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Ellen Hopkins, eine Bauingeneurin aus London, soll in den Karpaten eine Brücke bauen. Der Architekt Benny Parker begleitet sie. Er hat schon lange ein Auge auf sie geworfen, aber sie sieht ihn nur als Kollege an, für den sie nicht mehr als Freundschaft empfindet. Die Leute in der winzigen Stadt haben Angst vor Vampiren und glauben an eine alte Legende, die es seit fünfhundert Jahren gibt, dass die Vampire wiederkommen, um ein Ritual abzuhalten, was die Welt verändern könnte. Ellen lernt dort den Vampir Rocco kennen, der ihr Herz sehr schnell erobert. Doch sie hat keine Ahnung davon, dass durch diese Bindung erst die Legende wahr wird und schon steht sie mehreren Feinden gegenüber. Doch die Weissagung besagt auch, dass sie diejenige ist, die auch die Welt vor den Vampiren beschützen könnte. Auf einmal lastet die Sicherheit einer ganzen Stadt auf ihren Schultern. Und auch die Welt ist in Gefahr wenn die Vampire das Ritual durchführen können.
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Seitenzahl: 441
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Jeanny O‘Malley
Omen der Vampire
Roman Fantastik Horror Fantasy
Impressum
Texte: © 2022 Copyright by Jeanny O’Malley
Umschlag:© 2022 Copyright by Jeanny O’Malley
Verantwortlich
für den Inhalt:Jeanny O’Malley
Postfach 1105
53805 Ruppichteroth
E-Mail: [email protected]
Facebook: @JeannyOMalley
Instagram: @Jeannyomalley
Twitter: @JeannyMalley
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Es geschah vor langer Zeit im Jahre 1988. Damals war ich noch eine Bauingenieurin, lebte in London und mein Name war Ellen Hopkins. Heute ist mein Name etwas geändert. Dies dient zu meinem Schutz, damit ich nicht durch die Ereignisse in Verbindung gebracht werde, die damals geschehen sind.
Ich war früher sehr gut in meinem Beruf und befand mich schon weit oben auf der Karriereleiter, obwohl ich nur 28 Jahre alt war. Ich liebte meinen Job und genoss meine Freiheit. Meine Freizeit sah wohl genauso aus, wie wahrscheinlich bei den meisten meines Alters. Für etwas Besonderes hielt ich mich nie. Eher so der normale Durchschnitt. Abenteuer erlebte ich nur auf meinem Sofa, während ich Bücher las oder mir Filme anschaute. Natürlich ging ich auch mal in eine Bar oder eine Disco, hatte einen kleinen Freundeskreis, mit dem ich mich ab und zu traf. Wandern ging ich auch gerne, aber so etwas würde ich nicht als Abenteuer bezeichnen. Es sei denn, wenn Höhenangst dabei überwunden werden müsste. Aber ich hatte nur Flugangst aufgrund meiner Vergangenheit, was auch jeder wusste, der mich gut kannte. Das Leben selbst war für mich ein Risiko und daher musste ich mich nicht noch zusätzlicher Gefahr ausliefern, um irgendwelche Dinge zu tun, die gefährlich waren. Also blieb mir nur, aus sicherer Entfernung an dem Leben der Protagonisten aus den Büchern teilzuhaben, was mir Spaß machte.
Wenn ich damals eine Ahnung von alledem gehabt hätte, was mich in meinem zukünftigen Leben erwartet, dann hätte ich mich bestimmt gegen diese Reise entschieden, auf die mich mein Chef geschickt hatte. Doch wenn ich nicht gefahren wäre, dann hätte ich auch wahrscheinlich nicht die Liebe meines Lebens kennengelernt, die bis heute gehalten hat.
„Miss Hopkins! Ich habe sie dazu auserwählt, in der Nähe der Stadt Topesdorf im Lande Rumänien eine Brücke über den Fluss Aries zu bauen. Sie sind zurzeit die beste Bauingenieurin, die ich habe. Außerdem habe ich gehört, dass sie auch etwas die rumänische Sprache sprechen können.“ sagte mein damaliger Chef zu mir und rauchte danach seine Pfeife. Der Qualm roch etwas nach Vanille und ich mochte diesen Duft. Ich bestätigte: „Meine Großeltern kamen von dort. Sie brachten mir früher diese Sprache bei. Ich bin aber etwas aus der Übung.“ Mit einer kurzen Handbewegung schob er mir die Baupläne über den Tisch zu und erklärte: „Zum Glück sprechen dort viele auch Englisch. Aber es wäre trotzdem von Vorteil für sie. Benny Parker unser Architekt hat zusammen mit Thomas Hunter diese Pläne entworfen. Doch leider ist Thomas Hunter dauerhaft erkrankt und wir brauchen sie als Ersatz für die Arbeit des Bauingenieurs. Ich möchte sie bitten mit Benny Parker an der Brücke zu arbeiten und innerhalb von dreizehn Monaten fertig zu stellen.“ „Aber sie wissen doch, dass er ein Auge auf mich geworfen hat, oder? Ist denn so was überhaupt erlaubt?“ fragte ich ihn etwas empört. Lachend antwortete er: „Sie konnten ihn bis jetzt doch auch auf Distanz halten. Warum glauben sie, sollten sie das diesmal nicht auch schaffen?“ Nervös sah ich ihn an und erwiderte: „Na gut. Wir müssen ja nicht im selben Hotel wohnen. Aber mal eine andere Frage, wer finanziert den Bau denn? Wie groß ist mein Budget?“ „Das Land Rumänien. Sie wollen damit ihre Infrastruktur erweitern, denn der Fluss ist ihnen etwas im Weg. Bis jetzt gibt es dort nur einen Fährmann, der die Leute über den Fluss bringt. Und das Budget ist wirklich großzügig gehalten. Es sollte auf jeden Fall für eine Menge Arbeiter und auch mal einen Bonus reichen und dann bleibt immer noch etwas übrig für unsere Firma.“ erläuterte mein Chef und freute sich anscheinend schon auf den Gewinn. Ich dankte ihm für diesen lohnenden Posten, nahm die Baupläne in die Hand und ging aus seinem Büro hinaus.
Meinen zukünftigen Partner bei dem Brückenbau kannte ich bereits seit einigen Jahren, da wir fast zur gleichen Zeit in der Firma angefangen hatten. Doch bei sämtlichen Weihnachtsfeiern, Betriebsausflügen oder sonstigen Begegnungen, gab er mir immer wieder zu verstehen, dass er mich toll fand und gerne noch besser kennenlernen würde. Da ich aber keine Beziehung innerhalb der Arbeitsstelle eingehen wollte, hielt ich mich so gut es ging von ihm fern. Ich war auch nicht in ihn verliebt, was es mir noch einfacher machte, ihm aus dem Weg zu gehen. Doch dieser neue Job würde mich für dreizehn Monate noch näher mit ihm arbeiten lassen und dies mochte ich ganz und gar nicht.
Auf dem Weg in mein Büro traf ich Benny Parker. Ich musste ihm die Neuigkeit sagen, aber ich wollte auch so schnell wie möglich wieder von ihm weg. Sofort sagte ich: „Wir beide sollen in den Osten Europas ziehen, um dort eine kleine Brücke zu bauen. Bist du dabei, oder hast du irgendwelche Einwände?“ Benny antwortete mit einem verschmitzten Lächeln: „Ich wusste irgendwie, dass er dir diesen Job gibt. Der Ort ist wirklich sehenswert. Natürlich komme ich mit. Vielleicht springt da was für mich raus.“ Diesen letzten Satz sagte er etwas betonter als zuvor. Ich wusste, was er meinte und blockte ab: „Benny! Vergiss es. Du bist ein netter Kerl, aber aus uns beiden wird nichts. Wir werden dort nur rein beruflich miteinander reden. Wir wohnen in verschiedenen Hotels und ich will nach Feierabend etwas Eigenes unternehmen.“ „Ist ja gut. Das war ja nur ein Scherz. Du faszinierst mich zwar immer wieder mit deinen langen, blonden Haaren und deinen umwerfenden blauen Augen, aber ich muss irgendwann ja wohl mal einsehen, dass ich keine Chance bei dir habe.“ meinte er und ging mir wieder aus dem Weg. Fast tat er mir leid, aber ich konnte doch keine Gefühle für ihn erzwingen. Ansonsten war er ein guter Kollege.
Als ich gerade in meinem Büro angekommen war, fiel mir ein, dass ich noch gar nicht alles über das Projekt erfahren habe. Die wichtigsten Fragen habe ich nicht gestellt. Wahrscheinlich war ich so verwirrt wegen Benny gewesen. Daher ging ich den Weg erneut zurück und musste meine Dinge regeln.
Wieder im Büro des Chefs fragte ich: „Was ist mit den Baumaschinen? Sind die schon da oder muss ich noch lange auf mein Werkzeug warten? Ich will nicht unnütz dort die Zeit vergeuden.“ „Die Maschinen werden gerade in diesem Augenblick an das Flussufer geliefert. Sie könnten sofort anfangen.“ antwortete mein Chef und legte gerade einen Brief in die Ablage. „Wann geht es für uns los? Wie sieht der Zeitplan aus?“ fragte ich nach. Nachdem er an seiner Pfeife gezogen hatte und den Qualm wieder zwischen seinen Lippen herausdrückte, antwortete er gelassen: „Der Zeitplan sieht gut aus. Wir sollen nur in dreizehn Monaten fertig werden. Sprich bis Mitte Juni nächsten Jahres. Dies war die Bedingung für den Auftrag. Alles andere bleibt ihnen überlassen. Werfen sie noch einmal einen Blick in die Pläne studieren sie diese gut und dann können sie auch schon aufbrechen. Ich werde mit Benny Parker auch noch darüber sprechen.“ „Also gut. Dann werde ich wohl so langsam packen müssen.“ meinte ich, bedankte mich noch einmal für die Informationen und ging dann zurück an die Arbeit.
Am nächsten Tag auf der Arbeit kam Benny in mein Büro hinein. Höflich klopfte er an den Türrahmen, denn die Türe stand offen, um mehr Luft in die Räume zu bekommen. Die Fenster konnte ich nicht öffnen, denn draußen war es sehr heiß und stickig, obwohl wir gerade erst Mai hatten. Ich schaute aus den Bauplänen für die Brücke zu ihm auf und fragte freundlich: „Hallo, was möchtest du von mir?“ „Bevor ich jetzt wieder etwas sage, was du nicht hören möchtest, komme ich lieber direkt auf den Punkt.“ meinte er und hatte dabei sein verschmitztes Lächeln aufgelegt. Er konnte ziemlich hartnäckig sein, aber er war auch ein guter Kollege. Dann trat er an meinen Tisch heran, setzte sich auf eine Kante, legte mir zwei Anschriften auf die Arbeitsfläche und erklärte, als er mit dem Finger darauf deutete: „In dem Gasthaus wirst du wohnen und ich werde mich in dem anderen Gasthaus einquartieren lassen. Dann wirst du mir nicht über den Weg laufen. So ist es doch in deinem Interesse, oder? Aber ein Hotel haben die da nicht, das sage ich dir lieber gleich.“
So viel hatte ich gar nicht von ihm erwartet. Er gab sich richtig Mühe meine Wünsche zu erfüllen. Ich war zunächst sprachlos, aber dann meinte ich gutmütig nach einem tiefen Atemzug: „Es würde mir nichts ausmachen dir öfter über den Weg zu laufen, aber du machst andauernd diese Andeutungen und nervst mich damit. Du bist ein wirklich netter Kollege, aber ständig so etwas von dir zu hören, ist langsam nervtötend.“ Dabei sah ich ihm in seine Augen und merkte eine Traurigkeit darin. Sofort versuchte ich das Thema zu wechseln und sagte: „Die Baupläne sind wirklich sehr detailliert. Mir gefällt das Design der Brücke sehr. Wie ist denn dieser Ort da so? Gibt es da sonst noch etwas zu sehen? Ich meine, wenn die da noch nicht mal ein Hotel haben, dann kann diese Stadt doch auch nicht so groß sein, oder?“ Als hätte ich einen Schalter umgelegt erzählte er mit Begeisterung: „Es gibt dort sehr viele schöne alte Häuser. Ein Paradies für Liebhaber dieser Bauwerke. So wie ich es bin. Die Gasthäuser, in die ich uns einquartiert habe, sind auch sehr gemütlich und urig. Eine romantische Atmosphäre ist in den Räumen enthalten. Der Marktplatz hat einen sehr ausgefallenen Springbrunnen. Er hat am Rande Wasserspeier stehen. Normalerweise hängen die an den Hauswänden. Der Fluss Aries, über den wir die Brücke bauen sollen, der glitzert wie Silber in der Sonne. Das Witzige daran ist, dass er in unsere Sprache übersetzt Goldfluss heißt. Etwas unterhalb in der Stadt Topesdorf mündet noch ein kleiner Fluss in den Aries. Die Brücke werden wir am Rande bauen, dann kann das andere Ufer auch besiedelt werden. Mitten in dem Ort gibt es einen Park mit den schönsten Blumen, die du dir nur vorstellen kannst. Sollte dir dies alles nicht genügen, dann gibt es dort natürlich auch Abwechslung in Form eines Tanzschuppens und einem kleinen Kino. Und einmal im Jahr findet dort ein Jahrmarkt statt mit vielen Attraktionen. Es wird dir bestimmt gefallen.“
Benny schwärmte so von der Gegend, als hätte er sich in diesen Ort verliebt. So wie er sich anhörte, musste es dort wirklich sehr idyllisch sein und ich freute mich schon auf die Reise. „Die Brücke, die wir bauen werden, wird die Beste im ganzen Land sein. Du wirst es sehen. Ich habe mir eine Fachwerkbrücke mit Stahlkonstruktion überlegt. Es verbraucht weniger Material und hat ein geringeres Eigengewicht. Aber das weißt du ja natürlich.“ meinte Benny noch schwärmend hinterher. „Wie werden wir dorthin kommen? Mit dem Flugzeug oder mit dem Zug?“ wollte ich noch von ihm erfahren. „Wie du willst. Aber mit jedem dieser Verkehrsmittel kommen wir zwar in die nächstgrößere Stadt hinein, aber wir müssen dann noch bis zu unserer Baustelle und den Gasthäusern ein Stück weit zu Fuß gehen. Oder wir fahren mit einer Kutsche, denn Autos sind dort selten. Ich weiß zwar nicht warum, aber die Leute da brauchen wohl keine Wagen. Vielleicht sind sie so umweltbewusst oder sie sind einfach zu arm um sich ein Auto zu leisten.“ erklärte er mir. „Also gut, dann lass uns fliegen. Das geht vermutlich schneller.“ entschloss ich mich und lenkte meine Augen dann wieder auf die Pläne. Ich merkte, dass er noch einen Augenblick am Tisch stand, und sah ihn fragend an. „Willst du wirklich fliegen?“ hakte er nach und blickte mich besorgt an. Natürlich würde es mich Überwindung kosten, aber ich hatte nicht vor tagelang von London bis Rumänien über die Straßen zu reisen. Daher musste ich mich zusammenreißen und erklärte: „Ich habe die Befürchtung, dass es über den Landweg, nachdem wir über Kanal gekommen sind, noch einige Tage dauern würde, bis wir da sind. Also muss ich mich überwinden.“ „Wenn du dir wirklich sicher bist, dann werde ich alles organisieren.“ meinte er und wartete auf ein zustimmendes Nicken, was ich ihm schließlich gab.
Als ich abends in mein Appartement ging, überlegte ich, was ich alles an Kleidung und anderen Sachen mitnehmen wollte oder ob ich mich dort neu einkleiden sollte. Schließlich würde ich da eine sehr lange Zeit bleiben müssen.
Ich hob also schließlich einen Koffer von dem Kleiderschrank herunter, schmiss ihn auf mein Bett und verstaute darin meinen halben Kleiderschrank. Da war für jede Jahreszeit und jedes Wetter etwas dabei. Anschließend sah ich an der Wand ein Bild von meinen Eltern. Sie lebten nicht mehr. Vorsichtig schob ich das Bild zwischen meine Kleidungsstücke und machte den Koffer zu.
Danach rief ich meine Freundin Jessica an und erzählte ihr von der großen Reise von mir und wir verabredeten uns zum letzten gemeinsamen Essen.
„Wirst du mir schreiben, wenn du da bist? Oder schicke mir viele Postkarten, du weißt ja, ich stehe auf Postkarten.“ bat Jessica und schaute mich gleichzeitig traurig, wie auch freudig aufgeregt an. Sie schaffte es irgendwie, ihre braunen Augen für viele Zwecke einzusetzen. „Ich werde dir vielleicht jede Woche eine schicken, vorausgesetzt ich habe Zeit dafür. Naja, wahrscheinlich wird es ein Brief oder eine Postkarte im Monat werden.“ scherzte ich und schwärmte ihr vor: „Dieser Ort soll sehr idyllisch sein. Und Benny sagte auch, dass die Brücke die schönste im ganzen Land werden wird.“ „Benny? Etwa Benny Parker? Der Kerl, der in dich verknallt ist? Fährt er auch mit?“ fragte Jessica nach. Ich musste lachen und antwortete: „Genauso habe ich wohl auch geschaut, als mein Chef es mir gesagt hat.“ Da lachte meine Freundin auch und wurde anschließend aber wieder ernst. Sie nahm einen Schluck Wein aus ihrem Glas und meinte grübelnd: „Warum willst du ihm nicht eine Chance geben? Seit der Berufsschule hattest du keinen festen Freund mehr. Du solltest dich bald mal binden. Benny ist bestimmt nicht die schlechteste Wahl. Er sieht doch ganz nett aus mit seinen dunkelblonden Haaren und den rehbraunen Augen. Einen erfolgreichen Job hat er auch. Ich finde ihn nett und sehr sympathisch.“ „Dann nimm du ihn doch. Du träumst doch immer noch von der großen Liebe. Vom Optischen her seid ihr euch nicht so unähnlich.“ schlug ich vor, denn seine dunkelblonden Haare würden sehr gut zu ihren dunklen langen Haaren passen. Und beide hatten sie diese rehbraunen Augen. Mein blond war auf jeden Fall heller. „Nein, er ist jemand für dich. Da will ich dir nicht dazwischen reden. Vielleicht entwickelt sich ja noch etwas zwischen euch beiden, wenn ihr erstmal alleine dort in diesem Kaff seid. Ich drücke euch auf jeden Fall die Daumen.“ scherzte meine Freundin und nippte noch einmal an ihrem Glas. „Benny selbst hat dafür gesorgt, dass wir beide in verschiedenen Gasthäusern untergebracht sind. Wir werden uns also recht wenig sehen.“ erklärte ich und nahm mein Glas Wein in die Hand. Jessica sah mich erstaunt an und meinte schließlich: „Wahrscheinlich hat er es doch kapiert. Obwohl es schade wäre für euch beide. Ich finde, ihr würdet gut zusammenpassen. Oder er wird sich dort in eine andere Frau verlieben und für immer in dem fernen Land bleiben.“ „Das wäre das Beste für uns beide. Dann habe ich wenigstens meine Ruhe.“ stellte ich fest und trank auch noch einen Schluck Wein.
Nach dem Essen vor der Türe des Restaurants umarmte mich meine Freundin noch einmal zum Abschied und dann sahen wir uns erstmal für eine lange Zeit nicht mehr.
In der Nacht dachte ich an meine Eltern. Sie stiegen damals auch in ein Flugzeug und durch einen schlimmen Unfall kamen sie beide ums Leben. Ich fragte mich die halbe Nacht lang, ob es das Richtige war in ein Flugzeug zu steigen, bis ich schließlich darüber eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen hielt ein Taxi vor meiner Türe und Benny stieg aus, um an meiner Türe zu klingeln. Als ich ihm aufmachte, fragte er: „Guten Morgen Ellen! Bist du fertig? Kann ich schon mal dein Gepäck zum Taxi bringen?“ „Morgen Benny! Ja, ich bin soweit fertig. Nett von dir, dass du mir beim Gepäck helfen willst. Ich habe meinen halben Schrank eingepackt. Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich alles mitnehmen sollte.“ antwortete ich, nahm auch einen Koffer in die Hand, sah mich noch einmal in der Wohnung um und schloss danach die Türe zu. Netterweise hielt mein Kollege mir die Autotür auf und ließ mich einsteigen. In Gedanken ging ich noch einmal durch, ob ich auch an alles gedacht hatte, aber mir fiel nichts mehr ein. Ich hatte weder Tiere noch Pflanzen. Wasser war abgedreht und alle Geräte ausgeschaltet. Glücklicherweise hatte ich eine nette Vermieterin, die ab und zu nachschauen wollte, ob alles in Ordnung war. Darauf konnte ich mich verlassen.
Am Flughafen angekommen schaute ich mir diese riesigen Maschinen an und mir wurde es ganz flau im Magen. Benny sah mir an der Nasenspitze an, dass ich bleich wurde vor Angst. Beruhigend legte er mir seine Hand auf die Schulter und meinte: „Ich weiß, was damals mit deinen Eltern passiert ist. Aber uns wird nichts passieren, da bin ich mir sicher. Du kannst ganz beruhigt einsteigen. Das Flugzeug wird uns garantiert ans Ziel bringen.“ Irgendwie war ich auf einmal froh Benny in meiner Nähe zu haben. Seine Worte klangen wirklich beruhigend und er half mir, mich dazu zu überwinden in die Maschine einzusteigen.
Während des Fluges lenkte er mich von meiner ansteigenden Flugangst ab, so gut er nur konnte, indem er mir noch mehr über diesen Ort erzählte und anhand eines Planes zeigte er mir die Gasthäuser, wo wir untergebracht waren und wo sich die Baustelle befand. Ich war ihm wirklich sehr dankbar.
Plötzlich fragte Benny mit einem breiten Grinsen: „Glaubst du an Vampire?“ „Wie bitte?“ hakte ich nach und merkte, dass es ein weiteres Ablenkungsmanöver von ihm gewesen war. Zögernd erklärte er: „Also ich habe ja gehört, dass es dort früher Vampire gegeben hat. Die Leute glauben das in unserer Zeit tatsächlich noch. Ich wollte wissen, wie du dazu stehst.“ Einen kurzen Augenblick überlegte ich und erzählte: „Meine Großeltern kommen von dort. Es gehört da einfach zur Kultur. Auch sie hatten Geschichten gehört und diese erzählt. Doch das zählt doch alles zu alten Sagen und Legenden. Es gibt keine Vampire. Oder meinst du nicht auch, dass die sich nicht überall auf der Welt ausgebreitet hätten und wir in England auch mal etwas gesehen oder gehört hätten?“ „Natürlich hätten sie das. Aber wer weiß das denn schon. Ich glaube jedenfalls nicht daran und muss jetzt über ein Jahr an einem Ort leben, wo die Leute von kaum etwas anderem sprechen.“ scherzte er mit einem Zwinkern und ich entspannte mich etwas, denn es gab auch keinerlei Turbolenzen im Flugzeug, was ich sehr hilfreich in meiner Situation fand.
Nachdem das Flugzeug sicher gelandet war, sah ich ihm in die Augen und sagte leise: „Danke für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich noch mehr Angst gehabt. Vielen Dank noch mal.“ „Gerne geschehen. Lass uns nun zum Bahnhof gehen.“ meinte Benny und wandte danach seinen Blick direkt von mir ab. Ich fühlte irgendwie, dass es ihm wehtat, mir so nah zu sein und mich nicht lieben zu dürfen. Aber ich konnte mich nicht dazu zwingen. Ich wollte einen großen Bogen um ihn machen, sofern es nicht unbedingt wegen der Arbeit sein musste.
Mit Benny fuhr ich dann noch in einem Bus bis zum Rande dieses Ortes, welcher unser Ziel sein sollte. „Wir werden uns dann übermorgen am Flussufer treffen. Dann fangen wir mit der Arbeit an. Bis dahin also. Hoffentlich hast du eine angenehme Nacht.“ meinte Benny und gab mir zum Abschied die Hand. „Ja, wir sehen uns dann. Machs gut.“ rief ich ihm nach, denn er war schon einige Schritte weggegangen. Ich nahm meine Koffer in die Hände und machte mich auf den Weg zum Gasthaus.
An diesem Tag war es warm und die Sonne schien noch gerade für die letzte Stunde. Als ich mich so langsam mit meinem Gepäck durch die Straßen schleppte, fielen mir sehr viele alte Häuser auf, die wahrscheinlich seit etwa fünfhundert Jahren nach der Erbauung unverändert schienen. Viele Bauten waren dort mit Gipsfiguren verziert, in denen ich Wehrwölfe und andere Mischwesen erkannte.
Ein altes, geräumiges Haus mit hohen Fenstern fiel mir besonders auf. Es hatte einen großen Garten, der fast wie ein Park angelegt war. Neben dem Hauptweg herum standen sieben Statuen, die wie Menschen aussahen, aber irgendwie finster wirkten. Jede sah anders aus. Irgendwie gespenstisch. Ich konnte nicht sagen, warum diese Statuen so anders als normale Menschen auf mich wirkten. Vielleicht, weil ihre Augen so einen Ausdruck des Hasses hatten, als ob sie diese Art der Darstellung selbst nicht leiden konnten.
Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als ich das Haus ansah. In einigen Fenstern war kein Glas mehr drin und die Türe stand offen. Das Gebäude wurde wohl sehr vernachlässigt oder war schon lange verlassen. Da ich einen Hang zu Lost Places hatte und auch die Architektur sehr liebte, ging ich einige Schritte darauf zu. Ich wurde neugierig, wie es wohl von innen aussehen würde, und wollte gerade durch den Garten in das Haus gehen, als mir die Statuen erneut auffielen. Langsam wollte ich an ihnen vorbeigehen, als ich das Gefühl hatte, dass sie mich beobachteten. Rasch schaute ich in die Augen dieser Steinfigur neben mir, aber nichts Besonderes war an ihnen. Ich stellte meine Koffer auf dem Weg ab und ging näher an das Haus heran. Einige Schritte später stand ich an der Türe zu diesem gespenstischen Gebäude.Ich weiß nicht was mich damals dazu getrieben hat dort hineinzugehen. Leise schlich ich durch die Türe. Mir fiel auf, dass kein bisschen Staub auf dem Boden lag. Normalerweise müsste ein solch verwittertes Haus schmutzig von innen sein, denn mit kaputten Fenstern war das nicht verwunderlich. Aber da war alles sauber. Langsam schaute ich mich um. Dort standen ein Klavier, einige Möbelstücke und ein wirklich wuchtiger Wandschrank. Alle Möbel waren mit großen Leinentüchern abgedeckt. Nur anhand der Umrisse konnte ich erkennen, um was es sich handelte. Ich wollte aber sehen, ob sich tolle Schnitzereien an den Möbeln befanden oder ob diese eher modern waren. Meine Hand griff schon nach so einem Tuch, um es anzuheben.
Plötzlich kam ein kühler Wind in das Haus und ließ mich eine Gänsehaut bekommen. Leicht wehten einige Blätter von draußen um mich herum. Als ich jedoch aus der Türe in den Garten sah, war dort alles windstill. Diese Sache war mir so unheimlich, dass ich die Flucht ergriff. So schnell ich konnte schnappte ich meine Koffer, die noch auf dem Weg des Gartens standen, und machte mich auf und davon.
Nicht weit von diesem unheimlichen Haus entfernt, sah ich ein Gasthaus. Ich schaute in mein Notizbuch und stellte fest, dass dies mein Zuhause für die nächsten Monate sein würde. Ich ging an die Türe und klingelte. Es dauerte etwa zwei Minuten, bis mir geöffnet wurde. Eine kleine und alte Frau stand vor mir. Sie lächelte mich an und bat mich herein. „Womit kann ich ihnen helfen meine junge Dame?“ fragte sie mich in der Landessprache. Zum Glück verstand ich noch einige Wörter. „Mein Name ist Ellen Hopkins. Ich werde hier die nächsten Monate wohnen. Mein Kollege hat für mich ein Zimmer reserviert.“ antwortete ich ihr mit den mir bekannten Wörtern. Es war zwar sehr lange her, dass ich mit meinen Großeltern so gesprochen hatte, aber wenigstens konnte ich mich verständigen. „Ja, das stimmt. Sie sind die Frau für unsere neue Brücke. Das freut mich, dass sie sich hier in unserem bescheidenen Gasthaus einquartiert haben. Kommen sie, ich werde ihnen ihr Zimmer zeigen. Es ist zwar nicht das nobelste, aber dafür gemütlich.“ sagte die alte Frau freundlich und führte mich eine Treppe hinauf.
Benny hatte Recht. Das Gasthaus war wirklich sehr romantisch und urig. Seine Wahl war geschmackvoll, dies musste ich ihm lassen. In meinem Zimmer stand ein geräumiges Bett mit Nachtschränkchen, neben dem Fenster war ein kleiner Tisch mit einem Stuhl, hinter der Türe stand ein scheinbar schwerer Kleiderschrank und das Badezimmer war direkt hinter einem Durchgang. Das Holz der Möbel sah nach Eiche rustikal aus, obwohl ich mir das bei den Preisen nicht für das ganze Gasthaus vorstellen konnte. Weiße Gardinen mit einem gelben Übervorhang hellten das Zimmer etwas auf. Alles in allem ein Ort, an dem ich mich wohlfühlen konnte und es die nächsten dreizehn Monate gemütlich hatte.
Nachdem ich meine Sachen in den Schrank sortiert hatte, wollte ich noch etwas essen und ging in den Speiseraum. Alles darin sah so aus, als ob seit dreihundert Jahren die Zeit stehen geblieben wäre. Es war dort drinnen so idyllisch, wie in einer Gruselgeschichte nach Edgar Allan Poe. Ich setzte mich an einen Tisch und bemerkte dabei, wie mich alle Augen in diesem Raum ansahen. Langsam schaute ich mir diese Leute an, die so taten, als hätten sie noch nie eine junge Frau gesehen. Wahrscheinlich wurden alle fremden Menschen so begutachtet. Ich sah dort nur Männer um mich herum sitzen, die alle mindestens zwanzig bis dreißig Jahre älter waren als ich. Der Wirt kam an meinen Tisch und fragte, was ich zu Essen haben möchte. Ich war nicht so hungrig und bestellte daher nur etwas Wein und eine Suppe, die ich von meiner Oma her kannte. Ich freute mich sehr darauf, denn es sollte nach Heimat und Familie schmecken. Ich dachte sehr oft an meine Familie, von der leider nur noch ich übrig war. In Gedanken versunken wurde mir der Teller vor die Nase gestellt und es duftete richtig gut. Es schmeckte lecker, obwohl ich den Geschmack von früher anders in Erinnerung hatte.
Nachdem ich die Suppe gegessen hatte und mich gerade dem Wein widmen wollte, stellte sich ein Mann zu mir an den Tisch. Er hatte ein sympathisches Gesicht, graue Strähnen zwischen seinen dunklen Haaren, einen Vollbart, der ebenso farblich aussah, und war etwa sechzig Jahre alt. Mit einem Lächeln sprach er mich an: „Mein Name ist Constantin Mellau und ich bin der Bürgermeister dieser kleinen Stadt. Ich habe gehört, dass sie uns die Brücke bauen werden. Ich bin schon sehr gespannt, denn ich habe bereits das Modell anschauen dürfen.“ Ich nickte höflich, gab ihm die Hand und stellte mich vor: „Mein Name ist Ellen Hopkins. Mein Partner in diesem Job ist Benny Parker. Er hat die Brücke entworfen.“ „Darf ich mich zu ihnen gesellen und mit ihnen noch einen kleinen Schwatz halten?“ wollte er wissen. Ich nickte, deutete auf den Platz gegenüber und trank etwas Wein aus meinem Glas. „Ich darf sie herzlichst hier in unserer Stadt begrüßen. Ich hoffe, dass es ihnen in der Zeit, in der sie bei uns sind, auch gut in der Stadt gefällt. Wenn sie etwas brauchen sollten, irgendwelche Fragen haben oder Ärger mit einem aus der Stadt, dann sagen sie mir Bescheid.“ Ich stellte mein Glas auf den Tisch, sah ihn an und antwortete: „Ja, das werde ich mir merken. Aber interessant sieht die Umgebung schon aus. Mal schauen, wie schnell ich mich hier eingelebt habe.“ Der Bürgermeister lächelte und fragte sehr interessiert: „Wie lange wird der Bau der Brücke dauern?“ Ich antwortete, als ich nachdenklich an die Wand sah: „Etwa dreizehn Monate. Das ist auf jeden Fall das Ziel, was Benny Parker und ich versuchen wollen zu erreichen.“ Der Bürgermeister sah einen anderen Mann an, der ihm zunickte und meinte: „Dann können wir die Brücke vielleicht bei unserer fünfhundert Jahre Feier zur Sommersonnenwende einweihen.“ Als er dies sagte, war mir so, als hätte ich schon oft von diesem Ereignis hören müssen, was aber nicht der Fall war. Selbst Benny sagte mir nichts davon. Daher kam ich mir sehr unwissend vor, was mir nicht passte. Verlegen sah ich den Mann mir gegenüber an und fragte: „Ich habe leider nicht so viel über diese Stadt erfahren. Können sie mir vielleicht mehr darüber erzählen?“ Der Bürgermeister lachte und meinte: „Wenn sie möchten, gleich morgen Mittag habe ich Zeit, dann könnte ich mit ihnen einen Stadtrundgang machen. Dazu kann ich ihnen alles zeigen und zu fast jedem Gebäude etwas sagen.“ Ich freute mich schon darauf, trank meinen Wein aus und meinte: „Das wäre einfach großartig. Nicht alle Touristen haben wohl die Ehre, dass der Bürgermeister selbst einen Stadtrundgang mit ihnen macht.“ Mit einem Grinsen erklärte er: „Aber das ist doch selbstverständlich. Immerhin haben sie einen großartigen Job bei uns zu erfüllen. Sie sind Ehrengast in dieser Stadt. Wir sehen uns dann morgen. Ich habe jetzt noch einen anderen Termin.“ Danach verabschiedete er sich mit einem kurzen Winken und verschwand dann aus dem Gasthaus.
Ich tat es ihm gleich, denn die Reise hatte mich doch sehr erschöpft. Immerhin war ich durch meine Flugangst sehr angespannt gewesen und hatte gefühlt vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Ich schaffte es gerade noch so, mir mein Nachthemd anzuziehen und die Zähne zu putzen, bevor ich sehr müde ins Bett stieg und mir die Augen zufielen.
Als ich einschlafen wollte, wurde ich von einem lauten Geräusch von draußen gestört. Schnell stieg ich aus dem Bett und schaute aus dem Fenster. Die Nacht war noch sehr warm. Ich konnte den Mond sehen, denn keine einzige Wolke war im Himmel. Die Straßenlaternen leuchteten überall, obwohl kein Mensch draußen war. Anscheinend achteten die Bewohner auf Sicherheit, falls doch noch Leute unterwegs waren. Langsam blickte ich mich von meinem winzigen Balkon aus um. Plötzlich erkannte ich das große, alte Haus mit dem parkähnlichen Garten davor. Ich dachte, dass ich träumte. Ich sah tatsächlich sieben Leute aus dem Haus gehen. Woher sie kamen und was sie wollten, konnte ich nicht erahnen. Es machte für mich keinen Sinn, dass dort jemand lebte, da es so verwittert aussah. Zumindest was die kaputten Fenster betraf. Da ich sehr müde war und meine Neugier für den Tag erst einmal gestillt, legte ich mich wieder in mein Bett und wollte schlafen. Aber obwohl ich müde war, ging es mir immer so, dass ich in fremder Umgebung nicht gut schlafen konnte. Daher lag ich noch lange wach.
Am nächsten Morgen war ich immer noch müde, aber mein Wecker klingelte, da ich mich an die Zeitumstellung schneller gewöhnen wollte, und drehte mich aus dem Bett heraus. Langsam stand ich auf und ging ins Badezimmer. Ich betrat zunächst die Duschkabine und drehte mir das Wasser auf. So alt, wie diese winzige Stadt schien, hatten sie aber doch fließendes Wasser in den Häusern.
Als ich angezogen war, ging ich hinunter in den Speiseraum. Die alte Frau von dem Abend zuvor, deren Name Maria war, brachte mir das Frühstück. Sie schaute mich freundlich an und sagte: „Der Bürgermeister will etwa um ein Uhr hier sein, um ihnen die Stadt zu zeigen. Bis dahin können sie sich Zeit lassen und vielleicht auch noch zu Mittag essen.“ Anschließend ging sie zurück in die Küche. Also aß ich in aller Ruhe mein Frühstück und studierte später auf meinem Zimmer noch einmal meinen Terminplaner und die Bauunterlagen.
Nach dem Mittagessen betrat Bürgermeister Mellau den Speiseraum. Auf die Uhr an der Wand schauend, bemerkte ich, dass er sehr pünktlich war. Er kam auf mich zu, nickte zur Begrüßung und sagte: „Einen schönen guten Tag. Wenn sie bereit sind, können wir losgehen. Was würden sie denn gerne bevorzugt kennenlernen?“ Ich antwortete höflich, während ich von meinem Platz aufstand: „Ich weiß ja noch gar nicht, was es hier alles gibt. Ich würde vorschlagen einfach drauf los zu gehen. Wenn etwas Interessantes kommt, was ich gerne näher begutachten will, dann melde ich mich einfach.“ Der Bürgermeister lächelte und hielt mir höflich wie ein Gentleman die Türe auf.
Unterwegs erzählte er mit viel Stolz in der Stimme: „Diese Ortschaft feiert in einem Jahr ihre fünfhundert Jahre Feier. Das ist ein Fest, bei dem die ganzen Einwohner sich freuen, dass es die Stadt nach fünfhundert Jahren noch gibt. Eine alte Legende besagt, dass vor diesen fünfhundert Jahren etwas Schlimmes und Böses diese Gegend heimgesucht und einen Fluch hinterlassen hat, der diese Stadt und vielleicht auch die ganze Welt vernichten kann. Aber wie gesagt ist es nur eine Legende. Die Menschen wollen so etwas feiern, weil sie abergläubig sind. Ob da etwas Wahres dran ist oder nicht, ist egal. Hauptsache sie können feiern.“ Ich wurde neugierig und fragte höflich: „Was besagt denn die Legende?“ Er fragte lachend: „Glauben sie etwa an so etwas?“ Ich nickte, sagte aber: „Es macht keinen Unterschied, ob ich daran glaube. Ich stehe halt einfach auf alte Geschichten und heimische Sagen. Außerdem sollte ich mich doch etwas besser informieren, wenn fast die ganze Stadt daran glaubt.“ Er sah mich nachdenklich an und meinte schließlich: „Dann gehen wir nachher zu dem alten Daniel. Der kennt sich mit solchen Sachen besser aus.“
Einen kleinen Augenblick waren wir beide still und ich sah mir weiterhin die Gegend an. Wissbegierig fragte ich: „Warum ist fast an jedem Haus eine Steinfigur, die Werwölfe und andere Wesen des Bösen darstellen?“ Der Bürgermeister dachte einen Moment nach und antwortete: „Diese Häuser sind älter als ich. Ich kenne es auch nur von Erzählungen. Sie wissen doch, wie das ist. Jemand erzählt etwas, dann sagt einer es weiter und am Ende kommt mehr oder weniger dabei heraus, was der Wahrheit entspricht. Aber ich persönlich vermute, dass vor fünfhundert Jahren die Menschen dem Bösen treu ergeben waren oder sie somit zeigen wollten, dass sie feige waren. Sie dachten bestimmt, dass sie das Böse nicht besiegen können und mit den Figuren zeigen wollten, dass sie ihnen lieber dienen wollten, als von ihnen getötet werden. Vielleicht sollte es auch als Schutz dienen. Etwa in der Art, dass sie damit anzeigten, dass dieses Haus schon von einem Monster heimgesucht wird und es keinen Platz mehr gibt für noch so ein Wesen. So habe ich mir das zusammengestrickt aus den Erzählungen.“ Nachdenklich schwieg ich zunächst. War ich hier im Zentrum des Bösen oder ist das alles nur eine Geschichte gewesen, um mir Angst zu machen und massig Besucher zu der Feier zu locken?
Wir kamen an vielen Häusern vorbei. Zu jedem Haus konnte der Bürgermeister eine kleine Story erzählen. Meist handelte es von den Personen, die dort lebten und was das Besondere an ihnen war. Natürlich hatten alle Leute ihre eigenen Erlebnisse gehabt. Aber diese Geschehnisse fesselten mich nicht so, wie diese alte Legende. Denn da spielte das Übernatürliche eine Rolle.
Schließlich kamen wir zu dem alten, großen Anwesen, in dem ich am Vortag gewesen war. Ich wollte wissen, was an diesem Gebäude so anders war und fragte den Bürgermeister: „Was ist das hier denn für ein Haus? Mir ist es gestern schon aufgefallen.“ Er sah mich mit ängstlichen Augen an und antwortete leise: „Der Legende nach ist dies das Haus, in dem alles angefangen hat. Hier wohnt das Böse.“ Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken, als ich an die wehenden Blätter dachte, die hereinwirbelten, obwohl es draußen windstill war. Dann lachte er und meinte: „Aber ich glaube ja nicht an die Legende. Kommen sie! Wir gehen mal rein.“
Als wir in dem Vorraum standen, fragte ich ihn: „Warum zweifeln sie an dieser Legende? Sollte es nicht für die Feier erforderlich sein, dass sie daran glauben?“ Er antwortete gelassen: „Weil ich hier noch nie irgendwelche Kreaturen oder Geister gesehen habe. Und Vampire schon einmal gar nicht. Die Leute haben mich trotzdem gewählt, weil ich ihnen nun diese Brücke bauen lasse. Die Menschen wollen eine Feier, also gebe ich ihnen eine. Das sollte ich wohl auch noch hinbekommen.“ Ich dachte einen kleinen Moment nach und fragte ihn verwundert: „Ist ihnen noch nie aufgefallen, dass hier kein bisschen Schmutz oder Staub auf dem Boden liegt, obwohl die Fenster kaputt sind?“ Der Bürgermeister sah sich um und antwortete: „Dann hat hier halt einer sauber gemacht.“ Ich fragte ihn schon etwas genervt, da ich in den letzten vierundzwanzig Stunden mehr gesehen hatte als er: „Wer sollte denn Interesse daran haben, ein Haus sauber zu machen, in dem keiner wohnt? Würden sie nicht auch erst neue Fenster einsetzen, bevor sie alles sauber machen?“ Er sah mich erstaunt an und fragte mich mit einem seltsamen Unterton in der Stimme: „Warum wollen sie mich von der Existenz des Bösen überzeugen? Es kann eine einfache Erklärung für alles haben. Oder wissen sie etwas, das ich nicht weiß?“ Ich sah ihn aufgrund dieser Stimmlage etwas verängstigt an und schüttelte mit dem Kopf. Plötzlich fing er an zu lachen und meinte: „Beachten sie mich am besten gar nicht. Ich übe nur für die Feier. Ich muss ganz glaubhaft klingen.“ Ich atmete auf und sagte lachend: „Ich glaube, sie brauchen nicht mehr zu üben. Sie jagen mir ja jetzt schon einen Schrecken ein.“ Der Bürgermeister grinste und meinte: „Kommen sie! Wir wollen ja noch zu dem alten Daniel gehen.“ Danach ging er mit mir aus dem Haus und ich merkte wieder diesen kalten Wind in meinem Rücken, der mir eine Gänsehaut bereitete.
Ich fühlte mich nicht wohl bei dem Bürgermeister. Irgendwie war er ziemlich nett und höflich und dann jagte er mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken, so als könnte ich ihm nicht trauen. Deshalb verschwieg ich auch, was ich in der Nacht zuvor gesehen habe. Er als Skeptiker hätte mir ohnehin nicht geglaubt. Oder aber er war ein guter Lügner und wusste mehr, als er zugeben wollte.
Kurze Zeit später standen wir vor der Türe eines wirklich sehr alten und schäbigen Hauses. Der Bürgermeister klopfte an die Türe und sagte laut: „Daniel ich bin es. Constantin. Ich habe Besuch mitgebracht.“ Dann sagte er etwas leiser zu mir, während er die Türe öffnete: „Daniel Corvin ist jemand, der seine Türe nie abgeschlossen hat. Diebe hätten bei ihm nichts zu holen sagt er und auch sonst könnte jeder einfach reingehen. Das finde ich seltsam, aber ich sage nichts mehr. Er kennt meine Meinung dazu.“ Wir betraten den Wohnraum des alten Daniel, wie er wohl von jedem in der Stadt genannt wurde. Dieser saß vor seinem Kamin in einem Sessel und rauchte eine Pfeife. Zurecht wurde er alt genannt, denn für mich wirkte er wie neunzig Jahre. Der Bürgermeister fragte ihn: „Kannst du bitte unserem Gast etwas über die Legende erzählen? Sie wollte so viel mehr darüber erfahren, als ich es ihr erzählen könnte. Und nachher habe ich auch noch einen Termin. Ich kann also nicht so lange bleiben.“ Daniel nickte und meinte: „Du kannst gehen. Ich werde ihr alles erzählen, was die junge Dame hier von mir wissen will.“ Der Bürgermeister lächelte und verabschiedete sich höflich, bevor er aus der Türe ging.
Ich sah Daniel an und gab ihm die Hand, als ich mich vorstellte: „Hallo! Mein Name ist Ellen Hopkins. Ich werde jetzt etwas über ein Jahr hier leben und daher gerne etwas mehr von diesen alten Sagen und Legenden hören. Es klingt alles sehr interessant.“ Forschend schaute er mir in die Augen und fragte: „Sind sie bereit für die Wahrheit?“ Ich nickte nur und überlegte mir, warum er es so nannte, denn es sollte doch nichts weiter als eine Legende sein. Da es keine andere Sitzmöglichkeit in dem beengten Raum gab, setzte ich mich auf den Teppich. Er legte vorsichtig seine Pfeife auf den Tisch neben sich und erzählte mir, als er wieder starr in meine Augen sah: „Damals herrschte hier das Böse. Vor über fünfhundert Jahren regierte Furcht und Verzweiflung diese Stadt. Es gab sieben Vampire, die es schafften, dass überall nur noch Schrecken verbreitet war. Sie waren wahrhaftig böse. Schließlich befassten sie sich auch mit dunkler Magie und beschworen finstere Mächte, um noch mächtiger zu werden. Sie hatten das Ziel, die Welt zu regieren und auch am Tage durch die Straßen zu wandeln. Sie versuchten es mit einem Ritual zur Sommersonnenwende. Durch einen glücklichen Zufall gab es damals einen jungen Mann, der das Ritual störte und mit Hilfe eines Steins die Vampire in sieben Steinstatuen verwandeln konnte. Diese stehen jetzt im Garten des Hauses, in dem sie damals alle hausten.“ Ich erschrak, denn ich wusste die ganze Zeit, dass sie mich ansahen. Daniel fuhr fort: „Bevor sie aber endgültig in Steine verwandelt waren, stieß die einzige Vampirfrau unter ihnen einen Fluch aus oder eine Prophezeiung. Sie sagte, dass sie wiederkommen werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Und diese Zeit wird sich durch folgende Zeichen ankündigen: Zuerst brennt ein Feuer, das niemals brennen darf, aber dennoch keine Wunden zufügt. Danach fangen Steine an zu leben, ohne dass Blut fließt. Schließlich muss das Böse noch böser werden, bevor die Welt noch furchtbarer sein wird als zuvor.“
Ich sah wohl etwas nachdenklich aus, als er mir diese Legende erzählte. Irgendwie konnte ich mir dies alles bildlich vorstellen. Mit einem prüfenden Blick schaute er mich an und schmunzelte. Daraufhin erzählte er weiter: „Nachdem die Vampire zu Stein geworden waren, da gab es einen alten Mann, der die Prophezeiung erweitert hat. Er sagte, dass eines Tages ein Mensch kommen wird, der das Feuer entfacht, was nicht brennen darf und diese Person wird auch die sein, die das Böse ein für alle Mal vernichten wird.“ „Tut mir wirklich leid, aber das klingt doch viel zu naiv für so eine großartige Geschichte. Wenn es damals wirklich Vampire gab, dann hatten sie wahrscheinlich auch Macht. Ich könnte mir vorstellen, dass sie dann wirklich von jemandem im Ritual gestört und dadurch in Steine verwandelt wurden, aber wie kann ein einfacher Mann ohne Wissen und Macht den Fluch erweitern? Das hört sich ziemlich an den Haaren herbeigezogen an.“ überlegte ich laut. Der alte Daniel nahm seine Pfeife wieder in die Hand und meinte: „Sie werden es schon sehen. In jeder Sage oder Legende gibt es ein Funken Wahrheit. Vielleicht war dieser alte Mann ein Hellseher oder er hat in diesem Augenblick nur eine einzige Vision gehabt durch den Zauber, der damals in der Luft hing. Möglich ist alles. Auf jeden Fall hoffen all diejenigen aus dieser Stadt, die an Vampire glauben, dass der Tag kommen wird, an dem die Steinvampire wieder zum Leben erwachen. Es würde nämlich bedeuten, dass sie dann für immer vernichtet werden könnten.“ Dann sah er mich von oben bis unten an und lächelte ein wenig. Mir war ein wenig unwohl zumute und ich wusste nicht, warum er mich so anlächelte. Der alte Mann nahm die Pfeife in den Mund, nahm sie direkt wieder heraus und sagte mit lockerer Stimme: „Ellen! Ich denke, dass du die Richtige bist. Du wirst die Brücke innerhalb der Zeit bauen können. Aber nur, wenn du dir einige Arbeiter suchst, die nachts für dich arbeiten. Glaube mir. Nur mit Nachtarbeit kannst du rechtzeitig fertig werden.“ Ich dachte mir nichts dabei, dass er mich duzte, aber diese Legende war wie ein großes Rätsel und warum kam er auf einmal auf die Brücke? Ich verstand es nicht mehr. Langsam erhob ich mich wieder von dem Boden und merkte, dass meine Beine ein wenig eingeschlafen waren. Höflich gab ich ihm zum Abschied die Hand und sagte: „Ich danke ihnen für die nette Geschichte. Ich mag solche Sachen gerne hören. Auch wenn es kaum zu glauben ist. Ich werde mich dann mal wieder auf den Weg zurück ins Gasthaus machen. Auf Wiedersehen.“ Mit der Pfeife im Mund nickte er mir höflich zu und danach verließ ich das Haus.
Draußen angekommen bemerkte ich, dass es schon dunkel war. Wie lange war ich wohl den Nachmittag über mit dem Bürgermeister unterwegs gewesen und wie viel Zeit war vergangen, während Daniel mir die Geschichte erzählt hatte?
Zunächst wollte ich noch etwas frische Luft schnappen. Der Pfeifenrauch hatte doch ganz schön meine Sinne vernebelt. Also setzte ich mich auf die Stufe des Hauseinganges und schaute durch die Gegend. Es war eine sternklare Nacht und die Mondsichel stand am Himmel. So helle Sterne hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. In dieser Gegend schien die Luft so sauber zu sein, dachte ich, dass ich bestimmt in den heißen Sommermonaten die Sternschnuppen sehen konnte. Es war zwar schon eine sehr warme Nacht gewesen, aber Hochsommer hatten wir noch nicht.
Die Häuser sahen in der Nacht nicht mehr so unheimlich aus wie am Tag. Ich konnte meistens nur die Dächer gegen den Mond erkennen. In vielen Häusern wurde das Licht angemacht und auch noch die Straßenbeleuchtung erhellte die Gegend.
Plötzlich registrierte ich unter einer Straßenlaterne einen Mann, an einer Mauer gelehnt stehend, der mich ansah. Es hatte den Anschein, als ob er in meinem Alter war. Seine kupferfarbenen Haare waren etwas länger und lagen zusammen mit einem Teil seines Ponys hinter den Ohren. Die restlichen Haare hingen ihm bis tief in die Stirn hinein. Auch hatte er einen Dreitagebart in der gleichen Farbe. Ich mochte diesen Farbton, der mich tatsächlich an Blumendraht erinnerte. Vom Aussehen her war dieser Mann gar nicht mein Typ. Das lag daran, dass ich Männer mit Bart nicht mochte. Klar konnte das gut aussehen, aber der Mann, der mir damals erzählt hatte, dass meine Eltern gestorben sind, trug einen Bart. Und seitdem ist diese Tatsache halt negativ in meinem Kopf verankert gewesen. Dennoch hatte dieser Typ etwas Gewisses, was mich ihn durchdringend anschauen ließ. Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, welches er in die Hose gesteckt hatte. Dazu hatte er schwarze Lackschuhe an. Eigentlich sah das Komplettpaket sehr gut aus. Männer in dieser Kleidung sahen immer schick aus. Ist fast das gleiche Prinzip wie Uniform. Mit einem kurzen Blick auf meine zierliche Armbanduhr stellte ich fest, dass ich unbedingt wieder ins Bett gehen sollte, damit ich mich besser an die neue Zeit gewöhnen konnte.
Ich stand von der Stufe auf und machte mich langsam auf dem Weg zum Gasthaus. Zwangsläufig musste ich an diesem Mann an der Mauer vorbeigehen. Als ich auf gleicher Höhe mit ihm war, fragte er mich mit einer dunklen Stimme: „Du bist neu in der Stadt, oder täusche ich mich? Warum habe ich dich wohl sonst noch nie hier gesehen?“ Ich redete normalerweise nicht mit fremden Männern, aber seltsamerweise bekam er direkt eine Antwort von mir: „Nein! Du täuschst dich nicht. Ich bin hier neu.“ Ich wusste nicht, wie mir geschah. Fremde Menschen sind mir immer ziemlich egal. Es dauerte auch immer etwas, bis ich mit neuen Kollegen warm wurde. Warum nur antwortete ich ihm? Der Mann sah mir mit seinen grünen Augen tief in meine hinein und fragte mich: „Wie heißt du denn?“ Ich antwortete hastig und wie von Sinnen: „Mein Name ist Ellen. Und deiner?“ „Rocco!“ hörte ich ihn sagen. Ich bemerkte: „Hört sich eher Italienisch an.“ Er nickte und nahm zärtlich meine Hand. Ich zuckte etwas zusammen und schaute ihn fragend an. Was konnte er nur von mir wollen? Langsam kam er näher und gab mir einen Kuss auf den Mund. Mir blieb fast die Luft weg. Ich konnte es nicht begreifen. Es war so unwirklich für mich. Da kam einfach ein fremder Mann, sprach mich an und küsste mich. Aber es gefiel mir. In ihm steckte viel Leidenschaft und seine Lippen fühlten sich unglaublich weich und sanft an. Ich merkte, wie meine Knie schwach wurden. So gut wie er hatte mich noch keiner geküsst. Ein wohliges Kribbeln durchfuhr meinen Körper und ich stellte fest, wie sehr ich darauf reagierte. Als er aufgehört hatte mich zu küssen, sah er mir noch einmal in die Augen und sagte fast flüsternd: „Ich musste es tun. Ich konnte nicht anders. Du bist einfach so wunderschön.“ Dann lief er ein paar Schritte weg und meinte: „Ich muss jetzt gehen. Lebe wohl.“ Anschließend rannte er die Straße hinunter und verschwand in der Dunkelheit. Ich blieb noch einige Minuten unter der Straßenlaterne stehen und wunderte mich über ihn. Lange schaute ich die Straße hinab und dachte an diesen Kuss.
Auf einmal spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und hörte eine Stimme hinter mir: „Sie sollten um diese Uhrzeit nicht mehr hier draußen sein.“ Ich drehte mich um und ein Mann stand vor mir. Der Kleidung nach zu urteilen war er der Pfarrer der Stadt. Ich begrüßte ihn mit einem kurzen Kopfnicken und meinte schließlich: „Aber die Nacht ist doch zum Verlieben schön. Selten habe ich einen so schönen Sternenhimmel gesehen. Außerdem ist es doch noch warm und ich kann eh nicht schlafen.“ „Das ist egal. Es gibt hier nicht nur gastfreundliche Menschen, sondern es hausen auch selten Diebe und andere üble Schurken hier in den Straßen. Ich möchte nur nicht, dass ihnen etwas passiert.“ meinte er, rückte mein Gesicht zu der Laterne und bemerkte: „Ihr Antlitz kenne ich noch nicht. Sind sie neu hier in der Stadt?“ Ich nickte und antwortete: „Ich bin Ellen Hopkins. Vielleicht haben sie schon davon gehört, dass ich die Brücke bauen werde.“ „Ja! Gehört habe ich davon schon mal. Trotzdem sollten sie sich hier mitten in der Nacht nicht aufhalten. Sie könnten vergewaltigt werden oder getötet. Ich möchte gar nicht daran denken. Kommen sie, ich bringe sie nach Hause.“ meinte er und begleitete mich zum Gasthaus.
In meinem Zimmer saß ich auf dem Bett, starrte einfach Löcher in die Luft und konnte ich an nichts anderes mehr denken, als an Rocco. Ob der Pfarrer ihn damit meinte, als er davon sprach, dass ich vergewaltigt werden könnte? Aber dann wäre er bestimmt nicht so vorgegangen. Dieser Kuss war ein einfacher leidenschaftlicher Akt, der mich fast wahnsinnig machte. Natürlich hätte er dies nicht einfach machen dürfen, aber ich hatte mich auch gar nicht dagegen gesträubt. Wahrscheinlich fühlte sich mein Körper schon so zu ihm hingezogen, dass mein logischer Verstand einfach für einen Moment ausgesetzt hatte. Ich fühlte mich verliebt. Nach diesem Kuss verspürte ich tatsächlich ein Kribbeln in meinem ganzen Körper. Ich tanzte durch mein Zimmer hindurch auf den Balkon. Dort schaute ich zu dem Haus mit dem großen Garten. Das Anwesen, in welchem sich das Böse aufhielt. Schon wieder sah ich dort diese Leute. Aber diesmal gingen sie zu dem Haus. Ich wurde neugierig. Am liebsten wollte ich hingehen, um es mir aus der Nähe anzuschauen, aber dann dachte ich wieder an Rocco und dies lenkte mich von meiner Wissbegier ein wenig ab. Erneut tummelten sich die Schmetterlinge in meinem Bauch und ich seufzte laut. Ich musste mit jemandem über diese Gefühle reden. Kurz darauf nahm ich mein Briefpapier aus der Tasche und schrieb an meine Freundin:
Liebe Jessica!
Du wirst es kaum glauben, aber ich habe mich verliebt. Nein! Nicht in Benny, obwohl er auf der Fahrt hierhin ein guter Freund war.
Nein, heute stand plötzlich ein gutaussehender Mann vor mir, der eigentlich nicht mein Traumtyp vom Aussehen her ist. Er hat kupferfarbenes Haar, einen Dreitagebart in der gleichen Farbe. Dazu hat er grüne Augen. Ich hatte mir zwar immer einen Mann mit blonden Haaren vorgestellt, aber an diesem Mann sieht alles gut aus und es steht ihm hervorragend. Du wirst es nicht glauben, aber er stand auf einmal da, fragte mich, ob ich neu in der Stadt bin und wie ich heiße und ich antwortete immer direkt. Danach küsste er mich einfach. Zuerst fühlte ich mich sehr überrascht, doch am Ende war ich enttäuscht, dass er aufhörte. Das war der beste Kuss, den Du Dir vorstellen kannst. Meine Knie wurden schwach, ich bekam Schmetterlinge im Bauch und ich tanzte durch mein Zimmer. Sein Name ist Rocco und ich habe mich wirklich in ihn verliebt. Es ist zwar für mich immer noch sehr unwirklich und kaum zu glauben, da ich ja immer skeptisch gegenüber fremden Menschen bin. Du kennst mich. Von daher ist es wirklich so, als ob mich der Blitz getroffen hätte. Sehr schnell und unerwartet.
Ach ja! Bevor ich es vergesse. Die Stadt ist schön, interessant und ich habe schon viel gesehen. Die Postkarte kommt noch nach. Habe noch keine Zeit gefunden, um schöne Karten auszusuchen.
Viele liebe Grüße
Ellen
Ich steckte den Brief in den Umschlag, beschriftete ihn noch mit der Anschrift und steckte ihn erstmal in meine Handtasche. Danach ging ich ins Bett und träumte mit offenen Augen von Rocco und seinem zärtlichen Kuss. Ich überlegte mir, wie und wann ich ihn wohl wiedersehen konnte. Ich wusste ja nicht, wo er wohnte und wie er mit Nachnamen hieß. Wie sollte ich ihm eine Nachricht übermitteln, fragte ich mich. Ich wollte am liebsten alle Menschen in dieser Stadt nach diesem Mann befragen. Es ließ mir keine Ruhe. Ich war in ihn verliebt, obwohl ich nichts von und über ihn wusste. Aber das musste ich auch nicht, denn es zählte für mich nur, dass ich ihn wieder treffen könnte.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, denn es war mein erster Arbeitstag auf der Baustelle. Nachdem ich geduscht war und mich angezogen hatte, ging ich in den Speisesaal. Dort aß ich ein Brot und trank einen Saft, denn ich hatte nicht so viel Hunger. Der Grund dafür waren wohl die ganzen Schmetterlinge in meinem Bauch, die dort immer noch wild zugange waren.