Overlord – Light Novel, Band 03 - Kugane Maruyama - E-Book

Overlord – Light Novel, Band 03 E-Book

Kugane Maruyama

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Beschreibung

Lord Ainz hat große Fortschritte gemacht und gilt in der neuen Welt fortan als unbezwingbarer Held. Doch der Moment des Triumphs wird durch die Nachricht einer Rebellion in Nazarick zunichte gemacht. Was geschah hinter den Kulissen, während Ainz als Abenteurer getarnt unterwegs war? Und wie wird die mächtigste Wächterin, Albedo, auf den Verrat ihrer Rivalin Shalltear reagieren? Der Oberste Herrscher schwört, herauszufinden, was geschehen ist, und die Ehre seiner Gilde und seiner Heimat zu verteidigen …

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Inhalt

Kapitel 1Raubtierherde

Kapitel 2Eine wahre Vampirin

Zwischenspiel

Kapitel 3Verwirrung und Verständnis

Kapitel 4Vor dem Spiel um Leben und Tod

Kapitel 5Spieler vs. NPC

Charakterprofile

Nachwort

Kapitel 1: Raubtierherde

1

»Was ist denn das für ein Fraß?«

Der schrillen, hysterischen Stimme folgte das harte Klappern von Besteck, das man auf Teller fallen ließ.

Mehrere Personen im Speiseraum drehten sich zu der Frau um, die der Ursprung des Tumults war. Das Wort schön wurde ihr nicht mal ansatzweise gerecht. Möglicherweise war sie sogar der Goldenen Prinzessin, der größten Schönheit des Königreichs, ebenbürtig. Sogar wütend war sie hinreißend. Und selbst während sie eine Szene machte, wirkte jede ihrer Bewegungen grazil und bemessen. Sie musste eine Adelige sein – die Tochter einer Persönlichkeit von Rang und Namen. Während sie sich die Locken zurückstrich, betrachtete sie missbilligend das Essen vor sich.

Der Tisch war voller Teller. In einem Korb lagen weiche, weiße Brötchen, so frisch aus dem Ofen, dass sie noch dampften. Auf einem Teller lag neben Zuckermais und mit viel Butter zubereitetem Kartoffelpüree ein dickes Stück rosig gebratenes Fleisch verlockend im eigenen Saft. Der Salat bestand aus frischem, knackigem Gemüse, das dazugehörige Dressing verströmte einen belebenden Zitronenduft.

Die Mahlzeiten im Pavillon zum goldenen Glanz, dem besten Gasthaus der Festungsstadt E-Rantel, wurden mit Zutaten zubereitet, auf die man Preservation gewirkt hatte, um sie frisch zu halten – und selbstverständlich von einem Meisterkoch. Diese Mahlzeit war ein Kunstwerk, geschaffen aus den erlesensten Zutaten durch die angesehensten Köche. Nur Gäste von königlichem Geblüt, Adelige und erfolgreiche Händler konnten sich Derartiges leisten – und diese Frau zeigte unverblümte Unzufriedenheit.

Es war nur natürlich, dass diese Frage die anderen Gäste nicht nur überraschte, sie begannen auch über das Essen nachzudenken, das sie bislang ohne weitere Überlegungen verspeist hatten.

»Das ist widerlich.« Das klang dermaßen unangebracht, dass es alle Anwesenden einen Moment lang verblüffte.

Nur einer beobachtete diese ganze Szenerie, ohne mit der Wimper zu zucken, der betagte Diener, der hinter ihr bereitstand. Selbst als sie mit funkelndem Blick zu ihm herumfuhr, verzog er keine Miene, als wäre er zu keinem anderen Gesichtsausdruck fähig.

»Ich ertrage diese Stadt nicht! Bereite alles für meine sofortige Abreise vor!«

»Aber Herrin, es ist bereits na…«

»Halt die Klappe! Ich sage, wir gehen, also gehen wir! Verstanden?«

Als Antwort auf ihren kindischen Wutausbruch rührte sich der Diener zum ersten Mal, indem er den Kopf neigte. »Zu Befehl, Herrin. Ich bereite sofort alles Notwenige vor.«

»Hmpf! Wenn du verstehst, Sebas, dann beeil dich!« Sie schleuderte ihre Gabel weg, die irgendwo klirrend auf dem Boden landete. Dann stürmte sie entrüstet aus dem Speiseraum.

In der angespannten Atmosphäre, die sie zurückließ, erhob sich, der Ruhe nach einem Platzregen gleich, eine würdevolle Stimme: »Ich bitte die Anwesenden, den Vorfall zu entschuldigen.« Nachdem er den Stuhl, der beim Aufstehen der Frau fast umgekippt wäre, wieder an seinen Platz gestellt hatte, verneigte sich der Diener langsam vor den anderen Gästen. Der alte Mann erntete für diese geradezu perfekte Entschuldigung mitleidige Blicke.

»Sir …«

»Ja?« Ein Mann, der bisher unauffällig im Hintergrund gestanden hatte, trat neben den Diener.

»Verzeiht. Ich denke, eine einfache Entschuldigung wird nicht ganz ausreichen, darum gestattet mir, die Kosten aller Anwesenden zu übernehmen.«

Auf den Gesichtern der Gäste, die ihn gehört hatten, breitete sich unverhohlene Freude aus. Im besten Gasthaus der Stadt war jede einzelne Mahlzeit kostspielig. Bei einer solchen Entschädigung war eine solch kleine Störung nicht weiter der Rede wert.

Der Inhaber hingegen zeigte sich unbeeindruckt und reagierte auf das Angebot des Dieners mit einer Verneigung. Die Natürlichkeit dieses Austauschs legte nahe, dass es seit der Ankunft dieses Gespanns aus Herrin und Untergebenem bereits mehrfach zu derartigen Situationen gekommen war.

Sebas sah zu einem Mann, der in einer Ecke des Speiseraums vor seinem eigenen Teller saß. Als er das bemerkte, stand der Mann hastig auf, um zu Sebas zu trotten.

Er passte so gar nicht zu den anderen Gästen. Zum einen mangelte es seiner Erscheinung gänzlich an Format und Würde. Seine Kleidung war das Einzige, worin er den übrigen Anwesenden ähnelte, aber es wirkte mehr, als würde sie ihn tragen, als andersherum. Es war schon beinahe komisch, wie sehr er einem herausgeputzten Clown glich.

»Sebas, Sir …«

»Was gibt es, Zach?«

Zachs unterwürfige Art zu sprechen sorgte bei den anderen Gästen für Stirnrunzeln. Bei einem solchen Tonfall rechnete man zwangsläufig damit, dass er sich jeden Moment gierig die Hände rieb.

Sebas dagegen verzog keine Miene.

»Auch wenn es sich für mich als einfachen Handlanger nicht schickt, das zu sagen, würde ich davon abraten, um diese Zeit aufzubrechen.«

»Weil eine nächtliche Kutschfahrt schwierig ist?«

»Nun, das und ich … ähm … brauche ein, ich meine … ich muss mich auf die Reise vorbereiten, Sir.« Zach kratzte sich am Kopf. Zwar sah er frisch gewaschen aus, trotzdem verteilte er, was immer er dabei löste, um sich herum. Das Stirnrunzeln der Umsitzenden wurde tiefer. Ob er es bemerkte oder nicht, er kratzte sich noch heftiger.

»Allerdings glaube ich, dein Vorschlag wird der jungen Dame nicht gefallen. Nein, angesichts ihrer Laune bezweifle ich, dass sie es sich anders überlegen wird«, erklärte Sebas mit stählernem Blick. »Uns bleibt also keine andere Wahl, als abzureisen.«

»Also, ja …« Zachs Blick zuckte auf der vergeblichen Suche nach einer Ausrede umher und er verzog das Gesicht.

»Selbstverständlich können wir nicht sofort aufbrechen. Ich muss erst noch das Gepäck der jungen Dame in die Kutsche laden, dafür benötige ich etwas Zeit. Bitte triff währenddessen die notwendigen Vorbereitungen.«

Als er wieder das Wort ergriff, trat ein verschlagenes Funkeln in den Blick des ärmlich wirkenden Mannes, aber Sebas ignorierte es einfach – immerhin verlief alles nach Plan. »Wann werden wir dann abreisen?«

»Hm. Wie wäre es in zwei oder drei Stunden? Länger lässt es sich vermutlich nicht aufschieben, da es auf den Straßen stockfinster sein wird.«

Da war wieder dieses berechnende Funkeln. Und auch dieses Mal gab sich Sebas alle Mühe, es zu ignorieren. Zach leckte sich mehrmals die Lippen, bevor er sagte: »He he. Das wird wahrscheinlich ausreichen.«

»Gut. Dann mach dich bitte bereit.«

Nachdem Zach gegangen war, wedelte Sebas durch die Luft – er fühlte sich schmutzig, als würde Dreck an ihm kleben.

Dank seiner stoischen Haltung schaffte er es, den Drang zu seufzen niederzuringen. Er konnte sich nicht dazu überwinden, niedere Wesen zu mögen. Seine Kameraden, beispielsweise Demiurge und Shalltear, fanden ein gewisses Vergnügen darin, mit ihnen zu spielen, aber Sebas wollte nicht einmal in ihrer Nähe sein.

Innerhalb der Großen Gruft von Nazarick herrschten die einhelligen Meinungen: »Wer nicht aus Nazarick stammt, ist ein niederes Wesen« und »Abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen sind Menschliche und Halbmenschliche Schwächlinge, die man zerquetschen sollte«. Für Sebas, der den Worten seines Schöpfers: »Man kann sich nicht anmaßen, stark zu sein, wenn man die Schwachen nicht beschützt«, zustimmte, war diese Denkweise unbegreiflich. Wenn er allerdings mit jemandem wie Zach zu tun hatte, war er geneigt, zu denken, die grundlegenden Ansichten von Nazarick wären vielleicht doch gerechtfertigt.

»Du liebe Zeit. Und angeblich sind die Menschlichen so wunder-volle Kreaturen …« Sebas strich sich über den penibel gestutzten Bart und überlegte, was er als Nächstes zu tun hatte.

Der Plan schritt gut voran, aber er musste sich mit dem Aufseher treffen. Noch während er nachdachte, bemerkte er einen näher kommenden Mann.

»Sieht so aus, als würdet Ihr in arger Bedrängnis stecken, wenn eine sofortige Abreise nötig ist.« Er war vermutlich in seinen späten Vierzigern. Weiße Strähnen durchzogen das ordentlich geschnittene schwarze Haar. Dank seines Alters und eines gesunden Appetits hatte er etwas Speck angesetzt. Sein gepflegtes Auftreten verlieh ihm ein kultiviertes Aussehen und seine Kleidung war protzig, aber seinem hohen Stand angemessen.

»Wenn das nicht Baldo ist. Sir.« Sebas verneigte sich leicht.

Baldo hielt ihn wohlwollend zurück. »Ach, nein, nein. Bitte, nicht so förmlich.«

Dieser Mann, Baldo Lauffray, war ein Händler, der einen großen Teil der Nahrungsversorgung der Stadt kontrollierte, und hatte sich bereits mehrmals mit Sebas unterhalten. Während Kriegszeiten war er für die Festungsstadt E-Rantel von unschätzbarem Wert, was ihn zu einem der mächtigsten Händler machte.

Sobald man über Zehntausende Soldaten verfügte, wurde es zu teuer und mühsam, jeden seinen eigenen Proviant mit sich führen zu lassen. Aus diesem Grund war es Standardvorgehensweise des Königreichs, die Truppen bei Ablösungen und Versetzungen nur mit dem Notwendigsten zur Stadt marschieren zu lassen und sie dann vor Ort zu versorgen. Darum genossen Händler für Nahrung und Waffen hier, anders als in anderen Städten, einen enormen Einfluss.

Ein Mann, den man zu den mächtigsten in E-Rantel zählen konnte, sprach niemanden an, nur weil man im selben Speiseraum aß. Es musste einen Grund geben. Aber auch darauf hatten Sebas und die anderen gehofft.

»Sebas, der ist ein Taugenichts.«

»Ist das so?« Zum ersten Mal gestattete er sich ein Lächeln und antwortete höflich in einem Tonfall, der deutlich machte, er wusste genau, wer gemeint war.

»Man kann ihm nicht vertrauen. Ernsthaft, ich begreife nicht, warum man so jemanden anheuert.«

Sebas suchte angestrengt nach einer angemessenen Antwort. Er konnte auf keinen Fall offenlegen, warum er Zach in seine Dienste genommen hatte. Aber zu behaupten, er hätte es getan, ohne den Ruf des Mannes zu kennen, würde Baldo nur an seiner Menschenkenntnis zweifeln lassen und damit seine Meinung von ihm beeinträchtigen. Sie hatten beschlossen, diese Stadt zu verlassen, aber er durfte seiner Beziehung mit Baldo nicht schaden. Er könnte irgendwann noch nützlich sein.

»Das mag sein, aber keiner war so überzeugend wie er. Möglicherweise lässt sein Charakter etwas zu wünschen übrig, aber sein Enthusiasmus beeindruckte die junge Dame«, sagte er schließlich

Baldo lächelte unbeholfen. Vermutlich war sie gerade in seiner Gunst gefallen. Nun, aus diesem Grund war sie dabei, trotzdem fühlte sich Sebas ein wenig unwohl dabei, sie in diese unvorteilhafte Rolle zu drängen.

»Es steht mir nicht zu, darum ignoriert, was ich als Nächstes sage, aber denkt Ihr nicht, Ihr solltet Euch bei Eurem Herren beklagen?«

»Damit könntet Ihr recht haben, aber wenn ich daran denke, wie viel Dank ich dem Vater der jungen Dame schulde, dann …«

»Nun, Loyalität hat etwas für sich …«, murmelte Baldo und tastete sich dann vorsichtig weiter. »Dürfte ich in diesem Fall anbieten, Euch jemanden zur Seite zu stellen, dem ich vertraue?«

»Das wird nicht nötig sein.« Es klang höflich, aber die Ablehnung war deutlich.

Baldo musste seine Entschlossenheit spüren und versuchte es anders. »Seid Ihr sicher? Ich glaube wirklich, Ihr solltet einen richtigen Wächter haben. Bis zur Hauptstadt ist es ein beachtlicher Weg. Und anders als im Kaiserreich sind die Straßen des Königreichs nicht sicher. Ich kann Euch mit einem ziemlich vertrauenswürdigen Söldner bekannt machen.«

Die Adeligen, die in den Herrenhäusern entlang der Straßen residierten, boten Schutz im Austausch für Wegzoll. Es war ihr gutes Recht, eine Entlohnung zu verlangen. Allerdings ging es ihnen häufig nur ums Geld und der gebotene Schutz war seinen Preis nur selten wert. Aus diesem Grund fielen Reisende oft Angriffen von diebischen Söldnern und Banditen zum Opfer.

Dank der Bemühungen der Goldenen Prinzessin, etwas gegen diese Missstände zu unternehmen, patrouillierten auf den Straßen auch Sicherheitskräfte, die direkt dem König unterstanden. Aber sie waren nicht besonders zahlreich und man konnte unmöglich sagen, wie effektiv sie waren. Einmischungen durch die Adeligen, die ihre Rechte bedroht sahen, halfen ebenso wenig. Daher bestand auf den Straßen nur wenig staatlicher Schutz.

Aus diesem Grund kümmerten sich die Händler in der Regel selbst darum, indem sie Abenteurer anheuerten oder eine Gruppe Söldner, der sie vertrauten. Jemand in Baldos Position kannte bestimmt viele äußerst fähige und vertrauenswürdige Söldnertruppen. Aber Sebas konnte dieses Angebot nicht annehmen.

»Bestimmt könnt Ihr das. Allerdings reist die junge Dame nicht gern mit großem Gefolge. Ich muss mein Möglichstes tun, um ihren Wünschen zu entsprechen.«

»Seid Ihr sicher?« Verlegen verzog Baldo das Gesicht zu einer übertriebenen Grimasse, wie ein Erwachsener, der genug von den Faxen eines Kindes hatte.

»Vergebt mir, dass ich Euer wohlgemeintes Angebot nicht annehmen kann.«

»Ach, macht Euch deswegen keine Gedanken. Um ehrlich zu sein, würde ich Euch gern einen Gefallen tun. Wenn das nicht möglich ist, möchte ich zumindest einen bleibenden Eindruck hinterlassen.«

Die Tochter eines reichen Händlers aus einer gewissen Stadt des Kaiserreichs und ihr Diener – das war der Deckmantel, unter dem sie in dieses Gasthaus gekommen waren, und sie erweckten den Eindruck, über die Mittel zu verfügen, die man bei einer derart wohlhabenden Familie erwarten würde. Baldo wollte den reichen Vater beeindrucken.

Sebas schenkte der Beute, die ihm gerade in die Falle gegangen war, ein mildes Lächeln. »Ich werde meinem Herrn von Eurer Freundlichkeit berichten.«

In Baldos Augen blitzte etwas auf, aber bereits einen Moment später verbarg er es wieder. Normalen Leuten wäre diese Veränderung nicht einmal aufgefallen, wie das Funkeln eines Sterns, aber es war mehr als ausreichend, um von Sebas bemerkt zu werden.

»Nun denn, wenn Ihr mich entschuldigen wollt, ich werde jetzt gehen. Die junge Dame erwartet mich«, sagte er genau in dem Moment, als Baldo den Mund öffnete, um ihn weiter hinzuhalten.

Da er bekommen hatte, was er wollte, betrachtete Baldo einen Augenblick lang Sebas’ Miene, bevor er seufzend sagte: »Puh, na gut. Da kann man wohl nichts machen. Kommt mich doch besuchen, wenn Ihr das nächste Mal in der Stadt seid, Sebas. Meine Tür steht Euch jederzeit offen.«

»Gewiss. Ich freue mich bereits auf Eure Gastfreundschaft.« Während Sebas Baldo hinterhersah, murmelte er: »Ein faszinierend vielschichtiger Mann.«

Baldos Handeln war nicht allein von niederträchtiger Profitgier getrieben. Sebas spürte, er machte sich ernsthafte Sorgen um die einsame Frau und ihren Diener. Weil es Menschen wie ihn gibt, die versuchen, die Schwachen zu schützen, kann ich sie nicht verabscheuen. Ein wohltuendes, natürliches Lächeln umspielte seine Lippen.

Nach wiederholtem Anklopfen und einer Entschuldigung verneigte sich Sebas und betrat das Zimmer.

»Bitte vergebt mir, Meister Sebas.«

Während er die Tür hinter sich schloss, betrachtete er die junge, sich tief verbeugende Frau. Hätten die Gäste im Speiseraum das miterlebt, hätten sie sich gefragt, was in aller Welt hier vorging. Es war die verwöhnte junge Dame, die von ihren Launen getrieben einen solchen Aufruhr verursacht hatte.

Ihre Miene wirkte jetzt so gelassen, als wäre die ganze Hysterie nichts weiter als Einbildung gewesen. Ihr Verhalten wäre gegenüber jemandem von höherem Rang angemessen gewesen. Es handelte sich um dasselbe Gesicht und dieselbe Kleidung, aber die Frau darin schien vollkommen verändert. Und da war noch etwas eigenartig: Sie hielt sich eines ihrer Augen – das linke – zu. Im Speiseraum hatte sie das nicht getan.

»Du musst dich nicht entschuldigen, Solution. Du hast nur deine Pflicht erfüllt. Sonst nichts.«

Sebas ließ den Blick durch das hübsch eingerichtete, geräumige Zimmer schweifen. Selbstverständlich war es für ihn, der die neunte Ebene der Großen Gruft von Nazarick kannte, nichts Besonderes. Aber vielleicht war der Vergleich auch unangebracht.

Sie hatten nicht viel Gepäck und er entdeckte alles in einer Ecke des Zimmers. Sie waren bereit abzureisen. Sebas hatte ihre Habe nicht vorbereitet, also blieb nur eine andere Person.

»Ich hätte das erledigt. Es war nicht nötig, dass du dir diese Mühe machst.«

»Wovon redet Ihr? Ich kann Euch keinesfalls noch mehr Arbeit aufbürden, Meister Sebas.« Die Frau, die sich bis eben noch verneigt hatte – Solution Epsilon, eine der Kampf-Maids der Plejaden – schüttelte den Kopf.

»Ach? Aber ich spiele deinen Diener.« Jugendlicher Schalk schlich sich in sein faltiges Gesicht.

Beim Anblick seines von Herzen kommenden Lächelns konnte Solution nicht anders, als endlich verlegen zu grinsen. »Es stimmt, dass Ihr meinen Diener spielt, Meister Sebas, dennoch bin ich Eure Untergebene.«

»Ja, das stimmt. Dann nehme ich mir die Freiheit, dir als dein Befehlshaber einen Auftrag zu erteilen. Deine Arbeit ist getan. Bis zu unserer Abreise werde ich mich um alles Weitere kümmern, und bis es so weit ist, bitte ich dich, dich hier auszuruhen.«

»Nun gut. Danke.«

»Meisterin Shalltear hat vermutlich mittlerweile genug davon, in der Kutsche zu warten. Ich gehe und sage ihr, wann wir abfahren.« Sebas hob eines der am schwersten aussehenden Gepäckstücke mit Leichtigkeit an. Dann, als würde er sich plötzlich daran erinnern, fragte er: »Übrigens, verhält er sich wie erwartet?«

»Ja. Ganz genau wie erwartet.« Sie drückte auf ihr Augenlid.

»Welch ein Glücksfall. Und wie stehen die Dinge?«

»Im Moment unterhält er sich mit einem zwielichtig aussehenden Mann. Möchtet Ihr hören, was sie sagen?«

»Das wird nicht nötig sein. Ich bringe das Gepäck runter. Es reicht, wenn du mir nachher eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte gibst.«

»Zu Befehl.« Plötzlich verzog sie das Gesicht. Ihre Augenwinkel sanken herab, die Lippen zogen sich aufwärts. Es glich beinahe einem Lächeln, allerdings wäre diese Miene für ein menschliches Gesicht nahezu unmöglich gewesen. Vermutlich ließ es sich am passendsten beschreiben als Tonmaske, die eingedrückt worden war.

»Ach, Meister Sebas, ich habe mich etwas gefragt …«

»Was denn, Solution?«

»Wenn wir mit dem Mann fertig sind, darf ich mich dann um ihn kümmern?«

Sebas strich sich mit der freien Hand über den Bart und überlegte. »Hmm. Wenn wir Shalltears Erlaubnis kriegen, kannst du machen, was immer du willst.« Solution wirkte ein wenig enttäuscht. Um sie aufzumuntern, sagte er noch: »Keine Bange. Bestimmt darfst du wenigstens einen von ihnen haben.«

»Wirklich? Verstanden. Bitte fragt Meisterin Shalltear für mich. Wenn möglich, hätte ich gern den da.« Solution grinste von Ohr zu Ohr. Es war ein Strahlen, das jedem das Herz aufgehen lassen würde.

Sebas war ein wenig neugierig auf den Mann, der ihr diese Miene entlockte, allerdings empfand er auch etwas Mitleid für ihn. »Und was hat er zu dir gesagt?«

»Dass er es gar nicht erwarten kann, sich mit mir zu vergnügen. Darum möchte ich mich auch ein wenig mit ihm vergnügen.« Ihr Lächeln wurde noch strahlender. Sie freute sich wie ein Kind auf das, was folgen würde.

2

Es war ein miserables Leben.

Während er die Straße entlanghetzte, hallte dieser Gedanke immer wieder durch Zachs Verstand: Es war ein miserables Leben.

Das Leben eines Bauern in einem Dorf des Königreichs war alles andere als befriedigend.

Nach dem Bestellen der Felder rissen sich die Gutsherren die Früchte ihrer harten Arbeit unter den Nagel. Sechzig Prozent wären vielleicht verschmerzbar gewesen. Von den restlichen vierzig Prozent hätte man noch immer leben können. Aber bei achtzig Prozent stand man vor einem gewaltigen Problem. Man kam mit vierzig schon kaum über die Runden, also war es kein Wunder, dass sich das Leben mit nur zwanzig Prozent sehr schwierig gestaltete.

In einem Jahr, als man ihnen nur zwanzig Prozent gelassen hatte, war Zach erschöpft von der Feldarbeit nach Hause gekommen und seine Schwester war weg. Er war noch zu jung gewesen, um zu begreifen, was passiert war. Seine über alles geliebte kleine Schwester war verschwunden und seine Eltern suchten nicht einmal nach ihr. Inzwischen wusste er genau, was geschehen war. Sie hatten sie verkauft. Dank der Bemühungen der Goldenen Prinzessin kam das nicht mehr häufig vor, aber damals war der Kauf und Verkauf von Sklaven etwas Alltägliches gewesen.

Aus diesem Grund sah sich Zach jede Prostituierte, die er bezahlte oder an der er vorbeikam, ganz genau an. Natürlich bildete er sich nicht ein, ihr einfach so über den Weg zu laufen, und selbst wenn, hätte er nicht gewusst, was er sagen sollte. Trotzdem suchte er weiter nach ihr.

Die Wehrpflicht traf arme Familien besonders hart. Das Königreich trieb sämtliche gesunden jungen Männer in den Dörfern zusammen und schickte sie während der regelmäßigen Mobilmachungen in die Schlacht. Allein einen Monat auf ihre jungen Männer zu verzichten wirkte sich nachhaltig auf die Arbeitskraft eines Dorfes aus. Das bedeutete aber nicht, dass alle betroffenen Familien mit diesem Schicksal unzufrieden waren. Immerhin gab es so weniger Mäuler zu stopfen. Und da eingezogene Soldaten Verpflegung erhielten, hatten manche von ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben einen vollen Magen.

Das war aber auch der einzige Vorteil. Obwohl sie ihr Leben im Kampf riskierten, winkte keinerlei Entlohnung, außer ihnen gelang etwas Herausragendes. Tatsächlich kam es vor, dass die Soldaten einen unmöglichen Sieg errangen und dennoch keine Belohnung erhielten. Nur wahre Glückspilze bekamen eine. Und nach der Rückkehr in ihr Dorf mussten sie sich der hoffnungslosen Realität stellen, dass sich ihre Abwesenheit auf die Ernte des nächsten Jahres auswirken würde.

Zweimal hatte man Zach eingezogen, aber beim dritten Mal hatte sich sein Schicksal gewendet. Wie gewöhnlich hatte er während der Schlacht nur ein kleineres Scharmützel erlebt und schätzte sich glücklich, noch am Leben zu sein. Aber bei dem Gedanken, in sein Dorf zurückzukehren, zögerte er plötzlich. Als er die Waffe in seiner Hand betrachtete, kam ihm eine göttliche Eingebung: Anstatt nach Hause zu gehen, sollte ich versuchen, ein besseres Leben zu finden.

Aber als Bauer, der während der Märsche gerade einmal die grundlegendste Ausbildung erhalten hatte, standen ihm nicht viele Möglichkeiten offen. Er war nicht übermäßig kräftig und verfügte auch über keins dieser besonderen Talente, mit denen manche geboren wurden. Sein Wissen beschränkte sich auf Feldarbeitstechniken, welche Samen und Setzlinge man pflanzte und wann.

Also tat er das Einzige, das ihm blieb, nämlich die vom Königreich zur Verfügung gestellte Ausrüstung nehmen und desertieren. Er verschwendete keinen Gedanken daran, ob seine Flucht seinen Eltern Schwierigkeiten bereiten würde. Auch wenn sie es für das Überleben der Familie getan hatten, hatten sie seine kleine Schwester verkauft. Aus diesem Grund empfand er keine Liebe mehr für sie.

Für jemanden, der nichts über seine Umgebung wusste, war eine Flucht ohne Unterstützung nicht einfach, aber er hatte Glück, jemanden zu treffen, der ihm unter die Arme griff.

Sie waren Söldner. Zugegeben, als Bauer war Zach nicht sonderlich wertvoll für sie, aber der Krieg hatte sie viele Männer gekostet. Sie wollten so schnell wie möglich zu ihrer alten Stärke zurückkehren und nahmen fast jeden auf. Es war keine besonders ansehnliche Truppe, nur ein paar Mietschwerter, die sich nebenher als Banditen über Wasser hielten.

Über Zachs Leben danach gab es nicht viel zu berichten. Es war besser, etwas anstelle von gar nichts zu haben. Besser, zu stehlen, als bestohlen zu werden. Besser, jemand anders leiden zu lassen, als selbst zu leiden. So lebte er.

Er sah darin nichts Verwerfliches. Er bereute nichts. Jedes Mal, wenn er jemanden angriff und die Schreie hörte, bestätigte ihn das nur noch mehr.

Zach hetzte verzweifelt durch das Elendsviertel. Die untergehende Sonne tauchte die Welt um ihn herum in ein dunkles Rot.

Er war fast den ganzen Weg vom Gasthaus gerannt. Entsprechend war er außer Atem und Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Die Erschöpfung zwang ihn, kurz stehen zu bleiben, um zu Atem zu kommen, aber die Zeit war knapp, also trieb er sich weiter.

Und als er eng um eine Ecke schoss …

»Pass doch auf!« Jemand, der bis eben noch an der Ecke gestanden hatte, sprang murrend und begleitet von metallischem Rasseln aus dem Weg.

Das alles passierte so schnell, dass Zach völlig perplex war, und er gaffte den schwarzen Schatten nur an.

Es war eine hübsche Frau. Dank ihres schwarzen Umhangs verschmolz sie förmlich mit den Schatten, aber aus ebendieser Dunkelheit starrten ihn nun zwei neugierige lila Augen an.

Durch die Anstrengung war sein Geduldsfaden bereits ziemlich dünn, daher ließ er seiner Wut freien Lauf und schrie: »Das sollte wohl eher ich sagen! Pass gefälligst auf, wo du hingehst, sonst verletzt du dich noch!«

Eigentlich hatte er sie mit seinem Gebrüll einschüchtern wollen, sie zuckte aber nicht einmal zusammen, stattdessen grinste sie nur.

Das beängstigende Lächeln ließ ihn instinktiv zurückweichen. Ihm fehlte der Mut, das Messer aus seiner Brusttasche zu zücken. Er war eine Maus gefangen im Blick einer Löwin.

Das Rasseln, als sie zur Seite gesprungen war, musste von einer Rüstung gekommen sein. Eine Frau in Rüstung – ist sie eine Abenteurerin? Ich hab mich mit der falschen Person angelegt. Diese Gedanken gingen Zach zusammen mit einem Warnsignal durch den Kopf.

Auf keinen Fall wollte er sie unterschätzen, da »Frauen schwach waren«. Zach wusste, es gab schlagkräftige Abenteurergruppen, die ausschließlich aus Frauen bestanden. Das hatte der stärkste Mann seiner Söldnertruppe mal erwähnt.

Zach gehörte vielleicht zu einer Gruppe Mietschwerter, aber es wäre nicht übertrieben, zu sagen, er gehörte zu den schlechtesten Kämpfern der Truppe. Und so war ihm auch seine aktuelle Aufgabe zugefallen.

Noch während er sein Handeln bereute, brach ihm der kalte Angstschweiß aus. Beim Anblick seiner ängstlichen Miene wandelte sich das Furcht einflößende Grinsen der Frau zu einem zufriedenen Schmunzeln. »Hm, nun, wie auch immer. Ich habe sowieso keine Zeit. Aber wenn ich dich noch mal sehe, trete ich dir in den Hintern!«, erklärte sie ganz beiläufig, als sie sich an ihm vorbeischob.

Zach sah ihr neugierig hinterher und bemerkte, sie begab sich in einen Teil des Elendsviertels, in dem niemand lebte. Was wollte eine so schöne Dame um diese Zeit dort? Das weckte sein Interesse, aber er hatte Wichtigeres zu erledigen. Er riss sich los und rannte weiter.

Bald darauf bewegte er sich durch einen Bereich des Elendsviertels, dessen Straße beidseitig von heruntergekommenen Hütten gesäumt wurde. Hastig sah er sich um, ob ihm auch niemand folgte. Da die Sonne inzwischen tief stand, versank die Welt immer mehr in Dunkelheit, weswegen er besonders darauf achtete, dass sich niemand in den Schatten herumdrückte. Er hatte sich unterwegs schon mehrmals umgesehen, trotzdem musste er sich ein letztes Mal überzeugen.

Nach einem zufriedenen Nicken stand er vor einer bestimmten Tür und atmete durch, um dann dreimal anzuklopfen. Er wartete fünf Sekunden und klopfte weitere viermal.

Die Reaktion auf das Erkennungszeichen erfolgte sofort. Hinter der Tür knarrte Holz, dann wurde die Abdeckung des Gucklochs zur Seite geschoben. Ein Mann sah durch die Öffnung. »Ach, du bist’s.« Ohne auf eine Antwort von Zach zu warten, schob er die Öffnung wieder zu, im Schloss wurde ein schwerer Schlüssel gedreht und die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet.

»Rein mit dir.«

Ihm wehte der schwache Geruch von Verdorbenem entgegen. Dieser Ort war das genaue Gegenteil von dem, wo Zach eben noch gewesen war. Er nahm an, dass sich seine Nase schon daran gewöhnen würde, und schlüpfte hinein.

Sobald die Tür geschlossen war, wirkte die Hütte schummrig und beengt. In dem Raum, eine Mischung aus Ess- und Wohnzimmer, gab es einen einzelnen Tisch, auf dem eine einsame Kerze vor sich hin flackerte.

Ein schmieriger Mann, dem die Aura derer anhaftete, die Gewalt zu ihrem Beruf gemacht hatten, zog sich einen Stuhl zurück und ließ sich darauf fallen. Das Holz ächzte. Er war stämmig gebaut mit muskulöser Brust und was auf den Armen und im Gesicht von seiner Haut zu sehen war, war mit Narben übersät.

»Hey, Zach. Was ’n los? Was passiert?«

»Die Situation hat sich geändert … Sieht so aus, als würde sich un-sere Beute in Bewegung setzen.«

»Agh. Jetzt?«

Zach nickte und der Mann kratzte sich den Kopf unter dem langen, zotteligen Haar, wobei er murmelte: »So spät …? Is ja ’n grässlicher Zeitpunkt! Ach, und kannste nix machen?«

»Schwierig. Die Dame verlangt es.«

Zach hatte ihm bereits ein paarmal von dieser Frau berichtet und sein Blick verfinsterte sich. »Benutz deinen Kopp, alter Mann! Sag ihnen, nachts sin schaurige Banditen oder so auf den Straßen unterwegs. Komm schon! … Sogar ’n Trottel kann sich irgendwas einfallen lassen. Arrgh. Wie wär’s, wenn de eins der Kutschenräder kaputt machst? Dann können se erst morgen los.«

»Das geht nicht. Das Gepäck wird bereits verladen. Besser, wir bringen es hinter uns und erledigen es gleich.«

»Hm, ginge auch …« Der Mann stierte nachdenklich vor sich hin. »Wann soll’s losgehen?«

»In etwa zwei Stunden.«

»Bisschen sehr knapp, findste nich? Agghhh, was tun? Wenn wir uns jetz melden … Da gib’s nich viel Spielraum, also wird’s stressig, aber die sind auch ’ne fette Beute …« An seinen Fingern rechnete er den Zeitablauf nach.

Zach stand schweigend da und betrachtete seine eigenen Hände. »Die gehen mir gehörig auf die Nerven, scheiß reiche Leute …« Er dachte an die »junge Dame« und an ihre hübschen Hände. Niemand, der jemals auf dem Feld gearbeitet hatte, hatte so hübsche Hände. Die Hände eines Bauern waren vom kalten Wasser und dem Umgraben rissig – sogar seine Nägel waren verformt. Auf dem Land hatten alle solche Hände.

Zach wusste, die Welt war ungerecht, trotzdem …

Er verzog die Lippen zu einem Zähnefletschen. »Ich darf mit der Dame etwas Spaß haben, oder?«

»Aber erst bin ich dran. Und wir wollen Lösegeld für sie, also kannste nich zu hart rangehen. Keine schweren Verletzungen.« Ein vulgäres Grinsen zeichnete sich auf dem Gesicht des Mannes ab. Möglicherweise von dieser Lust getrieben, stand er auf. »Okay, legen wir los. Ich sag dem Boss Bescheid.«

»Geht klar.«

»Ich trommel zehn Jungs am üblichen Ort zusammen. Sorg du dafür, dass ihr in vier Stunden da seid. Wenn nich, kommen wir zu euch, also stell sicher, dass unsre Beute sich im Traumland befindet.«

3

Eine einsame Kutsche verließ die Festungsstadt. Sie war groß genug, um mehr als sechs Personen bequem zu befördern, und wurde von einem Gespann aus vier kräftigen Pferden gezogen.

Der Mond, der riesig am Himmel stand, sorgte für ungewöhnliche Helligkeit. Dessen ungeachtet war eine Kutschfahrt um diese Zeit alles andere als klug. Am schlauesten wäre es, Lampen anzuzünden, einen Aufpasser zu bestimmen und ein Nachtlager aufzuschlagen.

Die Nacht gehörte nicht den Menschen. Oder um es genauer auszudrücken, wo es kein Sonnenlicht gab, hatten Menschen nichts verloren. In den Schatten der Nacht schlichen Tiere, Halbmenschliche und allerlei Monster umher. Es gab viele Wesen, die im Dunkeln sehen konnten und bereit waren, Menschen anzufallen.

Die Insassen wurden auf ihrer Fahrt durch die gefährliche Nacht nur geringfügig durchgeschüttelt. Der Grund dafür war kein ausgeklügeltes Federungssystem, sondern die simple Tatsache, dass die Straße gepflastert war.

Die Straßen zu pflastern war ein Vorschlag der Goldenen Prinzessin gewesen, aber bislang waren lediglich der Teil, der direkt der Gerichtsbarkeit des Königs unterstand, und das Herrschaftsgebiet von Marquis Raeven, eines der sechs Großfürsten, fertiggestellt. Die anderen Adeligen behaupteten, einfacher zu befahrende Straßen könnten eine eventuelle Invasion durch das Kaiserreich unterstützen.

Zudem gab es Unstimmigkeiten, wer die Kosten für die Instandhaltung tragen sollte. Prinzessin Renners Vorschlag, die Händler zu Spenden aufzurufen, war abgeschmettert worden. Die Adeligen weigerten sich, da sie ihre Kontrollrechte der Straßen bedroht sahen. Als Ergebnis waren die Straßen zurzeit voller Schlaglöcher.

Dieser Teil jedoch unterstand dem König und war daher in gutem Zustand, wenn auch nicht perfekt. Plötzlich fuhr ein klirrender Ruck durch die Kutsche und jeder der Insassen spürte ihn.

Mit diesem Schlag endete auch die Unterhaltung, als wäre das Thema damit erledigt. Im Inneren saßen auf einer Seite Sebas und Solution. Ihnen gegenüber wurde Shalltear von zwei ihrer Lakaien und geliebten Gespielinnen, den Vampirbräuten, flankiert. Zach saß selbstverständlich auf dem Kutschbock.

Nach kurzem Schweigen ergriff Sebas das Wort. »Ich wollte Euch etwas fragen.«

»Hm? Mich was fragen? Was denn?«

»Es scheint, Ihr würdet Euch nicht besonders gut mit Meisterin Aura verstehen. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«

»Eigentlich finde ich sie nicht so schlimm«, murmelte Shalltear, wobei sie gelangweilt den perlweißen und fast zwei Zentimeter langen Nagel ihres kleinen Fingers betrachtete. In der anderen Hand hielt sie eine Feile, allerdings waren ihre Nägel bereits in perfektem Zustand und benötigten keine Pflege. Sie schien zum selben Ergebnis zu kommen und warf die Feile nach einer ihrer Vampirbräute.

Als sie dann ihre freien Hände auf die Brüste der Vampirinnen neben sich legen wollte, bemerkte sie die Mienen der anderen, verzog verlegen das Gesicht und hielt sich zurück.

»Es macht nicht den Anschein …«, fuhr Sebas fort.

Shalltear verzog das Gesicht, als hätte sie in etwas Bitteres gebissen. »Ich … ähm, ich … Okay. Ich ärgere sie einfach gern, weil mein Schöpfer, Lord Peroroncino, beschlossen hat, dass wir nicht miteinander auskommen. Nun, möglicherweise hat Lady Bukubuku Chagama dafür gesorgt, dass mich Aura auch nicht besonders leiden kann.«

Sie winkte ab, als wäre das ganze Thema uninteressant, und zum ersten Mal sah sie Sebas in die Augen. »Tatsächlich sind mein Schöpfer, Lord Peroroncino, und Auras Schöpferin, Lady Bukubuku Chagama, Geschwister. In gewisser Weise macht uns das zu Schwestern.«

»Geschwister … Ist das so?«

»Als Lord Peroroncino vor langer Zeit mit zwei anderen Höchsten Geschöpfen, Lord Luci★Fer und Lord NishikiEnrai, durch mein Herrschaftsgebiet ging, hat er sich mit ihnen darüber unterhalten.« Bei der Erinnerung an derart hohen Besuch wurde Shalltears Blick sehnsüchtig. »Und er sagte, Lady Bukubuku Chagama übe ein Handwerk aus, das man ›Synchronsprechen‹ nennt, dass sie ziemlich beliebt sei und ihre Stimme auch in ›Pornogames‹ zu hören sei. Manchmal, wenn Lord Peroroncino ein großartiges Werk kaufe, auf das er sich sehr gefreut habe, habe er das Gesicht seiner Schwester vor Augen, was ihn wiederum deprimiere.« Shalltear erklärte weiter, dass sie nicht wüsste, was das alles zu bedeuten hätte.

Sebas legte verwirrt den Kopf schräg. »›Synchronsprechen‹ …? Wenn ich mich recht entsinne, muss man dabei, wie der Name schon sagt, viel sprechen. Es umfasst aber allem Anschein nach auch Gesang. Sie sind als so etwas wie Barden.«

Shalltear kicherte. »Nein.«

»Nein? Wie meint Ihr das?«

»Von Lady Bukubuku Chagama selbst habe ich gehört, dass man dabei seine Stimme benutzt, um etwas eine Seele zu verleihen. Mit anderen Worten, es ist ihre Aufgabe, Leben einzuhauchen!«

»Oh! Ist das so? Was für ein peinliches Missverständnis meinerseits. Ich danke Euch untertänigst für die Aufklärung, Meisterin Shalltear.«

Sebas und die anderen hatten bei ihrer Erschaffung durch die Höchsten Geschöpfe nur ein gewisses Maß an Wissen bekommen. Ohne genauere Informationen kam es gelegentlich zu Missverständnissen, wenn es um so etwas wie die Berufe der von ihnen hoch verehrten Schöpfer ging.

Damit ihm dieser Fehler kein weiteres Mal unterlief, wiederholte Sebas mehrmals flüsternd die Bedeutung von »Synchronsprechen«.

»Mach dir deswegen keine Gedanken. Wichtiger ist, Sebas, wir reisen zusammen, du musst also nicht so steif sein.«

»Ist das so, Meisterin Shalltear?«

»Mich als Meisterin anzusprechen … Wir dienen beide den Höchsten Geschöpfen. Die Rangordnung existiert nur wegen der Aufgaben, die sie uns zugeteilt haben. Aber sonst gibt es zwischen uns keinen Unterschied.«

Das stimmte. Solution diente Sebas nur, weil man es ihr befohlen hatte. Im Grunde waren sie alle vom selben Rang.

»Verstehe, Shalltear. Dann erlaube ich mir, dich in Zukunft nur mit Namen anzusprechen.«

»Gut. Da wir gerade über Animositäten sprechen, was ist mir dir und Demiurge?«

Sebas schürzte die Lippen.

Als sie das sah, bedachte ihn Shalltear mit einem boshaften Blick und fuhr fort: »Ist ja nicht so, als hätten die Höchsten Geschöpfe beschlossen, ihr beiden sollt so sein. Was also ist deine Entschuldigung?«

»Tja … Ich verstehe es selbst nicht ganz. Es ist beinahe instinktiv, ich kann ihn einfach nicht ausstehen. Allerdings geht es ihm genauso, daher …«

»Hm … Ich habe niemanden, bei dem das der Fall ist. Vielleicht teilen wir die Gefühle der Höchsten Geschöpfe, die uns erschaffen haben.«

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

Sebas nickte gedankenschwer und Shalltear sah ihn einfach nur an. Dann, in Anbetracht seiner Aufgaben, beschloss sie, ihm eine weitere Frage zu stellen. »Wer ist auf der achten Ebene? Ich weiß von Victim, aber es gibt doch bestimmt noch andere.«

Bei diesem plötzlichen Themenwechsel hob Sebas den Blick ein wenig, betrachtete sie ernst und versuchte, ihre Beweggründe für diese Frage zu ergründen. Neben ihm veränderte sich Solutions Miene geringfügig, aber nicht genug, dass die anderen es bemerkt hätten.

»Als sich diese große Gruppe Narren den Höchsten Geschöpfen widersetzt und sie angegriffen hat, durchbrachen sie die siebte Ebene, schafften es aber nicht auf die neunte, wo sich die Höchsten Geschöpfe aufhielten. Das bedeutet doch, dass sie auf der achten Ebene abgefangen wurden, oder? Ich habe keine Erinnerungen daran, aber sie müssen eine beachtliche Streitmacht aufgeboten haben, daher muss es jemand ähnlich Mächtigen geben, der sich ihnen entgegenstellte. Aber niemand weiß, wer. Außer Albedo natürlich, aber auch nur, weil sie sich um alles kümmert. Es wäre seltsam, wenn sie es nicht wüsste.«

Sie sprach weiter, ohne auf den schweigenden Sebas zu achten. »Gewissermaßen verabscheue ich den Gedanken, dass sie mir etwas voraushat. Wer ist dieses streng geheime Wesen? Könnte es jemand sein, den Lord Ainz erschaffen hat?«

Touch Me war Sebas’ Schöpfer, Ulbert Alain Odle der von Demiurge und Warrior Takemikazuchi zeichnete für Cocytus verantwortlich. Aber Shalltear wusste nicht, wen der Oberste der Einundvierzig Höchsten Geschöpfe, Ainz – Momonga – erschaffen hatte. Es musste jemanden geben, darum war es nur logisch anzunehmen, dass sich derjenige auf der unbekannten achten Ebene aufhielt.

»Nein, ich glaube nicht. Ich weiß nicht viel, aber der Name desjenigen, der von Lord Ainz erschaffen wurde, lautet Pandora’s Actor. Er ist so mächtig wie ich und alle anderen Ebenenwächter und er bewacht die Tiefen der Schatzkammer.«

»Ich denke nicht, dass ich schon mal von ihm gehört habe.« Anders als Albedo hatte man ihr nicht das Wissen über alle Wesen innerhalb Nazaricks gegeben, daher hörte sie den Namen zum ersten Mal. Aber obwohl man einen Ring von Ainz Ooal Gown benötigte, um in die Schatzkammer zu gelangen, wäre es seltsam, sollte es dort keine Sicherheit geben – das galt besonders für den Teil, der weit im Inneren lag. Dort befanden sich die besten magischenItems von Ainz Ooal Gown und sie hatte gehört, es wären auch ein paar WorldItems darunter. Jemand, der den Obersten aller Höchsten Geschöpfe seinen Schöpfer nennen durfte, war die perfekte Wache für diesen Ort.

Es verletzte ein wenig Shalltears Stolz, dass es nicht ihre Aufgabe war, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es nicht zu ändern war, und für die Hauptverteidigungslinie auf den ersten drei Ebenen verantwortlich zu sein war genauso wichtig wie der Schutz der Schatzkammer. Abgesehen davon hat man mir einen bedeutenden Auftrag erteilt.

»Da man ohne Gildenring nicht zur Schatzkammer kommt, bin ich ihm noch nie persönlich begegnet.«

»Hmm …« Ihre Reaktion konnte man so auffassen, dass sie möglicherweise das Interesse verloren hatte, aber Sebas ließ sich nicht anmerken, ob es ihn kümmerte. »Also bleibt die achte Ebene letztendlich ein Geheimnis? Zu schade.«

»In der Tat. Wir dürfen dort nicht hin, also muss es dort auch was geben, oder?«

»Und was sollte das sein?«

»Vielleicht etwas, das uns angreifen würde?«

»Hm. Nicht schlecht, aber wie wäre es mit einer Todesfalle, die ohne Vorwarnung auslöst?«

»Ich bezweifle, dass sich Gegner, die in der Lage sind, in die unüberwindbare Große Gruft von Nazarick – erbaut von den Höchsten Geschöpfen und von uns ergebenen Wächtern gehütet – ein- und bis zur siebten Ebene vorzudringen, von was derart Simplem aufhalten …«

»Sollen wir vielleicht einen Blick hineinwerfen?« Shalltear lächelte wie ein Kind, dem ein guter Streich eingefallen war.

Zur Antwort zeigte ihr Sebas sein übliches Lächeln – nur etwas strahlender. »Du würdest Lord Ainz hintergehen?«

»Nein, nein, nur ein Scherz. Bitte, sieh mich nicht so finster an.«

»Shalltear, Neugier kann tödlich sein. Wir müssen uns gedulden, bis Lord Ainz Willens ist, uns mehr wissen zu lassen.«

»Du hast recht … Also, hat unsere Beute den Köder geschluckt?«

Sebas reagierte, ohne ein Wort über den plötzlichen Themenwechsel zu verlieren. »Ja, es war fast schon zu einfach. Wir müssen sie nur noch an Land ziehen.«

Nach einem knappen Nicken leckte sich Shalltear die Lippen, in ihren blutroten Augen leuchtete ein einzelnes Funkeln auf.

Sebas wusste sofort, was das zu bedeuten hatte, und beschloss, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, Solutions Bitte anzusprechen. »Was das angeht – ich habe eine Bitte an dich.«

»Was?«, murrte sie, aus ihren Fantasien der kommenden Ereignisse gerissen.

Sebas sprach beruhigend weiter: »Ich frage mich, ob du bereit wärst, Solution den Kutscher zu überlassen.«

»Er ist ein Lakai?«

»Ja, so was wie ein Laufbursche, würde ich sagen.«

Shalltear schloss die Augen und überlegte. Sie ging wohl verschiedene Möglichkeiten durch, bevor sie mitfühlend nickend antwortete: »Dann ist es in Ordnung. Er macht ohnehin nicht den Eindruck, als würde er besonders gut schmecken. Selbst wenn ich ihn bis auf den letzten Tropfen aussauge.«

»Danke. Wir sind dir für deine Großzügigkeit dankbar.«

»Danke, Meisterin Shalltear.«

»Ach, doch nicht dafür. Mach dir keine Gedanken.« Shalltear schenkte Solution ein überraschend freundliches Lächeln. Dann richtete sich ihr Blick auf Sebas. »Ich hoffe, das reicht, damit du meinen kleinen Ausrutscher eben vergisst.«

»Verstanden. Ich hätte ohnehin nicht angenommen, dass du wirklich etwas so Törichtes tun würdest. Ein guter Scherz.«

»Ja, ich weiß. Hättest du mir so was erzählt, würde ich vermutlich genauso denken. Ich würde kein Wort darüber verlieren, dich aber von einem meiner Lakaien beobachten lassen und wenn es so aussähe, als hättest du vor zu rebellieren, würde ich dir erst sämtliche Gliedmaßen ausreißen und dich dann in Ketten vor Lord Ainz zerren.«

»So was würde ich nie tun, Shalltear.«

»Nicht? Das lässt mich fast an deiner Loyalität zweifeln! Doch, du würdest ganz bestimmt so was tun!« Shalltear und Sebas lachten gemeinsam.

»Tja. Ich habe nun mal eine Schwäche für Schnuckelchen. Abgesehen davon wird es bestimmt Spaß machen, ihn Solution zu überlassen, nachdem wir fertig sind …«

»Und wie willst du sie dingfest machen, Shalltear? Paralysis? Hold Person?«

Vor ihrem Aufbruch nach E-Rantel hatte Ainz ihn damit beauftragt, »Menschen zu fangen, die Magie oder Kampfkünste einsetzen können, aber deren Verschwinden niemand bemerkt, Kriminelle zum Beispiel«. Als Teil des Plans war Sebas in die Rolle eines Dieners unter der Fuchtel der dümmlichen Tochter eines reichen Händlers geschlüpft. Sie hatten gewartet, bis ihre Beute, Zach, endlich den Köder geschluckt hatte.

Shalltears Aufgabe war es, die Beute zusammen mit dem Rest ihrer Herde einzufangen.

»Hach, ich hab keine Lust auf was so Umständliches. Lord Ainz sagte, solange ich sie ihm bringe, ist ihm egal, ob ich ihr Blut trinke und sie zu meinen Sklaven mache. Jeden einzelnen zu überprüfen ist zu viel Arbeit, ich werde sie also einfach alle aussaugen.«

Sebas nickte, ohne sein Verstehe auszusprechen. Aber wenn das ihr Plan war, weckte das bei ihm Bedenken. Aus diesem Grund konnte er nicht anders, als seine Zweifel anzusprechen. »In dem Fall wäre es vielleicht besser gewesen, Demiurge mit dieser Mission zu betrauen. Er kann Gegner manipulieren, wie Aura mit ihrem Atem …«

Demiurge beherrschte einen Skill, der Befehlsmantra hieß, eine mächtige Fähigkeit zur Gedankenkontrolle. Bei einem Auftrag wie diesem, bei dem es darum ging, ihre Gegner lebend gefangen zu nehmen, wäre er von unschätzbarem Wert.

»Hä?!« Plötzlich gab Shalltear ein erstaunlich tiefes Grollen von sich.

Mit einem Mal war die Atmosphäre im Inneren der Kutsche sehr drückend, begleitet von einer Kälte, die einem durch Mark und Bein ging. Ein Ruck ging durch das Gefährt, als würden es selbst die Pferde spüren. Die bleiche Haut der Vampirbräute neben Shalltear wurde sogar noch blasser und Solution zitterte am ganzen Körper. Sogar Sebas, der theoretisch so stark wie sie war, lief es kalt den Rücken runter.

Von allen Ebenenwächtern Nazaricks hatte sie den stärksten Drang zu töten. Die Abneigung war spürbar und machte deutlich, ihre Zankereien mit Aura waren im Grunde nicht mehr als kindisches Necken. Abhängig davon, wie es nun weiterging, könnte es zu einem Kampf kommen, den nur einer überleben würde.

Das dunkle Rot von Shalltears Iriden floss wie Blut in den weißen Teil ihrer Augen. »Sebas … könntest du das bitte wiederholen? Oder möchtest du, ein Drakonier, in deiner jetzigen Gestalt gegen mich kämpfen«, sie verdrehte ihre inzwischen vollkommen roten Augen, »bis zum Tod?«

»Ich habe mich falsch ausgedrückt. Bitte verzeih mir. Ich befürchte nur, deine Blutraserei könnte ausgelöst werden…«

Daraufhin schwieg Shalltear.

Sebas wusste, sie teilte seine Sorge.

Um das Spiel ausgeglichen zu halten, hatte man in Yggdrasil starken Klassen Schwächen und Nachteile gegeben. Einer von Shalltears vielen Nachteilen war, wenn sie zu viel Blut bekam, war sie ihrem Tötungstrieb gnadenlos ausgeliefert. Für einen sprunghaften Anstieg ihrer Kampffähigkeiten verlor sie die Kontrolle über sich – das war die Blutraserei.

Es bestand also die Gefahr, dass Shalltear Befehle ignorierte und alles angriff, was ihr im Weg stand. Ainz hatte sie durch Ausschlussverfahren für diese Mission ausgewählt. Albedo musste während seiner Abwesenheit die Große Gruft von Nazarick beschützen und von den beiden übrigen Hütern, Cocytus und Shalltear, konnte nur sie sich als Mensch ausgeben.

Ein paar Sekunden lang atmete sie tief durch. Vermutlich, um ihre Wut zu zügeln, aber vielleicht auch, um ihre aufkeimende Unruhe zu unterdrücken.

Sie holte noch einmal tief Luft und ihr Gesicht war wie eh und je – das eines bezaubernden, unschuldigen Mädchens. Auch ihre Augen hatten wieder ihre normale Farbe.

»Wie dem auch sei, da sie danach unsere Sklaven sind, ist es schneller, sie auszusaugen. Und es ist ja nicht so, als müssten wir sie lebend zurückbringen. Lord Ainz sagte, das ist in Ordnung. Und ich halte meine Blutraserei unter Kontrolle.«

Indem sie ihren Opfern sämtliches Blut aussaugten, konnten Vampire bedingungslos gehorsame Untergebene erschaffen. Normale Vampire konnten nur schwache Artgenossen mit geringer Intelligenz erschaffen, aber die von Shalltear waren mehr oder weniger auf demselben Niveau wie Menschen. Es gab Grenzen, wie viele sie entstehen lassen konnte, aber unter der Voraussetzung, dass es belanglos war, ob ihre Opfer lebten oder starben, war sie eine überlegene Jägerin.

»Ja, ich werde die Aufgabe, mit der mich Lord Ainz beglückt hat, hervorragend erfüllen und er wird Loblieder auf mich singen: ›Gut gemacht. Du bist meine wertvollste Sklavin.‹ Und dann sagt er noch: ›Du bist am würdigsten, um an meiner Seite zu stehen.‹«

»Entschuldige meine Gedankenlosigkeit.« Sebas meinte es ernst damit. Seine Worte waren abwertend gewesen und … »Mir war nicht klar, dass ich damit auch Lord Ainz’ Entscheidung, dich zu schicken, kritisiert habe – wie ungebührlich von mir. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«

Gerade als er »Und ihr auch« sagte und vor Solution und den Vampirbräuten den Kopf neigte, ging ein Ruck durch die Kutsche. Die Pferde wieherten.

»Sieht so aus, als hätten wir angehalten.«

»Ja …«

Shalltear hatte sich vorgestellt, wie glücklich ihr Herr über die erfolgreiche Vollendung ihrer Mission sein würde, aber jetzt grinste sie wie ein kleines Mädchen, das etwas Ungezogenes vorhatte. Sebas strich sich schweigend lächelnd über den Bart.

4

Die zehn Männer, die aus dem nahen Wald gekommen waren, umstellten die Kutsche in einem Halbkreis. Keine zwei trugen dieselbe Kleidung. Ihre Ausrüstung war nicht gerade die Beste, die man finden konnte, aber auch nicht heruntergekommen. Sie pflegten ihre Waffen.

Sie unterhielten sich darüber, was sie mit ihrer Beute anstellen sollten, welche Reihenfolge die beste wäre und dergleichen. Sie waren völlig ahnungslos. Sie hatten das schon unzählige Male getan – seltsamer wäre, wenn sie ausgerechnet dieses Mal nervös gewesen wären.

Zach sprang vom Kutschbock und ging zu den Männern. Vorsichtshalber hatte er noch die Zügel durchtrennt, womit eine Flucht unmöglich war. Zusätzlich war eine der Türen verkeilt – nur die der Gruppe zugewandte ließ sich öffnen.

Die Männer zogen ihre Waffen, damit die Insassen der Kutsche sie sehen konnten – eine wortlose Warnung, was geschehen würde, sollten sie sich nicht beeilen und herauskommen.

Wie zur Antwort öffnete sich langsam die Tür des Gefährts.

Im Mondlicht erschien eine wunderschöne Frau. Die Söldner – nein, die Banditen – grinsten sie lüstern und vulgär an. Ihre Freude stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben.

Einer unter ihnen war schockiert – Zach. Seine Überraschung ließ sich zusammenfassen in der Frage: Wer ist das? Er wusste es nicht. Auf keinen Fall hatte er die falsche Kutsche genommen. Diese Ungereimtheit stürzte ihn in tiefste Verwirrung und er bekam kein Wort heraus.

Als eine weitere Frau erschien, gekleidet wie die erste, wirkten ein paar der Männer verwirrt. Zach hatte ihnen gesagt, er würde ihnen eine völlig weltfremde, junge Dame und ihren betagten Diener bringen. Als dann jedoch ein drittes Mädchen auftauchte, das jung genug schien, um es als Kind zu bezeichnen, waren all ihre Zweifel belanglos.

Ihr feines, silbernes Haar glitzerte im Mondlicht. In ihren blutroten Augen lag ein bezaubernder Glanz. Die Banditen brachten kein Wort der Bewunderung hervor, stattdessen seufzten sie nur. Das bewies, im Angesicht wahrer Schönheit hatte nicht einmal animalische Lust bestand.

Ein unanständiges Lächeln huschte über Shalltears Züge, als sie bereitwillig auf die Männer zuging und sich in ihren faszinierten Blicken sonnte.

»Danke, dass ihr euch alle hier meinetwegen zusammengefunden habt. Und dürfte ich fragen, wer der Angesehenste unter euch ist? Ich würde gern verhandeln. Bist du es?«

Da alle Banditen einen bestimmten Mann unter ihnen ansahen, nahm sie an, sie hatte die gewünschte Information. Oder anders gesagt, jeder andere war entbehrlich.

»Hm? Verhandeln?« Der augenscheinliche Anführer erholte sich endlich vom Anblick dieser unvergleichlichen Schönheit und trat einen Schritt vor.

»Oh, entschuldige. Das war nur ein Scherz, um ein paar Informationen zu bekommen. Tut mir wirklich leid.«

»Wer zur Hölle bist …?«, flüsterte Zach und Shalltear sah ihn an.

»Du musst Zach sein. Ich überlasse dich wie versprochen Solution, würdest du also bitte nach da drüben gehen und warten?«

Ein paar der Männer sahen einander nach einer Erklärung suchend an, aber …

»Hey. Fürn Kind bist du ziemlich gut bestückt … Ooh, ich werd dir süße Schreie entlocken.«

Einer der Banditen, der zufällig vor Shalltear stand, griff nach ihrer für ihr scheinbares Alter beachtlichen Oberweite. Dann … fiel seine Hand zu Boden.

»Bitte behalte deine schmutzigen Finger bei dir.«