Pelbar-Zyklus (3 von 7): Die Kuppel im Wald - Paul O. Williams - E-Book

Pelbar-Zyklus (3 von 7): Die Kuppel im Wald E-Book

Paul O. Williams

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Beschreibung

1000 Jahre nach dem nuklearen Holocaust in den USA haben nur wenige Menschen den Krieg und die nachfolgenden Seuchen überlebt. Ihre Nachfahren sind wieder zu "Wilden" geworden, die das weite, zum Teil noch radioaktiv verseuchte Land als Jäger durchstreifen, oder sie haben sich in kleinen befestigten Siedlungen verschanzt. Allmählich bilden sich wieder kulturelle Zentren aus; so in Pelbar, der Zitadelle am Herz-Fluss, dem ehemaligen Mississippi. Auf gefahrvollen Expeditionen beginnt man die postatomare Wildnis des amerikanischen Kontinents zu erkunden. Alljährlich bei Frühlingsanfang sammeln sich die Shumai, die Jäger der weiten Prärien und Wälder am Rande einer "leeren Stelle", wie sie die vegetationslosen, radioaktiv verseuchten Einschlagkrater nennen, um das Erscheinen des Stabs anzusehen. Wie von Zauberhand bewegt, kommt er aus einer kuppelartigen Erhebung hervor und verschwindet nach einiger Zeit wieder. Die Shumai halten es für einen Zauber der Alten. Bis sie zufällig bemerken, dass im Innern der Kuppel Menschen leben! Nachfahren derer, die den Atomkrieg in einem Bunkersystem überlebt und sich seit Jahrhunderten nicht an die Oberfläche gewagt haben.

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Die deutsche Ausgabe von PELBAR 3: DIE KUPPEL IM WALDwird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,Übersetzung: Irene Holicki; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;Lektorat: Kerstin Feuersänger und Gisela Schell;Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Umschlag-Artwork: Martin Frei.Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.

Titel der Originalausgabe:THE PELBAR-CYCLE BOOK 3: THE DOME IN THE FOREST (1981)Copyright © Paul O. Williams und Kerry Lynn Blau

German translation copyright © 2016, by Amigo Grafik GbR.

Print ISBN 978-3-86425-844-2 (Mai 2016)E-Book ISBN 978-3-86425-882-4 (Mai 2016)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für David und Mary

EINS

Es war dunkel, das Geräusch des Regens ließ nach, und hoch oben auf dem Gagan-Turm auf der Flussmauer der Stadt Pelbarigan am Herzfluss wurden die zwei Gardisten beim ersten Lichtschimmer unruhig. Sie zogen ihre wallenden Regenumhänge gegen die Kälte um sich und stellten sich so weit wie möglich unter den Wetterschutz, einen schweren Baldachin. Nahe am Ufer brannten jetzt schon seit einiger Zeit Feuer und schattenhafte Gestalten bewegten sich dazwischen hin und her, während die schwache, durch Wolken hereinsickernde Dämmerung sich allmählich verstärkte.

Die größere Gardistin gähnte, fuhr sich mit den Händen durch das Haar und sagte schläfrig: »Die Shumai und Sentani sind früh auf. Was gibt’s?«

»Die Shumai nehmen ein paar von der Sternenbande mit zur leeren Stelle im Südwesten.«

»Zur leeren Stelle?«

»Ja. Wir haben fast Frühlingsanfang. Seit vielen Jahren schon gehen einige von den Shumai bei jeder Tagundnachtgleiche hin, im Frühjahr und im Herbst, um zu sehen, wie der große Stab aus der Erde steigt.«

»Was? Wo hast du das gehört?«

»Letzte Nacht. Ich war da unten. Hagen, der Shumai, hat davon gesprochen. Winnt, der Sentani, geht aus Neugier mit. Die Shumai behaupten fest, dass es einen Stab aus glänzendem Metall gibt, der am Rand der leeren Stelle aus einem Berghang hervorkommt. Ein Jäger hat ihn durch Zufall vor einigen Jahren zum ersten Mal entdeckt. Jetzt geht eine Gruppe von ihnen immer wieder hin und sieht sich das an. Immer genau zur Tagundnachtgleiche. Der Stab bleibt nie aus.«

»Hm. Kommt er jemals in der Zeit dazwischen?«

»Ich weiß es nicht. Sie glauben nicht. Ich bin jetzt zu müde, um viel darüber nachzudenken. Außerdem möchte ich aus diesem unglaublichen Regen heraus. Ob er wohl jemals aufhört? Es wundert mich, dass wir noch keine Überschwemmung haben.«

»Im Norden gibt es dieses Jahr nicht viel Schnee, wie ich höre. Aber schau! Sogar in diesem schwachen Licht sieht man, dass der Fluss randvoll ist.«

»Wo wohl die nächste Wache bleibt? Es ist Zeit zum Schlafen. Schau nur, es wird schon hell!«

Die kleinere Gardistin hob ihr Kurzschwert auf, schnallte es sich um und murmelte dabei: »Ich höre die Ablösung kommen.«

Die zwei neuen Gardisten erschienen auf der Turmplattform und salutierten, schläfrig, aber in guter Form. »Wo ist Ahroe?«, fragte die größere Gardistin.

»Sie geht mit. Mit denen da unten, um den Stab aufsteigen zu sehen.«

»Ahroe? Warum? Heißt das, dass Stel auch mitgeht?«

»Ja. Alle beide. Ahroe sieht sich die Sache als Repräsentantin an. Als Gardistin. Der Rat ist der Meinung, wir sollten Notiz davon nehmen. Und Stel – nun, da sie geht, hielt man es für eine Sache der Höflichkeit, ihn auch mitkommen zu lassen.«

Die große Gardistin lachte. »Sie wird jedenfalls gut auf ihn aufpassen«, sagte sie, während die beiden Nachtgardisten langsam die gewundene Treppe hinuntergingen.

Unten am Ufer hielt Hagen Ahroes Sohn Garet an der Hand, als die Boote zu Wasser gelassen wurden. Der Junge war ungefähr elf und unglücklich, weil man ihn zurückließ. Stel lachte, als er sich hinhockte und den Jungen auf die Stirn küsste. »Sei brav«, sagte er. »Schlag Hagen nicht zusammen. Reiß die Stadt nicht nieder. Lern schön. Wir bleiben nicht lange fort. Wenn du drei Jahre älter wärst, könntest du vielleicht mitkommen.«

Garet machte ein sehr finsteres Gesicht und schob die Unterlippe vor. »Komm, Garet!«, sagte Ahroe. »Schau wie ein Gardist.«

Er versuchte es, aber das Ergebnis wirkte komisch. Niemand lachte jedoch über ihn.

»Garet«, begann Hagen sanft. »Wir gehen jetzt hinauf auf die Felsen und schauen zu, wie die Boote flussabwärts schwimmen. Komm jetzt! Aber erst holen wir dir noch einen Mantel.«

Ahroe stieß das Pfeilboot schnell ab. Sie ruderten hinaus zur Flottille der Sentani und schlossen sich ihr an, ein wenig schauderten sie im kalten Regen draußen auf dem Wasser. Die Sternenbande der Sentani war, geordnet wie immer, schon in Bootsformation. Die Jagdläufer der Shumai verstanden wenig vom Bootfahren und hatten deswegen keine Formation. Aber sie waren ungeduldig, weil es fast Zeit war für das Aufsteigen des Stabs, und paddelten kräftig. Tor, ihr Axtschwinger, stand schlank und breitschultrig in der Mitte des größten Kanus. Er wiegte sich leicht mit den Bewegungen des Bootes, während seine Ruderer die Blätter ins Wasser stießen und sich in den Rhythmus der langen Schläge hineinfanden, die sie den ganzen Tag durchhalten würden. Die seltsame Flotte bewegte sich durch den grauen Frühlingsmorgen flussabwärts.

Beim dritten vorspringenden Felsen, dem vorgeschriebenen Platz, schickten die Gardisten auf dem Turm die langen, schwermütigen Töne zum Aufbruch und zum Abschied aus ihren großen Trompeten herab, und die ganze Gruppe hob als Erwiderung kurz die Ruder. Der Regen hielt an, und das rhythmische Paddeln wurde fast zu einer hypnotisierenden Erleichterung, etwas, womit man sich beschäftigen und warm halten konnte.

Sie ruderten mit nur einer Pause am Mittag bis nach Einbruch der Dunkelheit, dann zogen sie die Boote auf das Westufer hinauf, weg vom Fluss. Hier gab es keine Felsen, und das Wasser stand bis weit zwischen die Bäume am Ufer.

Zwei Shumaijäger waren drei Tage zuvor vorausgelaufen. Sie hatten ein riesiges Feuer angefacht, auf dem große Stücke Wildrindfleisch brutzelten. Es wurde jedoch nicht viel gesungen oder gefeiert. Nachdem alle gegessen hatten, krochen sie, müde bis auf die Knochen vom Rudern, unter die Boote und legten sich schlafen.

»Wird es eine Überschwemmung geben?«, flüsterte Ahroe.

»Vielleicht eine kleine«, antwortete Stel. »Die Sternenbande hat aber gesagt, dass oben im Norden, nahe dem Bittermeer, der Schnee diesen Winter nicht sehr hoch lag. Ich glaube nicht, dass wir eine große Überschwemmung bekommen.«

»Vor neun Jahren hätte ich nicht geglaubt, dass ich das jemals sagen würde, aber es ist schön, wieder unterwegs zu sein.«

»Finde ich auch. Komm näher! Bist du ganz aus dem Regen raus?«

»Los, Stel. Küss mich – und dann lass uns schlafen. Glaubst du, dass da etwas dran ist? An diesem Stab?«

»Natürlich. Ich möchte nur wissen, was.«

»Wir werden sehen. Es ist weit zu laufen. Gute Nacht.«

Ahroe legte sich hin, ihr zierliches Handgelenk ruhte auf Stels Schulter. Er bewegte sich nicht, bis sie tief eingeschlafen war, dann steckte er ihren Arm sanft in den Schlafsack und wickelte ihn um sie.

Der Morgen zog grau und nass herauf. Die Bande schleppte die Boote zur Sicherheit noch weiter aufs Ufer und machte sich in der Dämmerung auf den Weg, sie kauten Wildrindfleisch und trabten langsam voran. Mit der Zeit durchquerten sie in einem munteren Morgentempo das Tiefland, kamen hinauf in höheres Gelände, durch Prärie und Wälder, weg vom Fluss. Die ganze Landschaft war durchnässt, aber die Schreie der Gänseherden, die hoch oben in ihren großen, bogenförmigen V-Formationen nach Norden flogen, klangen wild und fröhlich, die mitreißenden Töne drangen durch den Frühjahrsnebel herunter.

Die Mittagspause war lang, nicht weil die aus Angehörigen der verschiedenen Herzfluss-Völker gemischte Gruppe erschöpft gewesen wäre, sondern weil sie wussten, dass sie an diesem Nachmittag noch eine weite Strecke zu laufen hatten. Durch den feuchten Boden hatten jedoch einige wunde Füße bekommen, und viele wollten ihre weichen Laufstiefel ein wenig an den drei Feuern trocknen und kneteten sie, damit sie geschmeidig blieben. Insgesamt hatten sich den zwölf Shumai einundzwanzig Sentani angeschlossen. Stel und Ahroe waren die einzigen Pelbar. Sie hatten an diesem Nachmittag und Abend noch weitere zweiundzwanzig Ayas zu laufen. Der große Stab sollte am nächsten Morgen aufsteigen.

Der Nachmittag wurde den beiden Pelbar, die das Laufen nicht mehr gewöhnt waren, sehr lang, sie blieben zurück und wurden kurz vor Sonnenuntergang von zwei kleinen Banden junger Shumai überholt, die von anderswoher kamen, um sich den Stab anzusehen. Ahroe verdross es besonders, als sie sah, wie die jungen Männer so mühelos an ihnen vorbeizogen und den Pfad vor ihnen entlangliefen. Stel machte sich aus solchen Dingen wenig. Laufen war für ihn keine Sache des Stolzes, sondern nur ein Mittel, um irgendwohin zu kommen. Ihn trieben allein seine Neugier weiter und die Freude daran, sich wieder frei in offenem Gelände zu bewegen.

Lange nach Einbruch der Dämmerung sahen die beiden den Kreis von Feuern vor sich. Er war groß. Fast zweihundert Shumai hatten sich versammelt, um den Stab zu sehen. Die Pelbar erkannten bald, dass das für die Shumai zu einer Art Frühjahrstreffen geworden war, ehe sie sich im Sommer zerstreuten, um den Herden der Wildrinder nach Westen zu folgen.

Es herrschte Feststimmung, an einigen Stellen gab es Musik und Gruppentänze. Ein großer Wildstier war im Ganzen über einer großen Grube gebraten worden, und jeder war eingeladen, sich so viel Fleisch abzuschneiden, wie er nur wollte. Das Erscheinen der Sentani und schließlich der beiden Pelbar verlieh dem Treffen eine Art Familienatmosphäre, wie sie die Völker des Herzflusses seit dem großen Kampf um Nordwall vor mehr als zehn Jahren, der die Feindseligkeiten zwischen den drei Kulturen beendet hatte, immer mehr genossen.

Stel, der musikalisch war, hörte schon heraus, dass die Sentani-Improvisationen, die in regelmäßiger Folge mit Variationen durchgeführt wurden, die wildere Shumaimusik beeinflussten. Sogar einige Melodiemuster der Pelbar hörte er, und bald hatte er sich einer Gruppe von Instrumentalmusikern angeschlossen, wo er mit seiner Flöte einen Beitrag zu dem Saitenensemble leistete.

Hinter ihm saß Winnt, der Sentani aus Koorb, bei Ahroe. Sein Sohn Igna lag neben ihnen unter seiner Fellrolle, er war erschöpft von dem langen Lauf. Winnt sehnte sich ganz offensichtlich nach Ursa, seiner Pelbarfrau, die er gegen Ende der Feindseligkeiten, kurz vor der großen Schlacht von Nordwall, geheiratet hatte. Das Pelbarverhalten, das Ahroe an den Tag legte, half ihm darüber hinweg. Außerdem war sie außer Ursa die einzige Pelbarfrau, die sich weit von den drei steinernen Pelbarstädten am Herzfluss, Nordwall, Pelbarigan und Dreistrom, entfernt hatte. Ahroe und Stel waren vor mehreren Jahren über die westlichen Berge gezogen, und sie hatten die gleiche distanzierte Lässigkeit wie die meisten im Freien lebenden Menschen, sie waren wachsam und ruhig, unerschütterlich und fähig, Krisen unerschrocken zu begegnen, obwohl sie friedfertig waren.

»Was glaubst du, was für ein Stab das ist?«, fragte Winnt.

Ahroe schüttelte den Kopf. »Wer weiß? Er hat auf jeden Fall etwas mit der Zeit des Feuers zu tun, weil er sich inmitten einer leeren Stelle befindet. Vielleicht ist es eine Vorrichtung, die die Alten zurückließen und die sinnlos weiterarbeitet, nur auf irgendeine innere Steuerung reagierend. Sie waren ja zu sehr vielem fähig vor der Zeit des Feuers.«

»Aber etwas zurückzulassen, das elfhundert Jahre funktioniert?«

»Ja, das kann man sich kaum vorstellen.«

Tor der Axtschwinger ging mit einer Scheibe Fleisch auf seinem kleinen Messer vorbei. Als er Winnt und Ahroe sah, blieb er stehen und hockte sich hin. »Sie sagen, dass der Winterregen das Gebäude unter dem Stab freigelegt hat. Erst letztes Jahr haben wir entdeckt, dass da überhaupt eines war. Jetzt rutscht die Erde weg, und ein großer Teil des alten Gebäudes ragt unter dem Rand der leeren Stelle aus dem Hang hervor.«

»Stel sagte schon, dass es da irgendein Gebäude geben muss«, bemerkte Ahroe.

»Es ist sehr groß und keine Ruine. Sicherlich stammt es aus uralter Zeit. Es ist anscheinend aus diesem künstlichen grauen Stein, den die Alten machen konnten, sehr widerstandsfähig, aber jetzt wird es nicht mehr sehr lange halten.«

»Warum?«

»Das eine Ende ragt schon heraus. Es hat lange Pfeiler aus künstlichem Stein und quadratische Steinkästen an den Enden. Wenn die Erosion so weitergeht, wird es ausgewaschen und stürzt ein.«

»Der Stab kommt aus diesem Gebäude?«

»Aus der Decke. Es heißt, man kann jetzt sehen, wo er befestigt ist. Aus der anderen Seite ragt auch ein Kasten hervor, aber den sehen wir nicht deutlich, weil er draußen liegt, über der leeren Stelle.«

»Bei all dem Regen und der Erosion«, sagte Winnt, »wird das Gift vielleicht so weit weggewaschen, dass man die leere Stelle gefahrlos betreten kann.«

»Vielleicht. Jetzt aber noch nicht. Doch das Gras und das Unkraut vom letzten Jahr ziehen sich schon den Abhang hinunter. Die leere Stelle schrumpft. Die Pflanzen am Rand wachsen jedoch in eigenartigen Formen und seltsam verdreht, wie ich das schon früher in der Nähe von leeren Stellen gesehen habe.« Tor stand auf und streckte sich. Bevor er ging, drehte er sich noch einmal um, die Axt an seiner Hüfte kam ins Schwingen und schlug gegen seinen Körper. »Noch etwas. Sie sagen, man kann jetzt sehen, dass das Ende dieses Gebäudes höher und abgerundet ist, wie die Ruine nahe am Fluss, an der großen Biegung.«

»Eine Kuppel«, überlegte Stel. »Eine große Kuppel also.«

»Eine Kuppel. In Koorb gibt es auch eine, die ist eingestürzt und verbrannt, steht aber nicht in einer leeren Stelle, sodass man sie besichtigen kann. Sie ist jetzt fast verschwunden, aber es ist das, was die Sentani eine Kuppel nennen – wie die an der großen Biegung.«

»Sie sieht aus wie ein Menschenschädel, ein großes Stück Schädelknochen, sagt jedenfalls Konta.«

»Morgen früh werden wir es sehen.«

»Ich glaube, es wird wieder regnen.«

»Das fürchte ich auch. Hoffentlich haben wir die Boote weit genug hochgezogen. Ich möchte schnell wieder nach Koorb, was, Igna?«

Der Junge antwortete nicht, obwohl er wach war und zuhörte.

»Wenn es wirklich regnet, gibt es ein kleines Stück weiter südlich eine Felsnase mit einem Überhang«, sagte Tor. »Ein paar Leute bringen ihre Fellrollen schon dorthin.«

»Danke, Tor«, sagte Ahroe. »Ich bin schlaff wie ein Kaninchenfell, wie man im Westen zu sagen pflegt. Wir sind dir dankbar für deine Freundlichkeit.«

Der Axtschwinger hielt verlegen inne. »Ahroe, nicht dass ich nur deshalb freundlich wäre, aber ich überlege gerade, ob ich dich und Stel wohl um etwas bitten kann. Es ist eine große Sache. Eigentlich wollte ich es gar nicht tun. Es geht um Tristal, meinen Neffen. Ich muss hier auf ihn warten. Er sollte mit der Zarriff-Bande kommen, aber die ist nicht da. Ich fürchte, es liegt daran, dass er kein großartiger Läufer ist. Er ist der Sohn meines Bruders, aber mein Bruder und seine Frau sind in dem Feuer umgekommen, bei dem vor ein paar Jahren eine große Fläche der Langgrasprärie im Süden, in der Nähe des Oh, verbrannt ist, und Tristal blieb allein zurück.

Er ist vierzehn. Ich bin sicher, dass er den Lauf nach Westen nicht durchhalten wird – er müsste jetzt hier sein. Die Wilden sind dieses Jahr früh gekommen, wir müssen weiter. Es ist für Tris auch schwer. Er ist dünn – nun ja, eher dürr. Aber er ist ein braver Junge. Ich denke mir oft, er braucht ein sesshafteres Leben, bis er reif ist und seine Brust breiter wird – falls es je dazu kommt.

Gibt es eine Möglichkeit, dass ihr in Pelbarigan etwas für ihn zu tun findet? Ich weiß, dass einige Shumai für die Pelbar arbeiten, und bei Nordwall gibt es jetzt eine ziemlich große Kolonie von Leuten, die Landwirtschaft betreiben – es möge ihnen vergeben werden – und Holz schlagen.«

»Ich bin sicher, dass wir etwas tun können«, gab Ahroe zurück. »Er kann auch bei uns wohnen. Wir sind jetzt außerhalb der Mauer, und Hagen ist bei uns.«

»Hagen?«

»Er ist ein Shumai, ein alter Mann, mit dem ich nach Westen gezogen bin. Er ist mir wie ein Vater.«

»Wie ein Vater? Lebt er jetzt immer bei euch?«

»Ja. Im Augenblick kümmert er sich um Garet, unseren Sohn. Selbst hat er anscheinend keine Bedürfnisse, aber er muss Menschen haben, für die er sorgen kann. Schließlich braucht dein Neffe nicht Arbeit. Er braucht jemanden, der ihn liebt.«

Tor schnaubte. »Ein Shumaimann mag das ganz gern haben, aber er braucht es niemals.«

Ahroe streckte unvermittelt die Hand aus und tätschelte Tors Bein, wie er so dastand, dann lächelte sie und lachte schließlich laut heraus. »Schon gut, Tor. Aber ich habe Shumai kennengelernt, die das sehr gern haben und denen man kaum mehr anmerkt, dass sie es nicht brauchen. Und jetzt hole ich wohl besser Stel, wenn ich ihn von seiner Musik losreißen kann. Es ist Schlafenszeit, richtig? Wo ist deine Felsnase? Kommst du mit, Winnt? Schläft Igna schon?« Aber sie blieb nicht stehen, um eine Antwort abzuwarten, und die beiden blickten ihr nach, wie sie steifbeinig vom Laufen davonging.

Dann sahen sich die Männer an. »Sie ist schon eine prima Frau«, sagte Winnt, »für eine Pelbar.«

»Sie ist eine prima Frau und sie wird sicher gut zu Tristal sein. Und Stel ist noch besser.«

Tor streckte die Hand nach unten, und die beiden berührten sich mit der rechten Handfläche. Dann hob der Axtschwinger seine Fellrolle auf und ging leichtfüßig auf die Felsnase zu.

ZWEI

In der Nacht hatte es etwas geregnet, die erste Dämmerung brachte grauen Himmel, durchweichten Boden und feuchten Wind, aber keine Regenfälle mehr. Die ganze Versammlung wurde früh munter und stand ohne Feuer oder Essen auf, alle wanderten aus dem Lager und stiegen hinauf zum Rand des Hügels im Westen, der die Grenze der Verbrennung markierte, der leeren Stelle aus der Zeit des Feuers.

Als es heller wurde, sahen Stel und Ahroe ein trostloses Ödland, von viel mehr Rinnen durchzogen als die leeren Stellen des Westens, mit den typischen glasigen Oberflächen, wo das Land zu einem massiven Belag zusammengeschmolzen war, hier jedoch durchschnitten, zerfurcht und vom Regen zernagt. Nicht sehr weit unten an dem Hang vor ihnen ragten undeutlich die Umrisse eines Gebäudes aus alten Zeiten aus dem Berg hervor, aus künstlichem Stein, den die Pendler »Beton« nannten. Die Kuppel am Ende hing schon jetzt halb in der Luft, einige ihrer Pfeiler ragten ins Leere.

Während der Himmel langsam heller wurde, ungefähr zur Zeit des Sonnenaufgangs, den man wegen der Bewölkung nicht sehen konnte, glitt klein und weit entfernt ein Quadrat in der Kuppel auf und ein langer Stab stieg langsam höher und höher in die Luft. Die Spitze war verbogen und schien irgendwie gespalten, als sei ein nicht dazugehöriges Metallstück darangeschweißt. Endlich stieg der Stab nicht mehr weiter. Als er sich dann langsam drehte, ging ein ehrfürchtiges Raunen durch die Menge. Der Stab hielt an. Dann drehte er sich in die entgegengesetzte Richtung und sank langsam in die Kuppel zurück. Das kleine Quadrat schloss sich und passte sich so in die umgebende Fläche ein, dass man von der Hügelkuppe aus nicht so leicht sehen konnte, wo es sich befand.

Lange Zeit bewegte sich niemand, keiner sprach. Das Auftauchen des Stabes konnte nach der Pelbaruhr nicht mehr als vier Sonnenbreiten gedauert haben. Ahroe schaute Stel an. »Jemand ist da drinnen«, sagte er.

»Oder ein Mechanismus.«

»Vielleicht. Aber was ist, wenn wirklich jemand drinnen ist? Wir sollten es wissen.«

»Wie denn? Schau doch! Es ist eine leere Stelle.«

Stels Augen wurden schmal, aber er schwieg. »Stel«, sagte Ahroe. »Stel. Du darfst nicht auf die Idee kommen, da hineinzugehen. Schau doch, was mit Stantu passiert, dem Shumai in Nordwall! Schau dir die Ozar an! Das ist ein langsamer, qualvoller Tod.«

Stel legte den Arm um sie. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit. Aber nicht heute. Darüber sprechen wir zu Hause.«

»Ja, Stel. Ich weiß, dass dir das keine Ruhe mehr lassen wird.«

Er lachte. »Ich glaube, ich sollte die Kuppel aufzeichnen, jedenfalls soweit ich die Dimensionen von hier aus erkennen kann. Schau! Ein paar von den Leuten brechen schon auf.«

Tor kam zu ihnen herübergeschlendert. »Was meint ihr?«, fragte er.

»Wir sind nicht sicher«, sagte Ahroe. »Stels erste Reaktion war, dass da drin Menschen sind. Aber die müssten noch von der Zeit des Feuers her in diesem Bau sein, und das sind ungefähr elfhundert Jahre. Wir wissen, dass das unmöglich wäre.«

»Wirklich?«, fragte Stel. Dann sah er den Ausdruck auf den Gesichtern der anderen. »Ja, doch, wir wissen es«, fügte er hinzu.

»Da ist noch etwas wegen Tristal«, sagte Tor.

»Ja?«

»Er hat eine Hündin. Er hängt schrecklich an ihr.«

»Ein Shumaihund? Eines von diesen Riesenviechern?« »Groß ist sie schon, aber sehr sanft. Könntet ihr euch mit einem Hund in der Nähe abfinden?«

Ahroe schaute Stel an und merkte an seinem Gesicht, dass er glaubte, es würde ihm Spaß machen. Da die Pelbar schon so lange hinter Mauern lebten, hatten sie nur wenige Haustiere, und die waren klein und dienten im Allgemeinen bestimmten Zwecken, wie die Botenvögel, die Nachrichten von einer Stadt zur anderen trugen.

»Dann hat Hagen jemanden, der ihn auf die Jagd begleitet«, sagte Stel. »Natürlich müssen wir den Hund haben. Es wird ihm gut gehen.«

Tor legte Stel die Hand auf die Schulter, als sich der Pelbar hinhockte und zu zeichnen begann. »Ihr seid gute Menschen. Ich werde hier auf ihn warten und bringe ihn dann nach Pelbarigan.« Er blickte hinunter auf die Zeichnung, die Stel angefangen hatte. »Das ist sehr gut. Du hast es genau wie in Wirklichkeit hingekriegt. Sie ragt dieses Jahr so viel weiter heraus. Schau nur, wie die Erde darunter weggerutscht ist. Ich fürchte, noch so ein nasses Jahr wie dieses, und das ganze Ding bricht zusammen. Da ist außerdem etwas Neues. Dieser schwarze Fleck in der Nähe der Kuppel. Den habe ich noch nie zuvor gesehen. Schau! Da sickert etwas aus der Erde heraus.«

Sie schauten hin und sahen unterhalb der Kuppel einen Fleck, der zähflüssig und glänzend schien. Tor zuckte mit den Achseln. »Nun, ich gehe jedenfalls nicht hinaus, um davon zu kosten. Jetzt habt ihr es also gesehen. Das Aufsteigen des Stabes. Seltsam ist es schon. Wollt ihr heute aufbrechen?«

»Ja. Wenn Stel fertig ist.«

»Dann sage ich Lebewohl. Ich muss nach Süden laufen und sehen, ob die Zarriff-Bande kommt.« Er tauschte die Abschiedsgesten mit ihnen und brach auf. Seine zweischneidige Axt klatschte beim Laufen gegen seinen rechten Schenkel.

Der Raum leuchtete in gelbem Schein. Er war quadratisch und wurde von einem langen, über die Decke laufenden Streifen erhellt. Um einen Tisch aus abgewetztem gestrichenem Metall scharten sich acht Menschen, dünn und leicht gebückt, in einteiligen Kleidungsstücken, die wie Körperstrümpfe aussahen, aber lockerer saßen, meist dunkel, anthrazitgrau. An einer Wand bewegte sich eine Reihe leuchtender Punkte auf einem großen Bildschirm. Ein alter, dunkelhäutiger Mann betrachtete den Bildschirm und sagte: »Die Komps bereiten sich darauf vor, die Stange auszufahren. Wir haben jetzt Zeit für deinen Bericht, Susan, da du darauf bestehst.«

Er blickte hinüber zu einer kleinen, uralten, ein wenig grimmig aussehenden Frau, die gebückter dasaß als die anderen.

»Wie viel wollt ihr hören? Im Ganzen würde es einige Zeit dauern.«

»Du brauchst nur zusammenzufassen. Wir kennen die Geschichte alle.«

»Das glaubt ihr. Ihr wollt mich wohl bei Laune halten. Dann werde ich …«

»Sag mal, Susan«, sagte ein gedrungener Mann nachdenklich. »Warum hast du den Nachnamen Wart angenommen – und erst vor so kurzer Zeit? Bist du die Wärterin in diesem Gefängnis? Die verschrumpelte Wärterin in einem verborgenen Gefängnis?«

»Butto – sei bitte still!«, sagte eine zweite Frau, jung und sehr schön. »Lass uns zur Sache kommen!«

Susan räusperte sich. Dann legte sie ihr altes Hackbrett aus echtem Holz, liebevoll mit Plastik ausgebessert, zur Seite. Ihr dünner Körper wirkte kräftig, hing aber lose um ein Knochengerüst. In alten Zeiten hätte man sie, wie auch Royal, den zweiten alten Menschen hier, eine Schwarze genannt. Die übrigen Prinzipale, die alle in dem Raum versammelt waren, waren weißhäutig wie die meisten Komps.

»Es ist alles recht traurig. Ihr müsst versprechen, mich nicht zu unterbrechen.«

»Ja, einverstanden«, seufzte Royal.

»Also gut«, begann sie. »Wie wäre es, wenn wir mit einem Kapitel offizieller Geschichte anfingen? Hier. Ich werfe sie auf den Schirm.«

Sie berührte eine Reihe von Quadraten auf dem Tisch, und auf der Wand leuchtete ein gedruckter Text auf:

Nach vielen Diskussionen gelangte der ursprüngliche Rat zu dem Entschluss, das richtige Verhältnis auf der Arbeitsebene sei mit zwanzig Prinzipalen und dreißig Komponenten aufrechtzuerhalten. Die Entscheidung, welche von den Leuten Komponenten werden sollten, erwies sich als schwierig, da man ihnen die niedrigen Arbeiten in Kuppel und Ebenen zuweisen würde, aber man entwickelte eine Batterie von Intelligenz- und Anpassungsfähigkeitstests, und die zwanzig besten wurden dazu auserwählt, die Prinzipale zu werden. Überraschenderweise waren die anderen ziemlich freudig damit einverstanden, denn sie wussten ja, dass aller Wahrscheinlichkeit nach die Zukunft der Menschheit in ihren Händen lag. Sie meldeten sich freiwillig als Komponenten und unterwarfen sich widerstandslos dem notwendigen Drogenprogramm, das garantieren sollte, dass ihre Persönlichkeit nicht von der Gelassenheit und der ruhigen Entschlossenheit abwich, die notwendig waren, um Kuppel und Ebenen auf höchster Effizienz zu halten. Dieses Verhältnis wurde seitdem sorgfältig und auf wissenschaftliche Weise beibehalten, und es hat zu einem so reibungslosen Funktionieren geführt, dass es ein Beweis für die Weisheit der Gründer und ihrer Ziele und Strategien ist. Es besteht daher die Hoffnung, dass künftige Generationen es ebenfalls für angebracht halten, der Weisheit gerechter Proportionen zu folgen, und dass die Genetiker ihre Operationen dementsprechend planen.

»Mit diesem Text seid ihr sicher alle vertraut«, sagte Susan trocken. »Nachdem Royal vorschlug, ich solle eine unabhängige Untersuchung unserer Geschichte durchführen, damit ich ihm nicht in die Quere käme, fand ich heraus, wie falsch diese Geschichte ist. Je genauer ich mir die ganze Sache angesehen habe, desto faszinierter war ich.«

»Ja, ja. Was hast du herausgefunden?«

»Ich habe genügend Plastikdokumente und Bänder gefunden, die darauf hinweisen, dass eine Zelle von Chefwissenschaftlern unter sich beschloss, die Bevölkerung auf fünfzig zu verringern. Natürlich waren sie – die Chefwissenschaftler – dabei vollzählig mit eingeschlossen. Aber sie berechneten sorgfältig die zur Verfügung stehenden biologischen und chemischen Ressourcen, entschieden dann, da sie die existierende Menge wiederverwertbaren Materials kannten, einschließlich des organischen, das sich zu dem Zeitpunkt in lebenden Menschen befand, in aller Stille über die zum Rassengleichgewicht, zur Erziehung und zur Stabilität geeignete Menschenmischung und gingen daran, die übrigen zu liquidieren. Das war offenbar nicht so einfach. Sie hatten große Schwierigkeiten mit einigen instabilen, das heißt widerspenstigen Typen, besonders mit einer Gruppe, die von einer Frau namens Sheela Winehimer, einst Labortechnikerin in der ursprünglichen Anlage zur Arzneimittelherstellung, angeführt wurde. Es kam zu einem heftigen Kampf. Die Unterlagen berichten, dass er auf Ebene drei im Südwestquadranten stattfand. Ich bin hingegangen und habe Spuren davon an den Wänden gefunden, obwohl man sie ausgebessert hatte.

Also hat unsere Geschichte mit einem Massenmord begonnen, und …«

»Wie es der Mensch immer getan hat und immer wieder tun wird«, sagte Butto kopfschüttelnd.

»Du hast wieder diesen Dichter, diesen Jeffers gelesen«, sagte Dexter, ein zweiter junger Mann, sarkastisch.

»Ich möchte«, unterbrach Susan sanft, »mit einem anderen Mythos fortfahren. Die offizielle Geschichte behauptet, dass die Genetiker das Größenniveau der Komps sofort senkten. In Wirklichkeit waren die Komps einige Jahrhunderte lang genauso groß wie die Prinzipale gewesen, und die Entscheidung, sie zu miniaturisieren, hatte ihren Ursprung in einer geheimen Liaison zwischen einem Genetiker und einem Komp. Das störte die starre Sozialstruktur und löste einen Aufstand aus. Man schritt zur Miniaturisierung, um sicherzustellen, dass das nie wieder geschehen würde.«

»Eine Liaison? Aber die Komps sind sterile Männer. Sicher …«

»Das war nicht immer so. Sie gehörten beiden Geschlechtern an und haben lange Zeit zusammengelebt …«

»Unsinn. Schau! Die Signale von den Komps kommen herein«, sagte Zeller, ein Mann mit braunen Haaren und einem langen Gesicht.

Eine Reihe von Lichtern veränderte sich, wanderte über den Bildschirm und bildete Zahlenreihen. Alle wandten sich ihnen zu, um sie zu begutachten.

»Da haben wir es. Genau wie immer. Starke Strahlung, wohin der Scanner sich auch wendet. Es ist schwer zu glauben. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, es nachzuprüfen.«

»Hinausschicken können wir niemanden. Keiner unserer Schutzanzüge hält etwas wie diese Strahlung lange aus. Wir können nicht einfach jemanden opfern.«

»Aber sieh doch. Wie gewöhnlich zeigt der getrennte Lufteinlass keine Strahlung, ja, sogar weniger Hintergrundstrahlung als gewöhnlich.«

»Das liegt am Wetter. Am Regen. Da wird kein Staub aufgewirbelt.«

Die schöne Eolyn meldete sich mit ihrer überraschend tiefen und vollen Stimme zu Wort. »Verlang bitte den Bericht vom Sichtfenster, Royal! Mal sehen, was die Komps zum Wetter und zur Umgebung zu sagen haben.«

Royal berührte mehrere Knöpfe. Eine Stimme kam von der Decke, gleichzeitig wurde das, was sie sagte, in Lichtbuchstaben an die Wand geworfen. »Die Aussicht ist die gleiche, aber die Erosionsrinnen sind tiefer. Die Pegelrinne hat sich seit der letzten Messung um siebenundneunzig Zentimeter vertieft. Die nördlich davon um annähernd einhundertzwanzig Zentimeter. Die glasige Oberfläche bröckelt ab. Jetzt fällt gerade kein Regen, aber vorher ist viel Regen gefallen. Die Landschaft zeigt immer noch keine Anzeichen von Leben. Wenn der Abhang der Kuppel so verwittert ist wie der Aussichtshang, dann wird die Kuppel langsam freigelegt.«

Bei diesem letzten Satz zog Ruthan, eine andere junge Frau, scharf den Atem ein. Eolyn betrachtete sie mit leicht gerunzelter Stirn.

»Die Gefahr wächst also«, sagte ein älterer Mann.

»Die Kuppel hat bisher gehalten und wird weiter halten. Sie muss halten. Wir könnten die letzten Menschen auf dem Planeten sein. Das letzte Leben. Wir müssen die Strahlung überdauern. Der Regen wird uns helfen. Er wird sogar den tief verseuchten Boden wegwaschen.«

»Das hat er nie getan.«

»Zeit für die anderen Berichte«, sagte Royal. »Zeller, gib uns das Material!«

Zeller berührte ein weiteres Quadrat von Knöpfen. Als die Reihen auf dem Schirm erschienen, intonierte er: »Algen: normal. Energie: normal. Luftaufbereitung: normal. Organisches Recycling: normal, bis auf die ganz leichte, saisonal bedingte Senkung. Wir müssen besser isolieren, damit das nicht mehr vorkommt. Hydroponik: normal. Saatgutkonservierung: normal. Wolframrückgewinnungsprojekt: 40 Prozent. Freonkonzentration: zufriedenstellend. Vorhandensein unerwünschter organischer Stoffe: keine. Ölvorratsstand …«

Als Zeller innehielt, blickten alle auf. Sie waren wie vor den Kopf gestoßen. Royal hob die Hand. »Gib die Zahlen noch einmal ein, Zel!«

Zeller gehorchte, aber das Ergebnis blieb das Gleiche. »Vielleicht eine Störung in den Sensoren«, bemerkte Royal.

»Das können wir überprüfen«, sagte Zeller. »Ich werde Druck und Strömung von der oberen Kammer zum Geweberaum verlagern. Das lässt sich leicht zurückleiten.«

Zeller schickte mit flinken Fingern die Befehle los.

Auf dem Schirm erschien eine Reihe von Nullen.

»Die untere Kammer wird es uns verraten«, sagte Zeller nervös. »Sie hat einen getrennten Schaltkreis. Vielleicht eine Störung.« Wieder gab er die Zahlen ein. Wieder war auf dem Schirm eine Reihe von Nullen zu sehen.

»Die Alten«, sagte Butto, »hatten nie vorgesehen, dass dieser Tank so lange halten sollte. Er hat nachgegeben. Wir haben unseren Ölvorrat verloren.«

»Aber es wurden doch wiederholt Innenreparaturströme hineingepumpt, sogar als Vorsichtsmaßnahme.

Man hat alle Sorgfalt walten lassen«, sagte Zeller.

»Reparaturen von innen erhalten die Struktur nicht«, gab der prophetische Butto zurück. »Mit der Zeit bricht alles zusammen. Versorgung von außen ist erforderlich. Wir sind ein Samenkorn in einer undurchdringlichen Schale und essen uns selbst auf. Nun beginnt sogar die Schale zu zerbröckeln. Wir müssen wachsen oder sterben. Es ist besser, wenn wir sterben, falls wir sonst eines Tages die Erde wieder so verwüsten.«

»Du bist ein Dichter, Butto«, sagte ein gemütlich aussehender alter Mann mit einer Mähne weißen Haares. »Deine Anschauungen sind umfassend, interessant und nicht technisch. Zeller, was sind die Folgen …«

Thornton Cohen-Davies wurde jedoch unterbrochen, weil durch die Schiebetür ein rothaariges Mädchen auftauchte, schmal und zierlich, mit einem sonderbar verzückten Gesicht. Sie wedelte langsam mit den Armen durch die Luft, ging im Zimmer herum und stieß leise bellende Laute aus. Zweimal umrundete sie den Tisch, während die Versammlung immer ungeduldiger wurde. Dann blieb sie bei Royal stehen, griff über seine Schulter und berührte seine Schalttafel so schnell, dass ihre Hände zu verschwimmen schienen. Der Bildschirm erwachte zum Leben, ein Muster von Punkten erschien, und als sie weiterhin Lichter aufrief, bildeten sie einen riesigen Vogel mit langem Hals und breitem Körper, der mit großen Flügeln flog. Die Gruppe zuckte angesichts eines so grotesken Geschöpfes erstaunt zurück. Butto löschte plötzlich die Lichtzeichnung und murmelte: »Niemand, nicht einmal ein unausgeglichenes Kind, sollte die Natur so verzerren dürfen. Die Vögel auf den Bändern sind Geschöpfe von makelloser Schönheit – nicht solche Scheusale. Seht euch doch diese geistige Verzerrung an!«

Celeste, das Kind, griff wieder über Royals Schulter und berührte die Schalttafel erneut rasend schnell. Alle blickten auf und sahen, wie sie ein geschwungenes, sich bewegendes V aus winzigen Kreuzen schuf und es über die Bildschirmwand schickte. Ein zweites folgte ihm. Celeste schaute verzückt zu. Butto wollte es wieder löschen, aber Royal hatte sein Signal blockiert. Butto erhob sich und verließ mit einem erstickten Knurren und großen Schritten den Raum.

Royal schaute Celeste an. »Mein Kind, leg das auf den Speicher und überspiele es auf deinen eigenen Schirm. Wir haben hier ein ernstes Problem zu besprechen. Verstehst du? Geh jetzt! Wir müssen weitermachen.« Er erhob sich und führte das verlegene Mädchen sanft aus dem Zimmer. Zeller fuhr fort, den Ölvorrat auf dem Schirm zu testen. Die Lichter besagten immer wieder, dass nichts mehr vorhanden war. Alle saßen schweigend da.

»Was schlägst du vor, Zeller?«, fragte Royal.

»Eine genauere Untersuchung mit Einsatz von Komps.« »Wirst du sie führen?«

»Natürlich.«

»Wir setzen die Besprechung später, um 3300, fort.«

Alle bis auf Cohen-Davies standen auf und wollten gehen. Er blieb auf seinem Platz sitzen, rief dann das Vogelgeschöpf wieder ab, das Celeste auf den Schirm gebracht hatte, und saß nachdenklich davor.

Eolyn, die Frau mit der vollen Stimme, blieb am Schiebeabschnitt stehen und beobachtete ihn. »Was ist, Thor?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich glaube mich an etwas zu erinnern. An etwas aus den zerstörten Speicherprogrammen. Was wäre, wenn …? Vielleicht, wenn ich mir das hier lange genug ansehe.«

»Celeste kann zwar nicht sprechen, aber mit den Lichterreihen geht sie sehr geschickt um. Vielleicht können wir sie irgendwann im technischen Bereich einsetzen«, sagte Eolyn.

»Geschickter als jeder von uns übrigen«, entgegnete der alte Mann. Eolyn ließ ihn im gelben Licht sitzen, wo er den großen, plumpen, in Lichtpunkten umrissenen Vogel betrachtete, der majestätisch langsam über die Bildschirmwand flog.

Draußen blieb Susan auf dem Weg zu ihrem Zimmer stehen, um Buttos Rücken zu betrachten. Er schien ihr gekrümmter denn je.

»Butto.«

Er drehte sich um. »Nicht jetzt. Du vergrößerst ständig mein Elend, Wärterin.«

»Butto, keine Drogen mehr. Du brauchst sie nicht. Du hast Kraft genug, den Tatsachen ins Auge zu sehen.«

»Sind es denn Tatsachen?«

»Ja, natürlich. Ich werde dir die Daten zeigen.«

»Nein. Lass nur! War das alles?«

»Nein. Das war nur ein kleiner Teil. Aber eines habe ich gelernt, nämlich wie gefährlich es in unserer Vergangenheit war, wenn wir zu viele Drogen einsetzten, um unser Verhalten zu steuern. Das darfst du nicht tun.«

»Wir haben es immer getan.«

»Nein. Nicht immer. Es hat immer Drogenperioden und Charakterperioden gegeben. Eine unserer schönsten Perioden, ein kurzes, goldenes Zeitalter, kam unter der Führung eines Mannes, der sich ausgerechnet Benjamin Jefferson nannte. Als er Oberster Prinzipal war, komponierten wir das einzige Mal Musik, die es mit der der Alten aufnehmen konnte. Wir rezitieren immer noch einige Gedichte aus dieser Zeit, und unsere einzigen drei Kuppelromane stammen aus einer Vierjahresperiode unmittelbar vor dem Ende dieser Ära. Ja, ein Roman, von dem du sicher gehört hast, ›Neugierige Ratten und aufgeblasene Füchse‹, wurde in Wirklichkeit von einem Komp gesprochen, wenn er auch mit Jefferson abgesprochen hatte, der Oberste Prinzipal solle ihn vorlesen, um ihn aufzuwerten.«

»Ein Komp? Das? – Ein gutes Buch. Ich habe es mir mindestens dreimal angehört. Was ist passiert?«

»Nun, das hier ist ein ziemlich langweiliger Ort, weißt du. Die Drogen stumpfen uns dagegen ab. Ohne sie gab es zum Teil rasende Langeweile, und die führte – wie du weißt – zu einem Aufstand der Komps, weiteren Tötungen und zu einer Wiederaufnahme der Drogenbehandlungen.«

»Nun, ist das denn nicht ein Beweis dafür, dass Drogen notwendig sind? Die destruktiven Tendenzen des Menschen müssen gezügelt werden.«

»Oh, Butto. Man kann auch die Vorstellung vertreten, dass der große Anstieg des Drogenkonsums bei den Alten in den letzten Tagen vor dem Holocaust vielleicht etwas mit der schrecklichen städtischen Umgebung zu tun hatte, die sie sich schufen. Die Drogen dienten zum Teil dazu, die Welt, die sie sich geschaffen hatten, aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Diese Tradition setzte man hier fort. Schließlich wurden einige der Drogen hier hergestellt. In den alten Zeiten nahmen manche Menschen sogar Drogen, um aufzuwachen oder einzuschlafen.«

»Was ist dagegen einzuwenden? Ist das nicht ein Zeichen für die überlegene Herrschaft des Menschen über seine eigenen schrecklichen Neigungen? Wir können uns nicht von unseren Launen oder der zufälligen biochemischen Verfassung unserer elenden Körper abhängig machen.«

Susan sah ihn an. »Butto«, begann sie, aber er wandte sich ab. Sie schaute ihm nach, als er den Korridor hinunter schlurfte, dann wandte sie sich ihrem weit entfernten Zimmer und ihrer gewohnten Abgeschiedenheit zu.

Butto erreichte den Treppenabsatz und blickte zurück. Das Stirnrunzeln auf seinem Gesicht vertiefte sich. Er stieg auf Ebene zwei und zum Drogenlabor hinunter und mischte flink mehrere Chemikalien auf einem Löffel, während er die Tür im Auge behielt. Dann leckte er blitzschnell die Kristalle vom Löffel, warf ihn kurz in den Ultraschallreiniger, legte ihn dann auf das Regal und ging. Während er die Treppen weiter hinunterstieg, gab er auf seinem Gürtelkommunikator einen Privatcode an mehrere Komps ein.

Als er Ebene sieben erreicht hatte, suchte er sich den Weg durch die Lagerstapel zu einer entfernten Ecke, die er aus einer Laune heraus das »Zimmer der dunklen Neun« getauft hatte, ein Ort, der von niemandem aufgesucht wurde, wie Butto annahm, außer von ihm selbst und seinen acht Lieblingskomps. Er war allein. Schnell warf er seinen Anzug ab, ließ sich nackt im Lotussitz nieder und zog seine massigen Beine zurecht. Seine Finger streckten sich, die Wände wurden hell und lebendig, zum zehntausendsten Mal lief das Band des Dschungellebens vor der Zeit des Holocaust ab. Als die Drogen zu wirken begannen, beobachtete er, wie die Schatten und Bewegungen eckig wurden. Sein Gesicht nahm einen verzückten Ausdruck an, als die purpurnen Blätter von Unterholzgewächsen sich bewegten. Große Insekten flogen summend vorbei. Kleine Vögel, aquamarin- und jadefarben, flitzten von Blatt zu Blatt, und das von oben durchsickernde Licht, das die großen, haarigen, blaublättrigen Bäume kaum durchdringen konnte, bildete flackernde Formen auf dem Waldboden.

Butto wusste, dass jetzt gleich die Schlange kommen musste, die große mit dem Edelsteinrücken und der vierfach gespaltenen Zunge, die mit ihren tausend winzigen Beinen über den Boden kroch. Butto liebte es, ihr zuzusehen, wie sie ihre Masse über einen faulenden, rosafarbenen Stamm schob und einen Augenblick lang auf der abbröckelnden Wölbung innehielt wie auf einer zweiten, größeren Schlange, auf ihren Schuppen zersplitterte Feuer wie in Honigtröpfchen, die die sich balgenden Fuschiakäfer auffraßen. Dann glitt die Schlange endlich weiter, die Linie ihres Körpers wurde kleiner, der Pfeil ihrer Schwanzspitze teilte sich, jedes Ende bekam einen Lichtstachel. Ja, vor dem Atomkrieg war die Erde schön gewesen.

»Wir verdienen«, sagte Butto laut, »keine zweite Chance draußen. Wir würden es wieder tun. Wir sind abscheulich, niemals so herrlich wie diese Schlange. Sogar die Blätter in der Hydroponik sind grün – hässlich und mutiert.« Wieder stimmte Butto das Gedicht von Parker Steinberg aus der fünften Generation von Kuppel und Ebenen an, eine klagende Aufzählung der Laster des Menschen und der Sehnsucht nach natürlichem Frieden auf der Erde. Während er die Hexameterpaare sang, umgeben von Bildern der sich bewegenden purpurnen Blätter, stießen Komp 9 und Komp 11 zu ihm. Auch sie waren nackt und fielen wie in Trance in den Gesang ein, indem sie die Verse immer und immer wieder wiederholten. Die beiden Komps waren nur ungefähr einsdreißig groß und von zartem Körperbau. Ihre Gesichter wirkten glasig. Ihre Hände waren verschrammt und ihre leeren Augen blickten träge und fügsam.

Zeller ließ jeden Test durchlaufen, der ihm einfiel, und jeder ergab, dass das Öl aus dem Tank ausgelaufen war. Obwohl es keine so große Katastrophe war wie der Einsturz eines Stockwerks, bei dem vor Kurzem sechzehn der fünfzig Menschen getötet worden waren, die die Bevölkerung von Kuppel und Ebenen ausmachten, war auch das ein größeres Unglück. Man hatte das Öl sparsam verwendet, um nötigenfalls Nahrungsmittel synthetisch herstellen zu können, Gewebe zu produzieren und das Plastik zu gießen, aus dem fast alles in dieser abgeschlossenen Kultur geformt war. Thornton Cohen-Davies ließ das Bild des Vogels über den großen Bildschirm des Beratungsraums laufen. Er war beunruhigt und verwirrt. Sein Arbeitsgebiet war schon seit Langem der Humanistische Speicher. Er war einer von dreien gewesen, deren Pflicht es war, das Leben der Alten immer und immer wieder durchzugehen, wie es vor der atomaren Katastrophe gewesen war, sich zu erinnern, zu konservieren, auszusortieren und Hinweise zu geben. Die beiden anderen, die damals in der Genetik arbeiteten, waren bei dem plötzlichen Einsturz des rückwärtigen Teils von Ebene fünf umgekommen. Was war mit diesem Vogel los? Bestimmt war er unwirklich, ganz anders als die auf den Bändern, die er gesehen hatte. Aber er erinnerte ihn an etwas. Was für sonderbare Füße – wie bei den legendären Alligatoren, die die Sümpfe des Südens bevölkert hatten, ehe sie in dem alles verzehrenden Feuer zu Sülze gekocht worden waren.

Wurde er allmählich senil? Hatte sein lange geschultes Gedächtnis versagt? Das war doch seine Aufgabe – alles über diesen Vogel zu wissen, wenn es ein Vogel war. Ein Gedanke ging ihm durch den Kopf. Celeste, die nicht mehr gesprochen hatte, seit sie als kleines Kind im Genetiklabor einen Schock erlitten hatte, war sonderbar. Sie verständigte sich vor allem mithilfe der Maschinen, und mit ihnen konnte sie großartig umgehen. Ihre mathematischen und begrifflichen Fähigkeiten straften ihren plumpen Gang und ihre langen, knubbeligen Beine Lügen. In ihrer Mathematik war sie anmutig und reif.

Cohen-Davies gab einen Code ein, und eine Stimme sagte: »Komp 14.«

»Bist du noch in der Entseuchung? Hier spricht Cohen-Davies. Ich habe Instruktionen für dich.«

»Ja, Prinzipal Davies. Ich bin fast fertig. Komp 19 und 3 sind fort. Ich bin allein.«

»Dann lege deine Übertragung bitte auf Modus 25-7.«

»Ja, Prinzipal.«

»Also, Bill, jetzt hör mir mal zu! Hat es da draußen wirklich so ausgesehen, wie ihr gesagt habt?«

»Ja, Thor. Alles öde und abweisend. War es das, was du wissen wolltest?«

»Nein. Celeste hat einen Vogel lichtgezeichnet. Ich werde ihn auf deinen Bildschirm projizieren.« Er drückte einen Knopf.

»Hässliches Wesen. Sie hat wirklich eine wilde Fantasie. Vermutlich hilft sie ihr, hier unten normal zu bleiben – das heißt, wenn sich keiner einmischt.«

»Ja, Bill. Denk nach! Das Ding verfolgt mich. Ich glaube, ich sollte darüber Bescheid wissen. Hat es jemals eine reale Entsprechung gehabt?«

»Wie soll ich das wissen? Ich habe natürlich nie etwas dergleichen gesehen.«

»Könnte es sein, dass Celeste außerhalb der Ebenen gewesen ist? Könnte sie vielleicht draußen irgendetwas gesehen haben?«

»Sehr unwahrscheinlich, Thor. Das Alarmsystem hätte es gemeldet.«

»Vielleicht hat sie mit ihrem immensen Wissen über das ganze Netz einen Weg gefunden, es zum Schweigen zu bringen. Was meinst du?«

»Ich bezweifle es. Aber wenn sie die Kuppel betreten hätte, würde noch eine ganz schwache Strahlung an ihr haften. Das Beste wäre, mit einem Zähler nahe an ihr vorbeizugehen – bald, ehe die Radioaktivität sich verflüchtigen kann. Wenn sie dort gewesen wäre, bestünde auch noch die zusätzliche Gefahr unerwünschter, organischer Stoffe.«

»Ja. Ich möchte nicht, dass sie in Schwierigkeiten kommt. Könntest du diskret einen solchen Test machen? Ich werde zusammen mit ihr auf Ebene zwei, hinterer Flügel, um 3250 an dir vorbeigehen. Ist das akzeptabel?«

»Ja, Thor. Das geht. Kannst du dich später für ein Spiel frei machen?«

»Vielleicht. Aber zuerst wollen wir das in Ordnung bringen. Ich muss Schluss machen. Es kommt jemand.«

Bei Eolyns Annäherung glitt die Trennwand beiseite; sie trat ein. Celestes Vogel flimmerte immer noch auf der Wand. »Schalt das ab, Thor! Es hat Butto wieder in Erregung versetzt, das weiß ich, und jetzt ist er verschwunden. Ich fürchte, er wird allmählich gefährlich und braucht eine Gehirnwäsche.«

»Ziemlich hart, ihm das jetzt anzutun. Es sind, glaube ich, Drogenrückstände. Er ist schließlich der Einzige, der noch über genetische Kenntnisse verfügt, nachdem die anderen beim Einsturz des Stockwerks ums Leben gekommen sind.«

»Aber ich mache mir Sorgen. Er hat offenbar Anhänger. Wir sind jetzt nur noch so wenige. Wenn er wirklich eine Gruppe von uns überzeugt, dass die ganze Menschheit ausgerottet werden sollte, könnte er es versuchen. Das müssen wir von vorneherein ausschließen.«

»Vielleicht hast du recht. Nun, ich muss gehen. Ich will mich mit Celeste unterhalten.«

»Wenn das nur möglich wäre.«

»Ich möchte sie gerne dazu bringen, dass sie wieder mit der Hand bestäubt. Das scheint sie zu beruhigen. Sie summt dabei den Blumen etwas vor.«

»Arme Celeste. Zum Teufel mit ihr!«

Cohen-Davies verließ den Raum und ging den düsteren, schwach gelblich erleuchteten Korridor entlang. Später, als er und Celeste durch Ebene zwei gingen, kamen sie an dem kleinen, unscheinbaren Komp 14, Cohen-Davies’ geheimem Freund, vorbei, den er heimlich aus seiner chemisch verursachten Teil-Lobotomie herausgeholt hatte, indem er sie durch Gegendrogen verringerte. Sie waren seit einigen Jahren Freunde, spielten Elektronik-Bridge mit eigenen Kodierungen, bedachten einander mit Bemerkungen und fanden sogar einen Weg, elektronisch zu lachen, indem sie die geheimen Impulse aus der geräumigen, mit Akten gefüllten Unterkunft von Cohen-Davies auf Ebene eins hinunter auf Ebene fünf zur sterilen Zelle von Komp 14 oder Bill schickten, wie Cohen-Davies ihn nannte.

Als Celeste und Cohen-Davies weitergingen, verriet ihm ein dünnes elektronisches Winseln, dass Celeste tatsächlich draußen in der Kuppel gewesen war, wie, das konnte er sich nicht vorstellen, weil dort aufgrund der Einschränkungen, die Strahlenschutz und Schutz vor Kontamination mit Mikroorganismen erforderten, nur die Komps hingingen. Die Ebenen selbst waren seit Langem rein.

Cohen-Davies drehte das Mädchen unvermittelt herum und marschierte mit ihr zum verlassenen Genlabor. Sie war erschrocken und tastete nach einer Reihe elektronischer Knöpfe. Cohen-Davies sorgte dafür, dass sie außerhalb ihrer Reichweite blieben. Er setzte sie auf einen Labortisch und sagte, nicht unfreundlich: »Jetzt hör mal zu, Celeste. Ich weiß, dass du in der Kuppel warst.« Sie zuckte zusammen. »Ich werde es niemandem erzählen. Aber du bist strahlenverseucht – wenn auch nur leicht. Auch eine organische Kontamination ist ziemlich wahrscheinlich. Wir müssen dich in aller Stille entseuchen, damit niemand es merkt. In Ordnung? Verstehst du mich?«

Sie griff nach seiner Hand. Er berührte seinen Gürtelkommunikator, und Komp 14 erschien und führte sie den Korridor hinunter. Bald zeigte er ihr, wie sie den Anschein erwecken konnte, als führe sie ihn, wie es sich gehörte.

Cohen-Davies saß da und grübelte. Vielleicht war sie bis zum Fenster gekommen. Vielleicht gab es so etwas wie diese Vögel. Wenn das zutraf, dann war draußen vielleicht nicht das gesamte Leben zerstört worden. Diese Vögel mussten doch sicher von irgendwoher nach irgendwohin fliegen. Ihr zweites elektronisches Bild wies auf einen ganzen Schwarm davon hin. Mein Gott, was würde das bedeuten? Aber was war mit der Strahlung? Bestimmt hatte der Stab sie richtig gemessen. Sie hatten die Geräte häufig überprüft – wenigstens so weit es möglich war, ohne sich der Strahlung auszusetzen. Wenn sie nur damals, zur Zeit der Explosion, einen Physiker bei sich gehabt hätten. Ohne einen Fachmann hier abgeschnitten zu sein, hier, in diesem Gefängnis, allein mit den Kenntnissen von Drogentechnikern und Chemikern. Nun, sie hatten Glück, dass sie überhaupt am Leben waren. Von ihnen hing so viel ab.

Dann fiel Cohen-Davies noch etwas ein. Wenn die Vögel überlebt hatten, dann vielleicht auch Menschen. Vielleicht war alles umsonst gewesen. Er begann zu lachen. Diesen Gedanken konnte er nicht ertragen. Aber nie hatten sie auch nur einen einzigen Funkspruch aufgefangen. Der Scanner hatte in all den Jahrhunderten nie etwas registriert, was als die Körpertemperatur eines Organismus hätte gedeutet werden können, nicht einmal bei der empfindlichsten Einstellung.

Cohen-Davies gab den Code für Eolyn ein. Ihr Gesicht erschien auf seinem privaten Schirm. »Ich möchte gerne mit dir sprechen«, begann Cohen-Davies. »Aber erst muss ich wissen, wie du dich dazu stellst. Wärst du abgeneigt, wenn ich dir etwas über Celeste erzähle, das …« – Eolyns Gesicht verzog sich ungeduldig – »das dich amüsieren könnte?«, fragte Cohen-Davies. »Nein, ich sehe schon.«

»Thor, das ist jetzt nicht der richtige Moment, um sich zu amüsieren. Wir haben soeben unseren gesamten Ölvorrat verloren. Und dieses unerträgliche Kind. Wir sollten sie in einen Komp umwandeln. Nein. Ich meine es ernst. Sie hat einen Schaden. Wir haben so wenige Leute und jetzt nicht einmal mehr einen Genetiker. Was wollen wir tun? Was ist los? Du verschweigst mir etwas.«

Cohen-Davies zuckte mit den Achseln. »Ich melde mich ab«, sagte er. Dann setzte er sich und klopfte eine Zeit lang mit den Fingern auf die Tischplatte. Schließlich drehte er sich um und gab wieder Bills Code ein. Eine Stimme sagte: »Komp 14.«

»Bill, wie gut ist die Sicht aus dem Fenster in der Kuppel?«

»Nicht sehr gut. Bis auf die optischen Geräte. Den Scanner.«

»Ah, davon weiß ich nichts.«

»Man kann damit Teile der Aussicht vergrößern. Man kann sie sogar auf den Schirm übertragen und anhalten, um sie zu studieren, oder man kann sie speichern. Aber das tun wir nie. Es gibt nichts zu sehen. Erde und Himmel. Manchmal vorüberziehende Wolken.«

»Könnt ihr auch etwas Kleines vergrößern?«

»Oh ja. Wenn du dir Rinnen anschauen willst.«

»Danke, Bill. Ich melde mich ab«, sagte Cohen-Davies.

Wieder saß er eine Zeit lang da und klopfte mit den Fingern. War es möglich, dass Celeste sogar den Scanner bedienen konnte? Nein, das schien kaum vorstellbar. Er erhob sich seufzend, stand geistesabwesend da und dachte nach.

Inzwischen leitete auf Ebene drei, vordere Hälfte, Ruthan die Bestäubung der neuen Tomatenernte, drei Reihen, die in ein organisches Gemisch gesetzt und mit Kohlenwasserstoffstäben mit Federklemmen gestützt wurden. Jede Blüte wurde manuell mit einem Bestäubungsstab berührt, ganz behutsam, dazwischen wurde der Stab in die Auslöseflüssigkeit getaucht. Die flinken Komps konnten viele Blüten so sorgfältig und gut versorgen, dass jede unter den schimmernden blauen Lichtstreifen eine vollkommen runde Frucht trug. Die Paste aus diesen Tomaten wurde mit dem Protein aus Bohnen und Nagern in Würfel gepresst und dann zum Verzehr mit Soja geraspelt. Die Soja war ein Luxus, weil sie so lange brauchte, um zu reifen, doch mit etwas individueller Pflege trugen diese Pflanzen wunderbar. Durch genetische Selektion hatte man Bohnen gezüchtet, die doppelt so groß waren wie die früheren.

Ruthan liebte es, sie trocken und roh zu kauen, obwohl sie hart und zäh waren, aber sie achtete darauf, dass das niemand erfuhr. Die Sitten und Vorurteile von Kuppel und Ebenen verlangten, dass man fast ausschließlich künstlich aufbereitete Nahrung aß – so aufbereitet, dass die einzelnen Bestandteile nicht mehr zu erkennen waren. Ruthan hatte Gerüchte über die Gründe gehört, die hinter dieser Politik standen, aber sie waren so makaber, dass sie schauderte, wenn sie daran dachte.

Die Bohnen auf der Südseite zogen sich die Wand hinauf und berührten schon die Schnüre an der Decke, sie strebten nach dem Licht. Es war Zeit, sie zurückzuschneiden, wobei jeder Schnipsel sorgfältig aufbewahrt und in den Trichter geworfen wurde, der den Salatwürfelprozessor speiste. Bald würden sie und die Komps die Ranken wieder nach unten ziehen und neue Lichtstreifen in die Lauben einschieben, sodass die Ranken von beiden Seiten Licht bekamen. Sie dachte an Dexter. Es war erfreulich, aber auch beunruhigend. Sie würde ihre Gefühle bald mit Drogen dämpfen müssen, um sich von Tendenzen zu alten und sinnlosen Verhaltensweisen zu befreien. Andererseits, was hatten denn Kuppel und Ebenen sonst zu bieten? Sie würde sich überlegen, ob sie die Drogentherapie machte.