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Wie alles mit allem zusammenhängt Zentrale Haltungen und Einsichten – das Vermächtnis des weltberühmten spirituellen Lehrers "Wie können wir in einer sich stetig so rasch verändernden Welt Halt finden?" - Im Alter von 95 Jahren fragt Bruder David Steindl-Rast nach den zentralen Orientierungspunkten, die sein Leben geprägt haben. "Mein ganzes Leben wollte ich vor allem wissen, wie alles mit allem zusammenhängt". So hat er sein Leben dem Gespräch zwischen den Religionen und dem Entdecken ihrer Weisheit gewidmet. Er sieht in den Religionen Brunnen, die zur Tiefe des Lebens führen, und aus diesen Brunnen schöpft er für sein neues Buch. Zentrale Begriffe wie Ich, Du, Es, Leben, Gott, Vertrauen, Berufung oder Dankbarkeit werden hier zu wegweisende Orientierungspunkten, die zu einem bewussten Leben im Jetzt ermutigen und Halt in einer sich so rasch ändernden Welt bieten. Das Leben erscheint ihm dabei als heiliger Tanz, der sich um eine geheimnisvolle Mitte dreht, das große Du. Wer sich diesem großen Du im achtsamen Hören öffnet, dem wird alles, was ihm im Leben widerfährt, zu einem ununterbrochenen Gespräch, das von der Fülle des Lebens erzählt. In dieser Haltung wird jeder Moment zum Geschenk, das wir in Freiheit annehmen können.
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Seitenzahl: 193
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DavidSteindl-Rast
Schlüsselwortefür ein erfülltes Leben
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
© 2021 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck (A)
Lektorat: Klaus Gasperi, Zwischenwasser (A)
Gestaltung: Grafik Caldonazzi |
Atelier für visuelle Kommunikation, Frastanz (A)
Druck und Bindung: Finidr (ZC)
ISBN 978-3-7022-3992-3 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3993-0 (E-Book)
E-Mail: [email protected]
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Dieses Buch ist jungen Menschen gewidmetund allen, die jung genug bleiben,um sich immer wieder mit offenem Herzenden weitesten Horizonten zuzuwenden.
Vorbemerkungen
Teil 1 | Orientierungsschritte – anhand von 21 Schlüsselworten
Auf der Suche nach einem Gesamtbild
Der erste Schritt – Orientierung
Das Ich – mein Dasein als Geschenk
Das Selbst – mein ureigenstes Wesen
Das Ego – wenn das Ich das Selbst vergisst
Immer Du – denn alles Leben ist Beziehung
Das Es – in allem den Zauber des Daseins entdecken
Das System – die Macht, die Leben zerstört
Geheimnis – wenn uns die Wirklichkeit „ergreift“
Das Leben – Ort der Begegnung mit dem Geheimnis
Gott – das geheimnisvolle „Mehr-und-immer-mehr“
Religiosität – was uns verbindet und heilt
Religionen – verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche
Vertrauen – unsere Antwort auf Angst
Innen / Außen – zwei Aspekte der einen Wirklichkeit
Verinnerlichung – eine Lebensaufgabe
Das Jetzt – im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit
Entscheidung – was will das Leben jetzt von mir?
Berufung – „folge deinem Stern!“
Stop – Look – Go – sich einüben in den Fließweg des Lebens
Dankbarkeit – ein Weg zur Fülle
Teil 2 | Orientierungspunkte
Das ABC der Schlüsselworte
Register
Autorenvita
I want to know what this whole showis all about, before it’s out.
Wüsst’ ich nur jetzt, um was zuletztsich alles dreht, bevor’s vergeht!
Piet Hein (1905–1996)
Jetzt, mitten in meinen 90er-Jahren, frage ich meinen Freund Thomas, der in seinen 20ern ist: „Wie steht’s da eigentlich mit jungen Leuten heute? Wollt auch ihr so leidenschaftlich wie Piet Hein und ich wissen, worum sich letztlich alles dreht?“ „Ja“, sagt er, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, „diese Frage beschäftigt auch uns immerfort!“ Tommys Antwort hat mich letztlich dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben. Ich möchte versuchen, die wichtigsten Orientierungspunkte zu markieren, die ich im Laufe meines Lebens finden konnte. Denn: Wollen wir unsren Platz im Ganzen finden, dann müssen wir auf die dynamische Vernetzung von allem mit allem schauen. Das kann uns dann auch unsre persönliche Aufgabe im weitesten Zusammenhang erkennen lassen.
Nachschlagewerk und Sachbuch zur Selbsthilfe sind hier in eins verschmolzen. Der fortlaufende Text kann als Inspiration gelten für alle, die Orientierung suchen. Und das sind in unsrer verworrenen Zeit viele Menschen. Dieser erste, längere Teil des Buches reiht zugleich die wichtigsten Schlüsselworte ihrer inneren Ordnung entsprechend aneinander. Er beruft sich immer wieder auf die persönliche Erfahrung der Leser/innen, unterstützt deren eigenständige Erwägungen und legt hilfreiche Einsichten und Lebenshaltungen nahe. Auch die zweite Hälfte des Buches werden wohl viele zur Gänze lesen wollen, besonders alle für unsre Sprache Begeisterten und alle, denen es einfach Freude macht, sich klar auszudrücken. Sie werden hier wichtige, leider oft vernachlässigte Unterscheidungen kennenlernen. Dieser Teil des Buches kann aber auch als Nachschlagewerk befragt werden, etwa von Lehrberufenen, die nach klaren Definitionen suchen. Auch Studiengruppen und Lesekreise, die nicht aneinander vorbeireden wollen, sondern sich um eindeutige Begriffe bemühen, werden hier ein Handbuch finden, das ca. 100 Grundbegriffe zur spirituellen Orientierung kurz erläutert. Ein Netzwerk von Querverweisen mit * verbindet die beiden Teile und erleichtert das Verständnis, indem es auf ergänzende Erläuterungen im zweiten Teil verweist. Auch nach dem Lesen werden wohl viele dieses Schlüsselwörterbuch als Ratgeber zu spirituellen Fragen auf ihrem Regal griffbereit halten wollen.
Mein Dank gebührt den unzähligen Helfern, die dieses Buch ermöglicht haben. Ich kann hier nur wenige nennen: Gottfried Kompatscher und alle Mitarbeiter/innen im Tyrolia Verlag, meinen Lektor Klaus Gasperi, Brigitte Kwizda-Gredler, Reinhard und Mia Nesper, Rosemarie Primault und Mario Quintana, dessen Denkanstöße und praktische Mithilfe ihn beinahe zum Mitverfasser machen. Auch vor meiner getreuen Assistentin Ingrid Oswald und vor allen ungenannten Helfern verneige ich mich in tiefer Dankbarkeit.
Ostern 2021, Güelta de Areco, Azcuénaga, Argentinien
Bruder David Steindl-Rast OSB
Mein ganzes Leben lang wollte ich vor allem wissen, wie alles mit allem zusammenhängt. Was mich brennend interessiert, ist das Gesamtbild – die Frage nach dem äußersten Horizont, die Frage, worum es letztlich geht. Ist der Versuch, ein Gesamtbild mit weniger als hundert Schlüsselwörtern zu erreichen, ein allzu verwegenes Unterfangen? Jedenfalls scheint es mir der Mühe wert. Aufs Versuchen allein kommt ja alles an. Das Gelingen steht nicht in unsrer Hand.
Der nächstliegende Einwand wird wohl dieser sein: Wie kannst du hoffen, die Orientierungskarte einer sich ständig ändernden Welt zu zeichnen? Karte ist aber ein zu statisches Bild für das, was wir darzustellen versuchen. Es geht wohl eher um ein Verständnis der Choreografie des Ganzen, dessen wichtigste Merkmale Bewegung und Veränderung sind. Wenn wir uns tief einfühlen, dann bemerken wir, dass zum Gesamtbild nicht nur verändernde Bewegung gehört, sondern auch ruhendes Bleiben. Beides muss unser Sinnbild der Wirklichkeit* ausdrücken können, Bewegung und Ruhe*. Da bietet sich das Bild eines Reigens an, der ohne Anfang und Ende in sich ruht, während er sich doch unaufhörlich bewegt.
Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts. Es ist zweckfrei, aber sinnvoll. Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab: Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt. Beim Tanz dreht sich alles um die Gelegenheit*, Augenblick* für Augenblick im Schritt zu sein mit denen, die uns am nächsten stehen im Kreis, und durch sie mit allen Tänzern in eine Wechselwirkung zu treten. Das Ziel ist, völlig eins zu werden mit Rhythmus“ und Harmonie des Tanzes. Tanz aber ist hier Sinnbild für Wandel und den Gang des ganzen Universums.
Vergiss das Sinnbild des Reigentanzes nicht! Es sollte aufleuchten, sooft es um das Gesamtbild geht, und als Hintergrund dienen für alle Erwägungen, auf die wir uns in diesem Buch einlassen werden. Ringelreigen kennen zwar auch jetzt noch alle vom Kindergarten her, aber der Rundtanz für Erwachsene ist schon fast verlorengegangen. Es freut mich, dass junge Menschen heute diese Urform des Tanzens wiederentdecken.
Kreis und Ring sind unerschöpfliche Sinnbilder für das kosmische Ganze – von den vorgeschichtlichen Steinkreisen bis zum Ensō in der japanischen Kalligraphie. Oft werden wir sehen, dass es Dichter sind, die uns besonders gut den tieferen Sinn von Wort und Bild erschließen können. Das gilt auch für den Reigentanz. Dabei ist es bedeutsam, dass wir als bloße Zuschauer das Wichtigste nicht sehen können. Von außerhalb des Kreises gesehen, muss es uns immer so erscheinen, als ob die uns Fernsten in die entgegengesetzte Richtung jener gehen, die uns am nächsten sind. Erst wenn wir selber in den Kreis eintreten, links und rechts unsre Partner bei den Händen fassen und mittanzen, wird uns klar, dass alle sich in der gleichen Richtung bewegen.
Bei C. S. Lewis (1898–1963) bin ich zum ersten Mal auf das Bild des großen Tanzes gestoßen, den er auch das große Spiel nennt. In seinem Weltraumroman „Perelandra“ heißt es:
Er hat vor allem Anfang begonnen … Der Tanz, den wir tanzen, ist die Mitte und um des Tanzes willen wurde alles erschaffen … Im Plan des großen Tanzes greifen Pläne ohne Zahl ineinander, und jede Figur führt zu ihrer Zeit zum Aufblühen des gesamten Entwurfs, auf den alles hinzielt … Alles Geschaffene erscheint dem verdunkelten Geist planlos, weil da mehr Pläne im Spiel sind, als er sich vorstellen kann … Fasse eine Bewegung ins Auge, und sie wird dich durch alle Figuren führen und dir als die Hauptfigur erscheinen. Und das Scheinbare wird wahr sein. Möge kein Mund widersprechen. Alles scheint planlos, weil alles Plan ist: Alles scheint ohne Mitte, weil überall Mitte ist.
Der amerikanische Schriftsteller T. S. Eliot (1888–1965) spricht von dieser geheimnisvollen Mitte – vom Jetzt* – als „dem stillen Punkt der sich drehenden Welt“.
Das Jetzt ist der Augenblick, in dem der Tänzer „ruht und immer noch in Bewegung“ ist, völlig im Schritt mit dem kosmischen Rhythmus. Es ist der Augenblick, in dem paradoxerweise der Pfeil unsrer Tanzbewegung sein Ziel erreicht, ohne anzuhalten in seinem Flug. An diesem „ruhenden Punkt, da ist der Tanz … Ohne den Punkt, den Ruhepunkt, gäbe es keinen Tanz, und es gibt nichts als den Tanz.“
Die Worte des bekannten Kanons „Liebe ist ein Ring. Ein Ring hat kein Ende“ könnten gut von einem nachdenklichen Zuschauer bei einem Ringelreigen stammen. Der Dichter Robert Frost (1874–1963) fügt hinzu:
Wir tanzen rätselnd rundum im Kreis;
Das Geheimnis sitzt in der Mitte und weiß.
Zusammengenommen weisen diese beiden kurzen Texte auf das Gleiche hin, was schon Dante (1265–1321) in seinem berühmten Vers angesprochen hat: „L’amor che move il sole e l’altre stelle – die Liebe, die alles bewegt“. Das zentrale Geheimnis des kosmischen Rundtanzes ist die Liebe*.
Freunde erzählten mir von ihrem Zweijährigen: „Wenn er morgens aufwacht, muss er sich zuerst zurechtfinden, er sucht seine Orientierung. Wir hören ihn in seinem Kinderbett nebenan mit sich selber reden. Er orientiert sich, indem er die Dinge in seinem Zimmer eins nach dem andren beim Namen nennt und eine ganze Litanei neu erlernter Wörter laut wiederholt: ‚Decke, Lampe, Teddybär‘.“ Nicht nur als Kinder, sondern unser Leben lang verwenden wir Wörter, um unsren Weg durch das Labyrinth dieser verwirrenden Welt zu finden, um uns zu orientieren.
Das Wort Orientierung kommt wie „Orient“ aus dem Lateinischen, wo „oriens“ auf den „Sonnenaufgang“, den „Osten“ hinweist. Wenn wir wissen, wo die Sonne aufgeht, können wir alle andren Himmelsrichtungen bestimmen und uns auf unser Ziel ausrichten. Manche Wörter können uns auf ähnliche Weise den Weg weisen. Sie strahlen auf wie Leuchtturmlichter und leiten uns verlässlich durch stürmische See. Solche leuchtenden Wörter können zu Schlüsselwörtern werden, die uns neue Erkenntnisse eröffnen. Wir müssen nur „der Sprache nachdenken“; lernen, wie man einem Pfad durch Wiesen nachgeht und sich dabei Blume um Blume an neuen Entdeckungen freut. „Der Sprache nachdenken“ ist ein Ausdruck, den der Philosoph Martin Heidegger (1889–1976) geprägt hat. Ich habe schon vor langer Zeit die Freude entdeckt, die diesem Nachdenken entspringt. Es lehrt uns, den Einsichten* große Aufmerksamkeit zu schenken, die unsre Vorfahren als Spuren ihres Denkens in der Sprache zurückgelassen und uns so vererbt haben. So wie wir versuchten ja auch sie, sich in der Welt und im Leben zurechtzufinden. Auch sie suchten nach verlässlichen Koordinaten für innere Ausrichtung und spirituelle Orientierung. Deshalb steckt in der Sprache, die sie uns hinterlassen haben, ein Schatz an wegweisender Weisheit*. Und weil Dichtung* die Sprache um ein Vielfaches verdichtet, enthüllen oft Gedichte diesen Schatz in seiner reinsten und strahlendsten Erscheinungsform.
Bei der Suche nach Orientierung muss zweierlei zusammentreffen: unsre eigene Erfahrung und die Erfahrungen andrer, die in Karten und andren Orientierungshilfen niedergelegt sind. Sowohl ein Globus als auch eine Wanderkarte können uns bei der Orientierung helfen, solange wir lernen, klar zwischen ihnen zu unterscheiden und den Maßstab auszuwählen, der sich für unsre Zwecke eignet. Wir wollen uns ja nicht in Einzelheiten verlieren. Uns geht es hier um Orientierung am Gesamtbild. Dabei wollen wir nicht vergessen, dass wir Landkarten nur dann richtig lesen können, wenn wir unsren eigenen Standort kennen.
Meine Orientierung in der Welt beginnt notwendigerweise dort, wo ich bin. Ein Stern mit der Aufschrift „Sie sind hier!“ bezeichnet oft unsren Platz auf dem großen Orientierungsschild mit Landkarte beim Eingang zu einer Wanderregion. Ebenso ist der Umstand, dass ich „hier bin“ in dieser Welt, die grundlegende Tatsache, mit der meine Orientierung beginnen muss. Ich kann keinen andren Ausgangspunkt finden als diesen sehr persönlichen, weil es keinen andren gibt. Aber es hat weitreichende Folgen, dass ich diese grundlegende Einsicht auf zwei verschiedene Weisen ausdrücken kann: „Ich bin da“ oder „Es gibt mich“. Die Unterscheidung zwischen „Ich bin da“ und „Es gibt mich“ kann viel dazu beitragen, unsren Platz im Gesamtbild zu finden.
Mit dem Satz „Ich bin da“ bestätige ich natürlich, dass meine Existenz eine gegebene Tatsache ist, aber ich drücke dies in der 1. Person Einzahl als meine unbestreitbare Erfahrung aus. Diese Erfahrung abzustreiten, hieße sie zu bestätigen, denn wenn ich nicht existierte, könnte ich meine Existenz nicht leugnen. So wird meine Existenz also notwendigerweise zum zentralen Ausgangspunkt, um mich in der Welt* zu orientieren. Ich bin freilich nur für mich selber Mittelpunkt der Welt.
Aber dies kann leicht dazu verleiten, den Mittelpunkt meiner Welt für den absoluten Mittelpunkt der Welt schlechthin zu halten. Wenn das passiert, fange ich an, mir alles andre so vorzustellen, als würde es sich um mein kleines Ich drehen. Meine ganze Mitwelt, der ich angehöre, wird dann zu meiner bloßen Umgebung: Wenn aber ein „Ich“ alles auf sich selbst bezieht, bleibt es in sich selbst stecken.
Die zweite Ausdrucksweise für die Einsicht, dass ich existiere – „Es gibt mich“ – wird in der 3. Person Einzahl formuliert. Dieser grammatische Unterschied ist tiefgreifend: Die Betonung dieser neuen Formulierung liegt nicht mehr auf meinem Ich, sondern auf dem Es, das mich mir selber und der Welt gibt – schenkt. Mit dem Satz „Es gibt mich“ stelle ich diesen Sachverhalt fest, als ob ich ein außenstehender Betrachter wäre. Das vermindert die Gefahr, mich zum Mittelpunkt zu machen und in mir selber steckenzubleiben. Außer mir gibt es noch unzählig viel andres. Und am Gegebensein erkenne ich mein Dasein als Geschenk, als Geschenk des Universums. Ich sehe mich eingebettet in ein Geben und Nehmen, und meine Umwelt“ wird dadurch zur Mitwelt* – zu einem Netzwerk* von Beziehungen, das alles mit allem verbindet. Diese Art, mich selbst zu verstehen, ermöglicht die gesunde Entwicklung des „Ich-Selbst“.
Wenn ich von meinem Selbst spreche, meine ich mein ureigenstes Wesen. Ich bin mir bewusst, dass ich „in mich gehen“ kann, in einen inneren Bereich, der nur mir selbst zugänglich ist. Nur ich kann mein Bewusstsein erfahren, die andren erfahren nur meine von außen sichtbare Gegenwart* als Körper unter andren Körpern. Aber normalerweise sagen wir nicht „Ich bin ein Körper“, sondern „Ich habe einen Körper“. Das ist jedoch seltsam, wenn wir es bedenken. Da sitzt ein Körper und sagt: „Ich habe einen Körper.“ Wer spricht denn da? Es ist mein verkörpertes Selbst, das spricht – als eins mit meinem Körper. Und zugleich spricht es über meinen Körper als seine sichtbare Erscheinung. Innen* und außen* können nicht getrennt, sondern nur unterschieden werden. Wenn ich also „Ich selbst“ sage, dann meine ich eine Einheit, mein verkörpertes Selbst.
Wie aber kann ich mein Ich klar von meinem Selbst unterscheiden? Kann ich den Unterschied zwischen Selbst und Ich bewusst erleben? Das lässt sich an einem Experiment erproben. Unser reflektierendes Bewusstsein ermöglicht es uns, uns selbst zu beobachten. Beobachte dich also, wie du dasitzt und diese Zeilen liest. Damit uns das gelingt, müssen wir uns innerlich von dem, was wir beobachten, „distanzieren“. Schau noch einmal genau hin mit deinem inneren Auge: Siehst du irgendwie gleichzeitig dich selbst als beobachtet und als Beobachter? Dann musst du dich noch ausschließlicher auf das Beobachten konzentrieren. Früher oder später wird es dir gelingen, nur mehr das Beobachtete zu beachten, weil du dich vollständig mit dem Beobachter identifizierst. Wenn dir das gelingt, hast du das Ziel erreicht. Der Beobachter, den niemand mehr beobachtet, ist das Selbst.
Wo ist dieses Selbst? Nirgends und überall. Du kannst es nicht verorten. Daher ist es auch nicht in Teile zerlegbar. Daraus entspringt die überraschende Einsicht, dass es nur ein einziges Selbst gibt: eins für uns alle – ein grenzenloses, unteilbares Ganzes! Trotzdem ist unser Ich einzigartig und verschieden von jedem andren Ich. Das eine unerschöpfliche Selbst drückt sich immer wieder in einem neuen Ich aus. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht einmal unsre Fingerabdrücke sich zweimal unter Milliarden andrer finden. Und doch meinen wir alle ein und dasselbe Selbst, wenn wir „Ich selbst“ sagen. In jedem, dem ich gegenüberstehe, begegnet mir das eine Selbst, das uns allen gemeinsam ist. Dies ist von schwerwiegender Bedeutung für meine Beziehung zu andren.
Das Selbst ist nicht nur über den Raum erhaben, sondern auch über die Zeit und ist in diesem Sinne überzeitlich. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, finde ich ein andres, ein kindliches Ich, nicht mein jetziges. Trotzdem aber ist mein Selbst damals wie heute das gleiche; es bleibt auch in meiner Erinnerung* unverändert. Schulfreunde erkennen einander nach dreißig Jahren wieder, obwohl nicht ein einziges Molekül in ihren Körpern mehr das gleiche ist. Sie erkennen einander, weil das bleibende Selbst sich im stets veränderlichen Ich des andren ausdrückt. Trotz all unsrer Einschränkungen ist jeder Mensch eine neue Verwirklichung der unbegrenzten Möglichkeiten des Selbst.
Erinnerst du dich an den Beginn deiner allerersten Freundschaft – vielleicht schon im Kindergarten? War das nicht ein Augenblick überwältigten Staunens: Wie kann ein andres Kind so völlig anders sein und gleichzeitig so ich? Nicht wie ich – die große Verschiedenheit zwischen uns macht das Ganze erst so spannend – und doch im wahrsten Sinn des Wortes ich! Der griechische Philosoph Aristoteles (385-332 v. Chr.) verstand Freundschaft als „eine einzige Seele*, die in zwei Körpern wohnt“ – ein einziges Selbst in unsrer Terminologie. Natürlich wohnt in allen Körpern „ein einziges Selbst“, wenn wir es so ausdrücken wollen. Aber die Augen von Freunden sind offen für diese ausschlaggebende Tatsache und sie sind sich ihrer Bedeutung füreinander bewusst. Wenn wir uns dessen in Bezug auf alle andren wenigstens manchmal bewusst sein könnten, dann wäre unsere Welt ein freundlicherer Ort.
Im Laufe meines Lebens wurde mir mehrmals die Freude zuteil, Menschen kennenzulernen, deren Ich das Selbst mit großer Klarheit durchscheinen ließ. In ihrer Gegenwart fiel es mir leichter, „ich selbst“ zu sein. Sie machten mir bewusst, dass auch ich ein einzigartiger Ausdruck des einen großen Selbst bin. Verschiedene Traditionen geben dem Selbst unter diesem Aspekt unterschiedliche Namen. Für die Pima in Arizona heißt es z. B. „I’itoi“, für Hindus „Atman“, für Buddhisten „Buddha-Natur“. Christen nennen es „Christus in uns“. In diesem Sinne schreibt der heilige Paulus: „Ich lebe, aber nicht ich, Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Dieses Selbst immer klarer durchscheinen zu lassen durch unser Ich, stellt die große Aufgabe dar, „zu werden, wer wir wirklich sind“. Das ist die Aufgabe, „unsre Rolle im Leben gut zu spielen“, wie man sagt.
Was heißt das aber? Unsre Rolle im Leben ist kein festes Drehbuch, und sie zu spielen, bedeutet zu improvisieren – wie Schauspieler bei Improvisationsaufführungen oder wie Jazzmusiker. Jazz entfaltet und verändert sich ständig auf unvorhersehbare Weise, weil die Spieler aufeinander hinhorchen und jeder von allen andren beeinflusst wird. Was ein Einzelner beitragen kann, wird von seinem Instrument mit all dessen Möglichkeiten und Grenzen bestimmt. Das Instrument, das wir von Geburt an mitbekommen, ist weitgehend durch Faktoren bestimmt, die nicht unter unsrer Kontrolle stehen. Wie viel hängt allein schon von Zeit und Ort unsrer Geburt ab – von Zeit und Ort unsres „Auftritts“ auf der Bühne des großen Welttheaters, auf der das Stück schon seit Jahrtausenden läuft. Und denken wir an unsre Stärken und Schwächen, unsre ererbten Begabungen und Unzulänglichkeiten. Ganz gleich, wie wir mit ihnen umgehen, werden sie jedenfalls die Möglichkeiten und Grenzen unsrer Improvisation weitgehend mitbestimmen. Die Erfüllung unsrer Aufgabe, „gut zu spielen“, kann also nicht vom Instrument abhängen, auf das wir ja keinen Einfluss haben. Sie muss davon abhängen, wie „gut“ wir es spielen.
Woran kann ich aber erkennen, dass ich meine Rolle gut spiele? Was heißt hier „gut“? Die Antwort ergibt sich aus dem, was wir über das Selbst gesagt haben: Sie lautet: Du musst als „Du selbst“ spielen. Wie gut wir „unsre Rolle im Leben spielen“, hängt nicht von unsrer Veranlagung ab, sondern davon, dass unser Ich immer transparenter wird für das Selbst. Das bedeutet auch, dass wir uns dessen bewusst bleiben, dass wir – die Spieler – alle ein Selbst sind. Und dass wir unsre gegenseitige Zugehörigkeit durch unsre Art zu spielen bekräftigen. Dann wird unser Spielen – alles, was wir tun – ein „gelebtes Ja zur Zugehörigkeit“ ausdrücken. Das aber ist genau unsre Definition von Liebe. Wenn du darüber nachdenkst, wirst du finden, dass Liebe in all ihren authentischen Formen „das gelebte Ja zur Zugehörigkeit“ ist. „Unsre Rolle gut zu spielen“, heißt also, durch alles, was wir im Leben tun, Liebe auszudrücken.
Das entspricht der Forderung, die wir in jeder Form von Spiritualität wiederfinden und die in der jüdisch-christlichen im allbekannten Gebot ihren Ausdruck findet: „Liebe deinen Nächsten als dich selbst!“ (Lev 19,18). Nicht „wie dich selbst“ lautet es, sondern „als dich selbst“ – da dein Selbst ja auch das Selbst deines Nächsten ist. In jedem unsrer Mitspieler begegnen wir unsrem gemeinsamen Selbst – auch in unsren Feinden. Daher ist „Liebe deine Feinde“ (Mt 5,44) keine widersprüchliche Zumutung. Zum Beispiel 23 bleiben alle, die den Regenurwald zerstören, meine Feinde, obwohl ich als Christ sie lieben will. Würde Liebe alle zu Freunden machen, dann könnte ich ja niemals Feinde lieben. Meine Liebe wird sich daran zeigen, dass ich zwar alles tue, um ihren Bemühungen entgegenzuwirken und es ihnen unmöglich zu machen, Schaden anzurichten, ihnen aber gleichzeitig den Respekt erweise, der jedem Menschen gebührt, und sie so behandle, wie ich selbst behandelt werden möchte, wenn unsre Rollen vertauscht wären. Inmitten meiner tatkräftigen Opposition darf ich niemals vergessen, dass das Selbst meiner Feinde mein Selbst ist.
Es gibt nur ein Selbst. In dem Ausmaß, in dem wir diese Tatsache aus dem Bewusstsein verlieren, ist uns auch nicht mehr bewusst, dass letztendlich das Selbst alle Rollen spielt. Wenn ich das vergesse, werde ich wie ein Schauspieler, der sich so in seine Rolle verliert, dass er sich am Ende nicht mehr von der Rolle unterscheiden kann. Wenn dies geschieht, hat mein Ich mein Selbst vergessen. Wir nennen das Ich, das seine Beziehung zum Selbst verloren hat, das Ego.
Ego ist das lateinische Wort für „Ich“, aber wir werden es mit einer negativen Bedeutung verwenden, weil wir ein Wort brauchen für eine Fehlform des Ich. Auch im oft gebrauchten Wort „egoistisch“ ist Ego negativ belastet. Das „Ich“ wird zum Ego durch einen Prozess des Vergessens. Je mehr ich mein Selbst vergesse, das mich mit allen andren verbindet, desto einsamer und ganz auf mich allein gestellt muss ich mich fühlen. Mein „Ich-Selbst“ schrumpft mehr und mehr zum Ego zusammen, bis ich mein Selbst fast völlig vergessen habe. Ganz vergessen können wir es nie, aber darüber später mehr.
Im Europakloster spielen wir Mönche einmal im Monat nach dem Sonntagsgottesdienst für die Kinder Kasperltheater. Da kann es vorkommen, dass einer der Brüder mit einer Hand das Krokodil spielt, mit der andren die vom Krokodil bedrohte Prinzessin. Wenn wir uns in die Prinzessin hineindenken, wird es uns gewiss Zuversicht schenken, das zu wissen. Wir werden zwar Angst haben vor dem Krokodil, werden aber dem Puppenspieler vertrauen, der uns beide spielt. Aber eine Puppe, die den Puppenspieler vergisst, muss sich als eine leere Haut fühlen, umgeben von unzähligen andren, von denen einige alles andre als freundlich zu sein scheinen. Sie wird also Angst bekommen. Wenn wir vergessen, dass das eine Selbst uns innerlich verbindet, ist Angst fast unvermeidlich. Das Ego sträubt sich voller Furcht* gegen diese Angst*. Furcht aber ist die Ursache für alles, was im Welttheater schiefgeht.