Paradise City - Zoë Beck - E-Book
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Paradise City E-Book

Zoë Beck

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Beschreibung

Deutschland in der nahen Zukunft. Die Küsten sind überschwemmt, weite Teile des Landes sind entvölkert, und die Natur erobert sich verlassene Ortschaften zurück. Berlin ist nur noch eine Kulisse für Touristen. Regierungssitz ist Frankfurt, das mit dem gesamten Rhein-Main-Gebiet zu einer einzigen Megacity verschmolzen ist. Dort, wo es eine Infrastruktur gibt, funktioniert sie einwandfrei. Nahezu das gesamte Leben wird von Algorithmen gesteuert. Allen geht es gut – solange sie keine Fragen stellen.

Liina, Rechercheurin bei einem der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenportale, wird in die Uckermark geschickt, um zu überprüfen, ob dort tatschlich Schakale eine Frau angefallen haben. Dabei sollte sie eigentlich eine brisante Story übernehmen. Während sie widerwillig ihren Job macht, hat ihr Chef einen höchst merkwürdigen Unfall, und eine junge Kollegin wird ermordet. Beide haben an der Story gearbeitet, die Liina versprochen war. Anfangs glaubt sie, es ginge um den Handel mit Gesundheitsdaten im großen Stil, doch dann stößt sie auf die schaurige Wahrheit: Jemand, der ihr sehr nahesteht, hat die Macht, über Leben und Tod fast aller Menschen im Land zu entscheiden. Und diese Macht gerät nun außer Kontrolle ...

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Seitenzahl: 303

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Zoë Beck

Paradise City

Thriller

Suhrkamp

Für Erika. Als ob alle Sterne lachten.

1

Die Luft ist kühler als in der Stadt, es sind nur dreiunddreißig, vielleicht fünfunddreißig Grad. Es riecht nach Wald. Sie hört einen Specht hämmern, einen Kuckuck rufen. Sie steht noch einen Moment einfach da und lauscht, hört andere Vögel, versucht, sie zuzuordnen. Ihr Gesang füllt die Stille. Liina weiß, dass sie der einzige Mensch weit und breit ist.

Eine Birke liegt quer über der Straße, rundherum einzelne Äste. Das letzte Sommergewitter ist eine Woche her, seitdem ist niemand diese Straße entlanggefahren. Über ihr rauscht es, sie sieht auf zu einem Schwarm blaugrüner Papageien. Das Rauschen verschwindet mit ihnen hinter den Baumwipfeln. Liina räumt erst die losen Zweige weg, will dann den Baum beiseiteschieben, packt mit beiden Händen einen dickeren Ast, zerrt daran. Der umgestürzte Baum bewegt sich ein paar Zentimeter, vielleicht eher Millimeter, mehr schafft sie nicht. Ein anderer Geruch breitet sich aus, ekelhaft süßlich. Fliegen schwirren davon, und Liina lässt von dem Baum ab und weicht zurück. Die verrottenden Überreste eines Wolfs. Sie stößt unwillkürlich einen Laut aus, den niemand hört, atmet durch, nimmt einen zweiten Anlauf und zerrt die Birke mit dem Kadaver darunter gerade weit genug beiseite, um mit dem eMobil daran vorbeischleichen zu können. Bevor sie aufsteigt, bleibt sie eine Weile im Schatten stehen und schließt die Augen, wartet, bis ihr Herz ruhiger schlägt. Zu viel Anstrengung tut ihr nicht gut. Ihr Oberteil ist durchgeschwitzt, die kurze Hose klebt an ihr. Sie setzt sich auf das Fahrzeug.

Unterwegs versucht sie, ihren Chef zu erreichen. Er antwortet nicht. Er wird wissen, was sie ihm sagen will: Sie versteht nicht, warum er sie in die Uckermark geschickt hat, um eine Geschichte zu überprüfen, die an Reizarmut kaum zu überbieten ist. Sie fühlt sich verarscht.

Wäre sie er, sie würde auch nicht antworten.

Eine halbe Stunde und einen Beinahezusammenstoß mit einem Reh später findet sie die kleine Ortschaft, in der sie ihre Kontaktperson treffen soll. Das Ortsschild ist abmontiert, nur das leere Gestänge begrüßt sie. Die grauen Häuser rechts und links sind verlassen, teilweise in sich zusammengestürzt. Zerbrochene Fensterscheiben, wo noch Fenster sind, mit Brettern verrammelte Türen, hinter denen es nichts mehr zu holen gibt. Die Vorgärten am Straßenrand sind überwuchert. In ehemaligen Garagenauffahrten blühen wilde Kräuter, Bäume wachsen aus Geräteschuppen. Von der Hauptstraße gehen keine Seitenstraßen ab. Sie muss einem Rudel Katzen ausweichen, weil sich die Tiere mitten auf der Straße sonnen und keinerlei Anstalten machen abzuhauen.

Liina hält vor der Dorfkirche und steigt ab. Es ist hier genauso still wie im Wald, nur Vogelgezwitscher, das Surren von fetten Bienen und Hummeln. Sie bleibt einen Moment stehen und sieht sich um. Der Schaukasten vor der Kirche ist leer, ein blauer Schmetterling, die Flügel so groß wie ihre Hände, landet für einen Herzschlag darauf. Die Kirchentür steht halb offen und sieht aus, als stehe sie immer halb offen. Sie hört Männerstimmen hinter der Kirche. Liina schiebt ihre Sonnenbrille ins Haar und ruft den Namen der Kontaktperson. Er ruft zurück: »Hier hinten!« Sie schiebt sich die Sonnenbrille zurück auf die Nase.

Hinter der Kirche ist der Friedhof, mit mehr Grasfläche als Gräbern. Seit zwei Jahrzehnten ist hier niemand mehr beerdigt worden. Ihn umgibt eine Steinmauer, die an mehreren Stellen bereits einsehen musste, dass die Bäume, die innen wie außen wachsen, stärker sind. Drei Männer mittleren Alters sitzen auf einer grün gestrichenen Holzbank in der Mittagshitze und blinzeln in die Sonne. Liina lächelt und streicht ihr Top glatt, zupft an den Shorts, fährt sich mit den Fingern durchs Haar, so dass die Männer es mitbekommen. Sie sollen glauben, dass es der Frau aus der Hauptstadt wichtig ist, was sie von ihr denken.

Die drei sind jünger, als sie dachte, das sieht sie erst, als sie vor ihnen steht. Vielleicht sind sie in ihrem Alter, Anfang dreißig. Ihre Körperhaltung lässt sie allerdings älter wirken – wie sie gekrümmt dort sitzen und ächzend die Beine ausstrecken.

Sie heißen Karl, Fritz und Igor, und es ist Igor, der behauptet, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie eine Frau vor zwei Tagen von einem Schakal zerfetzt worden ist. Igor hat es damit in die staatsweiten Nachrichten geschafft und ist so zum wohl berühmtesten Bewohner der Uckermark aufgestiegen. Er zeigt ihr die Kratzer an seinem Unterschenkel, die von dem gefährlichen Tier stammen sollen, aber bereits deutlich abgeheilt sind, was er bedauert. Wenigstens hat er noch Fotos davon, die er ihr zeigen kann. Auf einem sind oberflächliche Kratzer zu sehen, die genauso gut von einer Gabel stammen könnten. Ein dünner Blutstropfen scheint aus einem der Kratzer hervorzusickern. Auf einem anderen ist das Bein mit einem weißen Verband dick umwickelt, er sitzt auf derselben Bank wie jetzt und hält strahlend beide Daumen hochgereckt in die Kamera. »Der Star der Uckermark«, nennt ihn sein Freund Fritz, und Karl zaubert aus einer altmodischen Kühltasche unter der Bank ein paar Bierflaschen hervor. Liina lehnt höflich bedauernd ab. Etwas anderes bieten sie ihr nicht an.

Die Männer denken, dass sie Karin heißt und Zoologin ist. Sie lächelt pausenlos, nicht zu selbstbewusst, eher etwas schüchtern, während sie sich die Geschichte mit dem Schakal noch einmal erzählen lässt. Der Wortlaut ist nahezu identisch mit ihrem Vorgespräch am Morgen und entspricht dem, was Igor in den Nachrichten aufgesagt hat. Liina zeigt ihm Bilder von Wölfen, Kojoten, Luchsen, Schakalen und sogar Hyänen und will wissen, welche Sorte Schakal es denn war. Nach einigem Zögern, Blinzeln und Augenreiben zeigt Igor selbstbewusst auf das Foto eines etwas zerrupft aussehenden Fuchses. Mit Kennermiene nennt er ihn »Goldschakal«, und Liina nickt feierlich.

Man einigt sich darauf, wie schrecklich der Vorfall war und dass dringend etwas gegen die Wildtiere hier draußen getan werden muss, Wildschweine, Wölfe, auch Bären gebe es wieder, was komme als Nächstes. Liina gibt vor, die Bedenken der Männer sehr ernst zu nehmen, und versichert ihnen, dass sie als Zoologin in Regierungskreisen einen guten Ruf genießt und deshalb die Probleme der Region bei nächster Gelegenheit ansprechen wird. Karl, Fritz und Igor leeren ihre Bierflaschen und berichten dabei von ihrem Alltag als hartem Überlebenskampf, drei Männer ganz allein im Dorf, die nächsten Menschen zehn Kilometer entfernt, alles schwierig, aber man kommt klar und will nicht jammern, irgendjemand muss ja die ländlichen Strukturen aufrechterhalten, auch wenn es die Regierung kritisch sieht und auf Umsiedlung drängt. Die Zoologin aus der Hauptstadt zeigt sich tief beeindruckt von so viel Unabhängigkeit.

Liina spielt Karin wie all ihre Rollen perfekt bis in die kleinsten Gesten. Manchmal kommt es ihr vor, als sähe sie sich selbst wie durch eine Kamera. Du solltest Schauspielerin werden, sagte ihre Schwester früher manchmal zu ihr, wenn sie sie durchschaute.

Liina lässt Karins Lächeln auf Höhe der Kirche, kaum dass sie außer Sichtweite ist, sterben. Sie setzt sich auf das eMobil und fährt zurück nach Prenzlau. Wieder versucht sie, ihren Chef anzurufen, bekommt nicht einmal ein Kontaktzeichen. Der Empfang in dieser entvölkerten Gegend ist alles andere als optimal. GPS, Galileo, alles funktioniert nur mit Unterbrechungen, die Geschwindigkeit der Datenübermittlung – sofern etwas übermittelt wird – ist zum Weinen.

Gestern sagte er ohne Vorwarnung: »Es gibt eine Planänderung, du musst in die Uckermark. Hier sind die Infos, du wirst mit zwei Personen reden, aber nimm dir Zeit, vielleicht ist noch mehr an der Sache dran.«

Natürlich hatte Liina längst von der Meldung gehört. Sie hält sie für Regierungspropaganda, um irgendein Programm für den Tierschutz streichen zu können, weil es zu teuer geworden ist. Die großen Umweltziele werden nicht angetastet, aber die kleineren Maßnahmen lassen sich nach und nach ausdünnen. Und es gibt noch ganz andere Interessen, die hinter einer solchen Meldung stehen könnten: Menschen, die in Randlagen wohnen, sollten Waffen mit sich führen dürfen, fordern einige. Das Jagen und Schießen von Wildtieren müsse wieder erlaubt werden.

In diesem Jahr gab es bereits mehrere Geschichten dieser Art. Einmal hieß es, mehrere Wildschweinhorden hätten vor München mindestens zehn Hektar Ackerland komplett zerstört und dadurch für empfindliche Ernteeinbußen gesorgt. Eine oberflächliche Recherche hat allerdings gezeigt, dass in Wirklichkeit der Boden nicht ausreichend gewässert worden war – was in den Zuständigkeitsbereich des Landwirtschaftsministeriums fällt. Von dort kam die Wildschweinmeldung. Vor zwei Monaten tötete angeblich ein Bär mehrere Hühner eines Bauernbetriebs. Dabei waren die Hühner den nicht eingehaltenen Hygienebestimmungen zum Opfer gefallen. Abgesehen davon sind Tierfarmen so gut gesichert, dass kein Bär auch nur in ihre Nähe kommt. Der für Tierschutz zuständige Minister hält es aber für kontraproduktiv, der Öffentlichkeit die wahren Hintergründe mitzuteilen.

Natürlich ist auch an der Schakalgeschichte kein Wort wahr. Liina versteht nicht, warum ihr Chef sie mit dieser Sache langweilt und nicht jemanden mit deutlich weniger Rechercheerfahrung. Offenbar will er sie eine Weile aus dem Weg haben. Oder es soll ein Denkzettel sein. Sich unterzuordnen ist nicht unbedingt ihre größte Stärke.

Sie nimmt exakt denselben Weg zurück, um nicht wieder Hindernisse wegräumen zu müssen oder am Ende noch in einem Schlagloch zu landen. Ihr gefällt es, durch die Sonnenstrahlen zu gleiten, die durch die Bäume brechen. Erst kurz vor Prenzlau lichtet sich der Wald wieder, wie vor jeder größeren Ortschaft sind erst Solaranlagen und Windräder, dann Gewächshäuser, Felder und Tierfarmen zu sehen.

Liina gibt das eMobil beim Verleih am Bahnhof zurück. Die Hitze macht ihr heute noch mehr zu schaffen als sonst. Ihr ist etwas schwindelig, und sie versucht, im Schatten zu bleiben. In einem Shop lässt sie sich Wasser nachfüllen, danach setzt sie sich im Stadtpark an den Fuß des Seilerturms und trinkt langsam ihre Flasche aus. Sie lehnt sich an die Mauer und schließt die Augen. Fünf Minuten Ruhe, mehr will sie gar nicht.

Dann steht sie auf und wird wieder zu Karin, der Zoologin, die wissen will, warum ein Schakal einen Menschen anfällt. Sie geht zum Gesundheitszentrum, in dem Dr. Ortlepp, die Ärztin, die die Tote untersucht hat, ihre Praxis hat.

Das Wartezimmer der Ärztin ist leer. Der medizinische Fachangestellte sagt ihr, dass es trotzdem eine Weile dauern kann, weil gerade Telesprechstunde ist.

Liina setzt sich so, dass sie aus dem offenen Fenster auf den Uckersee schauen kann. Mitten im Raum steht ein Ventilator, Klimaanlagen sind schon seit Jahren verboten, sie erinnert sich nur dunkel aus Kindertagen an sie. In den Tisch vor ihr ist ein Display eingelassen. Es zeigt Informationen zu Impfungen, Ernährung und Nahrungsergänzungsmitteln, Schwangerschaftsverhütung und Schwangerschaftsabbrüchen, zum Gesundheitschip und warum man ihn sich implantieren lassen soll. Außerdem kann man sich eine Übersicht auf sein Smartcase laden, auf der die wichtigsten Erste-Hilfe-Maßnahmen erklärt sind. Ein Krug mit Wasser steht auf einem zweiten Tisch, daneben saubere Gläser. Liina nimmt sich eins, füllt es auf. Der MFA sieht zu ihr rüber, lächelt und scheint zu sagen: Trinken ist wichtig, besonders bei der Hitze. Sie ist froh, dass er es nicht laut sagt. Er ist knapp über fünfzig, wirkt aber so viel jünger und gesünder als die drei Männer auf der Friedhofsbank. Freundlicher und intelligenter außerdem. Liina nickt ihm zu, trinkt das Glas in einem Zug leer, macht sich eine Notiz: Waffenlobby checken? Dann löscht sie die Notiz. Die Geschichte interessiert sie nicht. Die Geschichte ist keine Geschichte. Sofort regt sich aber ihr schlechtes Gewissen, und sie gibt die Notiz erneut ein.

Wieder überkommt sie Müdigkeit. Sie will jetzt nicht einschlafen, aber wenig später schreckt sie verwirrt auf und muss sich erst einmal orientieren. Sie sieht zu dem MFA, der sie nicht zu beachten scheint. Liina richtet sich auf, nimmt das Smartcase und sieht sich den Film an, den sie mit der Brillenkamera von ihrem Gespräch mit Igor gemacht hat. Die Qualität ist einwandfrei, alle drei sind gut zu erkennen. Wie Igor beherzt auf den Fuchs deutet: Besser kann man es sich nicht wünschen. Liina nimmt die Sonnenbrille, die sie sich in die Haare geschoben hat, und steckt sie in den Ausschnitt ihres Tops.

Sie konzentriert sich auf ihre Rolle. Sie muss Karin spielen, weil sonst niemand mit ihr reden würde. Niemand spricht freiwillig mit den »Fanatikern« von der »Wahrheitspresse«, das gibt nur Ärger. Die staatlichen Nachrichtenagenturen beherrschen die Medienlandschaft, unabhängiger Journalismus wird von den offiziellen Stellen möglichst in Verruf gebracht, natürlich mit dem Vorwurf, alles andere als unabhängig zu sein: Die Finanzierung ist nur noch durch private Geldspenden teilweise aus dem Ausland möglich. Natürlich zahlt niemand für Nachrichten. Die meisten Leute scheint es nicht zu interessieren, ob wirklich stimmt, was berichtet wird. Es lügen doch sowieso alle. Wir können es ohnehin nicht ändern. Wozu im Dreck wühlen, wenn es uns doch gut geht.

Der Mensch glaubt sowieso nur, was er glauben will.

Der MFA ruft sie auf und weist ihr den Weg ins Behandlungszimmer.

»Dr. Müller«, sagt die Ärztin zu Liina und erhebt sich halb.

Liina nickt und lächelt und streckt die Hand aus. »Karin Müller«, sagt sie, lässt den Doktor weg, als fände sie den Titel unnötig, quasi unter Kolleginnen. »Freut mich sehr, Dr. Ortlepp, und danke, dass Sie sich die Zeit nehmen.«

Die Ärztin setzt sich wieder, deutet auf den Platz vor ihrem Schreibtisch. Sie faltet die Hände, zieht die Augenbrauen hoch und schnauft. »Was kann ich für Sie tun?« Sie sieht erschöpft aus. Und als wolle sie am liebsten sofort nach Hause. Vielleicht liegt es an der Hitze. Die Frau geht auf die sechzig zu. Sie trägt das Haar kurz und bemerkenswert mahagonifarben, ihre Augen sind braun. Keine Brille, ein klein wenig Augen-Make-up. Praktische Kurzarmbluse in hellblau, praktische weite, weiße Stoffhose. Der MFA trägt dieselbe Farbkombination.

»Wir hatten ja bereits gesprochen. Ich wollte Ihnen ein paar Fragen zu den Schakalbissen …«

»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen«, unterbricht Dr. Ortlepp.

Liina hat mit Abwehr gerechnet, sie nickt verständnisvoll. »Ich möchte nichts über die Patientin wissen, mich interessiert nur, ob es sich wirklich …«

»Ich habe die Frau gar nicht untersucht. Deshalb kann ich Ihnen nichts sagen. Ich war nicht dort.«

»Oh, aber in unserem Vorgespräch …«

»Sie haben gefragt, ob Sie vorbeikommen können, weil ich in der Nacht Notdienst hatte. Ich habe Ja gesagt. Sie haben mich nicht gefragt, ob ich die Frau untersucht habe.«

Liina reißt sich zusammen, bemüht sich, in der Rolle zu bleiben. Dr. Ortlepp mauert, sie lügt, aber Liina ist noch nicht klar, warum. Sie macht »Ah …«, nickt, überlegt, wie sie weiter vorgehen soll.

Die Ärztin nimmt ihr die Entscheidung ab, redet in belehrendem Tonfall weiter. »Notdienst auf dem Land bedeutet: Man ist für ein riesiges Gebiet zuständig, das man unmöglich allein abdecken kann. Es gibt zwar Notfallpersonal an verschiedenen Außenposten, die näher dran sind, aber ich bin die einzige Ärztin. Es kann passieren, dass alle paar Minuten eine Meldung reinkommt. Nicht wenige nutzen den Dienst, weil sie kein Krankenhaus und kein Gesundheitszentrum in der Nähe haben, oder weil sie die Telesprechstunde verpasst haben.«

»Das muss schrecklich anstrengend für Sie sein.« Liina nickt. Die Ärztin will erst mal Verständnis. Ein wenig Mitleid. Allgemeines Lob. »Aber auch großartig, dass Sie das machen. Und dass es technisch möglich ist, auf diesem Weg alle zu versorgen. Wie läuft denn so ein Notruf genau ab?«

»Ganz oft sind es, wie gesagt, keine echten Notrufe. Jemand pingt mich an und streamt die Situation. Ich sehe es mir auf dem Monitor an und entscheide, ob die Person zu mir kommen muss, ob es reicht, ihr einfach nur etwas zu verordnen oder einen Ratschlag zu geben, oder ob besser jemand von einer nahegelegenen Notfallstation einrückt. Das geschieht dann bei den echten Notfällen. Ich habe vor zwei Tagen den freiwilligen Sanitäter von der Station in Brüssow informiert. Er sollte die Erstversorgung und den Transport hierher übernehmen.«

»Dann haben Sie die Frau also später untersucht?«

»Nein, sie war schon tot, als der Sanitäter eintraf. Sie wurde vermutlich direkt in die Rechtsmedizin gebracht. Ich hatte gar nichts damit zu tun.«

»Konnten Sie die Bisswunden sehen? Waren es wirklich Bisswunden?«

Die Ärztin sieht aus dem Fenster. »Das ließ sich nicht erkennen.«

Liina nickt enttäuscht. »Kann ich mit dem Sanitäter sprechen? Oder haben Sie vielleicht den Namen der Toten?«

Die Ärztin zögert.

Liina winkt ab. »Datenschutz. Natürlich.«

Dr. Ortlepp zeigt auf Liinas Ausschnitt. »Wie kommen Sie zurecht?«

Einen Moment lang glaubt Liina, aufgeflogen zu sein. Das Kameraauge auf dem Brillenrahmen ist eigentlich nicht zu erkennen. Es sieht aus wie eine Verzierung, aber wer misstrauisch genug ist, wird sich denken, dass so ziemlich jeder Gegenstand zum Spionieren umgebaut sein kann. Dass jedes Gespräch heimlich aufgezeichnet wird. Diese Ärztin ist misstrauisch. Liina greift nach der Brille, ihre Finger streifen über die dünne Narbe zwischen den Brüsten. Die Brille hat den Ausschnitt weit genug heruntergezogen, dass die obersten Millimeter sichtbar sind.

»Vertragen Sie die Hitze?«

»Es geht. Ich bin manchmal müde. Heute besonders.«

»Wie lange ist die Operation her?« Die Ärztin sieht sie durchdringend an.

»Da war ich zweiundzwanzig.« Beim Lügen immer nah genug an der Wahrheit bleiben. Oberste Regel.

»Keine Komplikationen? Immunsuppressiva?«

»Ganz gering dosiert. Ich komme gut klar.«

»Soll ich Sie mal scannen? Sie sagen, Sie sind heute besonders müde.«

»Nein, wirklich. Es geht mir hervorragend.« Liina reicht es jetzt mit dem persönlichen Touch. Sie lächelt und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Man wird heutzutage so gut betreut.« Als sich der Gesichtsausdruck der Ärztin fast unmerklich verändert, weiß sie, dass sie einen wunden Punkt getroffen hat. »Aber das wissen Sie natürlich am besten«, schiebt sie mit vor Begeisterung bebender Stimme nach. Jetzt hat sie etwas über Dr. Ortlepp erfahren. Diese Frau steht dem System kritischer gegenüber, als sie bereit ist zuzugeben. Interessant.

Die Ärztin legt die Hände flach auf den Schreibtisch. »Sie werden auch in Brüssow nichts Neues erfahren, weil man Ihnen keine Auskunft geben darf. Mit dem Sanitäter können Sie unmöglich reden.« Sie steht auf, macht eine ausladende Geste Richtung Tür. Das Gespräch ist beendet.

Liina verabschiedet sich, bedankt sich noch einmal dafür, dass sie vorbeikommen durfte. Sie versucht, nicht zu manisch zu lächeln, was ihr manchmal passiert, wenn sie frustriert ist und dagegen anspielen muss. Dr. Ortlepp begleitet sie zur Tür, treibt sie fast schon vor sich her, als könne sie es nicht erwarten, sie endlich loszuwerden. Dann legt sie eine Hand auf die Klinke, die andere auf Liinas Rücken, beugt sich über ihre Schulter und flüstert: »Es gibt diese Frau nicht.« Sie reißt die Tür auf, schiebt Liina über die Schwelle und ruft ihrem MFA zu: »Wir sind hier fertig. Den nächsten Termin, bitte.«

Hinter Liina knallt die Tür zum Behandlungszimmer ins Schloss.

2

Ihr Chef antwortet immer noch nicht. Diesmal klingelt es nicht ins Leere, ihre Anrufe landen direkt auf der Voicemail, aber sie hat keine Lust, eine Nachricht draufzusprechen. Sie sitzt im Zug von Prenzlau über Berlin nach Frankfurt und wird spätabends ankommen. Wahrscheinlich ist er dann längst zu Hause.

Die Agentur, für die Liina arbeitet, heißt Gallus, nach dem Stadtviertel, in dem sie gegründet wurde. Sie überprüft Meldungen, Reportagen, Interviews, Dokumentationen aus staatlichen Quellen. Manchmal konnten sie mit ihren Recherchen genug Staub aufwirbeln, um die Regierung zum Handeln zu zwingen. Oft genug verpufft, was sie zutage fördern. Aber wer dort arbeitet, sagt sich jeden Tag: Und wenn es nur eine einzelne Person ist, die wir überzeugen können – beim nächsten Mal sind es schon wieder mehr.

Das Rohmaterial, das sie gefilmt hat, wird sie später von zu Hause an Ethan schicken, der den Beitrag produziert. Sie hört noch einmal alles ab, überlegt dabei, wie es weitergehen soll und was die kryptische Anmerkung der Ärztin zu bedeuten hatte. Wollte sie Liina einfach nur loswerden? Oder ihr sagen: Die Geschichte ist Fake? Ihr Chef soll entscheiden. Schließlich war es seine Idee, sie derart zu langweilen. Also soll er auch für sie denken. Sie ist nur die Rechercheurin.

Sie fahren in Berlin ein, der Zug leert sich rasant, kaum jemand steigt zu. Es geht schnell weiter. Liina wird wieder müde. Ein weiteres Mal ruft sie ihren Chef an, vergebens, dann schließt sie die Augen.

Sie wird erst in Frankfurt wach, kurz vorm Hauptbahnhof, und ärgert sich, weil sie verpasst hat, rechtzeitig umzusteigen, um auf direkterem Weg nach Lahnstadt zu kommen, und jetzt einen längeren Heimweg vor sich hat. Als sie in die Stadtbahn umsteigt, wundert sie sich über die vielen Hinweise auf Streckensperrungen und Umleitungen im Zentrum. Sie checkt die Nachrichten, obwohl sie weiß, wie wenig das bringt. Es kommt immer wieder nur die Meldung: »Schrecklicher Unfall am Theaterplatz«, die Rede ist von einer schwerverletzten Person. »Unfall« könnte genauso gut »Selbstmord« bedeuten, aber man spricht nicht gern von Selbstmorden. Weil sich offiziell so gut wie niemand umbringt.

Die Menschen um sie herum tuscheln. Einige sprechen von einem versuchten Anschlag, aber bei allem, was die alltäglichen Abläufe stört, wird erst mal ein Anschlag vermutet, was sich nie bestätigt. Andere stellen leise die Sicherheitsvorkehrungen an Bahnhöfen in Frage. »Früher nannte man das Personenschaden bei der Bahn«, sagt ein alter Mann zu dem etwa Zwanzigjährigen, der neben ihm steht. Nur weil Selbstmorde nicht mehr in den staatlichen Medien auftauchen, heißt es nicht, dass niemand darüber redet, im Gegenteil: Die Menschen sind nahezu besessen von dem Gedanken, jemand könnte sich umgebracht haben, sobald ein Unfall geschieht. Liinas Bahn fährt ein, und sie sucht sich einen Platz, vergisst das Ganze gleich wieder. Sie denkt darüber nach, es doch noch einmal bei ihrem Chef zu versuchen. Vielleicht war sie gestern zu unverschämt.

»Willst du mich loswerden?«, hat sie ihn gefragt, nicht gerade leise.

»Es ist nur für einen Tag, vielleicht ein paar Tage. Eine kleine Geschichte, sie muss gemacht werden. Wo ist das Problem?«

»Du hast gesagt, du bist an etwas Großem dran, wofür du mich brauchst, und jetzt …?«

»Liina, bitte mach doch erst mal …«

»Ich muss diesen Auftrag nicht annehmen. Ich arbeite nicht für dich, um so einen offenkundigen Schwachsinn zu recherchieren. Gib mir eine echte Story.«

Sie stritten sich, er drohte sogar damit, ihr gar keine Aufträge mehr zu geben. Er wusste, dass sie nicht nur wegen des Geldes für ihn arbeitete. Er wusste, dass sie seinetwegen zurückgekommen war. Sie nannte ihn ein verdammtes Arschloch und ließ ihn stehen. Er wusste, dass sie die Recherche machen würde. Sie hasste ihn dafür.

Seitdem haben sie nicht mehr miteinander gesprochen. Es ist eigentlich nicht seine Art, nachtragend zu sein.

Sie steigt in Lahnstadt aus und nimmt die Tram zu dem zehnstöckigen Gebäude, in dem ihre Eltern wohnen. Neunter Stock, Blick auf die Lahn und den Dutenhofener See. Seit Liina in der Stadt ist, wohnt sie wieder bei ihren Eltern. Sie hat einen Antrag auf eine eigene Wohnung gestellt, aber die Genehmigung lässt auf sich warten..

Das Smartcase öffnet auf ihren Befehl hin die Tür. Fast lässt sie es fallen, als sie hereinkommt und sieht, wer in dem großzügigen Wohnzimmer mit einem Glas Wasser in der Hand vor der Fensterfront steht und die mittelalterlichen Burgen auf den entfernten Hügeln zu bewundern scheint.

»Özlem«, sagt Liina.

Özlem Gerlach hat die Agentur Gallus zusammen mit Yassin Schiller gegründet. Liina sagt nie Chefin zu ihr. Aber sie nennt Yassin gern Chef. Mal im Ernst, mal scherzhaft. Er gibt ihr die Aufträge, während sich Özlem um den administrativen Bereich, die Finanzierung, die Sicherheit kümmert. Sie glaubt einen Moment lang, Özlem sei wegen des Streits mit Yassin hier, aber dann fällt ihr ein, dass sie bestimmt nur ihre Eltern besucht. Sie wohnt ein paar Häuser weiter. Man kennt sich vom Einkaufen, vom Sport, von Nachbarschaftsinitiativen.

»Da bist du ja«, sagt Liinas Mutter Satu. »Wolltest du nicht früher kommen?«

Özlem lächelt sie an, hebt das Wasserglas. »Anstrengender Tag?«

Liina bleibt stehen, hat das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Ihre Mutter sagt: »Ich lass euch allein.«

Es stimmt definitiv etwas nicht.

Als Satu in der Küche verschwunden ist, fragt Liina leise: »Was hast du ihr gesagt?«

Ihre Eltern denken, Özlem betreibe eine Personalagentur. Sie denken auch, Liina arbeite als Dolmetscherin und Übersetzerin. Manchmal fragt sich Liina, was wäre, wenn ihre Eltern ebenfalls Tarnidentitäten hätten. Wenn ihre Mutter keine Datenarchitektin wäre und ihr Vater kein Ernährungsberater, und über diesen Gedanken muss sie jedes Mal lachen.

»Ich habe etwas von einem vertraulichen Übersetzungsauftrag erzählt.« Özlem nimmt auf dem Sofa Platz.

»Aha. Und was willst du wirklich? Soll ich für dich auch in der Pampa Schakale suchen?« Liina setzt sich in einen Sessel, von dem aus sie Özlem im Halbprofil sehen kann. Sie will direkten Blickkontakt vermeiden. »Okay, ich war sauer, aber ich hab getan, was …«

Özlem unterbricht sie. »Es geht um Yassin.«

»Ich weiß. Ich war sauer, aber ich hab getan, was ich tun sollte. Will er, dass ich mich entschuldige?«

Liina merkt, wie sich ihr Herzschlag beschleunigt. Es ist Zeit für ihre Medizin. Sie beugt sich vor, greift in ihre Bodybag, zieht das Fläschchen mit den Tabletten heraus und nimmt eine.

»Alles okay?«, will Özlem wissen.

»Klar. Die Hitze, aber ich bin okay.« Sie merkt, wie sie ruhiger wird, und spricht weiter. »Ich mache diesen Job nun mal nicht, um Falschmeldungen hinterherzulaufen, die so offensichtlich falsch sind, dass wirklich niemand sie glaubt. So eine Schakal- oder Wolf- oder Bärenmeldung kommt doch alle paar Wochen. Ich meine, schön, dass wir dann alle wissen, was wirklich los war, aber da liegt der Impact auf die Meinungsbildung durch unsere Recherchen bei null, und ich will …«

»Deshalb bin ich nicht hier.« Özlem lächelt wieder, was selten genug vorkommt, aber es wirkt nervös. Sie trinkt einen Schluck Wasser, stellt das Glas ab. »Yassin ist im Krankenhaus.«

»Ach verdammt, was ist mit ihm?«, fragt Liina erschrocken.

Özlem betrachtet sie aufmerksam. »Du kannst dir denken, warum ich extra hergekommen bin, statt damit zu warten, bis du morgen auftauchst.«

Liina sieht knapp an ihr vorbei, wartet ab.

»Ich weiß, dass ihr wieder was miteinander habt.«

Jetzt sieht sie Özlem direkt an. Ihr Herzschlag hat sich kaum erhöht. Die Tabletten wirken, wie sie es sollen.

»Und deshalb bist du hier?«

»Ja.«

»Wie ernst ist es?«

»Es kann sein, dass er die Nacht nicht überlebt.«

Ihr wird schwindelig. Sie glaubt für eine Sekunde, nichts mehr zu hören und nichts mehr zu sehen. Özlem ist aufgestanden, sie geht vor ihr in die Hocke, legt eine Hand auf Liinas Knie.

»Er hatte einen Unfall.«

»Was ist passiert? Ich will zu ihm.«

»Seine Frau ist bei ihm«, sagt Özlem.

»Was ist passiert?«, fragt sie wieder

»Er ist vor eine einfahrende Bahn gestürzt.«

Ihr fallen die Durchsagen am Bahnhof ein, aber die konnten unmöglich etwas mit Yassin zu tun haben. Özlem muss von jemand anderem sprechen. »Schwachsinn! Wieso sollte er sich denn umbringen wollen, und dann auch noch so?« Liina merkt, wie sich ihre Herzfrequenz trotz des starken Medikaments erhöht.

»Er wollte sich bestimmt nicht umbringen.«

»Was soll das denn für ein Unfall gewesen sein?«

Özlems Hand ruht weiter auf ihrem Knie. Sie spricht mit gedämpfter Stimme. »Ich habe etwas, das ich dir zeigen möchte. Wo sind wir ungestört?«

Sie sind allein im Wohnzimmer, aber der Raum wirkt so offen und weitläufig, dass sich nicht das Gefühl von absoluter Privatsphäre einstellen kann. Liina steht auf und geht mit unsicherem Schritt voran, Özlem folgt ihr.

Ihre Eltern haben aus ihrem alten Kinderzimmer ein Gästezimmer gemacht. Oder vielmehr, aus ihrem und dem ihres Bruders. Liina wohnt hier seit einigen Monaten und hat sich immer noch nicht an den Durchbruch gewöhnt. Das Zimmer ihres Bruders ist der Wohnbereich, dort stehen zwei bequeme Sessel, dazwischen ein kleiner Couchtisch. Außerdem gibt es einen Schreibtisch samt Bürostuhl, an der Wand hängt ein großer Monitor. Bett und Kleiderschrank sind in ihrem Zimmer. Es soll wirken wie eine Hotelsuite. Liina hat den Schreibtisch in ihren Bereich geschoben und hält sich eigentlich nur dort auf. Sie vermeidet es, das Zimmer ihres Bruders zu betreten.

Sobald Liina die Tür hinter ihnen geschlossen hat, sagt Özlem: »Ich brauch dich jetzt. Du musst mir helfen. Oder vielmehr Yassin. Schaffst du das?«

Durch Liinas Kopf geht ein Orkan. Sie blickt wild von Özlem zur Tür zum Fenster zur Wand zum Boden, wäre am liebsten bewusstlos.

»Was ist mit ihm?«, fragt sie leise.

»Setz dich hierhin. In den Sessel. Ja? Du musst ganz stark sein. Ich weiß, dass du das kannst. Okay?« Özlems Stimme klingt dumpf, weit entfernt. In Liinas Ohren rauscht es.

»Hat er was gesagt?«

»Er liegt im Koma.«

»Überlebt er?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber wenn er stirbt, muss ich doch zu ihm!« Sie steht auf, will zur Tür. Özlem packt sie am Arm, hält sie zurück.

»Das geht nicht.«

Liina setzt sich wieder hin. »Warum nicht?«

»Niemand darf zu ihm. Nur seine Frau. Und die lässt dich ganz sicher nicht mal in seine Nähe.« Es sind harte Worte, aber sie sind nötig, damit Liina es versteht. Sie zwingt sich, ruhiger zu atmen, gibt Özlem ein Zeichen, dass sie einen Moment braucht.

Özlem hockt sich neben sie. »Geht’s wieder? Wir werden uns jetzt gemeinsam etwas ansehen. In Ordnung?«

Liina nickt stumm.

»Es ist viermal dieselbe Szene, aber aus vier unterschiedlichen Perspektiven. Du wirst darauf Yassin sehen.«

Liinas Blick irrt wieder durch das Zimmer.

»Man sieht kein Blut oder so was.«

Liina sagt immer noch nichts.

»Es ist wirklich wichtig, dass wir es uns gemeinsam ansehen. Damit können wir ihm helfen. Alles klar? Er braucht dringend deine Hilfe.«

Das wirkt. Liina sieht Özlem direkt an und nickt wieder. Özlem setzt sich in den anderen Sessel und legt ihr Smartcase auf den Tisch, der vor ihnen steht.

Sie startet die erste Videosequenz. Das Bild kommt von einer der Überwachungskameras in der -Bahn-Station Theaterplatz. Zu sehen sind herumlaufende und wartende Menschen. Liina erkennt Yassin erst, als Özlem mit dem Finger auf ihn zeigt. Sie sieht, wie er sich durch die Menschen am Bahnsteig schiebt, als wollte er möglichst ganz vorn einsteigen. Yassin, der auf den Fußballen wippt und den Kopf in die Richtung dreht, aus der gleich die Bahn kommen wird. Yassin, dessen Körper nach vorn schießt und im Gleisbett verschwindet, wo ihn die Bahnhofskamera nicht mehr einfängt. Liina stößt einen heiseren Schrei aus, wendet sich ab, hält sich die Augen zu. Özlem stoppt die Aufnahme und wartet. Erst rührt sich Liina nicht, sie sitzt vornübergebeugt, die Hände vors Gesicht geschlagen. Dann fangen ihre Schultern leicht an zu zittern. Sie weint leise. Özlem legt den Arm um sie. Wartet. Liina richtet sich mit einem Ruck auf, dreht ihr den Rücken zu und verlässt den Raum.

Als sie ins Zimmer zurückkommt, hat sie sich wieder im Griff. Sie hat sich das Gesicht unter dem Wasserhahn gekühlt, ein paar Minuten ins Leere gestarrt, noch eine Tablette genommen.

»Kann losgehen«, sagt sie zu Özlem, als wäre nichts geschehen.

Özlem fängt noch einmal mit dem ersten Video an. Dann zeigt sie ihr die Perspektive einer zweiten und einer dritten Kamera, dann die Aufnahme aus der Bahn selbst. Aus der vordersten Kabine, in der die Kameras für den Fahrtrechner installiert sind, ist zwar zu sehen, wie Yassin vor die gerade anhaltende Bahn stürzt und darunter verschwindet, aber nichts von dem, was am Bahnsteig hinter ihm möglicherweise geschehen ist.

Liina sieht sich alles an, ohne eine Reaktion zu zeigen. Sie wirkt nach außen konzentriert, während sie immer wieder denselben Gedanken kreisen lässt: Ich tu es für ihn. Ich muss ihm helfen.

»Wie hat er das überlebt?«, fragt sie Özlem.

»Der Zug war kurz vorm Stillstand. Der Wagen hat ihn zwar noch erwischt, aber er ist vergleichsweise glücklich gefallen, wenn man es so nennen will.«

»Aber du weißt nicht, ob er durchkommt.«

»Man hat ihn schon zweimal operiert. Das größte Problem ist ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Er ist noch nicht aufgewacht.«

Liina schluckt, nickt. Sie achtet auf ihre Atmung, auf ihren Puls. Beides ist halbwegs normal, trotzdem fühlt es sich an, als würde sich etwas durch ihren Unterleib graben, nach ihrem Magen greifen und ihn zusammendrücken.

»Erfährst du, wenn sich sein Zustand verändert?«

»Ich denke schon.«

»Du bist mit seiner Frau befreundet.« Sie merkt zu spät, dass es wie ein Vorwurf klingt.

»Wir kennen uns schon lange. Ich würde nicht sagen, dass wir befreundet sind.«

»Sie weiß von mir, oder?«

»Ich habe nichts gesagt.«

»Aber du hast vorhin so etwas angedeutet.«

»Es kann sein. Von mir hat sie’s nicht.«

»Er hat sicher nichts gesagt.«

»Sie ist nicht blöd.«

»Ich habe nie verlangt, dass er sich trennt.«

»Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen.«

»Ich will keine Beziehung kaputtmachen. Es wäre nie passiert, wenn wir früher nicht …«

»Das musst du mit ihm klären. Nicht mit mir«, fällt Özlem ihr ins Wort. »Offiziell weiß ich von nichts, und wäre er nicht im Krankenhaus, hätte ich dich nie drauf angesprochen. Aber jetzt brauch ich dich. Hilf mir rauszufinden, was da passiert ist. Er war an etwas dran. Was weißt du?«

»Er hat mich weggeschickt, Schakale suchen.«

»Hat er dir gar nichts über die Sache gesagt?«

»Nur, dass es was Großes ist.«

»Sonst nichts?«

»Hast du etwa auch keine Ahnung, woran er gearbeitet hat?«

Özlem schüttelt den Kopf. »Wir wissen also beide gar nichts.«

»Nein.«

»Scheiße.«

»Durchaus.«

Özlem lacht trocken auf. Dann fragt sie: »Siehst du etwas auf den Videos?«

Sie zögert. »Ist dir etwas aufgefallen?«

»Nur die Videoblocker.« Özlem zeigt auf drei verschwommene Punkte. An diesen Stellen haben mindestens drei Personen mit illegalen Videoblockern gestanden. Ob es sich dabei um Aktivisten handelt, die gegen die Gesichtserkennung protestieren, oder ob da jemand etwas zu verbergen hat, können sie nicht wissen. Aber mindestens zwei der Blocker befinden sich in Yassins Nähe. Auch deswegen kann man nicht erkennen, ob er gesprungen ist oder gestoßen wurde.

»Nie im Leben ist er gesprungen«, sagt Liina.

»Man behandelt es als Unfall.« Özlem malt Anführungszeichen in die Luft.

»Und was sagt seine Frau?«

»Dass er in letzter Zeit komisch war und sie nicht viel von ihm mitbekommen hat.«

»Sie denkt, es war Selbstmord?«

»Klingt so.«

Liina fühlt eine bleierne Müdigkeit. »Du hast recht, sie weiß es.«

Özlem hebt nur die Augenbrauen und wartet darauf, dass Liina weiterspricht.

Sie wechselt das Thema. »Woher hast du die Aufnahmen?«

Özlem sagt nichts. Sie hat ihre Quellen, spricht aber nicht darüber, jedenfalls nicht mit Untergebenen.

»Okay, schon klar, du bist die Chefin. Aber ist die Quelle zuverlässig?«

»Ethan hat alle vier Aufnahmen intensiv geprüft und ist sich so sicher, wie man sein kann.« Ethan, Gallus-Redakteur, Spezialist für Audio- und Videotechnik. »Kein Deep Fake. Keine Manipulation. Zuverlässige Quelle.«

»Also sind die Videoblocker an den Stellen echt.«

»Leider.«

Draußen vor der Zimmertür kann Liina die Stimme ihres Vaters hören, seinen durchdringenden Bass, der alles zum Schwingen bringt, selbst wenn er glaubt, leise zu sprechen.

»Er ist nicht gesprungen«, sagt sie.

»Nein«, sagt Özlem.

»Und jetzt? Was tun wir?«

»Rausfinden, woran er gearbeitet hat.«

Liina sieht sich noch einmal die Videosequenz an, in der sich Yassin durch die Menge drängelt. Sie geht die umstehenden Personen in Zeitlupe durch, versucht, sich zu merken, wer wann wo steht.

»Und du bist sicher, dass diese Version unbearbeitet ist?«, fragt sie Özlem.

»Warum?«

»Irgendetwas stimmt nicht.« Liina vergrößert einen Ausschnitt: die beiden Personen mit dem Videoblocker, die direkt bei Yassin stehen. »Siehst du das?«

Özlem schüttelt den Kopf.

»Es ist ein anderes Muster. Vergleich das mal mit dem anderen Videoblocker …« Sie verschiebt das Standbild, zeigt auf den grauen Fleck. »Sehr viel grober, fast wie früher, als man noch verpixelt hat. Aber diese beiden hier«, sie schiebt das Bild wieder zurück, »sehr elegant, wie ein gleichmäßiger silberner Fluss. Das ist eine andere Technologie.«

Özlem nickt langsam. »Das geb ich an Ethan weiter, damit er es prüft.«

Liina zieht das Bild ein klein wenig herunter. Yassins Halbprofil ist jetzt im Zentrum des Displays. Sie schluckt. »Er hatte jemand anderes zum Recherchieren«, sagt sie. »Das hat er mir gestern noch gesagt. Er brauche sowieso mehr als eine Rechercheurin, am liebsten hätte er gleich fünf, aber man könne in der Angelegenheit niemandem trauen.« Sie schluckt. »Ich dachte, er zieht mich ab, weil er mir nicht vertraut. Deshalb war ich so sauer. Einerseits behauptet er, mehr Leute zu brauchen, und dann schickt er mich weg. Ich versteh es nicht.«

Özlem nimmt ihr das Smartcase ab und steckt es ein. Sie rutscht im Sessel vor, bis sie auf der Kante sitzt. »Dann weißt du doch mehr als ich.«

Liina ist verwundert. »Er hat dir nicht gesagt, mit wem er zusammenarbeitet?«

»Willst du noch länger drauf rumreiten, oder können wir weitermachen?«, fragt Özlem genervt.

Liina schließt die Augen. Da ist etwas in ihrer Erinnerung. Sie versucht, sich Yassins Arbeitsplatz ins Gedächtnis zu rufen. »Kaya«, sagt sie. »Als ich reinkam, hat er mit einer Kaya gesprochen.«

»Kaya Erden?«

»Keine Ahnung. Wer ist das?«

»Legende des Investigativjournalismus, als er den Namen noch verdient hat. Sehr klug, sehr hartnäckig, schon lange im Geschäft, länger als wir alle.«

»Sagt mir gar nichts.«

»Du warst zu lange im Ausland. Ich verehre diese Frau. Von ihr hab ich mehr gelernt als an jeder Uni. Sie hat früher oft für uns gearbeitet. Der Skandal um die Erweiterung des Schiersteiner Hafens? Vor gut zehn Jahren?«