Pelbar-Zyklus (4 von 7): Der Untergang der Muschel - Paul O. Williams - E-Book

Pelbar-Zyklus (4 von 7): Der Untergang der Muschel E-Book

Paul O. Williams

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Beschreibung

1000 Jahre nach dem nuklearen Holocaust in den USA haben nur wenige Menschen den Krieg und die nachfolgenden Seuchen überlebt. Ihre Nachfahren sind wieder zu "Wilden" geworden, die das weite, zum Teil noch radioaktiv verseuchte Land als Jäger durchstreifen, oder sie haben sich in kleinen befestigten Siedlungen verschanzt. Allmählich bilden sich wieder kulturelle Zentren aus; so in Pelbar, der Zitadelle am Herz-Fluss, dem ehemaligen Mississippi. Auf gefahrvollen Expeditionen beginnt man die postatomare Wildnis des amerikanischen Kontinents zu erkunden. Gamwyn und Brudoer, Zwillinge aus Threerivers, ziehen sich durch einen unglücklichen Zufall die Ungnade und den Hass ihrer erzkonservativen Protektorin zu, die mit eiserner Faust die Stadt am Herz-Fluss regiert. Die beiden Brüder werden zu der größten Bedrohung der etablierten Ordnung. Brudoer versauert daraufhin in den Verliesen der Stadt und enträtselt dort Schritt für Schritt die Geheimnisse Crydors, der genialen Stadtgründerin, die Threerivers einst nach dem Muster einer Muschelschale erbaute. Gamwyn gelingt die Flucht den Fluss hinab und er beginnt eine Reise durch die gefahrenvolle postapokalyptische Welt.

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4

DER FALL DERMUSCHEL

vonPAUL O. WILLIAMS

Ins Deutsche übertragen vonIRENE HOLICKI

Die deutsche Ausgabe von PELBAR 4: DER FALL DER MUSCHEL

wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,

Übersetzung: Irene Holicki; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;

Lektorat: Kerstin Feuersänger und Gisela Schell;

Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Umschlag-Artwork: Martin Frei.

Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.

Titel der Originalausgabe:

THE PELBAR-CYCLE BOOK 4: THE FALL OF THE SHELL (1981)

Copyright © Paul O. Williams und Kerry Lynn Blau

German translation copyright © 2016, by Amigo Grafik GbR.

Print ISBN 978-3-86425-845-9 (Juni 2016)

E-Book ISBN 978-3-86425-883-1 (Juni 2016)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für Sherwood, Megan,Gwyneth und Caitlin

EINS

Hoch oben in der Rundung des Breiten Turms von Dreistrom, der südlichsten der drei Pelbarstädte am Herzfluss, stand Bival, die Hände auf dem Rücken, und schaute über das Wasser. Ihre Augen wanderten über die Hügel und Bäume auf der Suche nach den ersten Herbstadlern, sie erblickte aber nur die letzten Geier, die im Sommer den Fluss bevölkerten. Hinter Bival saß schweigend Udge, die Protektorin, und spielte mit Dardan, ihrer engsten Vertrauten, Querstein; drei andere saßen dabei, schauten zu und tranken heißen Tee.

Bival glaubte, zwischen den Bäumen am Westufer, einen halben Ayas oder mehr flussabwärts von der Stadt, etwas aufblitzen zu sehen und kniff die Augen zusammen, sah aber nichts mehr. Als sie den Blick weiter flussabwärts wandern ließ, erblickte sie ein kleines Boot, das den Fluss heraufkam. Es war noch zu weit weg, um Einzelheiten erkennen zu können. Sie legte die Hand über die Augen. »Ich wünschte, wir hätten dieses Gerät, dieses Teleskop angenommen, das uns die Akademie von Pelbarigan angeboten hat«, überlegte sie. »Ein Boot nähert sich.«

Udge zog die Augenbrauen hoch. »Nur Geduld. Du siehst es noch früh genug. Wir brauchen keine von diesen Neuerungen. So. Dieses Spiel macht man am besten ohne Ablenkungen. Dardan, ich biete deiner Protektorin Schach.« Udge schob ihren weißen Minister schräg über das Brett.

Dardan grunzte und studierte weiterhin das Brett, dann wehrte sie den Zug mit einem ihrer Männer ab.

Zur gleichen Zeit schauten am Westufer drei Peshtakkundschafter durch das Herbstlaub auf die Stadt. Steelet, der Älteste, ein etwas untersetzter Mann mit glattem Gesicht, sagte: »Die ersten Kundschafter hatten recht. Ein seltsamer, nach Schweinebäuchen aussehender Ort. Hohe, geschwungene Mauern mit Terrassen. Ein großer Wachturm. Drei weitere, sonderbar geformte Türme – sehen aus wie Schneckenhäuser oder wie Muscheln. Aber noch seltsamer. Schaut euch diese Mauern an. Schweinische Diamantmuster. Wie viele eierfressende Pelbar sind da drin?«

»Wer weiß? Nicht viele, glauben wir. Vielleicht keine fünfhundert. Aber mir gefällt die Sache nicht. Vergiss nicht, was die Tantal in Nordwall erlebt haben.«

Steelet spuckte aus. In diesem Augenblick kam ein vierter Mann leise durch den Wald gelaufen und schwenkte um Ruhe heischend die Arme. Er schaufelte Erde und Sand auf das winzige Feuer – und auf die Fische, die daneben auf Stöcke gespießt waren.

»Ein Boot«, zischte er. »Mit einem Mann.« Er blieb auf den Knien und häufte weiter Erde auf und strich sie glatt, als Durc gedämpft fluchend versuchte, seinen Wels aus dem Durcheinander zu retten. Ein Wort von Steelet, und alle duckten sich und verhielten sich still. Ein stoffbezogenes Kanu mit leichter Ladung näherte sich dicht am Ufer, um den Strömungen der Fahrrinne zu entgehen. Ein schmächtiger alter Mann ruderte es. Durc und Gnau spannten lautlos ihre Bogen und schlichen sich an das Ufergebüsch heran.

Als sich das Kanu ihrem Versteck näherte, ertönte das klagende Erkennungshorn, lang gezogen und widerhallend, von der Wache in Dreistrom, und der Mann im Kanu nahm sein kurzes Stierhorn und erwiderte das Signal. Steelet legte den beiden Bogenschützen die Hand auf den Rücken, und die Peshtak kauerten sich zusammen und sahen zu, wie der Mann näher kam und flussaufwärts mit langen, trägen Ruderschlägen vorbeifuhr. Es war ein Sentani, fast zahnlos, aber kräftig mit muskulösen Armen. Steelet fluchte gedämpft. Dann flüsterte er: »Ich habe doch gesagt, ihr sollt kein Feuer anzünden.«

»Auch ein lumpiger Befehlsempfänger muss gelegentlich essen«, sagte Durc. Er kratzte Erdkrümel von seinem Wels. »Er hat das Feuer nicht gerochen. Es war klein und nur mit trockenem Sassafras geschürt.«

»Ich weiß nicht. Ich fand, er hat bei einem Schlag gezögert. Nun ja, vielleicht auch nicht. Sicherheitshalber werden wir nach Sonnenuntergang flussaufwärts ziehen. Stiergedärm! Es ist ohnehin sinnlos. Selbst wenn wir diese Stadt einnähmen, wie lange könnten wir sie halten?«

»Wir könnten einen Vertrag machen.«

»Das ist keine gute Idee. Wir sollten es im Süden versuchen, weiter den Herzfluss hinunter.«

»Sag das Annon. Und du wirst sehen, wie ihm der Gedanke gefällt. Bei all den Lederrücken von Tusco.«

»Halt dein loses Maul, sonst stopfe ich dir diesen sandigen Fisch hinein«, sagte Steelet und blickte sich um. Aber die drei anderen waren verstummt und beobachteten den Ruderer, wie er sein Ruder eintauchte und durchzog und auf die seltsame Stadt zufuhr, die im Dunst aufragte. Steelet beruhigte sich ebenfalls und richtete seinen Blick wie gebannt auf das wuchtige Dreistrom, als könne er es in sein Gedächtnis zwingen.

Als der alte Sentani endlich die Stadt erreicht hatte, empfingen ihn vier Gardisten an der steinernen Anlegeplattform. Sie waren in braune Tuniken und Hosen mit engen Beinen gekleidet, die unter dem Knie mit gestreiften Stoffbändern geschnürt waren. An der linken Seite trugen sie lose herabhängende Kurzschwerter. »Ravell«, sagte der eine. »Es ist lange her. Was bringst du? Ein leichtes Kanu. Bist du denn nicht zum Handeln gekommen?«

»Handeln? Doch«, entgegnete der Alte und streckte sich. »Ich habe etwas für Bival. Es müsste die Reise wert sein.« Der jüngste Gardist drehte sich um und trabte zum kleinen Eingang der Stadt, um der Rätin Bescheid zu sagen, die den alten Händler von ihrem hohen Fenster aus endlich doch erkannt und schon den langen Abstieg zum Fluss angetreten hatte, um ihn zu begrüßen. Sie waren alte Bekannte. In der Vergangenheit hatte sie ihn oft gebeten, ihr Gegenstände von fremdartigem Aussehen mitzubringen. Er hatte es getan, obwohl er sich kaum vorstellen konnte, wozu, und sie hatte ihm erklärt, welch sonderbare Ähnlichkeiten sie in voneinander verschiedenen Dingen sah – in Schlangenhäuten und Kiefernzapfen, Weinreben und Schneckenhäusern. Aber immer blieb eine gewisse Zurückhaltung, eine Distanz zwischen ihnen erhalten.

Die Bewohner von Dreistrom waren verschlossene Leute. Während der jahrhundertelangen Feindseligkeiten mit den Außenstämmen waren die Pelbar traditionell hinter den hohen Mauern ihrer Städte geblieben, außer in den Friedenswochen. Anders als Pelbarigan und Nordwall, die anderen Pelbarstädte, hatten die Leute von Dreistrom nicht mit der alten Gewohnheit gebrochen, andere auszuschließen, nicht einmal in den sechzehn Jahren, in denen seit der großen Schlacht um Nordwall nun schon Frieden am Herzfluss herrschte.

Trotz alledem gab es in der Stadt Menschen mit Fantasie, und eine davon war Bival, die die Händler immer genauestens befragte, wenn sie die Möglichkeit dazu hatte. Sie war sogar schon in Pelbarigan gewesen, betrachtete aber die Stadt als zu groß gewordenen, etwas kantigen, flegelhaften, geschäftigen Industrieort ohne ausreichende ästhetische Verfeinerung.

Ravell war ein einsamer Händler, der den Herzfluss bis zum Tuscogebiet unten im Süden befuhr, sich mit den Tusco in der neutralen Zone weit unterhalb der Einmündung des Oh traf und mit ihnen handelte und Baumwolle, Reis und Tee aus dem Süden mitbrachte. Als Bival ihm jedoch diesmal entgegenging, sah sie, dass er nichts dergleichen dabeihatte, sondern nur ein kleines Rindenkästchen, das er ihr entgegenstreckte.

Sie nahm es verblüfft und schaute ihn an. »Ravell. Wie lange ist es her? Drei Jahre. Komm ins Besucherzimmer und iss etwas! Was ist das? Ist das alles?«

»Es ist für dich. Es ist die Reise wert, glaube ich, wenn du es siehst«, sagte der alte Mann mit keuchend durch seine schlaffen Lippen gestoßenen Zischlauten. »Ich hatte Mühe genug, es zu bekommen«, fügte er hinzu. »Das wird kostspielig. Ich verlange sieben Wintertuniken dafür.«

Bival zog die Augenbrauen hoch. Aber als er später drinnen an seinem gesüßten Tee nuckelte, hob sie den Deckel des Kästchens und schob das Futter aus Kaninchenfell beiseite, und da sah sie eine fremdartige Muschelschale. Mit einem tiefen Atemzug nahm sie sie heraus. Sie war offenbar ein genaues Vorbild für den Breiten Turm der Protektorin, eine symmetrische, spiralförmige Muschel, die das Zentrum der Stadt oberhalb der Terrassen krönte. Die Muschelschale war mit blauen Bändern umwunden. Bival sah, dass man sie sehr sorgfältig gespalten hatte und dass die Bänder sie zusammenhielten. Vorsichtig löste sie sie und nahm die Muschel auseinander. Wieder atmete sie tief ein, als sie die inneren Trennwände der sich schön entfaltenden Spirale sah, jede Einzelne genau platziert, jede Einzelne sanft gewölbt. Jetzt verstand sie die Raumaufteilung im Breiten Turm. Craydor, die vor mehr als dreihundert Jahren Dreistrom entworfen hatte, hatte einfach nach einem solchen Modell gearbeitet. Erstaunlich.

Sie schaute zu Ravell auf, der schweigend dasaß und sie betrachtete. »Sie kommt vom südlichen Meer, dem bitteren Wasser unterhalb der Mündung des Herzflusses«, sagte er.

»Du? Warst du dort?«

»Nein. Ich habe sie von den Tusco von der U-Beuge. Ich habe mich über die neutrale Zone hinausgewagt, ohne es eigentlich zu merken, und sie fingen mich und machten mich zum Sklaven. Drei Jahre habe ich dort verbracht. Aber Jaiyan hörte weiter flussaufwärts davon, und er sagte den Tuscohändlern, sie sollten mich lieber gehen lassen, sonst würden sie von den Sentani von Koorb etwas zu hören kriegen.«

»Und dann haben sie dir die Muschel gegeben?«

»Ich habe sie aus ihrem weißen Turm gestohlen. Ich fand, das seien sie mir schon schuldig. Sie war eine von ihren Kuriositäten, aber als ich sie sah, wusste ich, dass du sie würdest haben wollen.«

»Sieben Tuniken?«

»Sieben.«

»Du sollst sie haben. Komm morgen früh und hole sie dir!«

Der Sentani widersprach mit erhobenen Händen. »Ich muss heute Nacht in der Stadt bleiben.«

»In der Stadt? Das wird hier nie so gehandhabt. Das weißt du doch.«

»Nicht weit im Süden habe ich schwach ein Feuer gerochen. Kurz ehe das Horn ertönte, erhaschte ich einen Blick auf Männer in den Büschen, sie waren bewaffnet und beobachteten mich. Ich war froh über dieses Horn.«

»Männer? Was für Männer?«

Ravell zuckte mit den Achseln und streckte die Hände aus. »Ich weiß nur, dass es Männer waren, die nicht entdeckt werden wollten. Ich habe einen Bogen gesehen, klein und doppelt gekrümmt.«

Der in der Nähe stehende Gardist hörte dieses Gespräch und sagte: »Ich sehe keinen Grund, warum er nicht in der Stadt bleiben sollte, Südrätin. Wenn du gestattest, werde ich den Gardehauptmann fragen.«

Sie neigte den Kopf, und der Mann ging. Dann gab sie dem Alten die Muschel zurück, und er legte sie vorsichtig wieder in das Kästchen. »Bis morgen früh dann?« Sie streckte die Handfläche aus, und beide berührten sich zum Zeichen des Einverständnisses und des Abschieds. Dann drehte sie sich um und ging.

Später kramte Bival in dem kleinen Zimmer mit den Steinwänden, das sie mit ihrem Gatten teilte, in einem Korbkasten herum, während sie fragte: »Wo sind die Zettel, die wir gespart haben?«

»Nicht in diesem Kasten. Schau in dem umrandeten Fach nach! Warum fragst du?«

»Ich brauche sie.«

»Du? Du brauchst sie? Ich habe sie mit meiner Nebenarbeit verdient. Was brauchen wir denn?«

»Wir? Das ist zu wichtig, um kleinlich zu sein, Warret. Etwas höchst Erstaunliches ist passiert. Ravell, der Sentanihändler, hat mir eine wunderbare Muschel gebracht – das Modell für den Breiten Turm. Ich hatte schon vermutet, dass Craydor ein richtiges Modell hatte. Es sieht ihr ähnlich. Seit Jahren versuche ich, Craydors Entwürfe zu verstehen. Das ist ein Schlüssel.«

»Aber ich habe die Zettel für eine Pellute gespart. Seit drei Jahren. Jetzt hatte ich fast genug. Meine Nebenarbeit …«

Bival richtete sich auf und seufzte. »Warret, ich will nicht darüber streiten! Das ist zu erniedrigend. Auch du wirst von dieser Sache profitieren. Du musst einfach Vertrauen zu meinem Urteil haben. Und damit Schluss!«

Warret starrte sie an. »Schluss? Einfach so? Ja, es ist Schluss!« Er fing an, seine Kleidung von seinen Fächern herunterzuräumen.

Bival runzelte die Stirn. »Was soll das jetzt? Noch mehr Widerstand? Wirst du nie lernen, wo dein Platz ist?«

Warret antwortete nicht, sondern fuhr fort, seine Kleidung zu einem Bündel zusammenzurollen.

»Du hast einen Eheeid geschworen. Einen Pelbareid. Willst du ihn einfach wegwerfen? Du hast dich bereit erklärt, zu gehorchen. Niemand hat gesagt, dass das immer leicht sein würde.«

»Ich erfülle meinen Eid nur aus größerer Entfernung.« Er wandte sich zur Tür. Sie stellte sich ihm in den Weg. Er blieb einfach passiv stehen.

»Und jetzt wirst du diese Sachen wieder in die Fächer zurücklegen!«

Er drehte sich um, stellte das Bündel ab und stopfte alles in ein Fach.

»Sei doch nicht kindisch! Falte die Sachen, wie es sich gehört!«

»Mir gefallen sie so.«

»Ich werde dafür sorgen, dass man dich zum Wasserheben abstellt!« Warret antwortete nicht, sondern blieb einfach auf einem Fleck stehen. Sie wurde es schließlich müde, ihn anzustarren, und machte sich wieder auf die Suche nach den Zetteln. Er rührte keinen Finger. Mit einem gereizten Seufzer zählte sie die Zettel durch, legte zwei zurück in den Weidenkorb, in dem sie sie gefunden hatte, und ging dann, um die übrigen gegen sieben Tuniken einzutauschen.

Als sie später mit den schweren Kleidungsstücken zurückkehrte, war weder Warret da noch sein Kleiderbündel. Bival ließ sich nachdenklich auf ihr Bett fallen und strich mit der Hand über die Tuniken. Ihr Mann würde ihr schon noch recht geben. Sie sah voraus, dass sie durch die Muschel an Macht gewinnen würde. Davon würde auch er profitieren, ob er wollte oder nicht.

Inzwischen ging auf der anderen Seite des Flusses ein Trupp Gardisten zu der von Ravell beschriebenen Stelle und fand das erloschene Feuer der Peshtakkundschafter. Bei Fackelschein suchten sie das Gelände ab, entdeckten aber nur ein paar vereinzelte Spuren, die ihnen nichts verrieten.

Als sie abzogen, bemerkte mehrere Hundert Armlängen entfernt in einem Dickicht Steelet, der Anführer der Peshtak: »Ich hatte recht. Der Alte hat doch etwas gesehen. Stiergedärm über ihn! Über dich auch, Durc! Morgen beobachten wir noch weiter, dann kehren wir an den Oh zurück. Diese Stadt könnte eine Lösung für uns sein, aber ich zweifle daran. Dieses schweinische Gelände ist viel zu flach und offen. Ich brauche Berge, in denen ich mich verstecken kann.«

Als Bival am Morgen erwachte, war ihr Mann noch immer nicht zurückgekehrt. Sie nahm sich vor, zu beantragen, dass man ihn zum Wasserheben abstellte. Dreistrom hob nämlich immer noch sein gesamtes Wasser von unterirdischen Quellen bis zum Spiralturm hoch über die Stadt hinauf. Von da floss es hinunter in alle Baderäume und Küchen wie auch in die geschwungenen Terrassengärten, die sich stufenförmig um die südliche Hälfte der Stadt wölbten, in anmutigen Schwüngen nach unten abfielen und während der ganzen Wachstumssaison dicht bepflanzt waren.

Unten wartete Ravell ungeduldig auf Bival. Wegen der Fremden wollte er einen ganzen Tag und eine Nacht hindurch rudern, um möglichst viel Abstand zwischen sich und Dreistrom zu legen. »Ich kehre nach Koorb zurück«, sagte er, als die Südrätin kam. »Ich habe für eine Weile genug vom Handeln, glaube ich, vielleicht sogar für immer.« Er lächelte zahnlos und reichte ihr das Kästchen. Sie war so begierig danach, dass sie sich kaum richtig von ihm verabschiedete.

Als der Gardist Ravell hinausließ, grinste er. »Ich glaube, sie freut sich«, bemerkte er und schenkte dem Händler einen kleinen, für die Reise in Korb eingeflochtenen Keramikkrug mit Honig. Sie verabschiedeten sich durch Aneinanderdrücken der Handflächen, und der Gardist half dem Alten, sein Kanu in die Strömung zu schieben. Sie lächelten einander ein letztes Mal zu. Dann überflog Ravell mit den Augen das Westufer, tauchte sein Ruder mit tiefen, kräftigen Schlägen ins Wasser und fuhr in die Fahrrinne hinaus.

Bival konnte ihre Ungeduld fast nicht bezähmen. Schließlich blieb sie hoch oben auf der Wendeltreppe zum Breiten Turm auf einem Absatz stehen. Sie wollte sich die Muschel einmal ganz genau ansehen, ehe sie sie der Protektorin zeigte. Sie stellte das Kästchen auf einen breiten Fenstersims, wo die aufgehende Sonne es beleuchten konnte. Sie löste die Verschnürungen, legte die beiden Muschelhälften ausgebreitet hin und stand bald in die Betrachtung ihrer Form verloren da.

Sie hörte nicht, wie Gamwyn und Brudoer, die Zwillinge, über ihr mit Säcken voller Müll und Wäsche, die sie in den Räumen der Protektorin und im Gemeinschaftsraum des Rates gesammelt hatten, die Treppe heruntergepoltert kamen. Die Jungen waren vierzehn Jahre alt, unterbeschäftigt, voller Energie und ständig dabei, einander kichernd und Ärger vortäuschend zu schubsen. Als sie um die Biegung zum Treppenabsatz kamen, schwang Brudoer seinen Sack, und Gamwyn, der ihm ausweichen wollte, sprang zurück und prallte gegen Bival. Sie taumelte. Mit einem heftigen Atemzug sah sie, wie die beiden Muschelhälften wie Flügel ohne Vogel vom Herbstwind erfasst wurden, stürzten, sich schwebend drehten, an der letzten Terrassenwand hängen blieben, zerbrachen, als weiße Flocken über den Rand der hohen Stadtmauer weiter stürzten und immer kleiner wurden. Sie wirbelte herum.

Die Jungen standen betäubt und stumm da. Mit einem unartikulierten Schrei schlug Bival mit ihrer schweren, beringten Hand nach Gamwyn und riss ihm die rechte Wange auf. Sie prügelte weiter auf ihn ein, während er kreischte und taumelte und sich die Hände vor sein blutüberströmtes Gesicht hielt.

Nach einem Augenblick des Schocks riss sich Brudoer den Gürtel herunter und schlug mit der schweren Schnalle in schnellen, wütenden Hieben nach Bival, ohne sich zu überlegen, welch entsetzliche Tat er, ein Knabe, da an einer führenden Persönlichkeit der Stadt beging.

Sie drehte sich blitzschnell zu Brudoer herum, hielt die Hände hoch und wollte den Gürtel fassen. Gamwyn sank auf den Steinboden. Bival erwischte schließlich den Gürtel, riss daran und warf Brudoer um, gerade als zwei Gardisten atemlos die Wendeltreppe heraufgelaufen kamen. Einer packte Brudoer, der sich immer noch wehrte und schrie: »Lass mich los, du Fischgesicht! Sieh dir meinen Bruder an! Ich bring sie um! Lass …« Der Gardist hielt ihm mit dem Unterarm den Mund zu.

»Südrätin …«, begann er.

Bival wollte wieder nach Brudoer schlagen, aber der Gardist drehte sich um und deckte den Jungen mit seinem Körper. Bival blutete an Kopf und Händen. »Sperrt sie ein!«, sagte sie knapp. »Sie haben mich angegriffen. Und du, Brudoer, nach allem, was ich für dich mit deinem armen, langsamen Gehirn getan habe. Abschaum! Was bin ich doch für eine Närrin! Einen Mörder Mathematik lehren zu wollen. Jetzt sperr sie ein, Gardist, sofort! Ich muss ins Krankenrevier.« Ohne ein weiteres Wort stieg sie die Treppe hinunter und ließ die beiden völlig verdutzten Gardisten mit dem Jungen stehen.

»Was ist passiert?«, fragte der eine.

»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Ich bin in sie hineingerannt«, murmelte Gamwyn und hielt sich die blutende Wange. »Es tut mir leid. Gütige Aven, Brud, was hast du getan?«

Brudoer konnte nicht antworten. Der zweite Gardist hielt ihm immer noch den Arm vor das Gesicht. Als der Junge versuchte, ihn zu beißen, verstärkte er seinen Griff auf grausame Weise, bis Brudoer aufhörte, sich zu wehren. Weitere Gardisten trafen ein, und Brudoer wurde die Treppe hinuntergebracht. Zwei Männer knieten neben Gamwyn nieder und sagten: »Nimm die Hand weg! Wir tun dir nicht weh. Komm jetzt! Nimm die Hand weg!« Als er es schließlich tat, quoll dahinter Blut hervor, und der Gardist keuchte leise. »Kannst du gehen?«, fragte er.

ZWEI

Udge rieb sich nachdenklich das Kinn und starrte Bival an, die respektvoll vor ihr stand, den Kopf an den Stellen verbunden, wo Brudoers Gürtelschnalle sie getroffen hatte. Es war Sonnenhochstand. Die drei anderen Quadrantenrätinnen saßen bequem, aber schweigend da. Bival hatte den Vorfall aus ihrer Sicht erzählt.

Udge seufzte. »Ich brauche dir nicht zu sagen, dass das nicht gut ist. Aber es zeigt lediglich, dass wir noch mehr Disziplin benötigen. Die Welt draußen wird immer unruhiger, in Pelbarigan gibt es Veränderungen, in Nordwall auch, da wollen die Männer natürlich mehr Freiheit. Und du, Bival, hast diesen Jungen auch noch als Schüler angenommen …«

»Aber er schien doch so gut geeignet, Protektorin.«

»… du hast diesen Jungen auch noch als Schüler angenommen und ihn durch deinen unglückseligen Liberalismus genau zu der Untat geführt, die er gegen dich begangen hat. Die Männer dürfen nicht mehr Freiheit haben. Sie …«

Draußen hatte der Wachgardist sein Mundstück ins Signalhorn, einen gewundenen, in den Turm eingebauten Stein, gesteckt und einen langen Abschiedsruf geblasen.

»Was ist das?«, fragte Udge. Sie läutete nach einer Gardistin und fragte erneut. Die Frau verschwand und kehrte alsbald zurück.

»Protektorin, die Ursana hat den Jungen Gamwyn mit dem Boot nach Pelbarigan geschickt, damit seine Wunde von dem neuen Arzt, dem aus der alten Kuppel, behandelt werden kann.«

Udge stand unvermittelt auf und schmetterte ihre Teetasse zu Boden. »Gardistin, hol die Leiterin der Garde! Lass das Boot zurückrufen! Bring die Ursana hierher zu mir! Geh!« Sie schritt zum Fenster und schaute blinzelnd hinaus. Das Boot war schon weit flussaufwärts. Es schien ziemlich lange zu dauern, bis das Gardehorn zum Umkehren blies. Während Udge zusah, wurde das Horn noch mehrmals geblasen, aber das Boot wendete nicht. Sicher, es wehte eine Brise. Aber so stark war sie nicht. Sie hätten es hören müssen. Sie sah, dass sich ein Pfeilboot an die Verfolgung machte, dann wandte sie sich vom Fenster ab. Bival hatte sich nicht bewegt. Die Leiterin der Garde stand schweigend an der Tür und wartete darauf, dass die Protektorin Kenntnis von ihr nahm.

Udge schaute sie scharf an. »War der Junge nicht ein Gefangener? Warum durfte er ohne Abmeldung fort? Ist dir klar, was du getan hast?«

»Gefangener? Das hat mir niemand gesagt. Was hat er denn getan, Protektorin, außer dass er mit der Südrätin zusammengestoßen ist?«

»Das reicht. Hat man es dir nicht gesagt? War das nicht klar?«

»Bival hat es gesagt, ja, Protektorin. Aber sie war wütend. Es gab keine gesetzliche Entscheidung. Sie hat den Jungen ja selbst so bestialisch verletzt, dass …«

»Schweig! Du bist kein Richter. Du bist Befehlsempfänger. Ich befehle dir hiermit, den Jungen festzunehmen! Du wirst den Befehl ausführen. Lass Wim zu mir bringen! Jetzt geh!«

Als sich die Leiterin der Garde zum Gehen wandte, stieß sie fast mit der Ursana zusammen, einer ziemlich kleinen, stämmigen Frau, die das Haar zu zwei festen Knoten aufgesteckt trug. Die Protektorin blickte sie zornig an.

Die alte Ärztin atmete schwer. »Du hast nach mir geschickt, Protektorin?«, fragte sie sanftmütig.

»Ich wünsche eine Erklärung, warum du deine Befugnisse überschritten und diesen Jungen nach Pelbarigan geschickt hast. Warum hast du nicht um Erlaubnis gefragt?«

»Erlaubnis, Protektorin?«

»Nun, antworte!«

Die alte Frau seufzte. »Protektorin, gibst du mir Gelegenheit zu einer ausführlichen Antwort?«

»Wenn es mir beliebt.«

»Dann, Protektorin, wirst du überhaupt keine Antwort bekommen. Ich bin kein Mann, den man herumkommandieren kann! Meine Familie wird sich hinter mich stellen. So wollen es die Gesetze Craydors. Du bist es, die ihre Befugnisse überschreitet! Ich bin bereit, dem gesamten Rat zu antworten, den du so selten einberufst.«

Udge schaute sich nach der Teetasse um, die sie auf den Boden geschmettert hatte. Sie hob die Arme und ließ sie dann wieder sinken. »Nun gut. Aber mach’s kurz!«

»Der Junge hat schreckliche Verletzungen. Sieh es einmal mit den Augen eines Arztes. Ich soll heilen. Ich konnte die Wunde nähen, versuchen, eine Entzündung zu verhindern und das Fieber des Jungen zu dämpfen, konnte vielleicht sogar die Heilung fördern – mit einer breiten Narbe auf seinem Gesicht. Es ist ein junges Gesicht, Protektorin, noch so glatt wie das eines Mädchens. Das war es jedenfalls. Jetzt ist es geschwollen und entstellt. Die Wunde ist entzündet. Es besteht die Möglichkeit, dass er stirbt. Wir wissen, dass das Können dieses alten Arztes Royal das meine weit übersteigt. Ich dachte …«

»Pah!«, sagte Udge.

Die Ursana hob einfach die Hand. »Bitte betrachte es doch noch von einem anderen Standpunkt, Protektorin! Von einem politischen! Was ist, wenn er sterben sollte? Die Männer sind schon jetzt befremdet. Was der Junge getan hat, war nur eine leichte Verfehlung, auch wenn sie für Bival schlimme Folgen hatte. Wenn die Männer und ihre Sympathisanten den Eindruck bekämen, wir enthielten dem Jungen wirksame Hilfe vor, und wenn er dann tatsächlich stürbe, würde uns das mehr Schwierigkeiten bereiten, als die Sache wert ist. Wenn er geheilt zurückkehrt und die Narbe kaum sichtbar ist, womit ich rechne, haben wir der Opposition Kraft entzogen, weil wir uns als weise und gerechte Herrscher erwiesen haben, wie Craydor es empfahl – und wie Pel selbst es verlangte.«

»Bist du fertig?«

»Ja, Protektorin.«

»Ich glaube, es wäre nützlich, wenn du deinen Posten aufgibst. Ich werde dir gestatten, mir jemanden als Ersatz vorzuschlagen, den ich überprüfen werde.«

»Einen Ersatz? Endlich. Jawohl, Protektorin! Ich werde über diese Angelegenheit einen Bericht zusammenstellen. Vielleicht gehe ich dann selbst nach Pelbarigan, um mir diesen Royal anzusehen.« Die Ursana wandte sich zum Gehen.

»Habe ich dich entlassen?«

»Nur aus dem Amt, Protektorin, Aven sei Dank. Ich gehe. Das ist keine formelle Sitzung. Ich kenne das Protokoll.« Sie wandte sich erneut ab, zögerte dann, drehte sich noch einmal um und fügte hinzu: »Ausgerechnet du, Bival, solltest dich an Craydors Ausspruch erinnern: ›Eine Muschel ist ein Entwurf für Leben. Darüber hinaus hat sie trotz ihrer Schönheit keine schöne Funktion. Das gilt in jeder Hinsicht.‹«

Bival sah sie zornig an. »Bleib du bei deinen Verbänden! Ich verstehe mehr von Entwürfen als fünf beliebige andere Leute in dieser Stadt zusammen. Geh und rühre dir etwas von deiner nutzlosen Medizin an!«

Die Ursana zog die Augenbrauen hoch. »Was du heute Morgen getan hast, entsprang sicherlich nicht einem gewaltigen Verständnis von Entwürfen.« Sie ging, dann beugte sie sich in der Tür zurück und fügte hinzu: »Oder wie du Warret behandelt hast.«

Bival stieß einen Schrei aus und wollte auf die Tür zustürzen, aber die Nordrätin sprang auf und hielt sie zurück. »Ruhig, Bival! Ein Verletzter pro Tag ist genug. Wir haben genügend Probleme. Lass sie reden! Das ändert nichts. Dein Temperament macht uns alle angreifbar.«

Udge stand am Fenster und schaute flussaufwärts. Sie konnte nichts sehen.

Brudoer war in eine Gefängniszelle im untersten Teil der Stadt gesperrt worden, wo die Mauern dick und alle Räume mit schweren Bögen und breiten Pfeilern unterteilt waren. In diesem Teil der Stadt befanden sich Eislagerräume, allgemeine Lagerräume, Pilzkulturen und die großen Gefängniszellen. Diese lagen in einer Sechserreihe nebeneinander, waren düster und hoch und hatten hohe, schmale Fenster. Sie waren ziemlich schlicht, aber schön gearbeitet. Craydor war der Ansicht gewesen, dass auch Menschen, die eingekerkert werden mussten, die Möglichkeit haben sollten, Ordnung und Schönheit vor Augen zu haben, ganz gleich wie abstrakt.

In eine Mauer von Brudoers Zelle war eine Bettbank eingebaut, darüber wölbte sich ein Bogen, in den ein Wort sauber eingemeißelt war: »GNADE«. In mehrere, rings um den Raum laufende Streifen waren ebenfalls Buchstaben eingemeißelt, aber sie ergaben keinen Sinn und fügten sich nicht zu Worten zusammen. Das steinerne Diamantmuster der Außenmauern wiederholte sich im Kleinformat an diesen Wänden. An einer stand eine Steinbank.

Aber von alledem sah Brudoer nichts. Er war immer noch ganz aufgewühlt vor Wut und Angst. Manchmal schien sein Zorn anzuschwellen wie roter Regen und den Raum zu überfluten. Jedes Mal, wenn er sich allmählich beruhigte, stieg das Bild von Gamwyns blutendem Gesicht, als Bival ihn schlug, vor ihm auf, und der Zorn wogte wieder hoch. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Mauer, saugte dann an seinen blutenden Knöcheln, krümmte sich und sah zu, wie die Bluts- und Tränentropfen den glatten Stein bespritzten. Er würde nicht ruhen, bis er sich gerächt hatte. Das gelobte er. Niemals!

Erst im zweiten Quadranten nach Sonnenhochstand kam das Pfeilboot mit seinem Gardehauptmann und einem anderen Gardisten in Rufweite des größeren Bootes, in dem sich Gamwyn befand. Das Leitboot wendete nicht. Obwohl die Männer darin müde waren, tauchten sie ohne Pause ihre Ruder ein und zogen sie durchs Wasser, und das verfolgende Pfeilboot hatte noch eine lange Jagd vor sich, ehe es längsseits und dann vor das andere Boot kam.

Der Gardist im Bug hob einen Kurzbogen: »Halt! Befehl der Protektorin. Haltet an und bringt den Jungen zurück!«

Die Ruderer hielten inne, ihre Rücken erschlafften. Auch sie waren Gardisten. Alles Männer. Der Mann im Heck rief: »Kommt näher! Seht ihn euch an. Vielleicht stirbt er. Kommt und seht!«

»Darum geht es nicht. Es ist ein klarer Befehl.«

»Kommt trotzdem her!«

Widerwillig steuerte das Pfeilboot längsseits. Gamwyn lag mittschiffs, stoßweise atmend, sein verbundenes Gesicht war stark angeschwollen, seine Augen blickten glasig.

»Trotzdem«, setzte der Gardehauptmann im Pfeilboot an, aber da kippte der Gardist im Heck von Gamwyns Boot mit einer geschickten Bewegung das schmale Fahrzeug um und warf die beiden in den Fluss. Sie schlugen mit den Armen und strampelten.

»Los, Männer, rudert!«, rief der Mann im Heck. Müde, aber mit einem Jubelruf nahmen sie den Rhythmus wieder auf und zogen flussaufwärts an dem Pfeilboot vorbei. »Wartet!«, sagte der Gardist im Heck. Er drehte sich um und schaute nach den beiden im Wasser. »Schon gut. Sie können schwimmen. Und jetzt weiter! Jetzt können wir uns mehr Zeit lassen, müssen aber heute noch eine Viertelsonne weitermachen. Sie haben ihre Waffen verloren.« Er lachte, tauchte sein Ruder ein und zog es leise kichernd durchs Wasser. Dann schaute er wieder zu Gamwyn hin und verstummte.

»Keine Sorge, Gam«, sagte er schließlich. »Wir bringen dich schon hin! Du musst nur durchhalten.« Er glaubte zu sehen, dass der Junge schwach nickte.

Als das Boot bei Sonnenuntergang noch nicht zurückgekehrt war, wurde die Protektorin unruhig. Sie hatte die Leiterin der Garde schon durch Wim, ein Familienmitglied mit etwas Gardeerfahrung, ersetzt. Auch Suth, die Ursana, hatte sie als oberste Ärztin abgesetzt. Während sie ungeduldig wartete, kam Newall, eine Geistliche, mit der Bitte von den Arbeitern des Nordquadranten um eine besondere Andacht zur Harmonisierung der gegenwärtigen Situation zu ihr.

»Sie wollen nur im Tempel Hymnen singen, sonst nichts«, sagte Newall. »Sie sind aufgewühlt. Dürfen sie? Ich glaube, es wird sie beruhigen.«

Udge überlegte. »Ich habe nichts dagegen, wenn die Frauen mitsingen.«

»Die Frauen wollen aber nicht, Protektorin.«

»Immer die Männer. Sie sind nur auf der Welt, um Schwierigkeiten zu machen. Meine Bedingung bleibt bestehen.«

»Protektorin …«

»Nein. Sie können die ganze Nacht singen, wenn sie es im Familienverband tun. Das ist doch wohl deutlich.«

Newall zögerte, dann ging sie. Udge wandte sich an Bival und sagte: »Diesmal hast du dir wirklich etwas geleistet, Bival. Ich wünschte, du könntest mir das alles erklären. Eine Muschel? Das scheint die ganze Aufregung nicht wert zu sein – obwohl es vielleicht gerade die Gelegenheit ist, die wir brauchen, um ein für alle Mal für Ordnung zu sorgen.«

»Es war nicht nur irgendeine Muschel, Protektorin. Es war das Modell für den Turm, in dem wir jetzt sitzen. Sie ist vom Meer im Süden bis hierhergekommen. Craydor muss eine solche besessen haben. Das bringt mich zu der Ansicht, dass auch die anderen Türme nach wirklichen Modellen gebaut wurden und nicht Craydors eigene Schöpfungen oder Abwandlungen von bekannten Muscheln waren. Das würde mit ihrer Theorie der Architektur übereinstimmen – so weit als möglich natürliche Formen zu verwenden. Obwohl ich die Muschel nur so kurze Zeit hatte, konnte ich sehen, wie sie sie verwendet haben muss. Ich sah ihre Stärken und wie die Trennwände im Inneren abgewandelt waren, um sie unseren Bedürfnissen hier anzupassen. Dieses ganze Bauwerk ist, trotz aller Abänderungen, im Wesentlichen von der Stadt getrennt, es sitzt obendrauf. Dessen bin ich sicher. Es ist eine kleine Festung für sich. Wie es Craydor jedoch gelang, die Steine zu wölben und einzupassen, geht über meine Vorstellung. Wenn wir das verstünden, wie viel könnten wir erreichen.«

»Dafür besteht kein Anlass. Die Stadt ist gebaut. Sie hält sich recht gut.«

»Aber Craydor hat Anweisungen für Anbauten hinterlassen, wenn dies je wünschenswert werden sollte. Sie hat selbst oft genug angebaut und hinzugefügt.«

»Das war Craydor. Wir müssen die Stadt jetzt auf unsere Weise führen.«

Eine Gardistin läutete die kleine Glocke vor der Tür. Udge ließ sie ein. »Protektorin, das Pfeilboot ist zurück.«

»Mit dem Jungen.«

»Sie wollten nicht umkehren. Die Ursana hat sich anscheinend ihre Gardisten sorgfältig ausgesucht. Sie haben das Pfeilboot umgekippt und den Gardehauptmann und den Mann von der Besatzung ins Wasser geworfen.«

Udge schlug mit der Hand auf die breite Armlehne ihres Stuhls, dann rieb sie sich die schmerzenden Knöchel. »Wir werden ihnen einen Botenvogel vorausschicken«, sagte sie.

»Ja, Protektorin. Das soll beim ersten Lichtschein geschehen.«

»Sofort!«

»Die Vögel fliegen bei Nacht nicht, Protektorin. Wenn wir den neuen Botschaftssender angenommen hätten, den Pelbarigan uns angeboten hat, dann vielleicht …«

»Schweig! Wenn wir ihre sämtlichen Neuerungen übernehmen, fällt alles auseinander. Botenvögel haben ihren Dienst immer recht gut getan.«

»Ja, Protektorin.«

»Ich werde die Nachricht vorbereiten. In ein paar Sonnenbreiten kannst du kommen und sie abholen.«

Die Gardistin verneigte sich und ging. Bival und die anderen folgten ihr. Udge war allein. Sie ging zum Fenster und strich mit den Händen über die Mauern. Sie verstand nicht, wovon Bival sprach. »Wie eine bestimmte Muschel entworfen.« Nun, vielleicht hatte sie recht. Aber als alte Politikerin konnte sie in dieser Tatsache keinerlei Bedeutung erkennen. Von unten hörte sie schwach viele Stimmen singen, nur männliche Stimmen. Sie läutete nach der Gardistin und sagte: »Dieses Singen. Hat denn gegen meinen Befehl doch eine Andacht stattgefunden?«

»Nein, Protektorin. Das sind nur ein paar Arbeiter, die unten in den Eishöhlen singen. Das tun sie oft, zu ihrem Vergnügen.«

Udge lauschte. »Das sind mehr als nur ein paar Arbeiter. Die Garde soll ihnen sagen, die sollen aufhören! Sie stören mich!«

Die Gardistin zögerte nur einen Augenblick, dann verneigte sie sich und ging mit den Worten »Ja, Protektorin« hinaus.

Und so hörte Brudoer, der erschöpft an der Wand seiner Zelle lehnte und auf die üppigen Harmonien lauschte, die in vollen Tönen durch die schweren, steinernen Bogengänge hallten, eilige Schritte, Rufe, dann zornige Stimmen. Das Singen hörte auf. Wieder schwebte Gamwyns Gesicht in seinen Gedanken herauf, aber er war zu müde, um noch darauf zu reagieren. Er legte sich auf die Steinbank und starrte auf einen einzelnen, blassen Stern, den er durch den hohen Fensterschlitz sehen konnte. Der Stern schien zu zittern und zu zerfließen, aber als Brudoer sich beruhigte, schien auch er fester geworden zu sein, ein harter Punkt aus blauweißem Licht.

DREI

Erst kurz vor Sonnenhochstand am dritten Tag kam ein Botenvogel von Pelbarigan zurück. Die ganze Zeit über hatte Udge ungeduldig gewartet und mehrmals in jedem Tagquadranten ihre Gardisten gerufen, um sich zu erkundigen. Wim, die neue Leiterin der Garde, breitete die Botschaft vor der Protektorin aus:

Eure Botsch. empf. Kann Knaben Gamwyn jetzt nicht zurückschicken. Zu schwer verl. Kann bei fürsorgl. Behandl. vermutl. überleben. Schicke ihn, wenn ganz gesund. Eure Gard. nach Nordw. gegangen wegen Angst vor Verfolg. Werden uns desh. zu geg. Zeit mit euch und Nordw. auseinandersetzen. Gute Weizenernte in Nordw. Unsere Äpfel erstkl. Wenn ihr Funk annehmt, können wir uns üb. derart. Angeleg. abspr. Keine Verzögerung. Braucht ihr Hilfe? Avens Segen. Sagan, Prot.

Udge riss die Botschaft an sich und las sie noch einmal durch. Sie warf der wartenden Gardistin einen schnellen Blick zu und sagte: »Ruf die vier Quadrantenrätinnen!« Während sie wartete, klopfte sie mit den Fingern auf den Tisch, zerknüllte das kleine Blatt und musste es dann wieder glatt streichen.

Als die Rätinnen eintraten, reichte sie Bival die Botschaft und bat sie, sie laut vorzulesen. Danach sagte sie: »Seht ihr? Sie macht sich über mich lustig. Eure Botsch. empf. Avens Segen. Wieder empfiehlt sie uns, diesen Apparat, dieses ›Funk-Gerät‹ von diesen avenlosen Schuften aus der Kuppel anzunehmen. Um von Weizen und Äpfeln zu sprechen!«

»Vielleicht wäre es ganz nützlich gewesen, Protektorin«, sagte Cilia, die Westrätin.

»Nein. Damit könnten sie uns nur wirksam kontrollieren. Craydor hat diese Stadt gebaut, weil sie den besseren Weg kannte, sowohl architektonisch wie gesellschaftlich. Es ist unsere Pflicht, daran festzuhalten!«

»Was ist mit den Gardisten, Protektorin?«

»Sie sind für uns verloren. Es hätte keinen Sinn, wenn wir versuchten, gerichtlich vorzugehen, trotz ihres Ungehorsams.«

»Vielleicht nicht. Wir sollten es versuchen, Protektorin.«

»Nein. Das würde uns nur noch mehr in Verlegenheit bringen. Hör dir den Ton des Briefes an! Sagan sieht nur ein verletztes Kind, das in bestialischer Weise von einem verantwortungslosen Regierungsmitglied angegriffen wurde, alles wegen einer Kleinigkeit. Sie hätte die Gardisten daran hindern können, nach Nordwall zu gehen. Jetzt werden wir ihre Rückkehr oder irgendeine Strafe gegen diesen Haufen von Mischlingen und Shumaifreunden in Pelbarigan nie mehr durchsetzen. Unser Schweigen über die Angelegenheit mag als Tadel dienen. Wir müssen unsere Gesellschaft selbst kontrollieren und versuchen, auf diese Weise die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die gesamte Lebensweise der Pelbar ist bedroht. Nun, sie versprechen, den Jungen zurückzuschicken – wenn er überlebt. Natürlich wird er überleben. Wir werden sehen, was dann geschieht.«

»Was ist mit den Familien der Gardisten, Protektorin? Werden sie sie nicht zur Rückkehr drängen?«

»Nein. Alle sechs sind jung und unverheiratet. Alle stammen aus einwandfreien Familien. Aber keine dieser Familien ist wirklich auf meiner Seite.«

»Nun, dann …«

»Siehst du nicht, was gespielt wird? Ist es so schwierig? Sie hätten das nicht so schnell planen können. Sie hatten schon vorher daran gedacht, zu desertieren. Sie wollten nicht nur den Jungen retten. Sie wollten aus Dreistrom und vor ihrer Verantwortung fliehen.«

»Wir müssen die Gardisten in Zukunft sorgfältiger auswählen, besonders die Männer.«

»Das habe ich mir auch überlegt, Lamber. Zwei sind aus deinem Quadranten. Alle haben beispielhafte Referenzen. Wir hätten es nicht voraussehen können. Sie haben ihre verräterischen Gedanken für sich behalten.«

»Vielleicht müssen wir ein System von Informanten aufbauen, Protektorin.«

»Vielleicht. Vielleicht.«

Die Leiterin der Garde läutete die kleine Glocke am Eingang. Als man sie einließ, stand sie stramm und verkündete: »Protektorin, der Knabe Brudoer weigert sich, zu essen.«

»Das macht nichts«, sagte die Protektorin. »Er wird schon hungrig werden. Im Übrigen nimmt er uns damit nur die Arbeit ab.«

»Welche Arbeit, Protektorin?«

»Die Bestrafung, Suwor. Die Bestrafung. Er braucht Disziplin. Früher oder später wird ihn sein Magen im Stich lassen. Achtet darauf, dass das Essen verlockend ist!«

»Er wirft es an die Wand, Protektorin.«

Udge stand auf und ballte die Hände zu Fäusten. »Dann soll er sie wieder sauber machen!«

»Das haben wir ihm befohlen, Protektorin. Er reinigt sie einfach widerspruchslos, ohne ein Wort.«

»Dann muss man ihn in Ketten legen!«

»Protektorin. Das ist gegen Craydors Gesetz.«

»Ach ja. Als Strafe schon. Aber er ist eindeutig geistesgestört. Es ist zu seinem eigenen Schutz.«

Wim stand lange schweigend da. »Das ist sehr hart, Protektorin«, sagte sie schließlich. »Ich halte das für eine Lüge.«

»Gefällt dir deine neue Stellung? Ich will dich nicht zwingen, Wim. Ich gebe dir einen Tag Zeit zum Überlegen.«

»Da ist noch etwas, Protektorin. Die Wasserheber wissen, dass Brudoer nicht isst. Sie sind unruhig.«

Udge zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Das ist dein Problem, Wim. Halte sie unter Kontrolle! Und jetzt geh!«

Die Leiterin der Garde verneigte sich und verließ den Raum.

»Protektorin, vielleicht müssen wir manchmal Zugeständnisse machen«, sagte Cilia.

»Zugeständnisse? Sobald du Schwäche zeigst, wird sie ausgenutzt. Ist dies hier nicht die geordnetste Pelbarstadt? Schau dir Nordwall jetzt an – ein Chaos! Wir werden so bleiben, wie wir sind, Westrätin. Und jetzt lasst mich bitte allein. Ich muss über alles nachdenken.«

Später, als die Dunkelheit tiefer wurde, blickte Udge, an ihrem Tee nippend, aus den Westfenstern auf die dünne Sichel des neuen Mondes. Wenn sie den Kopf drehte, sah sie, dass die Rundung des Fensters und die Rundung des Mondes sich deckten, wenn man genau im Mittelpunkt des Raumes saß. Das hatte Craydor zweifellos geplant. Udge hatte es allmählich ein wenig satt, an jeder Ecke auf Craydor zu treffen. Sie konnte es sich kaum leisten, Wim zu sehr zu verärgern. Eine ergebenere Leiterin der Garde fand sie so leicht nicht wieder. Aber vielleicht blieb ihr nichts anderes übrig. Wer hätte gedacht, dass Wim derartige Bedenken haben könnte? Alles brauchte sichtlich seine Zeit.

Sie erkannte Brudoers Schwäche – den Jähzorn – und würde sich ihrer bedienen. Niemand durfte eine Rätin angreifen, ganz gleich aus welchem Anlass. Von irgendwo draußen hörte Udge, wie eine Pelbarhymne auf einer Flöte gespielt wurde. Dann vernahm sie, weit entfernt, eine zweite Flöte, die die Melodie aufnahm. Wieder Männer. Ein kleiner Wutanfall überkam sie. Sie wollten ihr zeigen, dass sie ihnen zwar verbieten konnte, ihre Hymnen zu singen, dass sie aber ihre Musik trotzdem machen würden. Ja. Sie musste tatsächlich ein Informantensystem aufbauen. Wieder sah sie die Verehrung Craydors als Hindernis. Verdammte Craydor! Wie sollte sie die Stadt nach den Idealen ihrer Gründerin führen, wenn die Ideen der Gründerin selbst ihr dabei im Weg standen?

Bival kehrte in ihr Zimmer zurück, aber ohne Warret hielt sie es dort fast nicht aus. Sein Vorwurf traf sie sehr hart. Sie konnte nicht ewig böse mit ihm sein. Schließlich hatte er für diese Zettel schwer gearbeitet, und sie hatte sie einfach genommen. Aber die Muschel war so kostbar gewesen … Sie wusste, dass in Craydors Entwürfen mehr Geheimnisse steckten, als jemals sichtbar wurden. Ständig machte sie neue Entdeckungen. Selbst die inzwischen nicht mehr verwendete Vorrichtung, bei der man von der Quelle im Untergeschoss von Dreistrom herabfallendes Wasser dazu verwendete, dieses über die ersten zehn Armlängen seines Weges nach oben zum Spiralturm zu heben, war das Werk eines Genies. Bival würde sich bemühen, das System wieder in Gang zu bringen und den Wasserhebern diese Strecke zu ersparen. Die Ursana hatte Craydor in einer für Bival neuen Weise zitiert. Obwohl sie in dem Moment wütend gewesen war, hatte sie angefangen, nachzudenken. Die alte Ärztin verstand Entwürfe vor allem in menschlichen Begriffen, nicht als Architektur oder als Gesetzeskodex. Bival begann, ihr ihren Verrat zu verzeihen. Die Ursana hatte Gamwyns Gesicht offensichtlich als Entwurf gesehen, der jetzt abscheulich verstümmelt war. Bival schauderte. Dann dachte sie wieder an den Verlust ihrer Muschel, und erneut flammte Zorn in ihr auf. Was sollte sie tun? Auch sie schaute aus dem Fenster auf den untergehenden neuen Mond, der voller Schönheit in einem ruhigen Herbsthimmel hing – zwei Kurven, die sich trafen wie die aufeinanderfolgenden Bögen der Terrassen. Warum hatte Craydor die Terrassen so gebaut, anstatt sie streifenförmig anzuordnen – als Bögen von verschiedenem Radius, die von einem Zentrum ausgingen? Sie versuchte, das zu Ende zu denken, aber ihre Probleme brodelten in ihre Überlegungen hinein wie Sumpfgas. Endlich legte sie sich hin und starrte zur dunklen Deckenwölbung hinauf. Da war der Mond wieder, im Schatten. Bival schloss die Augen.

Tief unter ihr lag Brudoer. Er war hungrig und voller Hass auf sich selbst, weil er Gamwyn gestoßen hatte, voller Hass auf Bival und die Protektorin. Immer wieder weinte er und sehnte sich danach, etwas von dem Eintopf abzulecken, den er wieder an die Wand geworfen hatte. Nein. Er würde es nicht tun.

Außerhalb der Zellenreihe, von weit hinten, von den Eishöhlen her, glaubte er, eine einzelne Flöte leise spielen zu hören. Es war die Hymne der Versöhnung:

»Wie zwei Vögel in den Lüften schwebend,an Kräfte hier gebunden, dennoch sich erhebend,so lass uns …«

Brudoer legte die Hände über die Ohren und presste seine zerschlagenen Handflächen dagegen.

Mehrere Ebenen höher saßen Brudoers Eltern in ihren kleinen Familienräumen im Dunkeln. Sie sprachen leise und besorgt miteinander.

»Was haben die Männer bei der Arbeit gesagt?«, fragte Rotag.

»Nichts. Sie bemühen sich, das Thema zu vermeiden.«

»Bist du mir gegenüber offen? Ich weiß, dass sie sich Sorgen machen. Ich weiß, dass sie bei Nacht gesungen haben, damit Brudoer es hören konnte. Pion, ich bin kein Spion für den Inneren Rat.«

»Ich spüre ihre Sorge und ihren Zorn. Sie machen Brud keinen Vorwurf. Diese Spannungen gibt es schon seit Langem.«

»Du hast sie immer noch verstärkt mit deinen Geschichten von Jestak und den Helden der Shumai.«

»Ach was, das sind doch Vogelfürze. Was soll ich denn tun? Soll ich über die Schriften Craydors diskutieren?«

»Vielleicht wäre das besser gewesen, nach den Ergebnissen zu urteilen. Aber ich mache mir wirklich Sorgen. Brud will nicht essen. Jetzt wird davon gesprochen, seinen Trotz mit körperlicher Züchtigung zu brechen.«

»Geschieht das denn nicht schon? Und was ist mit Gamwyn? Hat man ihn nicht körperlich bestraft?«

»Sie meinen eine öffentliche Auspeitschung, Pion. So etwas hat es seit Jahren nicht mehr gegeben.«

»Einen Jungen auspeitschen? So unvernünftig ist nicht einmal Udge.«

»Ich fürchte doch. Sie scheint immer entschlossener zu sein, nach dem zu urteilen, was ich höre. Du musst Brud dazu bringen, dass er nachgibt und sich entschuldigt.«

Pion stieß ein leises Knurren aus, das seine Frau erschreckte. »Nachgeben«, sagte er. »Nachgeben.«

»Wir können nicht anders. Die Lage ist eben so. Du bist kein Shumaiwilder, der in der Wildnis herumstreifen kann. Hier ist unser einziges Zuhause.«

»Die Gardisten sind nach Nordwall gekommen.«

»Mithilfe einer List. Das ist kein Weg.« Rotag begann in der Dunkelheit leise zu schluchzen. Pion setzte sich neben sie und umarmte sie. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht«, sagte sie.

An diesem Abend machte Sagan, die Protektorin von Pelbarigan, einen kurzen Besuch bei Gamwyn. Royal, der Arzt aus der Kuppel, hatte das Gesicht des Jungen zusammengeflickt und die Schwellung zum Abklingen gebracht. Die Haframa, die einheimische Ärztin von Pelbarigan, saß bei ihm. Sie las ihm aus den Schriften Avens vor, obwohl sie sah, dass Gamwyn nicht zuhörte. Als die Protektorin eintrat, stand die Haframa auf und stellte ihr den Stuhl hin.

»Er kann noch nicht gut sprechen, Protektorin.«

»Danke. Ich bleibe nicht lange. Du bist also Gamwyn der Schreckliche, der Zerstörer der Schneckenschale. Geht es dir besser?«

Gamwyn blinzelte und schluckte. »Ein wenig«, sagte er. »Kann ich bleiben?«

»Bis du gesund bist, Kleiner. Dann musst du zurück. Das ist Pelbargesetz.« Gamwyn schauderte, und die Protektorin legte ihm die Hände auf den Arm. »Hast du Vertrauen zu mir?«, fragte sie.

»Vertrauen?«

»Ich sehe keinen sehr leichten Weg für dich, aber vielleicht einen schweren. Kannst du auch etwas Schweres tun, wenn es gut ist?«

Gamwyn überlegte. »Ich weiß es nicht.«

»Nun, du musst dich entscheiden. Ich komme in ein paar Tagen wieder und frage dich noch einmal. Bis dahin hältst du dich ruhig und wirst gesund.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn. Der erstaunte Knabe roch einen leichten Rosenduft.

In der Tür drehte sich Sagan um. »Hast du meinen Enkel kennengelernt? Garet?«

»Nein«, sagte die Haframa. »Er war nicht hier.«

»Er ist nicht viel älter als Gamwyn. Ich werde dafür sorgen, dass er kommt. Gute Nacht.« Sie ging, und ihre Leibgardisten folgten ihr. Die Haframa warf dem Jungen ein flüchtiges, geheimnisvolles Lächeln zu.

Ein halber Monat verging. In Pelbarigan erholte sich Gamwyn langsam. In Dreistrom wurde Brudoer immer schwächer, bis schließlich jemand einen großen Stein mit einer Nachricht daran durch das Türgitter warf. Der Gardist am Ende der Gefängniszeile drückte sich dort herum und gab sich betont unaufmerksam. Brudoer strich das Papier glatt und las im schwachen Licht:

Iss! Du wirst stark sein müssen. Wie wir hören, erholt Gamwyn sich allmählich. Er kommt in zehn oder fünfzehn Tagen zurück. Was immer sie vorhaben, du wirst stark sein müssen. Ich weiß nicht viel. Mutter macht sich große Sorgen. Versuche, nicht so sehr zu hassen. Überlass das mir! Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Ich werde zu dir stehen – wenn ich kann. Ich glaube, Udge, dieser Taubenschiss, hat es auf eine öffentliche Auspeitschung abgesehen. Du wirst stark sein müssen. Das spüre ich. Bete! Die Männer beten für dich. Vernichte diese Nachricht! Vater.

Hoch oben im Breiten Turm verlangte die Protektorin, dass man ihr Craydors Gesetz zur Inhaftierung noch einmal vorläse. Bival las:

»Ein Gefangener ist in die Erste der Zellen zu bringen, wenn sie offen ist. In jedem Fall soll man diese bei der Inhaftierung seine Zelle nennen. Nach dreißig Tagen sollte die Lage geklärt sein und der Gefangene wieder mit der Gemeinschaft vereint oder aus ihr verstoßen werden. In keinem Fall darf der Gefangene nach dreißig Tagen in seine Zelle zurückgebracht werden. In schweren Fällen kann er in seine, das heißt, die erste Zelle zurückgebracht werden, nachdem er einhundertzwanzig Tage außerhalb davon verbracht hat.«

»Hörst du, was Craydor gesagt hat?«, fragte Udge.

»Nur, was wir schon immer gewusst haben. In vielleicht acht Tagen, von jetzt an, muss Brudoer freigelassen werden – für mindestens hundertzwanzig Tage, oder wir müssen ihn verstoßen. Das ist alles so sonderbar. Zu meinen Lebzeiten haben wir, soweit ich mich erinnern kann, die sechs Zellen noch nie benutzt. Niemand geht da auch nur hin. Die Gardisten fanden den Staub von Jahren darin, hat mir Wim erzählt. Sie wussten nicht einmal, wie die Zellen aussehen.«

»Bleib bei der Sache! Sieh dir die Formulierung an. Craydor sagt, der Gefangene darf nicht in seine Zelle, das heißt, in die erste Zelle zurückgebracht werden. Sieh es dir an! Sie hat einen Ausweg offengelassen. Man kann ihn dreißig Tage lang in die nächste Zelle stecken. Wir können ihn zum Zorn reizen, wenn er sich nicht unterwerfen will. Sie muss eine Zeit wie diese vorausgesehen haben, in der die Zellen allgemein in Gebrauch kommen würden.«

»Aber warum sollen wir ihn in den Zellen halten? Warum sollen wir nicht alles hinter uns bringen?«, fragte Cilia. »Schau doch, zu welchen Schwierigkeiten diese Sache geführt hat, Protektorin! Warum weitermachen?«

Udge sah sie zornig an. »Es erstaunt mich, dass du nicht erkennst, was gespielt wird. Er ist zum Symbol für die Schwächung der Autorität geworden. Unsere ganze Regierung steht auf dem Spiel. Du spürst doch die Schwingungen. Wir müssen den Kampf gewinnen, auch wenn es nur um einen elenden Knaben geht. Wir müssen diese allgemeine Aufwiegelung im Keim ersticken, und genau hier werden wir das tun.« Sie schlug sich mit der rechten Faust in die offene Handfläche.