Pilgerreisen. Irrfahrten - Christian Urech - E-Book

Pilgerreisen. Irrfahrten E-Book

Christian Urech

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Beschreibung

«Misericordia City Blue» erzählt die Geschichte von Don Quichotte und Sancho Pansa, die es durch Räume und Zeiten verschlägt, neu. Aus der psychiatrischen Klink über das Freibad des Ortes, wo sich die Klinik befindet, in die Gesamtverteidigungsübung «Cerberus» der Armee, den Palast des Weltdiktators, die kalifornische Wüste, die finstere Frühzeit bis ins Spanien von Cervantes verschlägt es die beiden Käuze. «Kopps letzter Fall» handelt von Marcel Kopp, dem Kommissar der Mordkommission, der den Mord an einem 18­jährigen Gymnasiasten aufklären soll und dabei einer schier unglaublichen Geschichte auf die Spur kommt, die sein Leben für immer verändert. «Tod in Obstalden» verhandelt das ineinander verflochtene Schicksal zweier Familien. Zwei neunjährige Mächen werden an Heiligabend tot in einer Scheune in einem Oberwalliser Bergdorf aufgefunden. Anderntags wird ein junger Mann dort mit der Leiche seiner besten Freundin konfrontiert. Sie hat sich offenbar das Leben genommen. Kommissar Furrer steht vor einem Rätsel.

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Inhaltsverzeichnis

Misericordia City Blues

Kopps letzter Fall

Tod in Obstalden

MISERICORDIA CITY BLUES

DIE NEUEN ABENTEUER DES DON QUICHOTTE UND SANCHO PANSA

Prolog

Die Nacht ist dick und schwarz und samtig warm. Ich habe die Ränder der Stadt hinter mir gelassen, bin den Sicherheitskräften der Gesundheitsbehörden noch einmal entkommen. Ich befinde mich jetzt auf einer Wiese oder in einem Park. Ab und zu lassen sich die Umrisse von Büschen und Sträuchern erahnen. Vielleicht fünfzig Meter vor mir duckt sich eine Hütte, ein Schuppen oder ein Stall in eine Senke hinein. Mein Hirn ist ganz leer: Ich fühle keine Angst mehr und keine Wut. Nur diese lähmende Müdigkeit, die mich an allen Gliedern in die Erde hineinzuziehen versucht. Ich muss ein wenig schlafen, eine Stunde nur.

Da kommt mir die Hütte wie gerufen. Steht da wie ein Geschenk Gottes und hat die ganze Zeit auf mich gewartet, fünfzig Jahre oder hundert Jahre, seit sie erbaut worden ist. Wie tröstlich. Jemanden oder etwas zu haben, das auf einen wartet, ist bei aller Reisegewandtheit, Weltbürgerlichkeit, Ungebundenheit doch etwas Schönes. Es müssen ja nicht immer die knastähnlichen Spitäler, die zellenähnlichen Krankenzimmer der Gesundheitsbehörden von Misericordia sein. Der Gott dieser Wiese wird es nicht zulassen, dass mein Schlaf vom Licht extrapotenter behördlicher Taschenlampen brutal entzweigerissen wird. Der Schlaf sei ewig, das Erwachen gewiss. Die Nebelfetzen wachsen in meinen Kopf hinein. Ich taste mich an den Wänden der Hütte entlang, um die Tür zu finden. Ich lasse mein Feuerzeug anschnappen. Das Innere der Hütte ist im Schein der flackernden Flamme leer bis auf ein undefinierbares Bündel, das in der Mitte des Raumes auf dem Boden liegt.

Eine halbvolle Flasche, gefüllt mit einer irgendwie gearteten Flüssigkeit, rotem Wein zum Beispiel, wie das rubinrote Aufblinken im Flammenschein nahelegt. Ein Kerzenstumpf. Ein paar Zeitungsblätter, die verstreut herumliegen. Das wird nun also mein Bett sein in dieser Nacht, mein Prokrustesbett. Ich setze die Flamme an den Kerzendocht. Mache mich daran, Bündel und Flasche einer Prüfung zu unterziehen, denn im sonst leeren Raum sind liegendes Bündel und stehende, mit einer rot blinkenden Flüssigkeit gefüllte Flasche natürlich eine Sensation. Ich berühre das Bündel und rieche an der Flasche. Ich rieche am Bündel und berühre die Flasche. Ich lege an beides, Bündel und Flasche, mein Ohr. Das Bündel ist warm und bewegt sich jetzt. Ausserdem beginnt es zu sprechen, das heisst zu murmeln und undeutlich zu fluchen. Ich erstarre vor Schreck.

«Was willst du hier?» höre ich fragen. «Warum lässt du mich nicht schlafen?»

«Verzeihung», antworte ich, «aber der Zufall, ich schwöre es, hat mich zu dieser Hütte geführt. Oder die Versuchung. Es schien mir nämlich so, als würde die Hütte mich erwarten. Wunschvorstellung auf der Flucht, was solls.» Ich seufze.

Im Kerzenschein zeigt sich jetzt das ausgemergelte Gesicht eines jungen Mannes, der mich mit grossen Augen betrachtet.

«So, hinter dir sind sie also auch her», sagt er befriedigt.

«Ach, bin ich kaputt», antworte ich.

«Da, nimm einen Schluck, das wird dir gut tun.»

Ich trinke gehorsam. Die rubinrote Flüssigkeit schmeckt tatsächlich wie roter Wein. Billiger roter Wein.

«Die Welt», sagte der junge Mann, der dem Bündel entstiegen ist, «ist komisch. Komisch im Sinn von seltsam und komisch im Sinn von lustig oder zum Lachen reizend. Und wir hocken auf ihr wie die Flöhe im Fell eines Affen. Oder vielmehr einer Äffin. Die Flöhe können der Äffin nichts anhaben: höchstens sind sie manchmal ein wenig lästig. Allerdings geben sie auch Anlass zu dem köstlichen Vergnügen, sich vom Lieblingsaffen lausen und flohen zu lassen. Oder selber den Lieblingsaffen zu lausen und zu flohen, wobei man als Dessert dann erst noch die Opfer der Jagd genussvoll verspeisen kann. Des einen Leid ist des andern Freud. Wobei ich natürlich nicht behaupten will, dass Läuse und Flöhe besonders gut schmecken.»

«Und wir», will ich wissen, «sollen die Läuse und Flöhe im Fell der Äffin sein? Aber ich bitte dich, das ist doch lächerlich! Haben wir nicht die Naturgewalten gebändigt, das Atom gespalten, sind wir nicht in die Weiten des Alls gereist? Waren wir nicht wahrhaft biblisch und haben uns die Pflanzen und Tiere untertan gemacht, auf dass sie sich in – amerikanisch – saftige Steaks oder – französisch – ein Baron d’agneau de lait oder – indonesisch – ein Ayam campur verwandelten? Das ist Kultur, Mann! Dass am Schluss dann alles wieder zu Scheisse wird, liegt in der Natur der Sache. Das Fäkalische ist nun mal die Kehrseite des Kulinarischen.»

«Das hast du schön gesagt. Wir bleiben aber trotzdem die Flöhe und die Läuse im Pelz der Äffin, das lässt sich mit aller Kultur nicht ändern. Ist ja auch nicht weiter schlimm. Wir haben das Glück unserer Hormone. Und das Glück unserer Vergesslichkeit. Manchmal ist uns im Fell der Äffin auch ganz einfach warm. Wir finden es so richtig gemütlich. Dass uns dereinst der Lieblingsaffe lustvoll runterschmatzt – was solls? Das dient schliesslich auch dem Nahrungskreislauf.»

Es bleibt eine Weile still. Dann greifen wir beide gleichzeitig nach dem Hals der inzwischen nur noch zu einem Viertel vollen Flasche. Der anerzogene Höflichkeitsreflex ist stärker als die Gier, beide ziehen wir die Hand zurück. Ein peinliches Spiel. Ich bemerke, wie ungewollt ein verlegenes Lächeln auf meinem Gesicht erscheint. Er lächelt gepeinigt zurück. Unsere Hände nähern sich in regelmässigem Rhythmus der Flasche, zucken vor ihrem Hals, als wäre der elektrisch geladen, zurück. Schliesslich geben wir es auf, die Flasche bleibt, noch einmal unbetrunken davongekommen, gewissermassen, stehen, wo sie ist.

Der Film zerfliesst, die Gegenwart ist kein Gefängnis mehr, dem man nicht entrinnen kann. Die Mauern der Vergangenheit und der Zukunft öffnen sich, von meinem Bauch aus macht sich siedend heiss eine überwältigend allgemeine, grundlose Trauer in mir breit, greift wie eine Welle über mich hinaus. Ich weiss, dass diese Hütte ein Kastell ist; so muss es auf jeden Fall sein, wenn alles seine Ordnung haben soll. Dass ich Don Quichotte bin, obwohl ich keinen Bart und keine Rüstung und keine Bartschüssel als Helm trage, steht ausser Zweifel. Und jener dort ist Sancho Pansa, mein guter schlauer und verfressener Sancho. Jeder weiss, wo er in dieser Geschichte hingehört. Das nenn ich Heimat, das nenn ich Glück.

Der Film beginnt wieder zu laufen, der andere Film, der mit den farbigen Bildern und mit Geräuschen, die jemand erzeugt, der hastig eine Flasche leer trinkt. Der junge, grossäugige Mann wirft die Flasche mit überraschender Kraft in eine dunkle Ecke der Hütte, die Tonspur gibt im passenden Moment ein ziemlich lautes, klirrendes Geräusch von sich. Der junge Mann streckt aggressiv seinen Zeigefinger in meine Richtung.

«Es geschieht dir übrigens recht, dass du in dieser elenden Hütte gelandet bist, ein Verfolgter der misericordianischen Behörde bei einem Verfolgten der misericordianischen Gesundheitsbehörde. Du bist an allem, was dir passiert, selber schuld.»

Ich mag darauf nicht antworten. Ich bin müde.

«Denn vielleicht», fährt er rücksichtslos weiter, «warst du ja in der so genannten Vergangenheit ein Monster: die Verkörperung der Boshaftigkeit. Eine Drecksau. Ein Folterer, ein Massenmörder, ein Schlächter, ein Nazi, ein Diktator, ein Verräter, ein Tyrann. Oder einfach nur ein mieser kleiner Ganove und Verbrecher, ein Helfershelfer und Scharfrichter, ein Befehlsempfänger und Lakai, ein Feigling, ein Denunziant, ein Opportunist und Profiteur. Und die stecken alle noch in dir wie die Puppen in der russischen Puppe. Ja, so wird es sein.»

Die grossen Augen des jungen Mannes glänzen befriedigt.

«Du denkst wohl, er werde einmal abgetragen sein, der Berg aus Schicksal, den du mit dir herumschleppst? Weit gefehlt! Es gibt nämlich auch ein Karma, das aus der Zukunft in die Vergangenheit wirkt. Du leidest jetzt für Untaten, die du erst noch begehen wirst. Ziemlich gemein, oder? Zeit und Raum und wir, die wir in Zeit und Raum geworfen sind, und Ursache und Wirkung, das alles bildet einen Klumpen, eine komplexe Einheit. Wir meinen zu fliehen. Wir meinen, dem entgegen zu rennen, was wir als Streifchen Horizont am Himmel interpretieren. Weil wir es so ersehnen und erhoffen. Oder vielmehr, weil wir die Hoffnungslosigkeit nicht ertragen. Aber die Hoffnungslosigkeit ist genau so irreal wie die Hoffnung, ein reines Hirngespinst wie fast alles, was der Mensch als bare Münze zu nehmen sich herausnimmt.»

Ich bin müde, so müde. Die Reden des Irren erschrecken mich nicht, sie langweilen mich bloss und schläfern mich ein. Wie lange ist es jetzt schon her, seit ich die Grenzen Misericordias passiert habe und seither ganz ohne Schlaf auskommen musste? Natürlich, ich bin selbst schuld, an allem selbst schuld, von mir aus. Ist mir doch scheissegal.

Ich schliesse die Augen.

Vielleicht bin ich tatsächlich nur ein Gedanke im Hirn eines Gottes, oder ein Traumfetzen, aber was heisst da schon Gott, Hirn, Gedanke, Traum; und vielleicht ist dieser «Gott» auch wieder nur ein Gedanke oder Traumfetzen im Hirn eines anderen Gottes, oder vice versa. Und vielleicht werden auch aus meinen Traumfetzen und Gedanken Welten geboren, vielleicht sind auch sie wieder Götter, die neue Kinder gebären, ganz aus sich selbst heraus. Sie fallen aus dem weichen Mutterschoss ins leere All, ein Klümpchen Kraft in eine immensen Leere.

Ich lege mich nieder, flach auf den Boden, fröstelnd.

Meine Gedanken verselbstständigen sich, werden zu einer Musik, absichtslos, aber unendlich tröstlich, der Moment des Einschlafens ist wie Heimkommen, eine kleine Erlösung. Bevor das Licht der Kerze erlischt, sehe ich, wie der junge Mann wieder zu einem Bündel auf dem Boden wird. Ich wollte es erkunden mit meinen Sinnen, ertasten mit meinen Händen, erlauschen mit meinem Ohr. Doch da ist nur noch ein leeres Bündel, ein schwarzes Ding in einem schwarzen Ding…

Eins

Es ging schon gegen Morgen. Im Wachsaal war – so paradox das klingt – ein vielstimmiges Schnarchen, Murmeln, Seufzen und Schmatzen der chemisch betäubten Patienten zu vernehmen. In einer Ecke sass die Nachtschwester über einer «Gala» oder «Glückspost» zusammengesunken und schlummerte ebenfalls selig und süss. Nur zwei waren wach: Don Quichotte und Sancho Pansa. Denn sie wollten noch in dieser Nacht abhauen.

Eine Welt voller Abenteuer und Aufgaben erwartete sie.

Komm, die Zeit ist da! ¡Vamos! zischte Don Quichotte seinem Kumpel Sancho Pansa zu. Mit blossen Füssen und in ihren weissen Nachthemden erinnerten sie ein bisschen an Kindergespenster, als sie jetzt aus den Betten stiegen, der eine gross und hager, ein typischer Leptosome (paranoide Schizophrenie, wie der Psychiater befriedigt festgestellt hatte), der andere klein und kugelig, der typischer Pykniker mit einer für den Pykniker typischen manisch-depressiven Neigung. Und schon stand Don Quichotte dicht vor der Nachtschwester und schaute ihr mit durchdringendem Blick ins Gesicht, was diese aber nur veranlasste, die Nase kraus zu ziehen, als müsse sie niesen. Vorsichtig zog ihr Don Quichotte den Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Tür des Wachsaals. Adiós, arme Brüder, murmelte er, und der kleine Dicke winkte mit der feisten Hand.

Die beiden hatten sich erst hier in der Klinik kennen gelernt, waren aber trotz ihrer äusserlichen und charakterlichen Unterschiedlichkeit schon bald unzertrennlich geworden. Stundenlang hatte man sie die Köpfe zusammenstecken und Don Quichotte leise, aber eindringlich auf Sancho Pansa einreden sehen, während dieser eifrig mit dem Kopf nickte zu den Erläuterungen seines gross gewachsenen, dürren Kumpels.

Nachdem sie durch endlos lange Gänge gehuscht waren, zwei Kindergespenster, bange horchend auf verdächtige Geräusche, aber ohne aufgehalten zu werden, standen sie jetzt vor dem Gebäude in der lauen Luft der schönbesternten Sommernacht. ¿Adónde vamos ahora? fragte Sancho Pansa, der die Entscheidungen immer anderen, die es besser wussten, zum Beispiel seinem langen Kameraden, überliess. Don Quichotte überlegte eine Weile und sagte dann bestimmt: Zum Schwimmbad!

Sancho daraufhin irritiert: ¿Ma porqué? Das Schwimmbad ist doch geschlossen um diese Zeit. Aber Don Quichotte liess diesen Einwand nicht gelten: Als Toboser könne man jederzeit an jeden beliebigen Ort gehen, also auch ins Schwimmbad, selbst wenn dieses geschlossen sei. Umso besser, wenn es geschlossen sei. Denn, so führte er aus, im Schwimmbad seien sie vor der Verfolgung des Feindes sicher. Ausserdem würde es ihnen da bestimmt gelingen, morgen, wenn die ersten Badenden kämen, einige passende Kleidungsstücke zu erbeuten. In diesen Fetzen könne er sich jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit zeigen, geschweige denn auf ein Pferd oder gar einen Lufthund setzen. Nicht einmal Unterhosen habe er an.

Natürlich sei es für einen Toboser irrelevant, ob er Unterhosen trage oder nicht, aber er wolle sich ja nicht so leicht zu erkennen geben. Tarnung, lieber Sancho, Tarnung ist das erste Gebot, wenn man mit geheimer Mission im Feindesland unterwegs ist, schärfte der Ritter seinem Knappen ein.

Ausserdem habe er einfach Lust auf ein erfrischendes Bad.

Das alles erschien Sancho einerseits nicht so recht plausibel, das heisst, er verstand es nicht ganz, zudem konnte er nicht schwimmen und war überhaupt wasserscheu; andererseits wusste er, dass sein Verstand zu beschränkt war, um so komplexe Materien wie die Angelegenheiten Don Quichottes zu durchdringen, und er war immerhin so gescheit, seine eigene Beschränktheit zu erkennen und anzuerkennen.

Das öffentliche Schwimmbad der Gemeinde, zu welcher die Anstalt gehörte, befand sich auf der anderen Seite des Waldes, der die Klinik von der Ortschaft trennte. Also machten sie sich mit ihren blossen Füssen auf, diesen Wald zu durchqueren: Don Quichotte fluchend, wenn er auf einen spitzen Stein getreten war oder sich die Zehen angeschlagen hatte, Sancho Pansa alle Heiligen des Himmels anrufend, weil er sich in der Dunkelheit ein wenig fürchtete und das Anrufen von Heiligen ja nie schaden kann.

Nach einer Zeit, die ihnen schier endlos erscheinen wollte, weil sie sich natürlich verlaufen hatten, langten sie endlich beim Schwimmbad an, das von einem knapp mannshohen Drahtgitter umzäumt war. Don Quichotte nahm dieses Hindernis im Sturm und landete auf der anderen Seite des Zauns zwar auf der Nase, doch fiel er des Rasens wegen relativ weich. Sancho Pansa jammerte und stöhnte, er werde es nie schaffen, über diesen Zaun zu kommen; eine Selbsteinschätzung, die sich schliesslich nur darum als Irrtum erwies, weil der Glaube, und erst recht der Glaube eines Don Quichotte, Berge versetzen kann.

Inzwischen dämmerte schon der Morgen herauf, die Luft war jetzt empfindlich kühl. Der arme Sancho, obwohl der weitaus besser gepolsterte, aber auch der weitaus empfindlichere von beiden, begann zu frösteln. Ausserdem war er müde und sehnte sich nach einem Bett. Don Quichotte hingegen beschwor wortreich die Atmosphäre Tobosos und die Tiefen des Alls, im heiligen Wasser gespiegelt, vor welchen sowohl Mensch als auch Toboser nackt erscheinen würden. Und tatsächlich, da stand der würdige Ritter auch schon gänzlich entblösst auf dem gepflegten Schwimmbadrasen zwischen Zierschilf und Bambusgestrüpp, machte einige Freiübungen nach gut müllerscher oder nach Art von Turnvater Jahn, kreiste mit den Armen, atmete tief durch, nahm einen Anlauf und tauchte kopfvoran ins heilig-nüchterne Element. Sancho schaute mit bekümmerter Miene zu, wie der edle Herr seine Runden schwamm. Er zog heissen Kaffee einem kalten Bad bei weitem vor.

Etwas später hörten sie, wie ein Auto vor dem Schwimmbad anhielt. Wir müssen uns verstecken, rief Don Quichotte, der Feind naht! Es nahte aber bloss der Bademeister, der seine Runde machte, gestern liegen gebliebenes Eiscrèmepapier vom Rasen hob, die chemische Zusammensetzung des Badewassers kontrollierte, bevor er das Bad fürs Publikum, das aber erst vom späten Vormittag an zahlreicher herbeiströmen würde, öffnete.

Als erste Besucher kamen wie immer die pensionierten Kummers, er lang und dünn, sie klein und mollig, um in Ruhe zu schwimmen. Am Nachmittag, wenn jeweils die heutige Jugend, die ja bekanntermassen ungezogen, frech und verdorben ist, das Bad in Beschlag nahm, wurde das ganz unmöglich.

So früh am Morgen war es noch nicht einmal nötig, die Kleider in Kästchen einzuschliessen. Und für Rohköstler wie die Kummers war der frühe Morgen einfach eine herrliche Tageszeit.

Mit angehaltenem Atem standen Don Quichotte und Sancho Pansa hinter dem Vorhang der Männergarderobe, der für die schamvolleren der Badegäste angebracht war, während Herr Kummer sich seiner Kleider entledigte. Als er endlich in den Badehosen war und sich vor dem Schwimmen im Spiegel ausführlich gekämmt hatte (warum das sein musste, wusste nur Herr Kummer selbst, und der Ritter tippte sich mit einer bezeichnenden Geste an die Stirn), dauerte es keine Minute, bis Don Quichotte in den Kleidern von Herrn Kummer, die ihm nicht schlecht passten, vor seinem dicken Freund und Knappen stand. Und ich? fragte dieser und hatte schon fast wieder ein Weinen in der Stimme.

Du holst dir die Kleider von Madame, aber mach, dass dich niemand sieht, befahl Don Quichotte.

Was soll ich damit?

Sie anziehen, Calabazo, was denn sonst?

Aber ich bin doch keine Frau! empörte sich da Sancho, der als Südländer trotz seines eher hasenfüssigen Wesens eine gesunde Portion Machismo im Blut hatte.

Das merkt doch niemand, jedenfalls nicht von weitem. Hast du ihren prachtvollen Sonnenhut gesehen? Den ziehst du dir ins Gesicht. Wenn sie meinen, du seist eine Frau, dann ist das doch die beste Tarnung! Niemand wird uns in dieser Verkleidung als Don Quichotte und Sancho Pansa respektive als Toboser erkennen. So überlistet man den Feind!

Das leuchtete sogar Sancho Pansa ein wenig ein, und er tat, wie ihm geheissen. Das Ehepaar Kummer schwamm indessen und hatte das ganze Schwimmbecken für sich. Der Bademeister sass in seinem Bademeisterkabäuschen, trank Kaffee, ass ein Hörnchen und las in der Morgenzeitung, was in der weiten Welt an Verrücktheiten wieder so alles passiert war. Nur die Frau des Bademeisters, die die Eintrittsbillete verkaufte, wunderte sich, als sie das Ehepaar so bald wieder das Bad verlassen sah; und auch ein wenig über die stark mit grauen Haaren bewachsenen Unterschenkel Herr Kummers, die ihr bisher noch gar nicht aufgefallen waren.

Zwei

Don Quichotte war bis vor noch gar nicht allzu langer Zeit ein grosser Anhänger von Science-Fiction-Filmen gewesen. Tag und Nacht hatte er vor dem Bildschirm verbracht und sich eine DVD nach der anderen ins Hirn hineingestopft, bis die Bilder schier aus seinen Ohren, aus seiner Nase und seinem Mund quellen wollten und sein Hirn beinahe trockengelegt war. (Das war noch zu Zeiten vor den Streamingdiensten, wir befinden uns am Anfang der Nullerjahre, 9/11 haben wir zwar schon hinter uns gebracht, Klimakatastrophen, Pandemien und die weltweite digitale Diktatur liegen aber noch in weiter Zukunft). In seinen Träumen wimmelte es nur so von Raumschiffen, fremden Planeten, Zeitreisen und bizarren Wesen aus anderen Galaxien. Mit der Zeit hatte Don Quichotte sich selbst immer mehr davon entfernt, ein Erdling zu sein, und hatte sich nach und nach zum Abgesandten einer fremden galaktischen Macht gemausert, fast nebenbei berufen, die Erde, wohin es ihn nun mal verschlagen hatte, vor Kräften des Bösen zu retten und zu bewahren. Diese Mission, so wurde es Don Quichotte irgendwann klar, war seine Lebensprüfung und Bewährungsprobe.

Manchmal entwickelte sich bei ihm geradezu ein Heimweh nach seiner Heimatwelt, die sich da irgendwo weit draussen in der unendlichen Leere des Universums in anderen Sternennebeln um eine andere Sonne drehen mochte, Millionen, ja Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt. Solche Dimensionen gaben Don Quichotte einen ganz eigenen Zugang zu den Problemen des Alltags und deren Bedeutung. Gerne hätte er mit ET ein sehnsüchtiges «Nach Hause telefonieren!» gehaucht, aber solche Möglichkeiten gibt es natürlich nur im Film, nicht in der Realität.

Sein Heimatplanet hatte nach Don Quichottes Vorstellung eine sehr kuriose Gestalt. Und seine Bewohner waren nicht minder sonderbar. Der Planet, «Toboso One» genannt, war nämlich ganz und gar mit Wasser bedeckt, oder vielmehr mit so etwas wie Wasser, nämlich einer Art flüssigen Gases: einem Zwischending aus Wasser und Luft, das wusste Don Quichotte, der kein Naturwissenschaftler war, nicht so genau. Auf jeden Fall schwammen oder flogen in diesem Zwischending die Bewohner von Toboso, von denen es zwei Sorten gab, aber nicht etwa eine weibliche oder männliche, sondern eine vollkommene und eine unvollkommene.

Die vollkommenen Exemplare waren kugelförmig und, wenn man so will, aus je zwei unvollkommenen Teilen entstanden (gemäss einer anderen Theorie waren die vollkommenen Teile zuerst gewesen und dann aus noch unerforschten Gründen in zwei unvollkommene Teile zerfallen, die nun von der Sehnsucht nach dem ursprünglichen Zustand der Vollkommenheit geradezu besessen waren). Die Kugeln befanden sich in einem Zustand frag- und wunschlosen Glücks, waren alters- und zeitlos, mussten demnach weder Nahrung aufnehmen noch Exkremente ausscheiden, kannten weder Müdigkeit noch Schlaf, unterlagen nicht der Liebe, dem Hass und der Leidenschaft, sondern waren einfach da und schwammen oder flogen in gänzlicher Harmonie im Zwischending herum: erleuchtete Kugeln.

Die unvollkommenen Exemplare waren weit von solch paradiesischen Zuständen entfernt. Sie mussten sich zuerst in allen möglichen Wandlungen bewähren, manchmal auf der Erde, dann wieder auf einer Welt in einer ganz anderen Ecke des Universums die verschiedensten Abenteuer bestehen und stets gegen die Mächte des Bösen kämpfen, damit das Gleichgewicht im Grossen und Ganzen erhalten blieb.

Dass Toboser, um diese wahrhaft titanische Aufgabe zu bewältigen, nicht nur äusserst mutig und schlau, sondern auch flexibel, anpassungsfähig, kreativ, analytisch, durchsetzungsfähig und einfühlsam sein mussten, versteht sich von selbst.

Dies alles und noch viel mehr hatte Don Quichotte während der langen Tage in der Anstalt dem Sancho Pansa auseinandergesetzt – natürlich mit der Sache angemessenen Worten und doch so, dass Sancho wenigstens einigermassen folgen konnte – keine geringe intellektuelle Herausforderung, wie Don Quichotte fand.

Auf der Erde sah unser tobosischer Ritter das Böse in verschiedener Gestalt, aber unter Wahrung einer inneren Einheit, sein Werk vollbringen. Die Feinde stammten ursprünglich ebenfalls aus anderen Welten, nämlich von einem Planeten namens «Cerberus 666». Don Quichotte war davon überzeugt (allerdings, ohne deshalb in seiner Standfestigkeit oder seiner Zuversicht erschüttert zu werden), dass die Erde kurz vor einer endgültigen Übernahme durch die Cerberaner stehe. Woraus schloss dies unser Held? Nun, allein schon durch zahlenmässiges Vorhandensein. Die Cerberaner tarnten sich nämlich als Maschinen, während die Toboser, wie gesagt, in Menschen- und in seltenen Fällen auch in Tiergestalt auftraten. Mit Vorliebe wählten die Cerberaner eine Tarnung als Auto, Flugzeug oder als Computer. Oder als Fernsehgerät, Stereoanlage, Gartengrill. Selbstverständlich waren nicht alle Autos, Computer und Waschmaschinen getarnte Cerberaner, aber doch ein stets wachsender Anteil von ihnen. Die echten Menschen merkten davon natürlich nichts. Sie meinten noch immer, sie würden das Auto steuern, während es längst so war, dass das Auto, also der versteckte Cerberaner, sie steuerte. Leute, die einen versteckten Cerberaner in Form eines Fernsehgerätes bei sich in der Wohnung hatten, glaubten, sie würden ein ganz normales Programm anschauen, während sie auf subtile Art und Weise auf die Machtübernahme durch die vom Planeten Cerberus vorbereitet wurden. Gehirnwäsche nennt man das.

Gegen derart versteckte Kräfte musste Don Quichotte also antreten. Das Delikate dabei war, dass die Cerberaner alle zusammenarbeiteten, während die Toboser aus Prinzip und aus Bestimmung strikte Einzelkämpfer waren. Don Quichotte wusste deshalb nicht, ob es neben ihm noch andere Toboser auf der Erde gab, was zwar anzunehmen, aus oben erwähntem Grund aber irrelevant war. Ja, Sancho war wahrscheinlich auch ein Toboser, allerdings einer, der davon keine Ahnung hatte. Immerhin, auf diese Weise hatte Don Quichotte wenigstens einen Mitstreiter – wenn auch einen höchst unfähigen.

Trotzdem war Don Quichotte stets guten Mutes, denn sein Selbstbewusstsein war sehr ausgeprägt und sein Optimismus ausserordentlich stark.

Drei

Don Quichotte und Sancho Pansa machten sich also auf den Weg, in die Richtung, in die sie der Zufall führte, bereit und begierig, sich den Abenteuern zu stellen, die sich ihnen ereignen sollten. Jedenfalls war das so für Don Quichotte, den das Morgenbad ausserordentlich belebt hatte. Sancho Pansa hoffte eher darauf, bald auf etwas Essbares zu stossen.

Die Richtung, in die sie der Zufall führte, war die Strasse, und die führte ins Dorf. Auf der Strasse war um diese Zeit noch wenig Verkehr. Wenn ein Auto an ihnen vorbei fuhr, wurde das von Don Quichotte unauffällig, aber scharfäugig beobachtet. Die meisten der vorbeifahrenden Gefährte aber waren, wie Don Quichotte erklärte, gewöhnliche Autos und keine getarnte Cerberaner, was Sancho Pansa, der, obwohl Knappe und Assistent des Don Quichotte, das nur schlecht beurteilen konnte, und es war ihm eigentlich auch ganz egal. Was ihn an der grossen Sache interessierte, war der reiche Lohn, der ihm von seinem Herrn für treue Dienerschaft versprochen war. Er sollte nämlich, falls es ihnen gelingen würde, die Welt von der Herrschaft der Cerberaner zu befreien, als Statthalter Tobosos auf der Erde und infolgedessen als Ministerpräsident bzw. Staatschef über die ganze Welt eingesetzt werden. Solche Aussichten gefielen Sancho nicht übel. Er sah sich schon auf dem Balkon über dem Platz stehen, ordenbehangen, die Hand zum Gruss gereckt, während unten auf dem Platz die in die Hunderttausende gehende, huldigende Menge skandierte: San-cho, San-cho, San-cho.

Natürlich gehörte zu dieser Vorstellung auch die Idee eines hervorragenden Koches – oder besser: einer ganzen Brigade hervorragender Köche –, erlesener Weine sowie eines ganzen Harems voller gern nicht allzu schlanker Frauen.

Vorläufig schien die Verwirklichung solcher Träume aber noch weit entfernt. Inzwischen waren sie im Zentrum des Dorfes, zu dem die Anstalt gehörte, eingetroffen. Offenbar war die Nachricht ihres Verschwindens und Abhandengekommenseins noch nicht bis ins Dorf vorgedrungen, denn man schenkte ihnen, einem grossen hageren Mann in Shorts und Birkenstockschuhen und einer kleinen dicken Frau im geblümten Rock, keinerlei Beachtung. Aus einer Bäckerei duftete ihnen nun herrlich frisch gebackenes Brot in die Nasen.

Schliesslich konnte Sancho seinen Herrn davon überzeugen, dass es zumindest nicht unsinnig sei, hier etwas Proviant für die weitere Reise einzukaufen. Glücklicherweise fand Don Quichotte in der Tasche seiner neuen Shorts eine Geldbörse und in dieser nebst etwas Kleingeld auch einige Banknoten.

Während im Innern des Ladens Sancho Pansa Brötchen, Hörnchen, Wurstweggen und andere Köstlichkeiten bestellte und sich die Verkäuferin schon etwas wunderte über die tiefe Stimme und den männlichen Habitus der südländischen Dame, die sie überdies noch nie gesehen hatte, überlegte Don Quichotte, der draussen auf seinen Assistenten wartete, dass noch einige wichtige Utensilien fehlten, um aus ihm einen schlagkräftigen Kämpfer Tobosos zu machen. Er wurde plötzlich sehr aufgeregt. Erstens fehlte ihm eine Waffe, vorzüglich eine Laserpistole. Zweitens und wichtiger ein eigenes Transportmittel, sprich Schlachtross, sprich Lufthund.

Als Sancho – bereits mit vollem Mund – mit der Verpflegung endlich antrabte, mochte sich Don Quichotte kaum überwinden, wenigstens ein Hörnchen zu essen, so sehr war er erfüllt von seiner nächsten Aufgabe. Zufälligerweise – oder vielmehr überhaupt nicht zufälligerweise, denn die Gemeinde besass nicht nur ein Irrenhaus, sondern war auch eine kleine Garnisonsstadt – befand sich im Ort gerade eine nicht unerhebliche Menge Militär mit entsprechendem Zubehör. Soeben kamen ihnen einige Offiziere im Leutnants-, Oberleutnants- und Hauptmannsrang entgegen. Sie trugen Pistolen im Halfter, was Don Quichotte natürlich nicht entging. Und jetzt rollten einige Militärlastwagen an ihnen vorbei. «Das sind getarnte Cerberaner», flüsterte Don Quichotte ganz erregt. «Wenigstens die ersten beiden. Ich hoffe nur, dass sie mich nicht auch erkannt haben. – Aber zuerst brauchen wir die Laserkanonen.» In einiger Distanz folgten sie den Offizieren, die sich daran machten, die Treppenstufen zum Eingang des Hotels «Krone» hochzusteigen, wo sie bei einem guten zweiten Frühstück oder vielmehr beim Apéro vor dem Mittagessen den morgigen Tagesbefehl durchgehen wollten. Einer der Offiziere war sehr dick, dicker noch als Sancho Pansa, und mindestens doppelt so gross. Don Quichotte und sein Knappe betraten die Gaststube mit unübertrefflicher Selbstverständlichkeit. Die Offiziere hatten sich ihrer Uniformröcke und der Pistolengurte mit den Waffen bereits entledigt und sie leichtsinnigerweise an die Garderobehaken gehängt. Man konnte jetzt die Schweissflecken im Hemd unter den Achselhöhlen des dicken Offiziers sehen.

Don Quichotte und Sancho Pansa setzten sich an einen Nebentisch. Der Toboser bestellte einen Kaffee, Herr Pansa, der bereits durstig war, ein Bier. Die Offiziere besprachen gerade den Verlauf einer umfassenden Gesamtverteidigungsübung mit Namen «Cerberus». Das ist für eine Gesamtverteidigungsübung natürlich sozusagen der ideale Name.

Unser langer, dürrer Freund spitzte die Ohren, bis ihm der Schnurrbart zu zittern begann. Er fühlte sich auf der ganzen Linie in seinen Überzeugungen bestätigt. Diesen Cerberus werde ich mal kitzeln!, dachte er kampfeslustig.

Er machte seinem Sancho ein Zeichen, sich mit dem Bier zu beeilen, denn die Handlung duldete jetzt keinen Aufschub mehr. Der legte beim Aufstehen automatisch Geld auf den Tisch, etwas, worauf Don Quichotte nicht gekommen wäre, da es für ihn als Toboser Wichtigeres zu tun gab, als einen Kaffee zu bezahlen, den er noch nicht einmal angerührt hatte. Dafür bemächtigte er sich beim Verlassen des Restaurants mit überraschender Behändigkeit eines der Pistolengurte samt Pistole (es war diejenige des dicken, unter den Achseln schwitzenden Oberleutnants, der ein notorischer Pechvogel war), ohne dass es jemand bemerkt hätte, von den Offizieren, die eifrig am Diskutieren waren, ganz zu schweigen.

So kam es, dass eine Pistole der Schweizer Armee in der Kommissionentasche von Frau Kummer verschwand, also dorthin, wo üblicherweise Fenchel, Karotten und Schokolade (Frau Kummer liebte Schokolade) zum Transport zwischen Migros oder Coop, Lidl oder Spar und dem Einfamilienhaus der Kummers verstaut wurden.

Währenddessen wand sich Don Quichotte den Ordonnanzgurt doppelt um den Bauch, denn die Sommershorts von Herrn Kummer, der zwar dünn, aber doch nicht so unglaublich mager wie unser tapferer Toboser war, hatten sich inzwischen doch als eine oder zwei Nummern zu gross erwiesen.

So gingen sie unangefochten durch den Ort, immer neuem Militär begegnend, Fusstruppen in Zweierkolonnen mit geschultertem Gewehr, Nachrichtensoldaten auf Militärfahrrädern, Offizieren in protzigen Geländewagen.

Die Militärübung Cerberus hatte ja allerhand Leute auf die Beine gebracht. Hinter Sandsäcken lagen vor dem-Schulhaus getarnte Beobachtungsposten im Kampfanzug, das Maschinengewehr im Anschlag. Man übte Bürgerkrieg, Guerillataktik oder terroristische Bedrohungslagen.

Von weiter her knallte und detonierte es. Das alles war einigermassen furchterregend, obwohl hier der kriegerische Ernstfall ja nur geprobt wurde.

Don Quichotte fühlte sich unverzagt. Sancho hingegen fürchtete sich genug, um dicht hinter seinem Herrn zu bleiben, die Handtasche eng an den Bauch gepresst. «Die meisten sind ja nur Menschen», beruhigte Don Quichotte seinen Assistenten, «ich sehe lediglich eine beinahe verschwindende Anzahl von Cerberanern. Da drüben, das unter dem feldgrünen Netz da, was sich so verzweifelt anstrengt, wie ein Panzer auszusehen, ist jedoch ganz bestimmt ein Feind, schau nur nicht so direkt hin!» Sancho fühlte vage eine eigentümliche Sehnsucht nach der kaum von den Selbstgesprächen der Verrückten gestörten Stille der Anstalt jenseits des Waldes in sich aufsteigen.

Sie kamen jetzt am Migros-Markt vorbei, wo trotz der militärischen Situation Hochbetrieb herrschte, denn es war Samstag, und die Bewohner des Ortes wollten am Sonntag trotz des simulierten Kriegs und solchen Sachen einen guten Braten essen.

Abrupt blieb Don Quichotte, der noch immer nach einem geeigneten Schlachtross Ausschau hielt, stehen.

«Siehst du jene beiden Lufthunde dort?» fragte er Sancho und zeigte auf zwei ganz gewöhnliche Fahrräder, die einträchtig nebeneinander standen. Lufthunde, so hatte ihm Don Quichotte noch in der Klinik erklärt, seien die üblichen Fahrzeuge für Toboser, die sich auf grosser Fahrt befänden, um ihre Bewährungsprobe zu bestehen; Fahrzeuge, sehr praktisch zur Fortbewegung sowohl auf der Erde wie auch in der Luft und unter Wasser. Und diese beiden Fahrräder, die so friedlich und einträchtig nebeneinander standen, sollten nun also Lufthunde sein!

Kaum zu glauben. Aber er wusste ja, dass sein Boss ein spezieller Mensch mit einer aussergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeit war. Also folgte er Don Quichotte, der schon im Begriff war, eines der Fahrräder, und zwar ein rot gestrichenes Damenrad schon älteren Jahrgangs der Marke Rosinante, zu besteigen. «Komm schon, setz dich auf den anderen Lufthund! Beeil dich, du ewiger Zögerer und Zauderer, der du bist, und hab keine Angst, diese Hunde beissen dich schon nicht. Der Kampf wartet auf uns!»

Gehorsam setzte sich Sancho auf das andere Rad, das ebenfalls ein Damenrad war (aber ein blaues), vorher aber schnallte er vorsorglich Frau Kummers Einkaufstasche, jetzt an Inhalt mit einer Ordonnanzpistole bestückt, auf den schon etwas angerosteten Gepäckträger.

Sie sassen beide fest im Sattel und waren eben im Begriff, ihren Lufthunden die Sporen zu geben, Don Quichotte voller Enthusiasmus darüber, jetzt endlich vollständig ausgerüstet zu sein, Sancho noch ganz verwirrt vom schnellen Gang der Ereignisse, als sie hinter sich die wütende, rasch sich nähernde Stimme einer gewaltigen Matrone vernahmen. «Haltet die Diebe!» rief sie, «haltet die Diebe!» Aber niemand vermochte die rasch auf ihren Lufthunden davonflitzenden Streiter aufzuhalten. Zu perplex waren die anderen Matronen und übrigen Zuschauer über den dreisten Velodiebstahl mitten am helllichten Tag, mitten in einem supponierten Krieg. Velodiebstähle mochte es bei Nacht und im Ausland geben, etwa in Zürich oder Amsterdam oder New York, wo die Besitzer ihre Fahrräder mit schweren Eisenketten sichern mussten, aber doch nicht hier, bei ihnen, mitten im militärisch schwer bewachten Dorf! Also bitte!

So gewannen unsere beiden Helden denn schon bald einen komfortablen Sicherheitsabstand zu ihren Verfolgerinnen. Don Quichotte fühlte sich in seinem Element und fluchte in einem fort, während Sancho wieder einmal alle Heiligen des Himmels anzurufen hatte. «Lass uns um Gottes willen aus diesem vermaledeiten, zehnmal verfluchten Ort verschwinden!» flehte Sancho seinen Herrn und Gebieter an, während ihnen der Fahrwind um die Köpfe fuhr. «Niemals!» verkündete Don Quichotte darauf pathetisch, «nicht bevor ich mindestens einen Cerberaner zur Strecke gebracht habe! Meinst du, ich will ewig eine Halbkugel bleiben?»

Inzwischen hatten sie allerdings die letzten Häuser des Ortes, des Dorfes oder kleinen Städtchens längst hinter sich gelassen. Die Strasse führte jetzt durch den angenehm kühlenden Schatten eines Waldes. Sancho, der müde war, dem der Schweiss vom Körper lief, dessen Beine schmerzten und was der Unbill noch mehr waren, redete von hinten gegen die strampelnden, stark mit grauen Haaren bewachsenen Waden seines Freundes an, versuchte ihn zu überzeugen, dass es doch das Klügste sei, vorerst einmal im Verborgenen zu bleiben und sich daselbst, etwa unter einer Tanne oder einer Buche, ein wenig auszuruhen. Im Schutz der Nacht liesse sich bestimmt viel besser operieren.

Solchen taktischen Überlegungen beugte sich Don Quichotte gern, da auch er sich, an exzessive sportliche Betätigung nicht gewöhnt, ein wenig ermattet fühlte. Also bogen sie in einen Waldweg ein, der sie bald auf eine ruhige und verborgene Lichtung führte, wo sich Sancho augenblicklich im Schatten eines Holunderbaumes hinlegte und eine Sekunde später schon eingeschlafen war, um schnarchend von seinem ordengeschmückten Auftritt vor dem Volk, einer Menge dicker Frauen und anderen Köstlichkeiten des Lebens zu träumen. Don Quichotte aber wollte nicht einschlafen, er dachte an Toboso und seine bessere Hälfte, die darauf wartete, sich mit ihm zu einem vollkommenen Wesen zu vereinigen, auf dass sie immerdar im Zwischending aus Wasser und Luft herumschwimmen dürften. Und er seufzte tief und sehnsuchtsvoll.

Vier

Als Sancho erwachte, ging es zwar schon gegen Abend, aber die Sonne schien noch immer und es war sehr heiss. Sancho verspürte in erster Linie Durst, und zwar einen ganz spezifischen Durst, nämlich den typischen Durst, den man so oft im Sommer nach einem herrlich kühlen Bier verspürt. Dieser Durst war so gross, dass Sancho beinahe in das sehnsüchtige Seufzen und Stöhnen seines Herrn eingestimmt hätte. Don Quichotte allerdings verlangte es nach allem anderen mehr als nach einem Bier, als Streiter Tobosos kannte er nur den Durst nach Bewährungsproben und den Hunger auf Kampf.

Zweitens verspürte Sancho, wenn er etwas genauer in sich forschte, einen vorerst leise, aber immer intensiver nagenden Hunger. Also sprach Sancho zu seinem Herrn und Meister: «Ihr, der Ihr ein Wesen von einem fremden Planeten seid, mögt ja über ein so irdisches Verlangen wie das nach einem kühlen Bier und nach einer einfachen Mahlzeit – zum Beispiel nach einem Stück Brot und einer kräftig gewürzten Chorizo-Wurst (ich gestehe, das Wasser läuft mir im Mund zusammen) oder einer währschaften Tortilla, wie sie bei uns auf dem Land vom Volk geschätzt wird, um nicht zu sprechen von einer Riesenplatte Paella mit oder meinetwegen, wenn auch ungern, ohne Meeresfrüchte, meilenweit erhaben sein: Ich bin und bleibe ein Mensch, und ein Mensch muss essen und trinken, oder trinken und essen, sonst kann er nicht denken und nicht handeln. Ich werde mich deshalb ins Dorf oder Städtchen zurück verfügen und meine notwendigsten Bedürfnisse befriedigen, ferner die Lage auskundschaften und die Stärke der Feinde, sprich Cerberaner, erforschen. Gott sei Dank ist in der Börse dieses rätselhafterweise am frühen Morgen schwimmenden älteren Herrn, der sich vor dem Sprung ins Wasser die Haare kämmt, noch etwas Geld vorhanden. Da ich erstens allein und zweitens wie eine Frau gekleidet bin, Gott seis geklagt, wird niemand auf die Idee kommen, ich könnte Sancho, Assistent des Don Quichotte von Toboso, sein. Nicht wahr, Chef?»

Don Quichotte wunderte sich über diese lange Rede seines sonst nur im Anrufen der Heiligen so eloquenten Begleiters. Obwohl er ihm die Auskundschaftung der Cerberaner nicht so recht zutraute, liess er seinen durstigen und hungrigen Freund losziehen. Denn es war jetzt an der Zeit, einen Schlachtplan für die Nacht auszuhecken. Und Pläne konnte er am besten schmieden, wenn er allein war und seine Ruhe hatte.

Lufthunde, brummelte Sancho kopfschüttelnd, während er mühsam auf sein Fahrrad kletterte. Mit stets wachsender Geschwindigkeit, denn dieses Mal ging es abwärts, näherte er sich dem Ort. Die Armeepräsenz auf den Strassen und Plätzen war geringer geworden, das supponierte Schlachtgetümmel hatte sich auf den Abend hin mehr ins freie Gelände und in die Landschaft hinein verschoben in Form von Truppenbewegungen auf 20-, 50- oder gar 100-Kilometer-Märschen, Schiessübungen, Biwakierungen mit anschliessendem «Feindkontakt» etc., während im Dorf oder Städtchen, das als Ausgangspunkt der Aktionen und Kommandositz fungierte, sich nur noch einige Offiziere befanden, die Nachrichtenzentrale, die stehende Feldküche, das Lazarett und ein mit Stacheldraht umzäunter, schwer von Soldaten mit scharf geladenen Gewehren bewaffneter Maschinenpark. Dieser enthielt einige Militärlastwagen, Jeeps, Artilleriegeschütze, Flabkanonen etc., die in dieser Nacht aus welchen Gründen auch immer vom Kriegsgeschehen ausgeschlossen sein sollten.

Sancho entschloss sich, das Gasthaus von heute morgen zu meiden, doch gab es in dem Ort als einem Garnisonsstädtchen viele andere Wirtschaften, denn Soldaten sind hungrige und vor allem durstige Gesellen. Heute allerdings, der Übung «Cerberus» wegen, herrschte die Zivilbevölkerung in den Lokalen vor, aber auch die Zivilbevölkerung war an diesem Abend sehr durstig, die Gartenwirtschaften waren voll und lärmig und das Bier floss in Strömen. Es war einer jener närrischen Sommerabende, zwei Tage vor Vollmond, an denen selbst den ernsten und gesitteten Menschenschlag in diesem Land ein Hauch von Übermut streift, der dann allerdings leicht in Mutwillen umschlägt.

Sancho betrat also eine der zahlreichen Gartenwirtschaften des Städtchens und setzte sich still und bescheiden an einen Tisch, an dem schon zwei junge Burschen sassen, mit vollen Halblitergläsern Bier vor sich. Die beiden schienen schon einige dieser Humpen geleert zu haben, denn ihre Gesichter waren rot und schweissglänzend, ihre Augen unnatürlich blau, sie lachten viel und hieben sich gegenseitig die Hand auf die Schultern.

Als sie Sancho – im geblümten Rock und Frau Kummers ausladenden Sonnenhut auf dem Kopf – bewusst wahrnahmen, ging der Spass aber erst richtig los. Sancho schäumte und kochte innerlich vor Wut, bedachte dann aber, dass es erstens – zwei gegen einen – im Fall eines handfesten Streits einen ungleichen Kampf geben würde. Dass er zweitens in einer wichtigen Mission unterwegs war und deshalb seine Tarnung auf keinen Fall aufgeben durfte. Und dass er drittens immer noch Durst hatte und jetzt endlich ein kaltes Bier wollte.

Fünf

Don Quichotte, der im Wald zurückgebliebene, hatte inzwischen viel nachgedacht und die Waffe, die er als Laserkanone erkannte, genauestens untersucht. Diese Waffe, sagte er sich, sieht zwar haargenau wie eine Pistole aus, aber das ist genauso Tarnung, wie es bei den Fahrrädern, die eigentlich Lufthunde, bei den Maschinen, die Cerberaner und bei den Menschen, die in Wirklichkeit Toboser sind, der Fall ist. Das ist eben das Problem, dachte Don Quichotte. Einiges ist getarnt, anderes nicht. Einiges ist Sein, anderes bloss Schein. Und die Kunst, die den grossen Kämpfer auszeichnet, ist es, stets das Wahre vom Falschen unterscheiden zu können. Die Kunst, jeden Augenblick vollständig wach zu sein – Bewusstheit ist das ganze Geheimnis. Ein gewöhnlicher Mensch, ein Mensch oder dummer Toboser wie Sancho, dachte Don Quichotte, wird dieses Geheimnis nie durchdringen. Menschen denken nur ans Fressen und Saufen und Vögeln, sie streiten sich über Kleinigkeiten und Nichtswürdigkeiten, sie hängen ihr Herz an Dinge, die vergänglich sind, sie suchen im Unbeständigen das Glück, sie sind eitel, selbstsüchtig, gefallsüchtig, machthungrig und dumm. Wenn er, Don Quichotte, ihnen nun die Befreiung aus der Sklaverei der Cerberaner brachte, so hatten sie es eigentlich gar nicht verdient. Im Grunde, so schien es ihm, liebten die Menschen die Ketten dieser Sklaverei sogar. Aber ein Streiter Tobosos verlangt keine Dankbarkeit für seine Taten, denn ihm winkt höherer Lohn. Und Don Quichotte dachte einmal mehr an die Kugeln, die im Zwischending aus Wasser und Luft schwammen. Oder flogen.

Über diesen Gedanken war es dämmrig geworden, schon fast Nacht. Sanchos Erkundungsgang schien sich in die Länge zu ziehen. Oder hatte sich dieser Tölpel etwa gar entlarven lassen und befand sich nun in der Hand der Feinde? Aber nein, das konnte nicht sein. Die Cerberaner waren bestimmt nicht an einem Sancho Pansa interessiert.

Aber vielleicht wollten sie ja ihm, Don Quichotte von Toboso, eine Falle stellen? Sancho als Geisel behalten, ihn womöglich in eine Maschine verwandeln? Oder gar in einen Cerberaner?

Don Quichotte konnte nicht mehr länger warten. Er musste jetzt augenblicklich etwas tun, Freund Sancho befreien, die Cerberaner bekämpfen. Schon sass der tobosische Ritter auf seinem Lufthund und brauste davon.

Kaum zehn Minuten später näherte er sich dem bewaffneten Maschinenpark der Armee. Er realisierte sofort, dass sich in diesem Park ein Cerberaner versteckt hielt. Don Quichotte stieg vom Rad und stellte den Lufthund an einen Baum. Robbte auf allen vieren dem Rand der Böschung zu, an deren Fuss der Maschinenpark lag. Sah die Fahrzeuge, die Soldaten im Mondlicht stehen. Alles war ruhig und beinahe friedlich, einer der Soldaten hatte sich, obwohl das befehlswidrig war, den Helm vom Kopf genommen, ausserdem nahm er sich hie und da einen heimlichen Schluck zur Brust, worauf der Flachmann jeweils wieder in die dafür bestimmte Tasche des Kampfanzuges wanderte.

Doch Don Quichotte war ein zu erfahrener Kämpfer, um sich von dieser Idylle einlullen zu lassen. Sein und Schein, dachte er grimmig, Sein oder Nichtsein ist hier die Frage. Nach kurzer Observation wusste er, wo der Hund begraben war respektive in welcher Gestalt sich der Feind verbarg. Es war das lausigste und am meisten verdreckte Exemplar unter all den Jeeps, die da herumstanden. Du bist erkannt, sagte Don Quichotte leise zu sich selbst zwischen den Zähnen hindurch, und wirst jetzt vernichtet.

Wobei er die Pistole aus dem Gurt zog und abdrückte. Er schoss ein-, zwei-, fünf-, zehnmal auf den vor Schreck erstarrten Cerberaner, der von dem Überraschungsangriff unseres gewieften Strategen völlig überrumpelt wurde und, als eine Kugel in den Pneu eindrang, mit leisem Pfeifen in die Knie ging. Das war ein wahres Stahlgewitter. Dann gab es einen noch lauteren Knall, und der Jeep, am Benzintank getroffen, stand in hellen Flammen. Don Quichotte triumphierte in seinem Innern. Die erste Prüfung war bestanden.

Don Quichotte näherte sich dem Wagenpark. Er musste den Wache schiebenden Soldaten, die den Cerberaner für einen Jeep gehalten hatten, doch erklären, warum er geschossen hatte. Diese Soldaten, von denen es, wie man jetzt sehen konnte, nicht nur zwei, sondern drei, gar vier auf dem Platz gab, waren über den Angriff des Tobosers so erschrocken, dass sie mit totenbleichen Gesichtern und offenem Mund einfach dastanden, als sie die hagere, grosse Gestalt des Don Quichotte in den kummerschen Shorts und mit der Pistole in der Hand auf sich zukommen sahen. Und dann ging alles sehr schnell. Unser edler Ritter, der die Arme geöffnet hatte, um den erstbesten der Soldaten zu umarmen, wurde mit einem brutalen Fausthieb niedergestreckt, so dass seine Laserkanone in hohem Bogen in der Dunkelheit verschwand.

Da lag er nun am Boden, unser Held, und die uniformierten Mannen standen mit ratlosen Gesichtern um ihn herum. Der Korporal war, wie sich dies gehört, der erste, der seine Fassung wiedererlangte. Mit befehlsgewohnter Stimme schickte er einen seiner Soldaten in die «Krone», wo er seinen vorgesetzten Offizier vermutete, der um diese Zeit meist selbst schon einen in der Krone hatte.

Dann führte er den Delinquenten, der aus einer offenbar nur schwachen Ohnmacht – Toboser sind hart im Nehmen – wieder halbwegs zum Bewusstsein gefunden hatte, zu einer ersten Vernehmung persönlich ins Wachquartier. Zwar war der Korporal für einen Moment geneigt zu glauben, dass das soeben stattgefundene Ereignis zum Manöver gehöre. Inszeniert, um die Effizienz des Wachdienstes zu testen. Aber dafür schien ihm das Vorgehen des langen Dünnen denn doch zu radikal. Zudem war der da ein allzu komischer Vogel, um reguläres Mitglied der Truppen zu sein. Nein, kam der Korporal in seinem Gedankengang zum Schluss, dieser Delinquent war echt.

Unerhört so was.

«Wie heissen Sie?» fragte er Don Quichotte deshalb streng, «Name, Vorname, Adresse, Beruf, Alter, AHV-Nummer und so weiter, aber ein bisschen dalli!» Der Korporal hätte sich jetzt gerne von aussen gesehen. Er wirkte entschlossen. Er hatte die Situation im Griff. Er war cool. Hoffentlich sahen die anderen das auch so.

Don Quichotte, den der rüde Ton und die schlechten Umgangsformen des Unteroffiziers ein bisschen irritierten, setzte eine womöglich noch würdevollere Miene auf.

«Wer ich bin, junger Mann, kann ich Ihnen nicht sagen, denn das ist vorläufig noch geheim. Nur so viel: Ich habe eine Mission zu erfüllen, eine sehr wichtige Mission. Und: Wir bekämpfen einen gemeinsamen Feind. Soviel muss vorläufig genügen.»

Der Unteroffizier rieb sich innerlich die Hände vor Vergnügen. Er war jetzt überzeugt davon, einen gefährlichen Spion oder Terroristen verhaftet zu haben. Erstens der dunklen Andeutungen des Fremden wegen, zweitens, weil dieser ein Deutsch mit eindeutig fremdländischem Akzent sprach. Er steckte den Delinquenten also ohne weitere Diskussionen in die Arrestzelle, um in näherer Zukunft das Erscheinen seines vorgesetzten Offiziers und in etwas fernerer Zukunft seine Beförderung abzuwarten.

Etwas später traf der Dienst habende Offizier tatsächlich ein. Verärgert zwar, weil man ihn mitten aus dem schönsten Jassen und von einem ausgezeichneten kühlen Rosé weggeholt hatte, aber auch alarmiert von den haarsträubenden Neuigkeiten des Soldaten. Dass jemand ohne Erlaubnis und Anweisung von höherer Stelle einen Armeejeep in Brand schoss, war in seiner Militärkarriere bisher noch nie vorgekommen. Er hatte schon jetzt das Gefühl, dass das eine Sache war, die seine Kompetenz überstieg.

Don Quichotte sass inzwischen auf der Pritsche im Arrestlokal, innerlich ruhig, denn er fühlte sich gut, da er ja wusste, was wirklich los war. Am liebsten hätte er ein Lied vor sich hingeträllert, und zwar ein tobosisches, aber in Toboso gab es leider keine Lieder. Bei Bewohnern eines Luft-Wasser-Gemisches kann sich nun mal keine Gesangskultur entwickeln.

Dann öffnete sich die Tür. Davor oder dahinter stand gross und breit der Offizier, mit hinter den Ordonnanzgurt geklemmten Daumen. «Gut, dass Sie da sind», sagte Don Quichotte, «ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.» Der Offizier war perplex. «Erlauben Sie mal! Sie haben hier nur zu reden, wenn man Sie fragt! Sie haben eine Schweinerei angerichtet, eine Riesenschweinerei, und…» Aber Don Quichotte liess ihn nicht weiterreden.

«Wir haben jetzt keine Zeit, uns mit solchem Firlefanz aufzuhalten, mein Herr. Die Lage ist ernst. Die Cerberaner sind daran, die Erde zu unterjochen, und sie…». Der Offizier horchte auf.

«Wovon sprechen Sie eigentlich?» fragte er argwöhnisch.

«Von der Operation Cerberus natürlich! Sie ahnen ja nicht, was der vermeintliche Jeep in Wirklichkeit…»

Aber der Offizier hatte nur den Namen Cerberus gehört. So wusste dieser lange Kerl also, wie ihre streng geheime Gesamtverteidigungsübung hiess! Verdächtig, höchst verdächtig!

«Wache verdoppeln!» befahl er dem Korporal. Dann machte er sich auf den Rückweg zum Hotel Krone. Erst wurde einem Offizier die Ordonnanzpistole entwendet, dann ein Jeep in Brand geschossen, des Weiteren kannte der Terrorist den geheimen Namen der Gesamtverteidigungsübung, und schlussendlich wurde auch noch der Rosé warm. Das schlug doch dem Fass den Boden aus, aber wirklich!

Sechs

Sancho war inzwischen ein wenig in seiner Gartenwirtschaft hängen geblieben. Es gab ja auch einiges zu tun, diesen gewaltigen Durst zu löschen. Die beiden jungen Burschen waren schon längst weg und die neuen Tischnachbarn ganz nett. Zwei alte Säufer, Pensionierte aus dem Nachbardorf, die es sich hoch anrechneten, einer Dame ein paar Biere zu offerieren. Man redete über Gott und die Welt, hechelte die nationale Politik und die Cervelatprominenz durch und Sancha musste von ihrer Heimat erzählen. Spanien! Sangria und Flamenco und Stierkampf und heissblütige Señoritas und Olé! Da tut sich manchem alten Säufer die Vorstellungskraft weit auf.

Doch plötzlich erinnerte sich Sancho seiner Mission. «Ach Gott, ich habe ja meinen Herrn ganz vergessen! Ich muss sofort gehen. Ahora mismo.»

«Was! Einen Herrn hast du! Das ist aber schade!», meinte einer der pensionierten Säufer, der sich ein wenig in die stark gebaute spanische Dame mit dem wohlklingenden Bariton verguckt hatte – man könnte sagen, er hatte sie sich schöngesoffen –, aber Sancho liess sich jetzt nicht mehr aufhalten.

«¡Hijcho de puta!» meinte er, wenig damenhaft, nur, und machte sich mit einem leichten Seemanns- oder Seefrauengang aus dem Staub.

Aber es gab da eine Schwierigkeit. Sancho hatte nämlich ganz vergessen, wo er seinen Herrn zurückgelassen hatte. Das Luftross oder den Lufthund hatte er auch vergessen und schwankte zu Fuss. «Don Quichoooote!» rief er, alle Sicherheitsmassnahmen in den Wind schlagend, «Don Quichooote!»

Ihm war plötzlich weinerlich zu Mut, ganz einsam fühlte er sich, so allein in dieser fremden, kalten Welt. Er wollte nur noch eins: zurück unter die Fittiche seines Herrn, der immer wusste, was zu tun und in welche Richtung das Lebensschiffchen zu steuern war. Derart vom Instinkt geleitet kam er in die Nähe des Maschinenparks der Armee, wo inzwischen der Brand am Jeep gelöscht worden war. Mit dem Mut oder der Verzweiflung der Betrunkenen machte er sich bemerkbar.

«Halt, stehen bleiben!» rief darauf die Wache reglementsgemäss und befehlskonforn unserem braven Sancho zu. «Mein Herr Soldat», erwiderte dieser mit eindeutig fremdländischem Akzent, «verzeihen Sie bitte die späte Störung, und seien Sie versichert, dass ich ein ganz harmloser Mann oder in Gottes Namen auch eine ganz harmlose Frau bin, die nur eine kleine Auskunft von Ihnen erbittet. Ich suche nämlich Don Quichotte, meinen Chef. Könnte es sein, dass er ganz zufälligerweise hier vorbei gekommen ist? Er ist lang und hager, sowohl sein Körper als auch sein Kopf sind eigenartig in die Länge gezogen; unter der Nase spriesst ihm ein Schnurrbart, der traurig über seine Mundwinkel fällt; sein Blick ist fest und bestimmt; er hält sich aufrecht und würdig, obgleich er kurze Hosen trägt wie ein Pfadfinder; seine Beine sind aber nicht die glatten Beine eines Knaben, sondern dürr und knorpelig und mit grauen Haaren überwachsen…».

Sancho hätte, zunehmend ins Feuer geratend, wohl seine Beschreibung mit noch vielen weiteren Details ausschmücken können, aber der Soldat wusste längst Bescheid.

«Und ob wir diesen feinen Herrn kennen!» meinte er barsch. «Wenn Sie seine Bekannte sind, dann kommen Sie am besten gleich mit!»

Davor fürchtete sich unser Sancho verständlicherweise zwar sehr. Es kam ihm so vor, als sei er David kurz vor dem Gang in die Löwengrube, aber die Hoffnung, das der Löwe schliesslich die Gestalt seines Herrn haben würde, war grösser als die Furcht.

Inzwischen war im Wachlokal der Korporal von seiner Meinung, der Delinquent sei ein Spion, wieder abgekommen. Im Radio war nämlich eben die Meldung zu hören gewesen, dass aus der hiesigen psychiatrischen Klinik zwei Patienten entwichen seien, und die Beschreibung des einen Patienten passte so genau auf seinen Gefangenen, dass es keinen Zweifel an der Identität des vermeintlichen Spions oder Terroristen gab. Der Korporal hatte sich lautstark darüber empört, dass in der Radiomeldung die beiden Ausreisser als zwar skurril, aber durch und durch harmlos beschrieben wurden, was es ohne Gefahr erlaube, die beiden schonend anzuhalten.

Der Korporal hatte erneut einen seiner Soldaten ins Restaurant Krone geschickt, obwohl er wusste, dass ihm das bei seinem vorgesetzten Offizier keine Punkte einbrachte.

Er war zwar der Meinung, dass man unverzüglich mit der Irrenanstalt telefonieren müsse, wagte aber nicht, das selber zu entscheiden, insbesondere, da die Irrenanstalt eine zivile Institution war und sich der Verkehr zwischen der militärischen und zivilen Sphäre vor allem in Manöverzeiten nicht so ohne weiteres bewerkstelligen liess oder vielmehr aus Geheimhaltungsgründen strengstens verboten war.

Als nun der Wachabende den zweiten Verrückten hereinführte, löste das bei unserem wackeren Korporal beinahe eine Nervenkrise aus. Schon leicht hysterisch liess er Sancho, der wieder mit seinen Erklärungen anfangen wollte, gar nicht zu Wort kommen, sondern schrie:

«Weg mit ihm, aus den Augen mit ihm! Werft ihn zum anderen hinein oder macht mit ihm, was ihr wollt! Ja ist denn das ein Irrenhaus hier?»

Die Soldaten, die nicht nur das Verhalten ihres Korporals lächerte, sondern vor allem das Aussehen Sanchos im geblümten Rock und mit schief auf dem Kopf sitzendem Sonnenhut, eines Sancho, der stark aus dem Mund nach Bier roch und Reden hielt, die beinahe noch geblümter waren als sein Rock, gerieten mit dem Korporal beinahe in eine handfeste, zu einer Schlägerei ausartende Auseinandersetzung. Der Korporal fand nämlich das aufkeimende Gelächter gar nicht lustig und wurde noch rabiater.

Doch da erschien zum zweiten Mal an diesem Abend der diensthabende Offizier auf der Bildfläche, nun noch viel röter im Gesicht von der Hitze, dem gekühlten Rosé und dem nie abbrechenden Ärger dieses Tages.

Als er die Neuigkeit vernahm, nämlich dass Don Quichotte, der Delinquent, mit dessen Gefangennahme er sich vor seinen Kameraden schon gebrüstet hatte, gar kein Spion und Terrorist, sondern ein ganz gewöhnlicher Verrückter sei, begann er seinerseits herumzuschreien und herumzutoben, bezeichnete den Korporal als Hornochsen und Rindvieh, auch das Wort Arschloch fiel. Ihn, den Diensthabenden, wegen einer solchen Lappalie zweimal aus einer wichtigen Lagebesprechung zu sprengen, grenze an Insubordination. «Den Irrenarzt hätten Sie holen müssen, aber das fällt einem Kamel und Esel wie Ihnen ja nicht ein. Ein Kamel und Esel sind Sie, Korporal, und ein Spatzenhirn haben Sie, Korporal, verstanden?» Worauf der Korporal mit vor Wut gepresster Stimme zwischen den Zähnen hervorstiess: «Jawohl, Herr Major, ich bin ein Hornochs und ein Rindvieh, ferner ein Esel und ein Kamel, ferner ein Arschloch mit Spatzenhirn, habe verstanden, Herr General!» Worauf sich der Oberleutnant zackig um 180 Grad drehte und ohne zu salutieren mit wütenden Schritten im Dunkel verschwand, der «Krone» entgegen, wo der Rosé wartete, der leider inzwischen warm geworden war.

Sieben

Inzwischen lagen sich in der Arrestzelle Don Quichotte und Sancho Pansa in den Armen, gerührt darüber, endlich wieder vereint zu sein. Don Quichotte erzählte ausführlich, was vorgefallen war: Wie er sich einem Indianer gleich an den Maschinenpark herangeschlichen habe, ein schwarzer Schatten in der Nacht; wie er, Don Quichotte, langsam und ohne auch nur zu atmen, seine Laserpistole gehoben habe und mit einer Salve aus Licht und Lärm über den Cerberaner hergefallen sei, so dass dieser fast augenblicklich seinen Geist habe aufgeben müssen. Die Menschen aber seien undankbare Ignoranten, eingebildete Schwachköpfe, cabrones und calabazos.

So sässen sie beide denn nun in Gottes Namen hier in diesem Loch, nicht einmal mit dem Nötigsten, nämlich Wasser und Brot, versehen. Aber Don Quichotte sprach schon seit einiger Zeit ins Leere, denn Sancho, für den es ein langer und ereignisreicher Tag gewesen war, war nun sanft eingeschlafen, was sich an langen, regelmässigen Atemzügen erkennen liess, die allmählich in ein fürchterliches Schnarchen übergingen, ein Geräusch, das Don Quichotte so vertraut und lieb war, dass auch ihn der Schlummer übermannte.

Don Quichotte träumte (aber vielleicht war es gar kein Traum, sondern durch Zauberei möglich gewordene Wirklichkeit), dass es ihnen, nämlich ihm selbst und seinem Assistenten Sancho Pansa, gelang, ihr Gefängnis zu verlassen. Und zwar gelang es ihnen unter Zuhilfenahme solcher Phänomene wie Unsichtbarsein, Durch-die-Wände-gehen-Können etc. Natürlich mussten sie als erstes ihre Lufthunde finden.

Die hatten ihre Gestalt inzwischen auch gewandelt und sahen nun nicht mehr wie Fahrräder aus, sondern präsentierten sich, wie Sancho fand, in einer äusserst kuriosen Form. Ihrer wahren Form, wie Don Quichotte erklärte. Lufthunde seien Fahrzeuge oder Reittiere – gleichviel: einfach Fortbewegungsmittel –, mit denen man nicht nur durchs Wasser, durch die Luft und auf der Erde reisen könne, sondern auch durch die Zeit, vorwärts und rückwärts, mehr noch: sogar durch den n-dimensionalen Raum. Was ein n-dimensionaler Raum sei, verstehe er, Sancho Pansa, mit seinem schlichten Gemüt wohl kaum, falle es doch sogar ihm selbst, Don Quichotte, schwer, sich diesen Raum ganz plastisch vorzustellen. Das gebe er ganz unumwunden zu. Sancho bestätigte gern, dass er von n-dimensionalen Räumen nichts verstand. Verwundert und mit einigem Respekt begutachtete er die verwandelten Fahrräder, die sich da so wundersam teleologisch entfaltet und zu ihrer wahren Form gefunden hatten (Sancho dachte natürlich nicht in Begriffen wie der teleologischen Entfaltung und der wahren Form, sondern staunte einfach bloss).

Die Lufthunde hatten jetzt als Vorderleib die Form eines Hundes, und zwar eher eines Windhundes oder noch eher eines Greyhounds als eines Schäferhunds oder gar eines Dackels. Allerdings wuchsen ihnen Flügel aus den Schulterblättern, was sonst bei Hunden ja eher nicht vorkommt. Der hintere Teil der Lufthunde endete nicht in einem Schwanz, jedenfalls nicht in einem Hundeschwanz, sondern viel eher in einem Fischschwanz oder einer Schwanzflosse, wie man sie bei Meerjungfrauen und anderen Vertretern der Gattung der Pisces findet.

Um den Hals trugen sie überdimensionierte Armbanduhren aus einem weichen, nachgiebigen Material wie die zerfliessenden Uhren von Salvador Dalì, welcher ein spanischer oder vielmehr katalonischer Maler und damit eher ungewollt ein Landsmann von Don Quichotte und Sancho Pansa gewesen war. Item. Die Zifferblätter dieser zerfliessenden Armbanduhren in den Farben des Regenbogens, die man in diesem Fall korrekt als Halsbanduhren bezeichnen sollte, lagen auf der oberen Seite des Halses der Lufthunde, so dass man praktisch immer die Uhrzeit vor Augen hatte, die aber, da von weichem, nachgiebigem Material angezeigt, selber leicht dehnbar war.

So standen die Lufthunde also da und wedelten einladend mit dem meerjungfrauenhaften Fischschwanz. Aber Sancho, wie sich die geneigte und mit einem feinen psychologischen Gespür ausgestattete Leserschaft sicher schon selber vorstellen kann, dachte natürlich gar nicht daran, sich in den Sattel zu schwingen. Er fand tausend Gründe, die gegen das Besteigen von Lufthunden sprachen, hielt dafür, dass er zu schwer sei für das zierliche Tier (oder Ding), führte an, dass ihm in der Luft und vornehmlich in grosser Höhe schwindlig werde, dass er noch nie einen Lufthund gefahren sei oder geritten habe und deshalb nicht wisse, wie die Sache zu steuern sei, und überhaupt, er sei weder John Wayne noch Old Shatterhand, sondern Sancho Pansa und darauf geschissen. Aber Don Quichotte mit seinem schier unbegrenzten Vertrauen auch in Erscheinungen, Vorkommnisse und Ereignisse ausserhalb der Norm und seiner wahrhaft übermenschlichen Überzeugungskraft brachte Sancho schliesslich doch noch dazu, wenigstens einen Flug-, Reit- oder Schwimmversuch zu wagen.

Kaum, dass sie mehr oder weniger bequem auf dem Rücken der braven Fortbewegungsmittel sassen, fühlten sie sich auf die seltsamste Art und Weise durch die Luft und den Raum eher gesogen als geflogen. Auch war die Geschwindigkeit, mit der sie reisten, so enorm, dass es ihnen alle Gedanken, ja den allergrössten Teil der bewussten Wahrnehmung überhaupt, aus dem Hirn herausblies, so dass sie später nicht sagen konnten, ob die Reise lang oder kurz gewesen, angenehm oder unangenehm verlaufen sei.

Acht

Als die beiden, Sancho Pansa und Don Quichotte, wieder zu sich gekommen waren und es ihnen gelungen war, ihre Sinne zusammenzuraffen, gerieten sie sogleich nicht schlecht ins Staunen hinein. Das heisst, es blieb ihnen nicht viel Zeit zum Staunen, da, wie beim Übergang vom Traum ins Wachbewusstsein, die eine Normalität rasch von der anderen überdeckt wird und der Kipppunkt, an dem das Staunen ausgelöst wird, eben nur sehr kurz dauert. In der neuen Realität befanden sie sich in einem prachtvoll ausgestatteten Raum, vergleichbar mit der Fürstensuite eines Fünfsterne-Hotels (von einer solchen hatten sowohl Sancho Pansa wie auch Don Quichotte bisher eine Vorstellung nicht aus eigener Anschauung, sondern lediglich aus einschlägigen Spielfilmen und Soap-Operas am Fernsehen gewonnen). Sie befanden sich in einem grossen Raum, der farblich zwischen Zartrosa und Lachsig von Pastelltönen dominiert wurde. Den Raum, der fast schon ein Saal war, leuchteten grosszügig von der Decke hängende ausladende Kristalllüster aus. Sancho fand sich auf einem Ruhebett oder einer Chaiselongue halb liegen, halb sitzen. Er hielt, wie er erst jetzt bemerkte, ein kelchförmiges Glas in der Hand – ohne Zweifel eine Perle der Glasbläserkunst, wie er hätte bemerken können –, das mit einer goldfarbenen, prikelnden Flüssigkeit gefüllt war und ihm gar angenehm in die Nase moussierte, so dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als zu niesen oder zu schlückeln. Vor diese Wahl gestellt, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer, und er leerte das Glas mit einem einzigen, genussvollen Schluck bis auf den Grund.