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Kultur ist systemrelevant!
Ein Leben ohne Bühne war für den leidenschaftlichen Liedermacher Konstantin Wecker nicht vorstellbar. Was macht es mit so einem Menschen, wenn plötzlich alle Konzerte abgesagt werden müssen?
In diesem Buch berichtet er von mehr als von seinen persönlichen Erfahrungen in der Covid-19-Pandemie. Die Krisenzeit ist eine Zeit, das Wertefundament unserer Gesellschaft zu hinterfragen. Was wurde aus der neuen Solidarität, über die in den ersten Wochen der Pandemie so viel zu hören war? Und warum galten Kunst- und Kulturschaffende plötzlich als nicht systemrelevant, während die Industrie Steuergeschenke erhielt?
Radikal stellt Wecker sich auf die Seite all derer, die in einer Welt der Sachzwang-Logik selten Platz finden. Zur Poesie braucht es auch den Widerstand: Mitten in Zeiten der globalen Pandemie und Depression entwirft Konstantin Wecker eine Utopie für eine gerechtere Gesellschaft, in der Kultur und Kunst genauso wie Solidarität und Menschlichkeit endlich den Stellenwert bekommen, der für ein gutes Leben für alle Menschen nötig ist.
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Seitenzahl: 203
Ein Leben ohne Bühne war für den leidenschaftlichen Liedermacher Konstantin Wecker nicht vorstellbar. Was macht es mit so einem Menschen, wenn plötzlich alle Konzerte abgesagt werden müssen?
In diesem Buch berichtet er von mehr als seinen persönlichen Erfahrungen in der Covid-19-Pandemie. Die Krisenzeit ist eine Zeit, das Wertefundament unserer Gesellschaft zu hinterfragen. Was wurde aus der neuen Solidarität, über die in den ersten Wochen der Pandemie so viel zu hören war? Und warum galten Kunst- und Kulturschaffende plötzlich als nicht systemrelevant, während die Industrie Steuergeschenke erhielt?
Radikal stellt Wecker sich auf die Seite all derer, die in einer Welt der Sachzwang-Logik selten Platz finden. Zur Poesie braucht es auch den Widerstand: Mitten in Zeiten der globalen Pandemie und Depression entwirft Konstantin Wecker eine Utopie für eine gerechtere Gesellschaft, in der Kultur und Kunst genauso wie Solidarität und Menschlichkeit endlich den Stellenwert bekommen, der für ein gutes Leben für alle Menschen nötig ist.
Konstantin Wecker, Poet, Sänger und Komponist, engagiert sich seit Jahrzehnten für Zivilcourage, Pazifismus und Antifaschismus. Wenn er nicht gerade on tour ist, lebt er in München.
Konstantin Wecker
Poesie und
Widerstand
in stürmischen Zeiten
Ein Plädoyer für Kunst und Kultur
Mitarbeit: Michael Backmund
Kösel
Hinweis im Sinne des Gleichbehandlungsgesetzes: Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit konnte eine geschlechterspezifische Differenzierung nicht durchgängig eingehalten werden. Bei der Verwendung entsprechender Begriffe sind im Sinne der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich alle Geschlechter angesprochen.
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Copyright © 2021 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © Jose Giriba / Süddeutsche Zeitung Photo
Satz: dtp im Verlag
E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-28027-7V002
www.koesel.de
Inhalt
Prolog: Mein Leben ohne Bühne
Zwischen den Welten – vom Schrecken des Rassismus
Das letzte Live-Konzert
Starkbierfeste oder »der natürliche Feind des Coronavirus«
Der erste Stream am 22. März 2020
Kultur der Repression oder gelebte Solidarität
Stream II und Willy 2020
Die Kultur des Sterbens
Stirb ma ned weg
Kultur des Erinnerns I – Befreiung der KZs
Was ist systemrelevant?
Stream III am 9. Mai
Break Isolation: Die Demonstration am 11. Mai
Wir müssen die Regeln ändern
Operation am Finger
Der Mensch braucht Kunst: Reflexionen zur Bedeutung von Musik und Kultur
Die Kultur der Achtsamkeit – gegen die Ignoranz
Kultur und Solidarität sind Nahrung für Seele und Körper
Poesie und Widerstand
Kultur des Streitens
Grenzen des Dialogs
Intermezzo 1
Intermezzo 2 – live in Wien
Sturm & Klang
Die Kultur des Erinnerns II – Paul Wulf
Die Kultur der Anarchie
Auf dem langen Weg nach Utopia
Epilog: Utopia – Kultur der Hoffnung
Postscriptum
Danksagung
Informationen
Anmerkungen
Prolog: Mein Leben ohne Bühne
Wie liebe ich es, auf der Bühne an meinem Flügel zu sitzen und für mein Publikum zu singen und zu musizieren. Was für ein Geschenk seit über 50 Jahren! Und was für ein Glück, dass ich nur sehr selten wegen Krankheit pausieren musste. Wie liebe ich das Raunen und Murmeln des Publikums vor dem Konzert, die angespannte Stille bei leisen Liedern, den liebevollen Applaus.
Ich singe, weil ich ein Lied hab’, hieß eines meiner allerersten Lieder. Nicht, weil es euch gefällt. Und das ist mein künstlerisches Lebens- und Überlebensmotto geblieben.
Klar hatte ich nichts dagegen, auch mal berühmt zu sein und hab’s auch manchmal genossen, manchmal sehr daran gelitten. Aber das war es nie, was mich auf die Bühne trieb.
Was mich antrieb, meine Lieder zu singen, immer und immer wieder, auch in Zeiten, wo es mir gar nicht gut ging, war diese ungeheure Freude, gemeinsam mit meinem Publikum das Leben zu feiern, sich gemeinsam über Ungerechtigkeit und politische Dummheit zu empören und in Poesie und Melodien zu schwelgen.
Nein, ich hörte nie auf zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt, wo der Menschen Miteinander unser Sein zusammenhält. Und ich werde auch nicht aufhören, diesen Traum von Utopia weiter zu träumen.
Aber dann kam Covid-19, und mir wurde zum ersten Mal richtig bewusst, wie mir all diese Gemeinsamkeiten schmerzlich fehlen.
Und ja, ganz ehrlich, ich weiß erst jetzt, dass ich das alles als viel zu selbstverständlich genommen habe.
Und klar, auch dem eitlen Ego fehlt die allabendliche Bewunderung, der Zuspruch, die Begeisterung, die man entfachen kann mit einer treffenden Zeile, einer treffenden Melodie.
Das habe ich jahrzehntelang lieber ausgeblendet, vielleicht weil es mir wohl etwas peinlich war, zu offenbaren, wie mein Ego all das doch gebraucht hat.
Dann wurden wegen des Lockdowns erst mal alle Konzerte abgesagt, und da ich unbedingt musizieren wollte, haben wir uns am 22. März 2020 für den ersten Livestream entschieden. Wie ging es uns dabei? Fany Kammerlander, Jo Barnikel, Sarah Straub und ich spielten das erste Mal in ein dunkles Loch statt in einen mit begeisterten Menschen belebten Raum und – es war sehr, sehr schwer.
Dazu galt es noch Abstand zu wahren zu den KollegInnen, wir konnten uns nicht umarmen, wie sonst immer. Während der Lieder konnte man sich noch durch das Miteinander-Musizieren mitreißen lassen, aber in den Pausen wusste niemand so recht, wie man sich verhalten sollte. Es fehlte so viel: natürlich der Applaus, aber auch der Blick ins Publikum, das Geräusch quietschender Stühle, Rascheln, Murmeln, ach – es fehlten natürlich die lieben Menschen. Nicht immer einer Meinung mit mir, aber doch immer mit der gleichen Sehnsucht im Herzen. Mit Poesie und Widerstand auf der Suche nach dem Wunderbaren.
Und so habe ich beschlossen, mich auf das Abenteuer einzulassen: mich mit der Pandemie auseinanderzusetzen, der Systemrelevanz der Kultur in diesen so turbulenten und ungewöhnlichen Zeiten, mit den Versäumnissen und Fehlern der Politik, mit den Gefahren, die diese Zeiten für die Demokratie bedeuten, mit den Gefahren eines sich weltweit wieder neu belebenden Faschismus, wie es Umberto Ecco so richtig in seinem Vortrag Der ewige Faschismus 1995 dargelegt hat.
Dieser Prozess des Umdenkens, sich Einfühlens, neu Erlernens und Erkennens sollte sich, angefangen vom ersten Lockdown im Frühjahr 2020, bis jetzt – Ende April des Jahres 2021 – fortsetzen, und wird sicher noch lange kein Ende finden.
Erst wollte ich ja nur über meine Schmerzen und Probleme eines Lebens ohne Bühne schreiben, dann haben sich die Dinge so vehement entwickelt, dass ich immer wieder in Statements und Texten auf meiner Website oder in meinen Streams Stellung bezogen habe.
Diese intensiven Phasen der Reflexionen, Diskussionen und Interventionen fanden wiederum Eingang in meine Musik, meine Lieder und die Gestaltung meiner digitalen Konzerte »Poesie und Widerstand in stürmischen Zeiten«. Sie haben mir auch in Momenten der Verzweiflung Kraft gegeben, weil ich erleben und begreifen durfte, warum im Hoffen die Kraft für Veränderungen liegt.
Deshalb sollen diese Statements, Texte und Gespräche auch in diesem Buch nachzulesen sein, sind sie doch Zeugnisse eines sich stetig neu entdeckenden Prozesses.
Zwischen den Welten – vom Schrecken des Rassismus
Im Januar und Februar 2020 war ich dem Virus, geografisch gesehen, schon sehr nah. Nach einem Jahr voller Konzerte wollte ich für einige Wochen aus dem Alltag ausbrechen, mich in Südostasien erholen und an meinem Utopia-Programm arbeiten. Doch wirklich verstanden und wahrgenommen habe ich das, was unser aller Leben und mein Leben auf der Bühne nur kurze Zeit später vollständig durcheinanderbringen sollte, noch nicht. Von Zeit zu Zeit verfolgte ich in den digitalen Medien, was in Deutschland gerade passierte, und war von den Nachrichten über das rassistische Massaker in Hanau am Abend des 19. Februar, die mich zeitversetzt einen Tag später erreichten, zutiefst geschockt. Ich ahnte auch noch nicht, wie stark mich der tödliche Hass, der Rassismus und die faschistischen Netzwerke im kommenden Jahr herausfordern sollten.
Wenige Tage später landete ich in München, das Virus aus Asien war mir bereits vorausgeeilt nach Italien, auch wenn die beunruhigenden Nachrichten aus Bergamo den Brennerpass noch kaum überwinden konnten. Als ob Bayern und der Rest der EU mit diesen Geschehnissen nichts zu tun hätte. Es sollte die kürzeste Saison und Tournee meiner gesamten künstlerischen Laufbahn werden.
Das letzte Live-Konzert
Mein letztes Konzert vor dem Lockdown fand am 11. März 2020 in der Stadthalle Weinheim statt. Mein alter Freund Günter, ein Freund aus Gymnasialzeiten, fuhr mich, wie fast immer, zu meinen Konzerten. Und wir hatten CD’s und Bücher dabei, die Günter immer nach den Konzerten verkauft. Mein Publikum kennt ihn bereits, er ist der zum Glück doch nicht verstorbene »Willy«. Und er hat, auch weil er als Mann des phänomenalen Gedächtnisses gerühmt an meiner Biografie mitgeschrieben hat, ein wirklich gutes Verhältnis zu meinen KonzertbesucherInnen. Für Günter sollte dieses Jahr ohne Konzerte auch eine Katastrophe werden.
Der Auftritt in Weinheim war eines unserer sogenannten TRIO Konzerte, zusammen mit der wunderbaren Cellistin Fany Kammerlander und dem großartigen Pianisten Jo Barnikel.
Ich kam auf die Bühne und begrüßte mein Publikum mit den Worten: »Schön, dass ihr alle hier seid!« Etwa 500 Leute waren da, und es wurde ein wunderschöner inniger und poetischer Abend, wir ahnten wohl, dass dieses Konzert eines der letzten sein würde. Für lange Zeit!
Ich wollte an diesem »letzten« Abend nicht allzu viel über Corona sprechen und hatte auch das Gefühl, dass mein Publikum sich lieber der Poesie hingeben wollte. Einmal sagte ich aber: »Es gibt noch einen viel gefährlicheren Virus: den Faschismus.«
Und dann spielte ich Sage Nein!
Dieser Satz sollte richtungweisend werden für vieles, was ich dann in diesem Jahr noch geschrieben habe.
Nach diesem uns Musiker sehr bewegenden Konzert kam der Lockdown und alles wurde abgesagt.
Ach, wie vermisse ich es am Ende eines Abends – meistens bei dem Lied Questa nuova realta – singend durch das Publikum zu gehen, die Menschen zu umarmen, ihnen die Hand zu schütteln. Und gerne auch nach dem Konzert in irgendeiner Hotelbar bei einem Glas Wein mit ihnen zu reden. Wir drei konnten uns einfach nicht vorstellen, nicht mehr auf der Bühne zu stehen.
Wir leben für und von der Musik. Ich habe von meinen Musikern – egal mit wem ich gespielt habe in den letzten 50 Jahren – noch nie erlebt, dass sie genervt oder gelangweilt waren. Egal wie es einem vor dem Konzert erging, ob man vielleicht schlecht gelaunt war oder etwas kränklich – sobald sich der Vorhang erhob, bildlich gesprochen, waren und sind wir mitgerissen vom Miteinander-Musizieren, von der Magie der Musik, von der Möglichkeit, immer wieder neu die gleichen Lieder erleben und entdecken zu können, zu improvisieren, in Tönen zu schwelgen und in fast heiliger Stille zu schweigen. Das habe ich übrigens früh schon gelernt, wie wichtig Pausen sind. In den kurzen Pausen erwacht und gestaltet sich die Musik in den Zuhörern neu, um dann wieder mit Urgewalt die Seele zu umarmen.
Es war immer diese Leidenschaft, die mich an meinen Musikern so begeistert hat. Mit anderen wäre ich nie auf eine Bühne gegangen. Mit Fany spiele ich nun auch schon seit über fünf Jahren und Jo ist mein Partner seit fast 30 Jahren.
Immer waren und sind diese außergewöhnlichen und begnadeten Musiker mit jener Professionalität dabei, die eben nicht abstumpft, sondern immer dazulernt. Auch ich hatte nie das Gefühl, dass mich das Singen und Spielen meiner Lieder – seien sie noch so alt – je langweilen könnte. Und ich entdecke in jedem Konzert eine neue Sicht auf die Poesie und die immer lebendige Musik.
Seit über 40 Jahren singe ich in fast jedem meiner Konzerte mein Lied Wenn der Sommer nicht mehr weit ist.
Und ich habe es immer wieder, jedes Mal neu interpretiert.
Ein Zuhörer beschwerte sich sogar einmal, dass das Lied nicht so wie auf der CD klinge. Ich konnte dem Mann nicht helfen.
Ich erlebe meine Lieder immer wieder neu.
Weiß ich doch, unter welchen Umständen ich die meisten geschrieben habe. Sie flogen mir zu, oft, als ich in meiner Persönlichkeit noch nicht annähernd die Reife hatte, sie zu leben und zu verstehen.
Starkbierfeste oder »der natürliche Feind des Coronavirus«
Der kollektive Rausch auf Starkbierfesten ist in der katholischen Tradition tief verankert. Ohne Pause wird nach den Faschingsfesten in Bayern einfach weitergetrunken. Als »Starkbier« gilt jedes Bier, das mit einer Stammwürze von mindestens 16 Prozent gebraut wurde. Getrunken wird es in möglichst überfüllten Festzelten ohne Abstand, tanzend, singend zur Blasmusik und meist bis zur eng umschlungenen Besinnungslosigkeit. Ein idealer Ort für Viren, und das auch schon in Zeiten ohne Pandemie. Nicht umsonst steigt in Bayern nach der Starkbierzeit und nach dem Oktoberfest jedes Jahr das Husten und Schnupfen rasant an. Aber selbst in Zeiten der Pandemie wurden die bayerischen Starkbierfeste Anfang März 2020 nicht abgesagt, sie fanden sogar unter reger Beteiligung hochrangiger Vertreter der Staatsregierung statt. Zum Beispiel am 7. März 2020 in Ismaning, einer reichen Vorortgemeinde Münchens, mit dem bayerischen Wirtschaftsminister: »Hubert Aiwanger, stellvertretender Ministerpräsident und Vorsitzender der Freien Wähler in Bayern, ist hocherfreut, dass trotz aller Hysterie und Panik mehr als 400 Besucher den Weg zum Starkbierfest gefunden haben«, berichtete die Süddeutsche Zeitung am Tag darauf. Als Promi-Gast zog Aiwanger händeschüttelnd ins und durchs Festzelt. Von der Bühne dankte er den Organisatoren: »Gut, dass Sie das Fest nicht abgesagt haben«, und lobte ihren Mut, wie Lokaljournalisten berichteten, um zu verkünden: Starkbierfeste seien »der natürliche Feind des Coronavirus«. Das starke Bier floss in Strömen in diesen Wochen. Aus Tradition? Aus viraler Besinnungslosigkeit?
Auch der Wahlkampf lief einfach weiter auf Hochtouren. Weder wurde die Durchführung der bayerischen Kommunalwahlen am 15. März 2020 verschoben, noch wurden zumindest sinnvolle Hygienekonzepte erarbeitet und umgesetzt. Stattdessen hatten die Verantwortlichen Wahllokale flächendeckend auch in Senioren- und Pflegeheimen untergebracht!
Für beide Fehlentscheidungen ist der bayerische Ministerpräsident Markus Söder von der CSU verantwortlich. Diese beiden Großereignisse haben nachweislich in Bayern zu Tausenden Infektionen geführt und damit von Beginn der Pandemie an für unkontrollierbare Infektionsketten sowie eine massive Ausbreitung des Corona-Virus gesorgt. Acht der zehn am stärksten betroffenen Landkreise in Deutschland befanden sich in den ersten Wochen der Pandemie im Freistaat Bayern.
Eine wissenschaftliche Studie des Münchner Helmholtz-Zentrums hat mittlerweile den folgenschweren Effekt der Starkbierfeste wissenschaftlich untersucht. Das Ergebnis der in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift publizierten Studie ist eindeutig: »Signifikant mehr Fälle« seien sowohl durch die Starkbierfeste als auch durch die bayerische Kommunalwahl registriert worden, schreibt der Experte für Lungenerkrankungen Matthias Wjst. Die Studie geht von hochgerechnet rund 1200 unmittelbaren Covid-19-Ansteckungen durch die Feste aus: »In Landkreisen mit zwei oder mehr Bierfesten war der Effekt besonders groß.« Viele Besucher infizierten sich demnach auf den Starkbierfesten und verbreiteten anschließend das Virus kräftig weiter. Die Kollateralschäden bayerischer Traditionspflege in Pandemiezeiten sind laut Studie mehrere Tausend Infizierte. Dazu seien noch rund 3700 Infektionen der bayerischen Kommunalwahl Mitte März geschuldet. Söder hätte also die Landratsämter bereits Anfang März anweisen müssen, die Starkbierfeste abzusagen.
Die Kultur der selbstgefälligen Selbstherrlichkeit und nationalistischen Ignoranz ist in Bayern leider auch noch im 21. Jahrhundert weitverbreitet. Das »mia san mir« ist Staatsreligion und Starkbierfeste sind eine heilige Tradition. Südlich von München, hinter dem Brenner, starben zu diesem Zeitpunkt bereits Tausende Menschen an der Pandemie: »Wir können nicht mehr lange so weitermachen«, schlugen verzweifelte ÄrztInnen und völlig überforderte Kliniken Alarm, angesichts des rasanten Anstiegs der Zahl von Covid-19-Kranken in Italien. Erhört wurden die Hilferufe jenseits des Brenners nicht.
Diese beiden Fehlentscheidungen von Ministerpräsident Markus Söder haben maßgeblich zur diffusen Ausbreitung des Virus beigetragen, und Bayern hält seitdem kontinuierlich einen Spitzenplatz unter den besonders von Covid-19 betroffenen Regionen. Masken- und ahnungslos oder doch höchst skrupellos badete Markus Söder noch bis kurz vor der Kommunalwahl Mitte März als Landesvater bei Wahlkampfauftritten in der Menge. Zusätzlich sorgten dann auch noch die rückkehrenden Wintertouristen aus den alpinen Ballermann-Skiorten wie dem österreichischen Ischgl für eine starke Ausbreitung des Virus.
Die verantwortlichen Politiker haben bereits in diesen ersten Wochen der Pandemie versagt. Zur Erinnerung: Im Januar gab es die ersten nachgewiesenen Covid-19-Ansteckungen Deutschlands in Bayern. Und eigentlich konnte seitdem niemand mehr davon ausgehen, dass dieser neue Virus in einer globalisierten Welt ausgerechnet um Europa einen Bogen machen würde. Ob die westlichen Regierungen nur ignorant, vollkommen kopf-, plan- und strategielos, eurochauvinistisch, schlecht beraten oder einfach nur skrupellos waren, werden irgendwann wissenschaftliche Analysen und HistorikerInnen zu beantworten haben.
Was jedoch heute schon klar geworden ist: Der Kampf um die Nachfolge Merkels und die Konkurrenz zwischen den CDU- und CSU-Alphamännern hat seit März 2020 eine tödliche Dynamik entwickelt. Statt demütig um sinnvolle Konzepte zur Bekämpfung der Pandemie zu ringen, kostete das populistische Buhlen um Medienresonanz und Macht ganz real sehr viele Menschenleben. Er sei von »Ehrgeiz zerfressen«, sein Machstreben »pathologisch«, sagte Horst Seehofer bereits 2012 über den Mann, der ihn wenige Jahre später selbst stürzen sollte. Die Konkurrenz der Kandidaten verhinderte in vielen Bereichen eine sinnvolle Bekämpfung der Pandemie und vertuschte bzw. verdeckte die Bereicherung von CSU- und CDU-Politikern oder ihrer Angehörigen an der Preisspekulation für Schutzausrüstung sowie die Korruption bei der Maskenbeschaffung.
Was wir perspektivisch brauchen, sind große Proteste gegen die populistische Machtpolitik à la Söder und Co. von einem möglichst breiten Bündnis sozialer und emanzipativer Bewegungen. Und wir brauchen als ersten Schritt eine echte und umfassende bundesweite Mietpreisbremse, um die schlimmsten sozialen Folgen der Pandemie abzufedern. Nur der Druck einer breiten außerparlamentarischen Solidarität könnte auch den aktuellen grünen Machtopportunismus stoppen. Dann könnte es auch in diesem Land endlich eine Mehrheit für eine soziale und ökologische Alternative zum neoliberalen Kapitalismus und der drohenden Gefahr von rechts geben. Doch dafür müsste es endlich wieder um Inhalte gehen. Denn eine schwarz-grüne Koalition wird das Klima weiter zerstören und die soziale Ungerechtigkeit in diesem Land und weltweit weiter verschärfen. Wer es nicht glaubt, braucht nur nach Baden-Württemberg zu blicken.
Der erste Stream am 22. März 2020
Dann wurde in Bayern der Katastrophenfall ausgerufen und der erste Lockdown verhängt: In unserer Verzweiflung beschlossen wir, unser erstes Streaming-Konzert zu planen.
Mit Fany und Jo und mit Sarah Straub, einer jungen Künstlerin meines Labels »Sturm & Klang«, die gerade die großartige CDAlles das und mehr mit meinen Liedern aufgenommen hatte.
Für mich war so was ja völlig neu. Es war mir klar, dass für jüngere KünstlerInnen solche Streams fast schon selbstverständlich sind.
Ich aber hatte keine Ahnung davon. Zum Glück hatte ich in meinem Produzenten Flo Moser und meinem Toningenieur Stefan Gienger kompetente Partner, die das alles in Stefans »Mastermixstudio« organisieren und vorbereiten konnten. Und um das hier am Anfang des Buches gleich dankend in die Welt zu tragen: Ohne mein wunderbares Team in unserem Büro Wecker, Michaela Hammerström und Alexander Kinsky, wäre keines der Konzerte umsetzbar gewesen.
Ohne Alexander, dieses wandelnde Wecker- und Musiklexikon, wüsste ich gar nicht mehr wirklich, was ich in den letzten fünf Jahrzehnten so alles notiert und geschrieben, vertont und orchestriert habe, und ohne Michaela bräche einfach das ganze Büro – rein logistisch betrachtet – jeden Tag aufs Neue zusammen.
Und dann postete ich am 21. März auf Facebook und auf meiner Website:
Poesie in stürmischen Zeiten!
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
Johann Wolfgang von Goethe soll einmal gesagt haben: »Gedichte sind Küsse, die man der Welt gibt.«
Auch wir möchten in Zeiten, die eine körperliche Umarmung ausschließen, mit meinen Gedichten und unserer Musik die Menschen küssen.
So viele Konzerte mussten wir nun absagen und verschieben, und all jenen, die gerne zu uns gekommen wären, können wir nun online eine Freude bereiten.
Am Sonntag, den 22. März, könnt ihr kostenlos und live auf YouTube unser Trio-Konzert »Poesie in stürmischen Zeiten!« mit Fany Kammerlander und Johannes Barnikel sehen. Um 19 Uhr geht es los.
Wir freuen uns auf Euch.
PS: Im Studio werden sämtliche Hygienemaßnahmen entsprechend der Richtlinien des Robert Koch-Instituts eingehalten.
(Das mit den Hygienemaßnahmen war gar nicht so einfach. Wir waren ja alle noch so ungeübt. Nach einem Song ging Jo vom Keyboard zum Flügel und etwas zu nah an mir vorbei. Es kamen sofort einige bitterböse Kommentare.)
Am 22. März war es dann endlich so weit. Wir hielten Abstand und probten mit unseren Kameraleuten, ein großartiges Team, das Flo auf die Schnelle zusammentrommeln konnte. Dann machten wir unseren üblichen Soundcheck und sprachen noch ein paar Übergänge durch – so wie wir es eben immer auf der Bühne vor unseren Konzerten machen. Und dann der große Auftritt ohne Publikum. Ohne Publikum!
Kurz vor 19 Uhr war diese schöne Aufgeregtheit bei allen zu spüren, die zu einem Konzertabend eben dazugehört. Aber es fehlte das Rascheln und Raunen im Zuschauerraum. Das Hüsteln und Lachen und ja: die hörbare Vorfreude der Menschen im Saal. Und natürlich der Beifall!
Nach so vielen Jahrzehnten, so denkt man vielleicht, würde einem der Beifall zur Routine werden. Weit gefehlt. Gerade ganz am Anfang, zur Begrüßung, beflügelt einen das Klatschen und die Freude der Menschen unglaublich. Und es war sehr neu und hart für mich, bei meiner Begrüßung nicht in die erwartungsvollen Gesichter meines Publikums, sondern in eine Kamera zu blicken. Und ich war aufgeregter als bei all meinen Konzerten zuvor.
Eine interessante Erfahrung war für mich, dass das Fehlen des Publikums sich hauptsächlich zwischen den Liedern erschreckend bemerkbar machte. Beim Singen selbst und vor allem beim Musizieren mit meinen Freunden bin ich meist so tief in mir versunken, tief im Augenblick verwurzelt, dass ich manchmal auch früher auf der Bühne erst am Applaus merkte, dass da noch jemand da ist. Aber zwischen den Liedern, wenn ich gewohnt bin das Publikum anzusprechen, auch immer wieder zu improvisieren, fehlte es mir bei diesen Streams am meisten. Als Einführung in diesen Abend sagte ich meinem virtuellen Publikum:
Wie wär’s, wenn wir uns durch diese schmerzvolle Krise zu einem kollektiven Umdenken bewegen lassen?
Meinem Traum, meiner Utopie von einer herrschaftsfreien, liebevollen und solidarischen Welt bin ich vielleicht näher als jemals zuvor. Meinem Traum von einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und neoliberale Profiteure, ohne Waffenhändler, autoritäre Populisten und ohne all die Faschisten, Rassisten, Sexisten, Nationalisten und Kriegstreiber. Es reicht – endgültig!
Vielleicht erkennen erst jetzt viele Menschen diese neoliberale Diktatur, der sie jahrzehntelang aufgesessen sind?
Unsere ach so fürsorglichen Politiker haben über Jahrzehnte die Gesundheitssysteme zum Zwecke maximaler Profite kaputt privatisiert und vor allem haben sie keinen Plan zum Schutz aller Menschen für eine solche Krise vorbereitet; vielleicht einfach, weil sie daran nichts verdient hätten. Statt nach einem starken Führer zu schreien, sollten wir uns selbst an die Hand nehmen und aufpassen, dass wir nicht denen, die sich jetzt als Herren über jedes Gesetz aufspielen, in Zukunft vertrauen.
Für viele Herrschenden ist das, was zurzeit passiert, eben auch eine perfekte Übung für den dauerhaften Ausnahmezustand oder den Weg in eine Diktatur.
Und als alter Anarcho muss ich sagen: Meine persönliche Freiheit möchte ich mir selbst beschneiden und nicht von einem Herrn Söder oder Kurz oder Macron beschneiden lassen, den ich nie in meinem Leben gewählt hätte. Pfeifen wir auf das Patriarchat! Ja, um uns gegenseitig zu schützen, haben wir Konzerte, Partys und Versammlungen abgesagt (nicht wegen Söder). Und, wenn wir wieder können, werden wir uns umso kraftvoller wieder auf den Straßen versammeln, das Leben feiern und eine andere Gesellschaft durchsetzen. Und was passiert eigentlich jetzt mit den Ärmsten, den Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen, den Geflüchteten und den Obdachlosen? Bekommen die von den Regierenden jetzt eine totale Eingangssperre? Für sie sollten wir alle sofort unsere Stimmen erheben: Nein, jetzt müssen alle menschenunwürdigen Lager abgeschafft werden und die Menschen unsere Unterstützung und Solidarität spüren. Die Washington Post hat jüngst gewarnt, die Gesellschaft nicht zu erwürgen, während man versucht, sie zu retten. Retten wir die Gesellschaft mit Solidarität, Zärtlichkeit, Liebe und Poesie!
Diesen Einleitungstext habe ich nach langen und intensiven Gesprächen mit meinem Freund, dem Journalisten und Autor Michael Backmund geschrieben, Gespräche, für die ich ihm sehr dankbar bin.
Ich habe den Text unterlegt mit ein paar Klavierpassagen meines Willy-Songs. Und dachte damals noch nicht, dass ich daraus noch einen neuen Willy 2020 entstehen lassen würde.
Kultur der Repression oder gelebte Solidarität
Es war ein paar Tage nach unserem ersten Stream, als ich mit meinem Sohn Tamino einen Spaziergang machte. Wir setzten uns zum Ausruhen in Schwabing auf eine Bank und plauderten.