Pelbar-Zyklus (5 von 7): Der Hinterhalt der Schatten - Paul O. Williams - E-Book

Pelbar-Zyklus (5 von 7): Der Hinterhalt der Schatten E-Book

Paul O. Williams

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Beschreibung

1000 Jahre nach dem nuklearen Holocaust in den USA haben nur wenige Menschen den Krieg und die nachfolgenden Seuchen überlebt. Ihre Nachfahren sind wieder zu "Wilden" geworden, die das weite, zum Teil noch radioaktiv verseuchte Land als Jäger durchstreifen, oder sie haben sich in kleinen befestigten Siedlungen verschanzt. Allmählich bilden sich wieder kulturelle Zentren aus; so in Pelbar, der Zitadelle am Herz-Fluss, dem ehemaligen Mississippi. Auf gefahrvollen Expeditionen beginnt man die postatomare Wildnis des amerikanischen Kontinents zu erkunden. Vergeblich hatten die kriegerischen Tantal Nordwall zu bezwingen versucht. Die Niederlage hat ihren Ehrgeiz eher noch angestachelt. Sie sinnen auf Rache. Als die Pelbar sich nordwärts wenden, um sich den Zugang zum Bittermeer zu sichern und eine strategische Siedlung zu gründen, sehen sie sich erneut mit diesen grausamen, gut bewaffneten Sklavenjägern konfrontiert, und es kommt zu blutigen Gemetzeln. Als es den Tantal gelingt die Tochter von Stel Westläufer, dem erfahrenen Kundschafter von Nordwall, zu kidnappen und in die Sklaverei zu verschleppen, macht sich Stel mit seinem Kanu allein auf den gefahrvollen Weg, um das Mädchen zurückzuholen und dieser Sklavengesellschaft eine Lektion zu erteilen.

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Die deutsche Ausgabe von PELBAR 5: DER HINTERHALT DER SCHATTEN wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,Übersetzung: Irene Holicki; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Kerstin Feuersänger und Gisela Schell;Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Umschlag-Artwork: Martin Frei.

Titel der Originalausgabe:THE PELBAR-CYCLE BOOK 5: THE AMBUSH OF SHADOWS (1981) Copyright © Paul O. Williams und Kerry Lynn Blau

German translation copyright © 2016, by Amigo Grafik GbR.

Print ISBN 978-3-86425-846-6 (Juni 2016)E-Book eISBN 978-3-86425-884-8 (Juni 2016)

WWW.CROSS-CULT.DE

Dem Gedenken an Naboth O. Williams, meinem Vater, gewidmet

EINS

Der Abend senkte sich über den Herzfluss und die Felsen an seinem Ostufer und wanderte langsam über die Mauern und Türme der uralten, steinernen Stadt Pelbarigan, die sich an die Felsen schmiegte und sich über sie erhob; ihr graubrauner Stein passte sich dem Naturfelsen völlig an.

Nahe der Stadt mühte sich Stel Westläufer den Felsabhang zu seinem Häuschen hinauf. An der linken Hand trug er einen Verband. Seine sieben Jahre alte Tochter Raydi folgte ihm in kurzem Abstand. Sie warf ihm Kieselsteine auf den Rücken.

»Hör auf damit, Raydi!«

»Es sind doch nur Kieselsteine.«

»Es gehört sich nicht.«

Raydi kicherte. »Ich will doch nur den Fisch auf deiner Tunika treffen.«

»He! – Zeig ein bisschen Respekt fürs Familienwappen, Göre!«, sagte Stel trocken.

»Was ist los?«, rief eine Stimme von oben aus der Dunkelheit. Das war Garet, Stels zwanzigjähriger Sohn, ein Gardist.

»Hallo Garet. Nichts ist los. Ich bringe nur Raydi nach Hause. Wasch sie! Leg sie ins Bett! Bleibst du zu Hause?«

»Ich kann nicht. Mutter braucht Hilfe bei den Ausrüstungslisten. Bleibst du nicht hier?«

»Nein. Wir testen das Boot morgen früh noch einmal.«

»Was ist los? Kriegt ihr es nicht hin?«

»Weiß nicht, Gar. Es ist etwas ganz Neues. Da hängt viel dran. Theorie und Ausführung sind zwei Paar Stiefel.«

Garet machte ein leicht angewidertes Gesicht. »Was hast du mit deiner Hand gemacht?«

Stel warf einen flüchtigen Blick darauf. »Angestoßen. Beim Schraubenschneiden. Wir wissen noch lange nicht so gut über die verschiedenen Stähle Bescheid, wie wir sollten, obwohl Eolyn uns so viel sagen kann.«

Raydi warf wieder einen Stein. »Lass das, du Sauwanze!«, brüllte Garet.

»Keine solchen Ausdrücke, Garet.« Stel hob das Mädchen auf und zuckte leicht zusammen, als seine verbundene Hand ihr Gewicht zu spüren bekam. Raydi schnitt Garet eine Grimasse, aber der schaute nicht hin.

»Großer böser Gardist«, spottete sie.

»Raydi!«, mahnte Stel.

»Das wird vielleicht ein Kind werden, wenn du sie erst einmal richtig verzogen hast«, meinte Garet.

Stel schaute seinen Sohn an. »Dein Spott würde schnellstens entfliehen, hättest du wirklich ein Kind zu erziehen«, antwortete er sanft.

Garet warf die Hände hoch, marschierte den Pfad hinunter und rief über die Schulter zurück: »Es wäre fantastisch, wenn du beim Maschinenbauen so schnell wärst wie beim Reimen.«

Stel runzelte die Stirn. So dachten sie also. Solche Bemerkungen kamen sicher nicht von Garet allein. Sie waren wohl allgemeiner Gesprächsstoff. Nun, er konnte es nicht ändern. Aber war das wohl auch Ahroes Ansicht? Aven wusste, dass er sich um diesen Posten nicht gerissen hatte.

»Setz mich ab!«, verlangte Raydi. »Ich bin doch kein Baby mehr!«

Als Ahroe endlich sehr spät nach Hause kam, brannte die winzige Türlampe, und der alte Shumaihund Ayth wachte geduldig allein bei der schlafenden Raydi. Ahroe ging wieder hinaus auf die Terrasse und schaute hinunter zum Flussufer. Sie konnte den Schein von Laternen sehen. Stel war also noch bei der Arbeit. Morgen früh musste die Maschine funktionieren. Sie schämte sich immer mehr wegen des Geredes. Sogar die Protektorin von Pelbarigan, Stels Mutter, war verärgert über die Verzögerungen und Fehlschläge. Von dem Boot hing so viel ab.

Ahroe ging hinein und schaute nach Raydi. Das Mädchen regte sich. Auf dem Bett neben ihrer Hand lag ein kleiner Haufen Kieselsteine. Ahroe sammelte sie sorgfältig auf.

Am nächsten Morgen stand sie früh auf, weil sie unbedingt die Probefahrt des Bootes sehen wollte. Stel war nicht nach Hause gekommen. Der Versuch sollte eigentlich kein öffentliches Ereignis sein, aber Ahroe wusste, wie viel allgemeine Aufmerksamkeit er in aller Stille auf sich gezogen hatte. Es musste funktionieren. Sie würde bald aufbrechen. Sie konnte es sich nicht leisten, an einen solchen Versager gebunden zu sein. Ihre Mission war zu wichtig. Ihr Zorn auf Stel war immer größer geworden, während er durch den Winter gestolpert war, probiert, verbessert, versagt und das ganze Ding wieder und immer wieder auseinandergenommen hatte. Sie wusste, dass er mit echten Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, meinte aber doch, er hätte inzwischen eine Lösung finden müssen, da er so viel Unterstützung bekam. Schon ging das Gerede über eine Neuwahl los, und Sagan, die Protektorin, war zu kostbar, um sie zu verlieren, nur weil sie die Mutter eines Versagers war.

Ahroe schämte sich plötzlich ihrer Gedanken. Sie wusste, dass Stel sich alle Mühe gegeben hatte. Er war in vielen Dingen zum Experten geworden. Niemand im ganzen Tal des Herzflusses wusste so viel über diesen neuen Maschinentyp wie er. Trotzdem, er musste ihn erst zum Funktionieren bringen.

Während die Maschine aufgeheizt wurde und das Boot sich langsam vom Vertäuungsfloß entfernte, stand Ahroe hoch oben in der Stadt neben ihrer Schwiegermutter an den Fenstern des Privatzimmers der Protektorin. Sie sah Raydi am Ufer stehen und mit Lehmklumpen nach einem Hund werfen. Warum verbot Stel es ihr nicht? Sie konnte ihn erkennen, klein und weit entfernt, wie er sich über die Maschine beugte, seine verbundene Hand fast schwarz von Ruß und Schmierfett.

Langsam begann sich das Rad am Heck des Bootes zu drehen. Ahroe hielt den Atem an. Dann wurde das Boot schneller. Jubel stieg vom Ufer auf. Plötzlich raste das Schiff vorwärts, und das Rad drehte sich so schnell, dass es verschwamm. Das Boot hob seinen Bug von der Wasseroberfläche und schwebte dahin wie auf Schneegleitern. Stel rief etwas. Da war etwas nicht in Ordnung. Der Gardist an der Ruderpinne drehte sie leicht herum, und das Boot schoss in einem hektischen Bogen quer über den Fluss, wurde schnell kleiner, pflügte schräge Wellen auf, schwang zurück zum Ostufer und näherte sich in rasendem Tempo.

Stel rief wieder etwas. Der Gardist legte die Ruderpinne hart herum, und das Boot drehte zitternd ab. Auf der Westseite lief Wasser hinein, bevor es sich wieder gerade legte, als der Mann auf Stels erneuten Zuruf die Ruderpinne zurückschob. Dann schoss es vorwärts und hielt weiter schräg auf das Ufer zu. Der Mann wollte die Pinne herumlegen, aber da rutschte das Boot knirschend mit dem Bug in eine Schlammbank südlich der Stadt. Die drei Männer an Bord kippten nach vorne, Stel stürzte vom Bug in das seichte Wasser und blieb im Schlamm liegen.

Sagan schlug die Hände vors Gesicht und murmelte dann: »Mist! Mist! Mist! – Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben!«

Ahroe errötete. Stel hatte sich aufgerappelt, er stand bis an die Taille in schlammigem Wasser und wischte sich das Gesicht ab, während das Notventil mit einem schnarrenden Pfeifen Dampf abließ und dadurch die Aufmerksamkeit aller Leute in der Stadt auf sich zog, die die Katastrophe bisher möglicherweise noch nicht mitbekommen hatten.

Endlich ließ der Dampfdruck nach, und das Pfeifen erstarb, aber Stel stand noch immer im Fluss und starrte wie in Gedanken versunken das Boot an. Die anderen von der Mannschaft hatten sich von ihrem Schrecken erholt, lehnten an dem Gehäuse nahe am Bug und warteten auf ihn.

Garet trat ein. »Hast du das gesehen? Gütige Aven, ich schäme mich so!«

Ahroe fuhr auf ihn los: »Du schämst dich? Schämst dich? Deines Vaters?«

»Komm, Mutter! Du empfindest doch dasselbe wie ich. Ich sehe es.«

»Er war schon in schlimmeren Situationen und ist herausgekommen. Wenn er nicht in die Kuppel eingedrungen wäre, wäre uns nicht einmal die Idee dieses Motors bekannt.«

»Da hast du ihn herausgeholt. Und jetzt musst du sehen, wie du ihn aus diesem Schlamassel herausbekommst.«

»Ich? Ich nicht, Garet. Es muss einfach funktionieren. Und er muss dafür sorgen, dass es funktioniert.«

»Das schafft er nicht. Sieh ihn dir doch an! Er steckt bis zum Bauch im Dreck!«

»Friede«, sagte die Protektorin. »Gardist, bestelle Stel, ich möchte ihn sprechen, sobald er sich freimachen kann!« Sie drehte sich um und verließ den Raum, ihr langes Gewand schleifte hinter ihr her, die anderen sahen ihr nach.

»Gardist – damit bist du gemeint, Garet.«

»Ja, Mutter.«

Es wurde Nachmittag, bis Stel sich vor der Tür seiner Mutter einfand. So lange hatte es gedauert, das Boot aus dem Schlamm zu ziehen und wieder zu vertäuen. Sagan empfing ihn ungewöhnlich förmlich und bot ihm keinen Sitzplatz an. Sie betrachtete ihn ernst und konnte seine merkwürdige Hochstimmung nicht begreifen.

»Verstehst du, in welche Lage du mich gebracht hast, Stel?«

»Lage? Nein, Protektorin.«

»Jetzt wird es wahrscheinlich zu einer Neuwahl kommen.«

»Kannst du sie noch ungefähr sechs Tage hinausschieben?«

»Sechs Tage? Warum sechs Tage?«

»Weil in sechs Tagen unsere Expedition auf dem Weg flussaufwärts sein wird.«

»Was? Nach Iver? Wieso?«

»Verstehst du denn nicht? Der Motor hat funktioniert. Trotz der starken Belastung ist nichts gebrochen. Er hat dem Aufprall auf die Schlammbank und allem anderen standgehalten. Er braucht jetzt nur noch zwei Ventile. Ich hatte das nicht begriffen. Die Dampfsperre war die ganze Zeit defekt, aber wir haben ein Ersatzteil und können nach einem neuen Entwurf ein Entlastungsventil bauen und installieren. Wenn es dir lieber ist, nehme ich die Pfeife vom Sicherheitsventil weg. Wir können eine separate Pfeife anbringen. Mach deine Mannschaft und deine Ladung fertig, Protektorin.«

Als Sagan die Hände vors Gesicht schlug, bemerkte Stel, wie deutlich jetzt die Adern zu sehen waren. »Ich wünschte, ich könnte sicher sein«, sagte sie.

»Das kannst du, Mutter. Ehrlich. Frag Dailith. Er ist genauso überzeugt.«

»Er ist genauso leicht zu übertölpeln. Ein Opfer seiner Begeisterung.«

»Womit du zweifellos Eolyn meinst. Ja, ja, Probleme, so schlimm wie Ekzeme. Aber sie geben sich beide Mühe. Wirklich.«

»Noch etwas, Stel.«

»Ja?«

»Ahroe reist in zwei Tagen ab. Diese Herzfluss-Föderation stellt eine schwere Belastung für unsere Wirtschaft dar. Es hängt so viel von Ahroe ab. Sie wird lange fort sein. Da sie ohnehin nicht hier ist, werde ich dich mit dem Boot nach Iver schicken. Um Raydi kümmere ich mich. Ich finde ohnehin, dass ihr im Augenblick nicht gerade allzu viel Aufmerksamkeit zuteilwird.«

Stel schwieg für einen Moment. »Nach Iver? Mich? Ich dachte, du würdest Dailith schicken. Er wird mit allem fertig.«

»Unsinn! Du weißt, dass das nicht stimmt. Mein Entschluss steht fest. Es muss so sein. Ich kann es mir nicht leisten, dass das Boot gerade bis zum Hochwassertal kommt, dann eine Panne hat und die ganze Strecke wieder zurücktreibt.«

Stel war nachdenklich und schwieg lange, während sich die Schatten im Empfangszimmer seiner Mutter streckten. Schließlich sagte er: »Ja, natürlich. Du hast recht. Aber Raydi – wirst du dich selbst um sie kümmern?«

»Genug. Sie wird gut versorgt werden.«

»Und Ahroe. Sie ist dann so weit weg.«

»Sie ist offenbar auch dann sehr weit weg, wenn ihr beide hier seid.«

»Ja. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es wirklich nicht.«

Es war Abend, als Stel, gebeugt wie eine erfrorene Pflanze, den Hügel zu seinem Häuschen hinauftrottete. Ahroe stand auf der kleinen, ummauerten Terrasse vor dem Haus. Stel ließ sich auf die Mauer sinken.

»Nun, Stel, wie viele Versuche brauchst du noch?« Ahroe blickte verbissen drein.

»Keinen mehr. In sechs Tagen sind wir unterwegs.«

»Unterwegs? Nach Iver?« Sie lachte mitleidig.

»Ja. Nach Iver … Du hast das Vertrauen zu mir verloren, nicht wahr?«

»Das war ja ein tolles Schauspiel heute Morgen.«

Stel lachte. »Ja. Besonders für die Unwissenden.«

»Was willst du damit sagen?«

»Für Leute, die einen Erfolg nicht erkennen, auch wenn er sich vor ihrer Nase ereignet.«

»Ein Erfolg? – Das?«

»Das! – Wir brauchen jetzt nur noch ein paar Korrekturen. Glaub mir, Ahroe, es ist wirklich fast fertig!«

»Ich verstehe nicht, dass Sagan die Leute in diesem Ding flussaufwärts fahren lässt. Es ist eine Schande. Das wird sie ihr Amt kosten.«

Obwohl Stel todmüde war, spürte er eine Woge von Ärger über sich zusammenschlagen. »Du verstehst also doch nicht«, sagte er tonlos. »Du brauchst Monate um Monate, um ein paar Leute dazu zu bringen, dass sie miteinander reden und zu den offensichtlichen Schlüssen gelangen, und siehst nicht, mit welchen Schwierigkeiten ich fertigwerden musste, bis dieser ganze Apparat endlich funktionierte.«

»Du hast es doch nur mit einem Haufen Metall zu tun, Stel. Den kannst du dazu bringen, dass er tut, was du willst. Wenn er versagt, dann deinetwegen. Ich habe Menschen zu organisieren. Menschen mit hundert verschiedenen Launen, Interessen und Wunschvorstellungen, mit verschiedener Herkunft, mit Feindschaften, die viele Menschenleben weit zurückreichen, und ich muss versuchen, aus ihnen eine Einheit zu machen. Dein einziges Problem ist doch Metall.«

»Du hast es nur mit Menschen zu tun, von denen die meisten guten Willens sind und einen Grund haben, zusammenzukommen. Ich habe ein träges Material, das keinerlei Grund hat, zu tun, was ich will – wenn ich überhaupt weiß, was ich will. Es sagt mir nichts. Pannen ereignen sich, wenn man es am wenigsten erwartet. Stahl sagt dir nie, dass er jetzt gleich wütend wird. Er bricht einfach. Feuer warnt dich, indem es dich verbrennt. Am Kessel platzt plötzlich eine Naht, wenn er dir sagen will, dass er zu viel Druck bekommen hat. Mit Menschen ist das alles viel einfacher.«

»Mit Menschen ist das alles viel einfacher!«, schnaubte Ahroe. »Ja, die Peshtak sind immer einfach, in den Augen der Sentani, die sich noch immer an das Gemetzel erinnern, das die Peshtak unter ihren Familien angerichtet haben. Nun, du musst dich um dein Steckenpferd da unten alleine kümmern. Ich reise übermorgen ab. Ich kann nur sagen, dass ich mich lange nicht mehr so geschämt habe.«

Stel saß reglos da und starrte sie im Dunkeln an, dann hob er die Hände und schlug sich damit auf die Schenkel. Schließlich stand er auf und ging den Weg hinunter.

»Wohin willst du?«, rief Ahroe. Stel antwortete nicht. Sie konnte sehen, wie müde er war. Er würde also auf dem Boot schlafen. Sie wollte unterstützt werden, nicht zurückgestoßen, nicht in Verlegenheit gebracht. Sah er denn nicht, wie viel Verantwortung sie zu tragen hatte? Ohne Desdaan wusste sie nicht, wie sie es im letzten Jahr hätte schaffen sollen. Jetzt musste sie an diese neue Konferenz denken. Wenigstens ein bisschen Verständnis für ihre Sorgen hätte er aufbringen können. Nun, es gab Leute, die sie besser zu schätzen wussten.

Sie drehte sich um und trat ins Haus. Sie konnte Raydi in ihrem Zimmer hören, also klopfte sie und trat ein. Das Mädchen wandte das Gesicht ab. Ahroe beugte sich zu ihr und drehte ihr den Kopf herum. Auf den Wangen glänzten im Schein von Ahroes Lampe schwach die Tränen.

Ahroe hob das Kind auf, trug es zum Becken und wusch und trocknete ihm das Gesicht, aber bald machten neue Tränen die Arbeit zunichte. »Was ist denn, Kleines?«

»Vater, Vater.«

»Keine Angst. Er bringt das Boot schon zum Laufen, Ray. Es dauert nur ein bisschen.«

»Ich weiß. Ich weiß. Es funktioniert ja schon.«

»Was ist denn dann?«

Raydi schluchzte wieder und vergrub ihr Gesicht in der Schulter ihrer Mutter. »Er … er … sie wollen ihn damit wegschicken.«

»Was? Womit – auf dem Boot?« Hatte Stel das gesagt? Ja, er hatte gesagt: »Wir sind unterwegs.«

»Großmutter wird sich um mich kümmern – sie wird mich in die Kinderstube stecken.«

»Du kannst mit mir nach Dreistrom kommen, kleine Blume.«

»Nein, nein. Ich will nicht, dass Vater fortgeht. Ich habe Angst. Dort sind die Tantal. Ich will, dass er bei mir bleibt.«

Ahroe sagte nichts mehr, sondern starrte in die Dunkelheit und dachte nach, während sich Raydi in den Schlaf weinte. Stel würde also auf seinem Boot zum Bittermeer fahren. Sie würde in Dreistrom sein. Und Raydi blieb alleine – mitten in Pelbarigan, aber trotzdem alleine.

Schließlich legte sie das Kind ins Bett und deckte es sorgfältig zu, dann rief sie Ayth, damit er Wache hielt. Der alte Hund beschnupperte sie, und sie klammerte sich einen Augenblick lang an ihn. Er wedelte ein wenig mit dem Schwanz. Dann machte sich Ahroe auf den Weg den Hügel hinab, um ihre Vorratsliste und die Fortschritte beim Einladen zu überprüfen.

ZWEI

Als Stel erwachte, hörte er ein leichtes Stampfen und Klirren, dann fiel ihm wieder ein, dass er ja auf dem Boot war. Ein Streifen Morgensonnenlicht lag auf der gehobelten Platte vor ihm. Er fühlte sich steif.

Er wälzte sich unter dem schweren Zudecktuch hervor, setzte sich auf und kratzte sich den Kopf. Das Klirren hörte auf. Er schaute hoch und erblickte Dailith, den Greifer in der Hand, der ihn seinerseits verwirrt und überrascht anstarrte.

Stel hatte einen ranzigen Geschmack im Mund. Er seufzte und gähnte. »Wir müssten heute mit den Rohrleitungen und den Ventilen fertig werden, Dai«, sagte er ohne Begeisterung. »Dann sollen die Schmiede einige Ersatzteile, Verbindungen und Lochplatten schneiden.«

»Stel?«

»Ja?«

»Alles in Ordnung?«

Stel lachte und seufzte, das Licht stach ihm wie ein Splitter ins Auge. Er blinzelte und hielt die Hand hoch, um es abzuschirmen.

»Lass nur«, sagte Dailith und drückte Stels Arm mit seiner großen Hand. Stel fiel auf, wie sauber sie war. »Lass nur! Ich weiß, wie es ist. Wirklich. Ich komme nämlich auch mit.«

»Du? Mit uns?« Stel wusste es, spielte aber den Überraschten.

»Die Protektorin hat mich darum gebeten. Ich habe es Eolyn gestern Abend erzählt, und sie hat kein Wort dazu gesagt. Sie stellte gerade eine Tabelle für Dampfdruckwerte auf. Murmelte alles herunter. Hielt es für eine Unterbrechung.«

»Das war es auch, Dai. Nun, an die Arbeit!« Stel blickte zu dem jüngeren, größeren Mann auf, der ziemlich bedeutungsvoll dreinschaute. Plötzlich grinste er, schlug Dailith auf die Schulter und fügte hinzu: »Wir fangen mit dem Entlastungsventil an.«

Bis zum Spätnachmittag war die ganze Arbeit entweder getan oder so weit geplant, dass Stel weggehen konnte. Außerdem waren die Anstreicher mit ihren stark riechenden Farben in der Hauptkajüte, und Stel würgte in der schlechten Luft.

So nahm er seine alte Flöte unter einen Arm und balancierte über die Planke ans Ufer, wo Raydi, die schon ihren Unterricht hinter sich hatte, im Staub hockte und ein Zählspiel mit Steinen spielte. Stel blickte zu ihr hin. Sie schien ganz vertieft. Er blinzelte zu seinem Häuschen hoch oben auf den Felsen hinauf. Ahroe war wohl noch mit dem Rat von Pelbarigan im Gerichtssaal. Dann suchte er sich den Weg zum Flusseingang der Stadt und ging durch hohe, dunkle Steinkorridore zum alten Tempel, dessen großes, zentrales Auditorium einen Fußboden aus riesigen Steinplatten hatte, auf dem die Betenden standen; in den gewölbten Seiten boten drei übereinanderliegende Bankreihen Platz für Zuhörer und Musiker. Der Tempel war leer.

Stel näherte sich der erhöhten vorderen Bühne des Saales, wo sonst immer die Geistlichen Avens standen und aus den Rollen Pels vorlasen oder von Aven, der Mutter aller Dinge, der Beschützerin und Pflegerin, predigten. Stel war auf diesem Podium getraut worden, so viele Jahre war es jetzt her, auf den Knien liegend, sodass Ahroe nach Pelbarsitte ihren Fuß auf seinen Rücken stellen konnte; er hatte die Geste widerspruchslos akzeptiert, bereitwillig, eifrig sogar. Aber das war kurz vor ihren anfänglichen, großen Schwierigkeiten gewesen, die ihn weit über die westlichen Ebenen und die Berge getrieben – und die dann ihn und Ahroe für so lange Zeit so eng zusammengeführt hatten. Stel rieb die Flöte an seinem Ärmel.

Er sah den späten Strahlen der Frühlingssonne zu, wie sie sich im obersten Lichtgaden des Saales fingen und verstrickten, dann ging er zum nächsten Erker an der Ostseite und setzte sich, um auf seiner Flöte zu spielen, wie er es so oft bei kleinen und großen Anlässen mit den anderen Musikern getan hatte.

Die Hymnen der Pelbar hatten ihn nach einiger Zeit immer getröstet, und er suchte seinen Geist nun wieder damit zu beruhigen. Er begann mit dem langsamen, großen Präludium an Aven, die Wahre Protektorin, die ihre Mauern ausbreitete. Während er spielte, merkte er nicht, wie Raydi durch den Haupteingang schlüpfte, sich an die dunkle Mauer setzte und zuhörte und dabei ihre Kiesel von einer Hand in die andere warf.

Stel fuhr fort zu spielen, obwohl die Sonne untergegangen war und der Saal langsam von immer tieferer Dunkelheit durchflutet wurde. Die Assistentin der Geistlichen kam und stellte die beiden Abendlampen auf, dann stahl sie sich wieder fort. Raydi gähnte und legte sich hin. Da bemerkte sie, dass ihr Vater sein Spiel beendet hatte. Sie rollte sich herum und sah ihn im schwachen Schein der Lampen vor der Bühne stehen. Aus der Haltung und den Bewegungen seiner Schultern glaubte sie zu erkennen, dass er weinte. Konnte das sein? Nein. Sie hörte ein Schlurfen und sah ihren Bruder neben sich eintreten. Sie sah, wie er zu Stel hinschaute, und schrie sofort: »Garet!«

Er schrak zusammen und fuhr herum. »Du Gör. Wann bekommst du endlich genug davon, dich zu verstecken und die Leute zu erschrecken?«

»Wenn du genug davon bekommst, heimlich herumzuschleichen.«

Garet schüttelte den Kopf. »Ich bin dienstlich hier«, sagte er, drehte sich um und rief: »Vater!«

Stel stand jetzt aufrecht und still da, drehte sich aber nicht um. Garet ging zögernd auf ihn zu. »Vater«, wiederholte er. »Man braucht dich. Ich habe dich überall gesucht. Warum musst du …«

»Was ist, wenn das alles gar nicht wahr ist, Garet?«, fragte Stel mit merkwürdiger Stimme.

»Was ›alles‹?«

»Das alles hier. Die ganze Pelbartheologie über Aven. Es ist mir alles entglitten wie Nebel. So viele Veränderungen.«

Garet trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und machte ein skeptisches Gesicht. »Was wäre dir lieber? Der Sertine der Shumai? Hör zu! Mutter hat mich geschickt. Sie braucht dich.«

»Nicht gerade Sertine. Etwas Umfassenderes als Aven. Etwas, wo man einen Platz findet.«

»Einen Platz? Was meinst du damit? Schau, Mutter braucht dich. Hast du geweint? Was bei Avens grüner …«

»Halt den Mund, du Schweinebauch!«, kreischte Raydi und trat ihren Bruder in die Wade.

»Hör zu, du unerträgliches …« Als Garet auf sie zustürzen wollte, streckte Stel die Spitze seiner Flöte aus, erwischte seinen Sohn unter der Nase und brachte ihn so ruckartig zum Stehen. Der junge Gardist wirbelte mit einer einzigen instinktiven Bewegung herum und zog sein Kurzschwert, dann zögerte er, schaute es an, steckte es wieder in die Scheide und ließ seinen Blick von Stel zu Raydi und wieder zurück schnellen.

»Gegen den eigenen Vater das Schwert zu ziehen!«, schrie Raydi mit schriller Stimme.

»Ich …«

»Schon gut, Raydi«, sagte Stel, und es klang ganz fern.

»Ich habe keinen Sohn. Ich habe keinen Sohn. Ich habe keinen Sohn.«

Garet stand wie vom Donner gerührt. Er konnte die Worte nicht glauben. Sein Vater hatte die Pelbarformel der Verleugnung so ruhig, so unerwartet ausgesprochen. Aber mit der raschen Arroganz des erfolgreichen Jugendlichen wallten seine Abscheu und sein Zorn wieder auf. »Na gut, du nutzloser alter Mann. Ahroe, die Leiterin der Garde, wünscht dich zu sprechen.«

Er drehte sich auf dem Absatz um und schritt hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

Als Ahroe zu ihrem Häuschen zurückkehrte, war Stel noch nicht da. Garet hatte seine Sachen aus dem Haus geholt und packte sie gerade auf der Terrasse zu einem Bündel zusammen, um ins Quartier der Gardisten umzuziehen.

»Was soll das?«, fragte Ahroe und setzte sich müde auf die Mauer.

»Dein Gatte hat mich verleugnet. Ich bin nicht länger an ihn gebunden.«

»Was hast du getan?«

»Ich hatte ihn endlich im Tempel gefunden und ihn, wie du verlangt hast, aufgefordert, zu dir zu kommen.«

»War das alles?«

Garet antwortete nicht. »Was hast du getan? Genau?« Ahroe sprach in ruhigem und befehlendem Ton. Garet stand stramm und erzählte ihr alles.

»Du hast also das Schwert gegen ihn gezogen. Gegen deinen eigenen Vater.«

»Das war eine instinktive Bewegung. Dazu bin ich ausgebildet.«

»Ich verstehe. Du bist nun also ein Instinktwesen. Jetzt ist es zu spät. Du hast schon so lange so wenig Respekt vor ihm, dass du seinen Wert nicht mehr erkennst. Wenn irgendjemand im ganzen Tal des Herzflusses dieses Boot nach Iver bringen kann, dann er. Ich verstehe nicht, wieso du seinen Wert so hartnäckig verkennst, nur weil er kein Soldat ist.«

»Und du, Mutter? Wie sehr schätzt du ihn denn? Du beachtest ihn nun schon so lange fast überhaupt nicht mehr.«

»Ich habe eine Aufgabe. Wir müssen diese Föderation zusammenbekommen. Wir müssen. Das weiß er.«

»Er. Er ist so schwach. Warum hat er heute Abend im Tempel geweint? Ich habe ihn gesehen. Es macht mich wütend.«

»Geweint?«

»Geweint! Und dieser kleine Schatten hat ihn beobachtet. Und geschrien, weil ich es nicht sehen sollte.«

»Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Garet.«

»Was soll ich ihnen sagen?«

»Was du willst.«

Garet stand mit offenem Munde da. Nun hatte sich auch seine Mutter gegen ihn gewandt. Und er hatte doch alles getan, um ihr zu gefallen. Alles. Und jetzt verließ sie ihn und stellte sich auf die Seite dieses alten Schwächlings.

»Du verleugnest mich also auch?«

»Ich? Nein. Bitte geh! Ich muss über so vieles nachdenken. Morgen um diese Zeit sind wir schon auf dem Fluss. Wir haben in dieser Saison noch gar nichts von den Peshtak gehört. Wir haben noch nicht genügend Unterkünfte für die größeren Delegationen. Die Vorräte sind knapp. Die Botschaft der Emeri enthält die üblichen eleganten Einwände. Ich muss das alles klären. Ich habe jetzt keine Zeit für private Probleme.«

Garet stand ein paar Augenblicke schweigend da. »Dann leb wohl.«

»Leb wohl, Garet.«

Nach ein paar Schritten den Pfad hinunter drehte er sich um. »Was wirst du nun tun?«

»Nichts. Du musst das mit dir selbst ausmachen.« Ahroe lauschte, wie die Schritte ihres Sohnes auf dem dunklen Pfad verklangen. Sie blieb noch ein paar Augenblicke reglos sitzen, dann ging sie ins Haus. Erst nach einem vollen Quadranten des ersten Nachtviertels kam Stel, die schlafende Raydi hatte er auf dem Arm. Ahroe saß im dunklen Vorderzimmer und war noch immer damit beschäftigt, ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen. Stel ging durch den Raum zu Raydis Zimmer. Ein kleines Licht flammte auf. Sie hörte die beiden miteinander flüstern, dann erlosch das Licht. Sie flüsterten weiter. Stel sang eine kurze Hymne, dann noch eine. Sie hörte seine Schritte in Raydis Tür.

»Vater!«, rief Raydi.

»Ja, kleiner Kürbis?«

»Ist es nun alles wahr? Oder nicht?«

»Was?«

»Was du eben gesungen hast.«

Stel überlegte. »Wer weiß, kleiner Kürbis? Ich hoffe es. Manchmal kann man etwas sagen und es doch nicht fühlen. Aber wenn du etwas singst und es wieder und immer wieder singst und es dabei denkst und trotzdem noch nicht spürst, dass es wahr ist, dann ist das schwer. Verstehst du das irgendwie? Keine Angst, kleiner Kürbis. Das wird sich schon klären. Hoffentlich.«

Stel ging ins Vorderzimmer und setzte sich, und jetzt erst schien er zu bemerken, dass Ahroe da war.

»Worum ging es denn?«, fragte sie.

»Nichts. Es ist nicht so wichtig.«

»Musstest du das tun?«

»Mit Garet?« Stel rieb sich umständlich die Hände an den Knien. »Ich habe schon lange keinen solchen Hass mehr hinter einem gezückten Schwert erlebt. Es macht mir nichts aus. Letztlich ist es etwas, was ich verpfuscht habe – seine Erziehung. Ich werfe nur die Scherben fort. Nicht fair, nicht wahr? Aber wenn ein Balken gesplittert ist, macht ihn aller Leim in ganz Pelbarigan nicht wieder heil.«

»Garet ist kein Balken. Er ist ein menschliches Wesen.«

»Ein menschlicher Balken. Nun, mach es mit ihm ab, wie du willst, Ahroe. Du bist doch die große Versöhnerin der menschlichen Wesen.«

»Ich habe nicht die Absicht, mich jetzt mit dir zu streiten. Was ist überhaupt los? Ich spüre schon so lange, wie sich das aufbaut. Verstehst du denn nicht, dass ich so viele Aufgaben habe? Ich glaube manchmal, ich zerbreche wie dein Balken. Warum wendest du dich gegen mich? Ich kann es nicht begreifen. Ich dachte, von allen Menschen auf der Welt seist wenigstens du loyal.«

»Loyal? Wie kann ein Mensch einem Nebel gegenüber loyal sein? Man greift danach, und der Nebel weht dir zwischen den Fingern hindurch. Man sagt: ›Steh still, damit ich loyal zu dir sein kann‹, und er antwortet nicht. Dann wird es endlich still in der Nacht, man legt seinen Arm darum – und erlebt, dass er immer noch so kalt und unpersönlich ist wie ein Nebel.«

Ahroe seufzte. »Das steckt also dahinter. Du hältst dich immer noch für einen brunftigen Halbwüchsigen. Oh Aven! Stel, ist es nicht irgendwann Zeit, erwachsen zu werden?«

»Erwachsen werden? Ich … ich habe gehört … Über die Liebe hinauszuwachsen, meinst du, aber nicht über die Loyalität.«

»Liebe? Liebe? Ist es denn etwas anderes als Liebe, wenn man versucht, dem ganzen Tal Frieden zu bringen? Ist es nicht …«

»Lass nur, Ahroe! Lass gut sein! Ich fühle mich in all diesen Theorien immer weniger zu Hause. Manchmal bin ich innerlich so leer, dass nichts mehr viel Wert zu haben scheint. Du weißt, dass du alles bist, was ich brauche. Und wenn dich das nicht interessiert, warum willst du mich dann mit dem ganzen Gerede einwickeln?« Er stand auf und trat im Dunkeln zu ihr. »Ich gehe zu Bett«, sagte er. »Keine Angst. Ich werde dich nicht belästigen.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das ist alles so albern, Ahroe. Ich liebe dich so sehr. Und manchmal machst du mich so wütend.«

»Wütend. Menschen sind immer wütend.«

»Ich weiß. Die Menschen sagen immer: ›Er versteht mich nicht.‹ Oder: ›Sie versteht mich nicht.‹ Aber in Wirklichkeit meinen sie, dass der andere nicht mit ihnen übereinstimmt. Aber das alles macht nichts einfacher. Gute Nacht. Stört es dich, wenn ich dir einen Gutenachtkuss gebe?«

Sie drehte mechanisch ihr Gesicht nach oben und küsste ihn geistesabwesend. Er blieb in der Tür stehen. »Kommst du zu Bett?«

»Bald. Ich muss noch über einiges nachdenken.«

Ahroe hörte so etwas wie ein Lachen tief in seiner Kehle, als er das Zimmer verließ. Plötzlich spürte sie eine gewaltige Last, und Stel drückte sie nieder wie alle anderen. Beinahe hätte sie aufgeschrien. Es war nicht fair. Wirklich nicht. Aber sie würde nicht aufgeben. Wenn die Herzfluss-Föderation scheiterte, dann nicht deshalb, weil sie irgendwie aufgegeben hatte. Sie würde treu bleiben. Das musste Stel einsehen. Er musste einfach.

Dann war da noch Desdaan. Hatte Stel von Desdaan gehört? Wie würde er empfinden, wenn es so war? Wieder stieg in Ahroe die Sehnsucht nach jener höheren Würde und Gelassenheit auf, die Desdaan verkörperte. Sie kämpfte dagegen an. Schaudernd warf sie einen Blick auf das Schlafzimmer. Nach dem ganzen Winter hörte sie immer noch die glatte Stimme des Sentani, ruhig und weise, ohne Wortspiele und alberne Reime – so in sich ruhend wie das Urteil selbst. Wie hatte sie sich im vergangenen Sommer auf ihn gestützt! Was war er für eine Hilfe gewesen! Ahroe schlang zitternd die Finger ineinander.

DREI

Stel war entschlossen, wach zu bleiben, bis Ahroe zu Bett kam. Ab und zu musste sie ihre Verwaltungsaufgaben ja einmal beiseitelegen. Aber während er so dalag, abwechselnd zornig und müde, erwartungsvoll und schläfrig, glitt er schließlich doch in einen erschöpften Schlummer hinüber. Als Nächstes nahm er wahr, dass es dämmerte und Ahroe ihr langes Haar vor dem welligen Glasspiegel kämmte, den sie nach Eolyns Anweisungen selbst hergestellt hatten.

Ahroe drehte sich um, als Stel sich bewegte. »Ich bin alles hundertmal durchgegangen«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich an alles gedacht habe – wenigstens an alles, was wir jetzt brauchen. Aber trotzdem bin ich überzeugt, dass ich etwas vergessen habe, einen ganzen Bereich der Vorbereitung.«

Wieder lachte Stel tief in sich hinein. Ahroe warf ihm einen zornigen Blick zu.

»Nicht wieder so, Stel! Lass unseren letzten Tag wenigstens ruhig verlaufen, wenn er schon nicht glücklich sein kann.« Stel schlug die Hände vors Gesicht. Als er sie wegnahm, hatte sich sein Ausdruck verändert. Er war nun sonderbar teilnahmslos.

»Stel, was willst du wegen Garet unternehmen?«

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