe morgen eine Beerdigung«, teilte ich meinem Mann mit.

»Wieso, wer ist gestorben?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, antwortete ich.

»Du und deine Freundinnen«, sagte er und lächelte.

Am nächsten Morgen, in den Todesanzeigen der Zeitung, fand ich die Antwort. Fejge Friman, Dorits Tante, die legendäre Kindergärtnerin, war von uns gegangen.

Mittags fand ich mich auf dem Friedhof am Rand unseres alten Viertels ein. In der kleinen Schar von Trauergästen entdeckte ich Dorit. Sie warf mir zur Begrüßung einen Blick zu. Ich antwortete ihr mit einem leichten Kopfnicken.

Dann suchte mein Blick Freunde aus der Kindheit. Aber nur ich war da, stellte ich fest. Das wunderte mich nicht. Seit eh und je war ich es, die treue Anhängerin von Beerdigungen, die sich einfand, zum Begräbnis, zu einem Besuch während der Schiwa und auch zu den Gedenktagen der Toten. Eingeladen und zur Stelle.

Welch eine Ehre, dachte ich belustigt. Vielleicht, weil ich die Veteranin aller Waisenkinder des Viertels war, und vielleicht, weil auch ich, wie meine Mutter, viele Jahre zu jeder Beerdigung mit einem Mohnkuchen zu erscheinen pflegte. »Das kichl von Helena.« Ich erinnerte mich an den Kuchen und lächelte.

»Wenn wir diese Woche eine Beerdigung haben, dann kommst du mit mir zur Schiwa«, hatte meine Mutter früher an jedem Wochenende zu dem Kuchen gesagt, den sie aus dem »Wundertopf« holte, »aber wenn wir zu einem Geburtstag eingeladen werden, bestreiche ich dich mit Schokoladencreme und wir gehen zusammen zur Feier.«

Jede Woche wartete im Kühlschrank der Mohnkuchen meiner Mutter auf seine Bestimmung.

Ich nehme an, dass sogar der Kuchen wusste, was für ein ungenießbares Produkt er war, und dass auch er sich freute, wenn es in der folgenden Woche im Viertel weder eine Beerdigung noch eine Geburtstagsfeier gab und man ihn am Ende in den Mülleimer werfen würde.

Ich kehrte in die Wirklichkeit zurück. Am Rand der offenen Grube, die auf Fejge wartete, die kinderlose Kindergärtnerin, stand Dorit, ihre Nichte, die wie eine Tochter für sie gewesen war. Ohne eine Träne.

Dorit Rosenfeld war – damals wie heute – auf eine leise Weise schön, sie hatte üppiges, kastanienbraunes Haar und Honigaugen. Das Mädchen mit den besten Karten im Viertel: Dorit hatte nicht nur einen Vater und eine Mutter gehabt, sondern auch einen sehr gut aussehenden Bruder, außerdem eine Tante und einen Onkel. Nur Dorit hatte eine richtige und vollständige Familie.

Ich betrachtete sie. Das Kastanienbraun war zwar blasser geworden, doch noch immer waren ihre Haare zu einem dicken, beeindruckenden Zopf geflochten, und auch das Lächeln, bei dem man dahinschmolz, und die Honigaugen waren ihr geblieben.

Vor zehn Jahren war ihre Mutter gestorben, und wir hatten uns genau hier wiedergetroffen, bei der Beerdigung. Unser Kontakt lebte wieder auf, und seither trafen wir uns an jedem Todestag ihres Vaters, an jedem Todestag ihrer Mutter und an jedem Todestag ihres Onkels, Fejges Mann. Dreimal im Jahr trafen wir uns hier auf dem Friedhof, und von hier aus gingen wir ins Kino, in die Nachmittagsvorstellung, nur wir beide. Danach machte sich Dorit immer gleich eilig auf den Weg nach Hause, sie wohnte im Emek Jesreel.

»Familienfeste« nannte ich unsere morbiden Treffen. Ab heute, dachte ich, haben wir ein Familienfest mehr, ab heute werden wir uns viermal im Jahr treffen.

Die Beerdigungszeremonie näherte sich ihrem Ende. »Fejge kehrt zurück zu Wladek, ihrem Mann, und zu Itta, ihrer Schwester, und zu Schmulik, ihrem Schwager – die ganze Familie ist wieder vereint«, sagte der Rabbiner und verhaspelte sich fast, so schnell sprach er, er musste zu einer weiteren Beerdigung. Noch bevor die Erde Fejge bedeckte, waren fast alle Trauergäste verschwunden.

»Wie gut ist es und wie angenehm«, hörte ich Fejges Akkordeon wieder spielen, und diese Erinnerung brachte mir überraschend einen heißen Sommermorgen zurück. Fejge hatte die Kindergartenkinder zum Rhythmikunterricht versammelt, die Kinder bekamen Tamburine, sie spielte begeistert Akkordeon und hatte ausgerechnet Chajale Fink für die Rolle des kleinen Fischs ausgewählt, der zu der Musik im Wasser tanzte. »So kühlen wir den heißen Wüstenwind«, sagte Fejge mit einem eingeschrumpften Lächeln.

Ich hasste die Rhythmikstunden, ich hasste das Akkordeon, die Tamburine und auch Chajale, die Angeberin.

»Pst«, flüsterte ich Dorit zu, die neben mir saß. Ich wusste, dass sie gekränkt war, weil Fejge nicht sie für die Rolle des kleinen Fischs ausgesucht hatte. »Komm, lass uns weglaufen!«

Dorit war begeistert.

»Dein Blick verrät mir ohne Worte, was du willst«, sagte sie einmal zu mir, als wir schon groß waren.

Sie hatte sich schon immer eingebildet, mich durchschauen zu können, all meine Gedanken zu kennen, all meine Wünsche. Ein altvertrauter kleiner Zorn schoss in mir hoch.

»Komm, lass uns meinen Vater suchen«, hatte ich ihr damals vorgeschlagen.

Dorit war rot geworden.

»Komm!« Ich zog sie hinaus, während die anderen Kinder aufstanden, um zu tanzen, und wir liefen auf die Straße, erschrocken vor unserem eigenen Mut.

Wir rannten über die Straße, auf der nur Alte-sachen-Mietek mit seinem halb blinden Esel entlangkam, ließen den Lumpensammler und sein Gerümpel hinter uns und landeten bei Elektro-Koslowski, der seinen Laden mit einem quietschenden Ventilator zu kühlen versuchte, allein an der Kasse stand und sehnsüchtig auf Kunden wartete, die nicht kamen.

»Wo ist mein Vater?«, fragte ich ihn.

Herr Koslowski schwieg verlegen und nahm aus einem Regal eine alte Taschenlampe. Er schenkte sie mir und warf Dorit einen ärgerlichen Blick zu.

Draußen stießen wir auf Alte-sachen-Mietek, der meine Taschenlampe gierig betrachtete.

»Wo ist mein Vater?«, fragte ich auch ihn.

»Irgendwo«, erwiderte er mit einem zahnlosen Lächeln und streckte die Hand nach der Taschenlampe aus.

»So, dann bekommst du sie nicht«, fertigte ich ihn ab.

»Klafte1«, schimpfte er. Ich hatte das Gefühl, er wollte noch etwas sagen, aber Dorit beschloss, vor ihm davonzulaufen.

Ich zog sie in die Richtung unserer Wohnung. Ich hatte mir überlegt, dass mein Vater vielleicht zu uns nach Hause kam, wenn ich nicht da war. Diesen Gedanken behielt ich für mich, ich verriet ihn auch Dorit nicht. Ich sagte nur zu ihr, mein Vater sei eine Art Vater, der sich versteckt. Ich erzählte ihr nicht, dass ich ihn hinter unserem Haus verschwinden und eilig auf der Allee davonlaufen gesehen hatte, wahrscheinlich auf dem Weg zu seinem Versteck, und einmal hatte ich ihn sogar in Fejges Küche gesehen. Ich hatte Angst, Dorit würde sagen,

das sei Unsinn, das könne gar nicht sein. Stattdessen erzählte ich ihr, ich würde mit meinem Vater Verstecken spielen, er wäre derjenige, der sich versteckt, und ich diejenige, die sucht, und eines Tages würde ich ihn finden. Zu meiner Freude hörte Dorit nur zu und sagte nichts.

Mein Vater wird eines Tages noch auftauchen, sagte ich mir, trotz des Schweigens meiner Mutter, trotz Dorits Schweigen, trotz des Schweigens aller anderen, obgleich ich keinen Beweis für seine Existenz hatte, obgleich ich nicht wusste, wie er aussah, und auch nicht wusste, wie ich ihn erkennen sollte. Ich wusste nur, eines Tages werden wir uns treffen.

Doch von Elektro-Koslowski gingen wir erst einmal zur Synagoge. »Wo ist mein Vater?«, fragte ich den Synagogendiener, der sich die Hitze mit einem Taschentuch fortwedelte. Er versuchte mich loszuwerden und fing an, irgendetwas von dem wunderbaren Schnee zu stammeln, den es in Białystok gegeben hatte.

Enttäuscht verließ ich die Synagoge. Ich wollte nun nach Hause, aber Dorit beharrte darauf, noch zur Praxis von Dr. Wollmann zu gehen.

»Dann schon lieber in den Kindergarten«, sagte ich verärgert.

»Vielleicht ist dein Vater bei Dr. Wollmann, vielleicht fühlt er sich nicht gut.« Dorit zog mich Richtung Krankenkassenambulanz.

»Aber meine Mutter arbeitet dort«, schrie ich sie an.

»Wenn jemand nicht nach Hause kommt, dann ist er entweder krank oder etwas anderes Schlimmes ist ihm passiert, das weiß doch jeder. Wir müssen zu Dr. Wollmann gehen«, überredete sie mich.

Vielleicht ist mein Vater wirklich dort, schoss es mir durch den Kopf, vielleicht besucht er ja meine Mutter bei der Arbeit.

Aber im Hof der Krankenkassenambulanz trafen wir auf Fejge, die Kindergärtnerin.

»Sie ist schuld«, sagte Dorit sofort. Ich warf ihr einen wütenden Blick zu.

»Arme Helena, dieses Kind ist wirklich eine Plage«, hörte ich Fejge murmeln.

Ich zwickte Dorit in den Arm.

Dorit fühlte sich gezwungen, mich zu verteidigen: »Ihr war nicht gut.«

Aber Fejge hörte gar nicht hin. Sie hatte genug von mir, genug von Dorit, genug von der Hitze und spritzte sich Wasser aus dem Schlauch der Berieselungsanlage ins Gesicht.

Das Wasser tropfte auf ihre weiße Bluse und ließ ihren großen Büstenhalter sichtbar werden, der ihre schweren Brüste beherbergte.

»Hat sie ihren Vater gesucht?«, fragte Fejge Dorit leise, und Dorit bejahte ihre Frage mit einem stummen Nicken.

Ich wollte Dorit wieder zwicken, aber Fejge packte mich schon am Arm, zerrte mich zurück in den Kindergarten und sperrte mich in der Toilette ein.

»Aber warum nur ich? Was habe ich denn getan?«, schrie ich verzweifelt. Ich hörte, wie Fejge den anderen Kindern erklärte, es sei verboten, aus dem Kindergarten wegzulaufen, und meine Bestrafung solle ihnen ein warnendes Beispiel sein.

»Mir stinkt’s!«, brüllte ich aus meiner nach Urin riechenden Einzelzelle. »Hoffentlich stirbst du in Hitlers Grab!« Ich trat gegen die Tür.

Gegen Mittag kam Itta in den Kindergarten, Dorits Mutter, die Schwester von Fejge.

»Du bist zedrejt«, schrie sie Fejge an und versuchte, mir die Tür aufzumachen, »verrückt bist du!« Sie rüttelte an der Klinke und am Schlüssel, aber die Tür erbebte nur.

»Hier ist nicht Majdanek!«, hörte ich sie Fejge anbrüllen. »Was ist das, du hast sie eingeschlossen? Nun, dir traue ich alles zu!«

»Soso«, antwortete Fejge, »ich bin schlecht, und du, was bist du? Du bist eine Gerechte, was?« Und auf Jiddisch spuckte sie aus: »Ich ken nischt fargessn …«

Ich saß auf dem Toilettendeckel und heulte. Mir war klar, dass sie mich schon vergessen hatten, ich war sicher, ich müsste bis in alle Ewigkeit hier bleiben.

Plötzlich wurde es ganz still im Kindergarten. Sogar Fejge und Itta hörten auf, einander anzuschreien. Ich begriff, dass meine Mutter gekommen war.

Was würde jetzt passieren? Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder noch mehr fürchten sollte.

Ich legte das Ohr an die Toilettentür. Meine Mutter verlangte von Wladek, Fejges Mann, er solle die beiden Väter von Chajale holen, die Radiotechniker unseres Viertels.

»Sie werden die Tür aufbrechen und bei dieser Gelegenheit können sie deiner Frau und ihrer Schwester ein Gehirn einsetzen«, sagte meine Mutter zu ihm, und zu Fejge und Itta sagte sie: »Jetzt könnt ihr weiterstreiten!«

Jona und Jissachar, Chajales Väter, vollbrachten ein Wunder mit dem Schraubenschlüssel und befreiten mich aus der Toilette.

In dem Moment, als die Tür endlich aufgebrochen war, sprang ich mit einem Satz hinaus. Ich sah Chajale, die ihre Väter umarmte, und Dorit, die sich zwischen Fejge und ihrer Mutter versteckte.

Fejge, blass geworden, trat auf mich zu, bat mich um Verzeihung und versuchte, mich in den Arm zu nehmen. Ich erstickte fast an ihrem Schweißgeruch, durchsetzt mit dem süßlichen Parfüm »Courage«, das in der Wärme zwischen den Hügeln ihrer Brüste sauer geworden war.

Ich stieß sie weg und schwor, ihr bis in alle Ewigkeit nicht zu verzeihen.

Meine Mutter wollte gehen. »Ein so dünnes Mädchen hätte man lieber in der Küche einsperren sollen statt im Klo«, sagte sie abschließend zu Fejge.

Nur Fejge und ich lachten nicht.

Ich ließ meine Wut an Dorit aus. »Ab jetzt bin ich nur noch Chajales Freundin!«

»Was habe ich denn getan?«, stammelte sie.

»Du hast mich zur Krankenkassenambulanz geschleppt und mein Vater hat zu Hause auf mich gewartet«, zischte ich.

Meine Mutter beendete die Diskussion. »Ihr Vater ist weggefahren, weit weg.«

Auf dem Heimweg schlugen die Absätze meiner Mutter heftig auf die Gehsteigplatten.

»Warum bist du weggelaufen?«, fragte sie mit eisigem Blick.

»Ich hasse Rhythmik«, antwortete ich.

Meine Mutter lief mit großen Schritten, sie lief und schwieg. Ich rannte hinter ihr her. Mein Vater ist wieder in Amerika, tröstete ich mich.

Als wir zu Hause ankamen, ging meine Mutter in die Küche und hackte Gemüse für die Suppe, zerschnitt das Huhn, zerquetschte die Kartoffeln zu Püree. Dabei waren ihre Lippen die ganze Zeit fest zusammengepresst. Sie würdigte mich keines Blicks, noch nicht einmal, als ich eine Blumenvase auf den Boden warf, und auch nicht, als ich mit Pastellkreiden die Wand bekritzelte.

Gegen Abend kam Itta, um sich zu erkundigen, wie es mir gehe. Sie betrat mein Zimmer mit einer Tafel Schokolade, einem gekünstelten Lächeln und einem mitleidigen Blick, dann ging sie in die Küche, um mit meiner Mutter zu schwatzen.

»Ach was, nebbech«, hörte ich sie zu meiner Mutter sagen, »Doritke hat mir gesagt, dass sie wieder ihren Vater gesucht hat.« Sie seufzte, die alte Klatschbase.

»Schsch«, beschützte mich meine Mutter auf ihre übliche Art und Weise. Und nochmals ein »Schsch«. Ich kochte vor Zorn auf meine Mutter, auf Itta und auf Dorit, die Petze. Ich lief zu Chajale Fink, um mich zu trösten und zu rächen.

Chajale schwebte in einem rosa Primaballerina-Kostüm, das ihren mageren Körper eng umschloss, durch andere Welten. Die Schnüre ihrer Ballettschuhe wanden sich um ihre dünnen Unterschenkel, und ihre langen Haare waren zu einem Zopf geflochten und wie eine Krone um ihren Kopf gelegt. Sie saß auf dem Bett in ihrem Zimmer, das vollgestopft war mit Puppen, Haarspangen, Ballettkleidern, mit Kostümierungen aller Art und einem Klavier – Rhythmik für Fortgeschrittene.

Als ich ihren Trost und meine Rache ausgekostet hatte, schlich ich mich hinaus, setzte mich auf den Rasen und beobachtete Jona und Jissachar, ihre Väter. Sie wühlten im Inneren kaputter Radiogeräte herum, schraubten und schweißten Teile zusammen, bis sie den schon dem Tode nahen Geräten ihre Stimme wiedergegeben hatten.

Nach einiger Zeit bemerkte Chajale, dass ich ihr abhandengekommen war, und schrie mir aus ihrem Zimmerfenster zu, ich sei nicht mehr eingeladen, sie zu besuchen.

Dann eben nicht, flüsterte ich und blieb sitzen, um Jona und Jissachar weiter zuzuschauen.

Wozu brauchte sie zwei Väter? Ich war außer mir. Warum hatte sie zwei und ich nicht mal einen? In der Nacht nach jenem Tag träumte ich zum ersten Mal, dass meine Mutter Chajales Reservevater heiratet. Im Traum hatte ich mich gefreut, aber am nächsten Morgen war ich mit zugeschnürter Kehle aufgewacht.

Dorit wartete auf mich. »Auch die Beerdigungen sind nicht mehr das, was sie einmal waren«, sagte sie als Reaktion auf die wenigen Trauergäste.

»Bei unseren Beerdigungen wird es lustiger zugehen«, entgegnete ich lächelnd.

»Ein schöner Trost!« Sie lachte.

»Wie geht es dir?«, erkundigte ich mich.

»Glücklich wie immer«, antwortete sie mit dem ihr eigenen Zynismus.

»Was ist mit Fejge passiert?«

»Gestorben, wie du siehst.«

»Woran?«

»Woran? Am Leben.« Dorit lächelte leicht. Dann kam es ihr in den Sinn zu fragen: »Und wie geht es dir? Deinem Mann? Den Kindern?«

»Sie leben«, antwortete ich knapp und umfassend, wie es zwischen uns üblich war.

Schweigend gingen wir Richtung Friedhofstor. Unterwegs studierte ich die Grabsteine, an denen wir vorbeikamen, jeden einzelnen.

Ich traf Herrn Poschibuzki, den verrückten Glaser, er ruhe in Frieden; Koslowski, den Elektriker, und seine Frau, sie mögen im Paradies ruhen; die beiden Finks – die Zwillingsbrüder Jona und Jissachar; Dr. Wollmann und seine Frau; Herrn und Frau Silberman, die Eltern von Ofer, dem Problematischen.

Am Ende der Reihe, unter einem prachtvollen Marmorstein, lagen Dorits Eltern.

Dorit hielt inne. Ich blieb neben ihr stehen.

Schmulik und Itta. Die Namen von Dorits Eltern brachten mich zurück in jenen heißen Sommer zwischen der dritten und vierten Klasse, jenen Sommer, in dem auch ich im allerbesten Sommercamp angenommen worden war. Dieses Sommercamp war eigentlich nur für die Kinder von Egged-Angestellten, doch am zweiten Ferientag sagte mir Dorit, ihre Mutter habe alles organisiert, ihr Vater habe mich angemeldet und angegeben, er wäre auch mein Vater.

Am dritten Ferientag fand auch ich mich am Treffpunkt ein. Früh am Morgen kam der Autobus, der die Kinder jeden Tag ins Sommercamp brachte. Schmulik Rosenfeld, mein zeitweiliger Vater, war der Busfahrer. Dorit und ich setzten uns hinter ihn, dicht nebeneinander, aufgeregt und fast platzend vor Stolz.

Bald nach meiner Ankunft in der anderen Welt, im Sommercamp am blauen Meer, spielte auch ich, wie Dorit, mit all den anderen Kindern, die einen Vater bei Egged hatten. Ich flocht ein Körbchen aus Stroh, ich bemalte ein Hemd mit Batikfarben und bastelte mir aus bunten Nylonfäden einen Schlüsselanhänger. Zum Mittagessen bekam auch ich Himbeersaft und ein Brötchen mit zäher Erdbeermarmelade. Jetzt wusste ich, was Glück ist.

Nach vier Tagen Glück, kurz vor dem berühmten Sportfest, das am Strand stattfinden sollte, stand der Gruppenleiter morgens an der Bustür, las die Namen der Kinder vor und verteilte an alle eine Mütze und ein Hemd.

Nur meinen Namen las er nicht vor, nur ich bekam weder eine Mütze noch ein Hemd.

»Wie heißt du?«, fragte er erstaunt.

»Alisa Roza«, antwortete ich.

»Arbeitet dein Vater bei Egged?« Er suchte meinen Namen in seiner Liste.

Ich schaute zu Schmulik, der am Steuer saß. Er schwieg.

»Aha«, sagte der Gruppenleiter. Er hatte das Schweigen verstanden.

Im Sommer zwischen der dritten und der vierten Klasse hatte ich meinen Vater noch immer nicht gefunden, nicht zu Hause, nicht in der Synagoge, nicht in der Krankenkassenambulanz.

Ich starrte verzweifelt auf Schmulik Rosenfeld.

»Mein Vater ist so gut wie ihr Vater«, versuchte Dorit mich und die Situation zu retten.

»Geh in das Sommercamp deines Vaters«, verlangte der Gruppenleiter.

»Aber sie hat kein anderes Sommercamp«, rief Dorit wütend.

Ich stieg die Stufen hinunter, die Tür schloss sich, der Autobus fuhr los.

Als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, machte ich mir ein eigenes Sommercamp.

Ich richtete mich in dem ausgetrockneten Bewässerungsgraben einer Pinie ein, nahe der Allee unseres Viertels. Ich riss Nadeln von den Zweigen, träumte vor mich hin und sah meinen Vater.

Er spähte aus dem Hof gegenüber zu mir herüber, er machte mir mit dem Finger ein Zeichen, zu ihm zu kommen, und brachte mich in sein Sommercamp. In das Sommercamp meines Vaters fuhr man nicht mit einem Egged-Autobus, malte ich mir in meiner Phantasie stolz aus, in das Sommercamp meines Vaters flog man mit einem Flugzeug. Im Sommercamp meines Vaters gab es nicht nur das Meer. Dort gab es Berge, Wälder und Schnee. Ich stieg auf einen Berggipfel, ich pflückte Kirschen und Himbeeren, und der süße Geschmack füllte meinen Mund.

Ich fürchtete, jemand könnte mir und meinen Gedanken auf die Spur kommen, ich schaute mich um, sah aber nur die Wäscheleinen der Familie Poschibuzki, an der Kleider von Golda Poschibuzki und ihrer Tochter Bracha hingen sowie die blaue Arbeitskleidung von Chajim Poschibuzki, dem verrückten Glaser.

Ich spähte auch durch das halb offene Küchenfenster von Sabusch. Seine Mutter knetete einen Hefeteig auf der Anrichte, ein Zeichen, dass am Abend ihre ungarischen Freundinnen zum Kartenspielen kommen würden.

Einer von Chajales Vätern ging eilig auf der Straße vorbei, mit einem kaputten Radiogerät in den Händen.

Vielleicht würde mich bald jemand adoptieren, vielleicht würde meine Mutter doch noch einen der Finks heiraten.

Einmal hatte ich mich getraut, meine Mutter zu fragen, ob sie die Finks mochte.

»Natürlich«, hatte sie gesagt, »Gitl ist eine tüchtige Frau.«

Sie hatte den Wink nicht verstanden. Danach hatte ich keine Fragen mehr gestellt, aber nicht aufgehört zu hoffen.

In den heißen Mittagsstunden ruhte ich mich auf der Bank an der Bushaltestelle aus und starrte verzweifelt auf die Gehsteigplatten.

Am Ende des Tages kehrte ich nach Hause zurück und erzählte meiner Mutter von den aufregenden Erlebnissen im Sommercamp. Sie hörte zu.

Auch am nächsten Tag ging ich morgens in mein eigenes Sommercamp. Dort begrüßte mich schwanzwedelnd ein dreckiger Straßenköter. Ich nannte ihn Schmulik und überlegte, ob ich mit ihm in der Allee spazieren gehen sollte. Plötzlich kam Fejge vorbei.

Ich presste mich an den Baum. Ich betete, dass sie mich nicht sehen und meiner Mutter verraten würde, dass man mich weggejagt hatte, meine Mutter würde sich aufregen, und dann würde sie mich vor allen Kindern und dem Gruppenleiter blamieren und anschließend würde sie zu Hause stunden- oder vielleicht auch tagelang schweigen.

Fejges Blick durchbohrte mich.

»Ich bin zu spät aufgestanden«, stammelte ich.

»Nu, nu, nu«, sagte sie und drohte mir mit dem Finger, wie man bösen Kindern droht.

»Sterben soll sie«, verfluchte ich sie flüsternd und kehrte in mein Sommercamp zurück. Ich streichelte den Hund Schmulik, spähte wieder in die Höfe und in die Fenster der Häuser und träumte weiter vor mich hin.

Heute wird mein Vater mit mir einen Ausflug in den Lunapark machen. Das ist das Programm für heute, hatte ich mir überlegt. Dann wartete ich auf ihn. Ihm zu Ehren sang ich vor mich hin: »Mein Papa, komm zum Lunapark, wir reiten auf dem weißen Pferd …« Weil er noch nicht kam, sang ich für ihn noch ein anderes Lied: »Mein Vater hat ’ne Leiter, hoch bis zum Himmelszelt, mein Vater ist der beste, der beste von der Welt …«

Gegen Abend, um die Zeit, in der Dorit mit dem Autobus zurückkommen sollte, tauchte Itta Rosenfeld an der Haltestelle auf. Wieder presste ich mich an den Baum, verschmolz mit dem Stamm. Itta stand am Straßenrand. Als die Autobustür aufging, stürmte sie hinein.

»Das war nicht ich!« Schmulik sprang vom Fahrersitz auf und deutete auf den Gruppenleiter. »Der war’s, der sie weggeschickt hat.«

»Ich habe sie nicht weggeschickt, ich habe nur gesagt, dass sie ins Sommercamp ihres Vaters gehen soll«, verteidigte sich der Gruppenleiter, den Ittas metallischer Blick sichtlich erschreckte.

»Ich glaube es nicht«, schrie sie Schmulik an, »vor diesem Bürschchen hast du Angst?«

Itta hatte es übernommen, mich zu rächen. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich näherte mich dem Autobus.

Itta packte den Gruppenleiter am Arm. »Schau dir dieses Bürschchen an, schau ihn dir ganz genau an, er ist ein Pisser von gerade einmal sechzehn Jahren, er ist keiner von der SS.« Schmulik wurde blass. Der Gruppenleiter zappelte in Ittas Händen. Im Autobus war es still geworden.

Mein Lächeln wurde noch breiter. Auch Itta konnte sich peinlich aufführen, nicht nur meine Mutter.

»Warum hast du nichts gesagt?«, schrie Itta ihren Mann auf Jiddisch an. »Du weißt doch ganz genau, wo ihr Vater ist!« Sie schüttelte ihn.

Meine Freude war verdorben, mein Lächeln erstarb.

Dorit sprang aus dem Bus. »Hast du was gesagt?«, fiel sie, rot vor Zorn, über mich her.

Ich schwor, dass ich es nicht getan hatte.

»Dann ist bestimmt Fejge hier vorbeigekommen!«

Ich bestätigte es mit einem Blick.

»Hoffentlich sterben sie alle in Hitlers Grab«, schimpfte sie. »Ich gehe jedenfalls nicht mehr in dieses Sommercamp!«

Natürlich erfuhr meine Mutter von dem Vorfall. »Was ist heute passiert?«, fragte sie.

»Warum habe ich keinen Vater?«, brach es aus mir heraus.

»Es gibt auf der ganzen Welt nicht einen Menschen, der keinen Vater hat«, sagte sie mit eisiger Stimme, und mir wurde klar, dass ich diese Frage besser nicht gestellt hätte. Ich wusste, nun würde meine Mutter den Rest des Tages schweigen, ich würde nur noch hören, wie in der Küche das Messer auf das Hackbrett schlug.

»Dann frage ich eben Schmulik«, sagte ich bockig, als sie grimmig die grüne Paprika klein hackte.

Sie antwortete nicht.

Schmulik stand vor seinem Haus und spritzte mit einem Gartenschlauch die Hecke.

»Wo ist mein Vater?«, rief ich.

»Dein Vater … er … er war im Sanatorium«, stotterte er überrumpelt.

»Und wo ist er jetzt?«

Schmulik schwieg.

Golda Poschibuzki, die Nachbarin, ging an uns vorbei. »Warum hört man nicht auf, die Kleine verrückt zu machen?«, zischte sie. »Jemand soll es ihr doch endlich sagen!«

Sie trat einen Schritt auf mich zu, packte mich am Arm und schaute mir in die Augen. Ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie mir etwas sagen, aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Ich begriff, dass sie plötzlich erschrocken war, und statt etwas zu sagen, strich sie mir über die Wange, eine Berührung, die brannte wie eine Ohrfeige.

Ich erstarrte. Golda schloss die Augen, ließ meinen Arm los, holte tief Luft, drehte sich um und ging weiter.

Ich zitterte am ganzen Körper, trotzdem fragte ich Schmulik noch einmal: »Wo ist mein Vater?«

»Frag deine Mutter«, antwortete er mir mit schwacher Stimme und seine Augen folgten Golda, die sich immer weiter entfernte.

»Ich habe sie schon gefragt«, sagte ich gereizt. »Ich frage sie die ganze Zeit!« Schmulik gab mir keine Antwort. Er drehte den Wasserhahn zu, rollte den Schlauch zusammen und verschwand im Haus.

»Was habe ich denn getan?«, rief ich ihm nach. »Warum gibst du mir keine Antwort?« Ich raffte meinen Mut zusammen, um das, was ich fühlte, herauszuschreien.

Itta tauchte im Küchenfenster auf. »Nu hejbt sich on a majsse!2« Sie schlug die Hände zusammen und drehte die Augen zum Himmel. »Was will sie bloß von ihrer Mutter?«, fragte sie den Schöpfer der Welt. »Haben ihr die Deutschen, ihr Name sei ausgelöscht, nicht genug angetan?« Und zu beiden, zu Schmulik und Gott, sagte sie: »Sie wird Helena noch umbringen.«

»Mein Vater ist gekommen«, wählte ich als Thema meines Aufsatzes. Noch am selben Abend schickte ich ihn als Wettbewerbsbeitrag an die Kinderzeitung unseres Viertels, die von Ruthi, der Lehrerin, in den großen Ferien herausgegeben wurde.

»Mein Vater ist gekommen, er schaute mir von der Straßenecke entgegen, er flüsterte mir zu, dass wir in den Lunapark gehen würden.

Dort, ganz oben auf dem Riesenrad, waren nur wir beide, und die Stadt Tel Aviv war ganz klein, die Menschen in ihr waren winzig, und die Autos sahen aus wie Spielzeugautos, und das Meer war blau und weit weg.

Ich und mein Vater fuhren mit dem Riesenrad hinauf und hinunter und ich sang für ihn: ›Mein Papa, komm zum Lunapark, wir reiten auf dem weißen Pferd, mein Papa, komm zum Lunapark, mein Papa ist so schön und stark.‹ Ich brachte den Text ein bisschen durcheinander und auch die Melodie, und er lachte vor Glück.

Nach der Fahrt mit dem Riesenrad kaufte er mir einen mit Helium gefüllten blutroten Luftballon.

Ich hatte Angst, den Ballon zu halten, ich fürchtete, er könnte mir davonfliegen. Mein Vater schlug vor, die Schnur des Luftballons an meiner Hand festzubinden. Er hielt die Schnur, ich streckte die Hand aus. Und da passierte es. Mein Vater erhob sich von der Erde und flog mit dem Luftballon hinauf in die Wolken und verschwand.«

Itzik Rosenfeld, Dorits schöner Bruder, gewann im Aufsatzwettbewerb den ersten Preis. Ich bekam noch nicht einmal einen Trostpreis.

Vorhin, auf dem Weg zum Friedhof, war mir Alon aufgefallen, Dorits Ehemann, den ich seit Jahren nicht gesehen hatte. An seiner Seite ging langsam eine dünne junge Frau. Sie sieht ihm ähnlich, hatte ich gedacht, und sie hat etwas Müdes an sich, so wie Dorit heute. Dann hatte ich auch das Auto gesehen, das ihnen auf dem Sandweg folgte, der von der Straße zum Friedhofstor führte. Der Fahrer war ein junger Mann von ungefähr dreißig, seine Gesichtszüge erinnerten an Schmulik Rosenfeld und in seinen Augen blitzte Fejges Blick.

Dorits Kinder, hatte ich gefolgert und noch einen Blick auf Alon geworfen, der müde und erloschen aussah. Offenbar hat er Fejge geliebt, war es mir durch den Kopf geschossen. Wenigstens einer, der um sie trauert.

»Er heißt Alon«, hatte Dorit damals gesagt, als sie mir von ihrer Liebe zu ihrem Kommandeur berichtete. Am Tag, als der Jom-Kippur-Krieg endete, kündigte Itta Rosenfeld Dorits Hochzeit an. Gegen Abend fuhren Nachbarn und Freunde in einem Egged-Autobus, den Schmulik lenkte, zu einer Militärbasis irgendwo im Norden, wo die Hochzeit stattfinden sollte.

Als wir ankamen, rannte Dorit mir entgegen. »Schau mich an«, rief sie.

Ich sah eine Uniform und einen Brautschleier. Ich sah eine Frau, die ich nicht kannte – Dorit aus dem Emek.