Popskins Mordfälle - Detlef Romey - E-Book

Popskins Mordfälle E-Book

Detlef Romey

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Beschreibung

Mr. Jonathan Popskin. Was für ein Name. Ein brandneuer Ermittler in der Welt der Verbrechen und derer gibt es viele, aber nur einen Mr. Popskin. Schrullig, schräg und sehr Gewissenhaft. Er ist Single. Liebt die Pfeife und Frank Sinatra, dessen Stimme er mühelos parodiert. Er ist ein pensionierter Pathologe! Ehemals arbeitete er an der Londoner Gerichtsmedizin. Seine Welt ist die Welt der Anatomie. Er wurde in Deutschland geboren und ist inzwischen britischer als ein Brite. Sein äußeres Merkmal ist ein Buckel und wenn dieser Buckel juckt ist ein Todesfall verdächtig. Popskin ist ein Meister seines Faches und der modernen Medien und sogar ein "Schüler" Leonardo da Vincis, der bei Sektionen immer wieder in die Renaissance eintaucht. Ein Geheimnis das sich für den Leser lüftet, nicht aber den Protagonisten seiner Fälle. Überhaupt liebt er Leonardo da Vinci, dieses begnadete Genie, vor allem aber ist er fasziniert von seinen anatomischen Zeichnungen. Selbst die Genies Alfred Hitchcock und Agatha Christie verdanken ihm ihr Leben! Einst begegneten sie sich im Hotel Savoy. In dieser Sammlung seiner Fälle wird das Geheimnis um ihre einzige Begegnung gelüftet. Mr. Popskin lebt in England, in der bezaubernden Grafschaft Kent, in dem kleinen Ort Headcorn. Ihm zur Seite stehen seine Nachbarin Mrs. Gloria Stuart und ihre Katze Miss Marple. Der dickliche Pfarrer Hatley, ein Whiskytrinker vor dem Herrn, der Frauenliebling Dr. Varish und die Bibliothekarin Mrs. Tippelborn, sowie der grantige Chiefinspektor Patterson aus Maidstone. Seine Fälle führen ihn aber auch hinaus in die weite Welt...

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Seitenzahl: 536

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Detlef Romey

Popskins Mordfälle

Neopubli Verlag

Autor Detlef Romey, Jahrgang 1962, veröffentlichte beim Engelsdorfer Verlag die Novelle „Der Schatten und der Esel“, den Roman „Taxi Thutmosis“ und die ungewöhnliche Biografie „Der Stuhl des Geheimrates Goethe“. 2016/2019 erschien die Biografie „Oskar Sima – König der Nebenrollen“. 2017 die Biografie „Musik oder ich scheiß in die Trommel - Tom Richter – Mensch, Musiker, Manager!“ Tom Richter war Manager des Schlagersängers Freddy Breck und Mitarbeiter des Komponisten Heinz Gietz. Es folgten der Roman „Kokosnusseis auf Tokelau“ und die Theaterstücke „Viel Lärm um Old Shatterhand“ und „Winnetou - Ein Friedensmonolog“. 2018 erschien die Biografie „Fischer, Käpt´n - Lotse. Ein Warnemünder Seemannsleben“ und 2019 die Novelle „Die Schöne und der Anarchist“, eine Geschichte um Lina Woiwode und Erich Mühsam und die rührselige Weihnachtsgeschichte „Die kleine Tanne“. 2020 „Der seltsame Leser“ und „Der gefallene Engel“, eine Biografie über Henny Porten.

Texte: © Copyright by Detlef Romey

Umschlaggestaltung: © Copyright by Reinhardt Trinkler

Lektorat Textegut.de/René Andrich

Verlag

Neopubli GmbH

Köpenicker Straße 154a

10997 Berlin

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der Berlin Neopubli GmbH

Für meinen Vater

„Wer die Gefahren fürchtet, der kommt durch sie nicht um.“

Leonardo da Vinci 1452-1519

Zimmer Nr. 6

Was haben Leonardo da Vinci, chirurgische Anatomie, ein juckender Buckel, ein Schüler da Vincis und das iPhone gemeinsam? Man könnte sagen, Jonathan Popskin. Ein 72-jähriger Mann. Schütteres Haar, kleiner Bauch und Liebhaber von Frank Sinatra. Ein Engländer mit deutschem Blut und ein Gerichtspathologe vor dem Herrn, doch damit würde man es sich zu einfach machen. Hinter diesen fünf Attributen da Vinci, Anatomie, Buckel, Schüler und iPhone, stehen die Renaissance, die holde Medizin, eine körperliche Behinderung und moderne Kommunikation.

Damit hat man die fünf Grundpfeiler seines Charakters. Leonardo da Vinci, jeder hat schon einmal von diesem göttlichen Genie gehört, dem es genauso gelang, Leichen zu sezieren wie die Mona Lisa zu malen, gehörte zu seinen Lieblingen. Er ließ Fluggeräte und Panzer konstruieren, bemalte Wände, Leinwände und stellt Historiker noch heute vor unlösbare Aufgaben. Als nächstes die chirurgische Anatomie und ein juckender Buckel. Chirurgische Anatomie und Leonardo da Vinci passen zueinander. Leonardo zerlegte Leichen. Jonathan Popskin tat dasselbe, sein Leben lag. Leonardo zeichnete alles, was ihm unter seine forschenden Augen kam. Jonathan Popskin zeichnete mit seinem Gehirn. Damit verschaffte er sich Respekt und Anerkennung, aber er galt auch bald als unnahbar, als Sonderling. Er selbst sah es anders. Von seinem fotografischen Gedächtnis profitierten schließlich nicht nur Scotland Yard, sondern auch Studenten rund um den Globus, denn er war in seiner aktiven Zeit ein gern gesehener Dozent an den renommiertesten Universitäten der Welt. Wer als Spinner durchgeht, hat es zu etwas gebracht, denn der Spinner spinnt sich seine Netze, in denen sich andere blind verfangen. Insofern lachte Jonathan Popskin über die Attribute, die man ihm hinter seinem Rücken gab. Dank sozialer und wissenschaftlicher Netzwerke im Internet war er sogar ein gefragter Blogger geworden.

Nun zu seinem juckenden Buckel, mit dem es eine besondere Bewandtnis hat. Ein Buckel ist erst einmal eine Wirbelsäulenverkrümmung des Rückens. Jonathan Popskin ignorierte diesen jedenfalls genauso wie die Jahreszeiten, denn diese verbrachte er meistens in der Gerichtsmedizin. Ein juckender Buckel ist indes für den „Buckligen”, wenn man das so sagen darf, eine Belastung. Nicht, weil er juckt. Auch ein Rücken kann jucken. Eine Kratzhilfe kann Linderung verschaffen, wenn die Nerven Tango tanzen. So der Tenor von Mr. Jonathan Popskin. Sein Buckel juckte jedoch nur, wenn Unheil drohte, heißt, eine Leiche auf dem Weg zu seinem Seziertisch war. Und dies wurde keine Belastung für ihn, sondern für sein Umfeld. Denn die juckend angekündigten Toten waren keines natürlichen Todes gestorben, sondern auf unnatürliche Weise ums Leben gekommen. Unnatürlich ging es auch bei seiner Arbeit zu, glaubt man den Studenten und seiner Nachbarin Gloria Stuart. War sein juckender Buckel ein erster Mordbeweis, so versank er kurz vor der Sektion in eine Art Trance, die mehrere Minuten andauern konnte. In diesem schläfrigen Zustand befand er sich in der italienischen Renaissance, in irgendeinem Gewölbe, vor einer offenen Leiche und mutierte zum Schüler von Meister Leonardo. Wäre er mit diesen Erlebnissen an die Öffentlichkeit gegangen, würde er nach seinem Tod wahrscheinlich ein begehrtes Objekt für Gehirnchirurgen sein: „Ist Mona Lisa Popskins Gehirn?”

So oder ähnlich könnte man sich die Schlagzeilen der „Sun” oder des „Daily Mirror” vorstellen. Arbeitspsychologen würden dies vielleicht seiner Arbeit zuschreiben. Wahnhaftes Verhalten. Denn wer Hunderte von Leichen geöffnet hatte, der musste einfach verrückt werden. Professoren und Studenten nahmen an, dass er sich nur auf besondere Weise konzentrierte. Seiner Nachbarin sagte er: „Ja, ich tauche in die Zeit der Renaissance ein, und da Vincis Anweisungen stammen sehr real aus der Vergangenheit, doch die Leiche, an der ich heimlich schnippele, stammt aus der Gegenwart. So muss ich bei meiner Arbeit sehen, welchen Weg ich einzuschlagen habe, um Scotland Yard Beweise zu liefern, um einen Täter zu überführen.”

Sein iPhone, sein fünftes Attribut, handhabte Popskin so, wie sein Seziermesser, und es war seine Nabelschnur in die Welt der Medizin. Er lehrte sogar seine begriffsstutzige Nachbarin die Benutzung. Und das will etwas heißen. Dabei half wohl ihre spät anwachsende Liebe zueinander, die vor gut zehn Jahren begann. Liebe lässt ja manches Wunder geschehen. Gloria Stuart sagte einmal zu ihm: „Das muss ja lustig sein, Jonathan, wenn du die Queen obduzieren musst, und sie liegt in Mailand unter den Augen deines bärtigen Kunstfürsten.”

„Na ja, Mrs. Stuart, sie wird es nicht merken. Sie ist tot und ist im London des 21. Jahrhunderts. Übrigens hatte ich Queen Mum schon unter meinen Fingern, aber es war nur eine Routineobduktion. Es hätte ja sein können, dass sie durch ein Glas Gin vergiftet worden ist.” Mrs. Stuart schenkte der Anekdote keinen Glauben und erwiderte frotzelnd: „Mit über Hundert wird doch keiner mehr vergiftet, da tritt der Tod doch durch eine offene Tür.”

„Oh, Mrs. Stuart, wenn ein gieriger Erbe an Geld kommen will, dann vergiftet er ein neugeborenes Baby oder einen Hundertjährigen.”

Jonathan Popskin wollte von London wegziehen. Er hatte schlichtweg die Nase voll von der Leitung der Londoner Gerichtsmedizin und von Scotland Yard. Alle hielten ihm die Altersgrenzen vor Augen, „als ob eine Leiche eine Altersgrenze habe”, gab er übellaunig zurück. Am liebsten hätte er die Statuten und Gesetze seziert und ihre Lungen dahin gelegt, wo sich der Darm befand, und ihre Augen in den Anus. Er musste in Pension gehen. Vielmehr, er wurde gegangen. Das Alter, so hieß es allerorts. In die Grafschaft Kent. Eine reizvoll hügelige Landschaft vor den Toren Londons.

Seit gut einem Monat bewohnte er das „King Street Hotel" in Maidstone, sehr zum Missfallen des Personals, doch Popskin zahlte gutes Trinkgeld, war gepflegt und nicht laut. Alles andere mussten die Bediensteten des Hotels mit Geduld ertragen. Zum anderen gehörte, dass er gelegentlich zu singen pflegte. Er hasste Hotels seit seiner frühen Kindheit. Mr. Popskin blieb auch nichts anderes übrig, als zunächst im Hotel zu wohnen, denn er hatte noch längst nicht das geeignete Haus in Maidstone gefunden. Vor zwei Wochen ging er in die verdiente Pension, wie man ihm feierlich versicherte. Er selbst sah dies ganz anders. Solange man ruhige Finger hätte und einen unruhigen Geist besitze, müsse man nicht aufs Altenteil. In seinem Zimmer stapelten sich Bücher und zig Berge von Zeitungen. Bücher zu kaufen war eine Marotte, auch wenn er die meisten davon nur anlas. An den vier Hotelzimmerwänden vertauschte er die Hotelbilder mit fünf seiner anatomischen Studien von Leonardo da Vinci. Mittendrin im Gewühl des Hotelzimmers lag ein Laptop. Ohne ihn ging nichts, wie auch das iPhone zu seiner ständigen Verfügung stehen musste. Sein Hausrat aus seinem Haus in London war indes bei einer Umzugsfirma geparkt, und es kostete ihn jeden Tag einige Pfund mehr, wenn er kein Haus finden würde. London war ihm im Lauf der Jahre zuwider geworden, er wollte zurück aufs Land. In eine Gegend, die ihn an seine Kindheit erinnern würde, und die Grafschaft Kent verfügte über diese Vorzüge.

Er hatte an diesem Morgen bereits gefrühstückt und wollte, dass abgeräumt würde, deshalb klingelte er nach dem Zimmerservice. Ein kurzes Klopfen, „Herein”, und übermütig stürzte ein junger Angestellter an den Tisch und schaute just auf großformatige Bilder, auf denen sezierte Leichen zu sehen waren. Ein geöffneter Brustkorb und daneben eine übergroße Leber sowie ihm unbekannte Organe. Vor Schreck stieß er an den ovalen Tisch. Eine Kaffeekanne fiel dabei um, und deren Inhalt ergoss sich über eine offene Zeitung. Die Buchstaben eines Hausinserats begannen sich dabei langsam aufzulösen. „Wunderbar, junger Mann! Vielleicht suchen Sie mir jetzt ein möglichst kleines Anwesen und ganz ohne Kaffeespuren im Wohnzimmer”, befahl er dem jungen Mann, dessen Augen immer noch auf den Fotos klebten.

„Das sind Tote, mein Freund. Aufgeschnitten, um herauszufinden, warum man sie um ihre Zukunft brachte. Damit Sie im Bilde sind, im Falle Ihres Todes könnte es passieren, dass ich Ihr Hirn herausnehme”, und Mr. Popskin machte verbale Handverrenkungen, „um zu untersuchen, warum Sie wie eine Pistolenkugel hereingeschossen sind und meine mühsam gesuchten Inserate ermorden.”

Der hochrot gewordene Angestellte wischte alles trocken und tupfte auch vorsichtig auf der Zeitung herum, aber es nützte partout nichts. Je mehr er darauf herumrieb, desto unleserlicher wurde die Annonce. Popskin knurrte, und der Hoteldiener machte inzwischen einer Tomate im Aussehen Konkurrenz. Unterhalb des roten Kopfes war er dürr, und er ging etwas tapsig, was Popskin mit einer Gleichgültigkeit seines Körpers gleichsetzte. Mr. Popskin stolzierte derweil wütend auf und ab und drehte sich währenddessen mehrmals um die eigene Achse. Dabei verfluchte er die Hotelangestellten der britischen Inseln und obendrein Scotland Yard. Er ärgerte sich aber auch über sich selbst, weil er in London sein Haus zu früh gekündigt hatte. Vor lauter Arbeit in der Pathologie hatte er, vergessen sich rechtzeitig um eine neue Unterkunft in Maidstone zu kümmern.

„Warum um alles in der Welt verfluchen Sie unsere Polizei, Mr. Popskin?”

„Weil sie öfter genauso viele Spuren verwischt wie sie welche findet und weil, ach vergessen Sie es. Nehmen Sie nicht ernst, was ich gerade gesagt habe”. Dann schritt er auf den Mann zu: „Zeigen Sie mir, dass Sie mehr taugen als unsere englische Polizei. Mehr als ein Hoteldiener. Finden Sie hier in Maidstone ein Haus für mich. Ein gemütliches Cottage. Der Preis ist nicht relevant. Wie lange arbeiten Sie schon hier?”

„Fünf Jahre, Sir”.

„Gut, mein Lieber, fünf Jahre befähigen Sie zur Suche.”

Dann bat der Hoteldiener Popskin, ihn zu begleiten und führte ihn zum Zimmer 6. Popskin vergaß dabei, sein Zimmer zu schließen, so überrascht war er von der Aktion. Überhaupt hatte der junge Mann ein unbändiges Temperament.

„Seit gestern wohnt hier ein hiesiger Immobilienmakler”, sagte er überhitzt zu ihm und Popskin freute sich über diesen Zufall und hoffte insgeheim, dass er ihm weiterhelfen könnte. Er selber kenne ihn nicht, sagte der Hoteldiener, dafür aber Hoteldirektor Richard Clifton. 1997 hätte ihm dieser Makler das jetzige Hotel verkauft, soviel wusste er, und dass es einmal ein ehemaliges Pfarrhaus und Wasserratten-Büro gewesen war.

„So, so, ein gesegnetes Rattenheim also.” Mr. Popskin klopfte, klopfte mehrmals und wippte dabei nervös auf und ab. Kein Geräusch. „Wie heißt der Makler seiner Majestät?”

„Mr. Fitzgerald. Roger Fitzgerald.”

Mr. Popskins Klopfen ging ins Pochen über. Popskin fragte, ob Mr. Fitzgerald vielleicht schon das Hotel verlassen haben könnte. Beide standen etwas ratlos herum, bis der Hoteldiener Mr. Popskin auf etwas aufmerksam machte: „Sir, haben Sie vielleicht ein Problem mit Ihrem Buckel, er zuckt so seltsam?”

„Er juckt. Und immer, wenn mein Buckel juckt, dann ist etwas nicht in Ordnung.” Das war das erste Geheimnis von Jonathan Popskin. Immer wenn sein Buckel juckte, begann eine unheilvolle Geschichte.

Der Hoteldiener wurde sichtlich nervös. „Habe ich etwas falsch gemacht?”

„Nein, Sie nicht, junger Mann!”

Was tun? Vielleicht hat dieser Mann nur einen gesunden Schlaf, oder er hat das Zimmer sehr früh verlassen. Aber das kann nicht sein. Nein, nur die Dame aus Zimmer 12 und Dr. Karl aus Zimmer 25 haben das Hotel verlassen“, sagte der Hoteldiener, gab aber dem Drängen von Popskin nach, schloss das Zimmer endlich auf und öffnete langsam die Tür.

„Wie heißen Sie überhaupt?”, fragte Popskin ihn.

„Fraser, Mortimer Fraser”, und betraten das Zimmer. Beiden stockte sogleich der Atem.

„Hören Sie zu, junger Freund, was dort liegt, ist in diesem Fall kein Foto. Wie gut, dass Sie sich bereits in meinem Zimmer auf diesen grausigen Anblick vorbereiten konnten.”

Quer über dem Bett lag eine Leiche, nackt, bis auf ein paar kurze Shorts. Beide Pulsadern waren aufgeschnitten. Eine Blutlache ergoss sich neben dem Bett, eine andere hatte das Kopfkissen getränkt. Popskins Blut kam in Wallung. Zwei Wochen hing er hier schon im Hotel herum, las Zeitungen und überarbeitete seine Homepage. Unterhielt sich im Chat über zurückliegende Fälle. Beantwortete zig Mails aus der ganzen Welt. Studenten und ehemalige Kollegen wussten sich bei ihm einen Rat zu holen, aber das war Popskin zu wenig. Dies allein konnte doch nicht der ganze Alltag sein. Warum gehört man zum alten Eisen, wenn das Eisen noch glüht, sagte er sich fast jeden Tag und gab die Hoffnung nicht auf, dass sein altes Eisen noch genügend Magnetismus hatte, um den einen oder anderen Fall doch noch zu bearbeiten. Ehrenhalber. Und nun kam die erste Gelegenheit. Nach kaum zwei Wochen. Der liebe Gott schien es gut mit ihm zu meinen. Eine Aufgabe, um sein detektivisches Gespür erneut unter Beweis zu stellen.

Für New Scotland Yard war er früher eine lästige, aber notwendige Nervensäge. Doch diese unbequeme „Säge” zersägte schon manchen sicher geglaubten Fall. Schon als Gerichtspathologe und Forensiker beim Yard in London schoss er ständig quer und sezierte in die richtige Richtung. Wo niemand mehr glaubte, nach einem Beweis Ausschau halten zu müssen, da fand Popskin eine letzte Spur, jedoch erst nach gründlichem Nachdenken und Besuchen des Tatorts. Gespräche mit dem Täter und den Angehörigen der Opfer gehörten dazu, rundeten sein Bild ab. In jedem seiner Finger steckt ein Meisterhirn, so eine Aussage der Zeitung „The Sun”, die ihm unendlich viele Artikel widmete. Er quittierte solche mit einem Lächeln. Und Scotland Yard lächelte auch, allerdings nach innen. Popskin freute sich darüber. Er konnte die Artikel alle für seine Homepage verwenden. Und es erhöhte seine Honorare für Vorlesungen.

„Mr. Popskin, das ist eindeutig ein Selbstmord”, stotterte Mortimer Fraser, der nun weniger enthusiastisch schien.

„Seien Sie nicht so voreilig.”

„Aber jeder weiß doch, dass aufgeschnittene Pulsadern …”,

„Ich kann schon von hier erkennen, dass es sich um keinen Selbstmord handelt. Gehen Sie und verständigen Sie sofort die Polizei.”

Nun begann Popskin mit seinen Ermittlungen. Und zwar zunächst einmal damit, dass er seinen Buckel am Türrahmen kratzt, um dann sogleich das ganze Zimmer zu durchsuchen. Das Jucken war ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmen konnte. Er bewegte sich gezielt durch jeden Winkel, zog an jeder Schublade, und seine Augen schienen unabhängig voneinander zu schauen. Sie drehten jedes Staubkorn dreimal um und informierten seinen Denkapparat schneller, als eine Fliege Rettung vor einer Klatsche fand.

Es handelte sich wirklich um den Makler Roger Fitzgerald. „Da steht eine Adresse: Headcorn, Hauptstraße 88, und dort ein Bild, seine Frau?” Mr. Popskin beugte sich über das breite Bett. Er besah sich das kantige Gesicht des Toten und öffnete dessen Mund, um sich die Zähne anzusehen. Und schon überfiel in sein zweites Geheimnis, denn er geriet in eine Art Trance. Er schloss die Augen und befand sich in einem kalten und schwach beleuchteten Gewölbe, in Mailand, um 1509. Wasser tropfte von den Decken, und vor ihm lag die Leiche eines kräftigen Mannes, der nur mit einem Hemd und einer Leinenhose bekleidet war. Die Leiche hatte ihn fünf Fiorini gekostet, und er fragte, ob er die Hose behalten könne.

„Meinetwegen, aber nun zieht ihm die Kleidung aus, mein Schüler”, sagte Meister Leonardo.

„Ja, aber seht nur Meister, ist der Mund aufgegangen?”

„Nur zu, mein Schüler, uns interessiert nicht der Mund, sondern das, was sich in ihm verbirgt, mein Schüler”, sagte Meister Leonardo und forderte ihn auf, sich zu beeilen, denn die Zeit drängte. Die Kirchenoberen in Zeiten der Inquisition, der Papst, verteufelten die Vorgehensweise dieser Menschenaufschneider. Noch war aber nicht alles gezeichnet, was der Organismus hergab. Und oberhalb des Gewölbes konnte die Kirche sie in die ewige Verdammnis schicken.

Urplötzlich war Popskin wieder im hell erleuchteten Zimmer 6. Er sann einen Moment nach, dachte an die Leiche im Gewölbe und untersuchte dann die Leiche vor ihm mit argwöhnischen Augen. Zwei Stunden musste der Mann bereits tot sein. Augen, Hautfarbe und Geruch ließen jedenfalls darauf schließen. Ein winziger roter Fussel am Mundwinkel irritierte ihn. Fussel war noch übertrieben, und Popskin lächelte darüber, dass er noch keine Brille brauchte, im Gegensatz zu jüngeren Kollegen. Dieser kleine Fussel war für Maidstones eloquenten Chiefinspektor, wie sich später herausstellen sollte, nicht von Bedeutung. Ein Fussel sei ein Fussel und davon wäre das ganze Bett voll, wie auch der Fußboden und überhaupt, die Spurensicherung würde entscheiden, ob es ein Beweisstück war oder nicht. Popskin verließ das Hotel vor Eintreffen der Polizei und ließ den geschockten Hoteldirektor die Leiche bewachen, während Mortimer die Presse davon abhielt, das Hotel unter Beschlag zu nehmen. Diese verhielt sich wie immer, wenn sie nichts wusste. Sie spekulierte. Popskin selbst orderte über sein iPhone ein Taxi, das ihn hinaus nach Headcorn bringen sollte, einem kleinen Ort weit außerhalb von Maidstone gelegen. „Immer ein Schritt vor der Polizei.” Nach dieser Devise handelte Popskin - und auch immer einen Schritt vor jeder Obduktion. Er wollte nicht jede Leiche unnötig verschnippeln. Auch eine Leiche hatte noch eine Privatsphäre, wie er jedem seiner Studenten eintrichterte. Deshalb erst überlegen, dann schneiden. Und außerdem gaben ihm mögliche Tatorte mitunter noch mehr Hinweise als eine verstopfte Arterie oder ein unbekanntes Gift.

Eine Weile später stand er vor einem hübschen Cottage in der Hauptstraße 88. Headcorn machte einen ganz reizvollen Eindruck auf ihn. Mr. Popskin wusste, dass die Grafschaft Kent nette Ecken hatte, aber dieses alte Cottage sagte ihm besonders zu. Klassisch und nicht zu groß, und vor allem bei diesem sonnigen Wetter leuchtete es wie eine Perle aus den anderen Häusern heraus. Besonders der Stein sagte ihm zu. Schade, dass die schönsten Sachen vergeben sind, und nur der Traum auf ein solches Wohnen blieb. Er öffnete seinen Dufflecoat und einen Kragenknopf, rückte seine Hosenträger zurecht und atmete tief durch.

Er schritt langsam durch einen blumenreichen Steingarten und grüßte einen aufgeschreckten Vogel. „Na, was will mir dein Schnabel denn Wichtiges zwitschern?”

Trotz mehrfachen Klingelns öffnete niemand, deshalb schlich Popskin um das Cottage herum und schaute durch eine schmale Terrassentür. Sie war nur angelehnt. Mit Bedacht betrat er ein gemütlich eingerichtetes Zimmer. Er sah eine fast leere Bücherwand, einen Kamin und durch die Tür auf eine Treppe, die wohl in die obere Etage führen musste. Der Holzfußboden knarrte. Auf dem Tisch lag frisch geschnittenes Obst. Es roch teilweise frisch, der andere Geruch, der ihm in die Nase stieg, brachte seinen Buckel zum Jucken.

Ein süßer Geruch und ihm nur allzu bekannt. „Wie kommen Sie eigentlich dazu, in das Haus einzudringen, Mr. Popskin?”, polterte ihm der Chiefinspektor Patterson einige Zeit später jähzornig entgegen.

„Der Wink mit dem Zaunpfahl. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Das alles macht Mrs. Patsy Parker nicht wieder lebendig”, sagte Mr. Popskin gelassen und drehte sich dabei tänzelnd um sich selbst.

„Chiefinspektor Bradley von New Scotland Yard hat mir viel von Ihnen erzählt. Ihre erfolgreiche Karriere, etwas über zurückliegende Fälle, die Sie noch aufgeklärt haben und dass Sie nicht von der langen Denke sind.”

„Na, wunderbar”, unterbrach ihn Jonathan Popskin, „dann lassen wir das Gerede, stellen ein paar Schlussfolgerungen und vergessen meine Arbeit von früher.”

Für Chiefinspektor Patterson stand unwiderruflich fest, dass Mr. Fitzgerald seine Freundin Patsy Parker erstochen hat und anschließend im Hotel King Street Selbstmord begangen hatte. Zum Teil gab ihm Popskin Recht, doch für ihn war dieser Mr. Fitzgerald ebenfalls ermordet worden. Erstickt. Anschließend hatte man ihm die Pulsadern aufgeschnitten, denn die Blutlache neben dem Bett war nicht besonders groß, „was darauf schließen lässt, dass sein Herz nicht schlug, als man die Pulsadern öffnete.” Doch so sehr sich Mr. Popskin ereiferte, der Fall war für den ellenlangen und griesgrämigen Chiefinspektor Patterson abgeschlossen. Sein Anzug war genauso eng wie sein Denken.

„Eitler Schnösel”, giftete Popskin unmerklich und machte sich auf den Heimweg nach Maidstone.

Er fuhr mit der Bahn und beantwortete auf seinem iPhone drei eingegangene E-Mails. Eine aus Berlin und zwei aus Cambridge. Ein Student aus Berlin hatte eine Frage zu Lymphgefäßen, während zwei alte Kollegen aus Cambridge ihn zu einer Vorlesung einladen wollten. Sein alter Buckel begann indes zu jucken. Das hieß, er hatte eine Ahnung, und der galt es zügig nachzugehen. Zurück im Hotelzimmer setzte er sich an seinen Laptop und surfte einige Stunden im Internet nach Informationen über den Immobilienmakler. Welche Häuser er wo verkaufte, ersteigerte und was aus den Besitzern geworden war. Es waren, wie er vermutet hatte, alles alleinstehende Frauen ohne Angehörige. Popskin telefonierte ein paar Tage umher, mit Behörden und Polizei und - richtig.

Keine der Frauen war mehr am Leben. Zwei waren ermordet worden, ohne dass der oder die Täter ausfindig gemacht werden konnten. Keine Fingerabdrücke und DNS-Spuren an den Tatorten. Popskin rief befreundete Mitarbeiter von Scotland Yard an und die versicherten ihm, dass es keine Hinweise auf einen bekannten Verbrecher gebe. Und bei fünf weiteren toten Frauen konnten außergewöhnliche Todesursachen ausgeschlossen werden. Alle Fälle wurden zu den Akten gelegt und verschwanden letztlich im Archiv.

„Hm, vermutlich Gift und Pathologen, die die Universität zu früh verlassen haben, um diese oder vielleicht eine andere Todesursache herauszufinden.”

Interessant war die vorletzte Frau. Helen Fraser. Auch sie wurde erstochen. Und sie hatte ein Geheimnis. Helen Fraser hatte einen unehelichen Sohn. Popskin telefonierte überall in Ashford nach dem Wohnort von Mrs. Fraser. Er fand ihn schließlich bei Facebook, wo sie sich vor längerer Zeit eingetragen hatte. Auch eine Freundin von ihr hatte sich dort registriert, und Popskin fand ihre Adresse heraus. Für ihn war Facebook eine wahre Fundgrube. Der Staat und Scotland Yard ersparten sich bei diesen Kontaktbörsen aufwendige Ermittlungen, weil dort so viele so viel von sich privat preisgaben. Jack the Ripper wäre begeistert gewesen über diese Möglichkeit, an Opfer heranzukommen.

„Sie hatte ihren Sohn vor allen Menschen verschwiegen, weil sein Vater ein lausiger Drecksack war”, sagte ihm diese Freundin.

„Wissen Sie, wie er heißt?”, fragte Mr. Popskin. Die Antwort reichte ihm. Am frühen Morgen rief er Chiefinspektor Patterson an. Es wurde ein langes Gespräch. Dann verlangte er an der Rezeption nach Mortimer Fraser.

„Ein Frühstück, Sir, Mr. Popskin?”, fragte Mortimer.

„Später, zunächst wünsche ich mir die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Ich weiß nun, was für ein übler Zeitgenosse dieser Fitzgerald war. Seine Freundin Patsy Parker ist tot. Erstochen. Kein schöner Anblick, sage ich Ihnen. Er lernte seine weiblichen Opfer übrigens beim Hauskauf kennen und machte seine Verträge, und bevor er die ahnungslosen Damen auszahlte, starben diese durch seine Hand. Auch Ihre Mutter, Helen Fraser. Insofern haben Sie zwar den Richtigen erwischt, doch warum mit einem Mord, wie unschön, Mortimer?”

Dessen Gesicht wurde steinern und bleich. „Wie kommen Sie auf mich? Sind Sie etwa ein ehemaliger Polizist?”

Mr. Popskin drehte eine Pirouette. „Um der Königin willen, nein! Pathologe. Junger Freund, monatelang waren Sie hier die Stille in Person. Kein Windzug konnte Ihnen etwas anhaben, doch heute waren Sie anders. Als wir das Zimmer 6 dann betraten, wirkten Sie plötzlich noch gehetzter und gleichsam angespannt. Und Ihre Pupillen veränderten sich beim Anblick des Toten.”

„Das ist wohl bei vielen so?”

„Bestimmt sogar, aber Sie mussten erfahren haben, was dieser miese Makler getan hat, und haben sich gerächt, und das ist nicht bei vielen so. Sie haben ihn mit dem roten gehäkelten Zierkissen erstickt und danach täuschten Sie einfach mit einem Schnitt durch die Pulsadern einen Selbstmord vor. Woher wussten Sie, dass dieser Miethai Ihre Mutter ermordete?”

Mortimer Fraser tat total unschuldig und stürzte dann unerwartet auf Popskin zu, zog im selben Augenblick ein Messer und war im Begriff, Popskin niederzustechen. Popskin wehrte den blitzschnellen Angriff geschickt mit drei Karateschlägen ab, die er noch in petto hatte. Mortimer Fraser fand sich unerwartet auf dem Boden wieder, und über ihm kniete Popskin. Eine Weile geschah nichts, außer dass Mortimer Fraser wütend keuchte, bis Popskin einen Arm freigab. Fraser griff zitternd in seine Hosentasche und reichte Mr. Popskin einen Zettel. Auf ihm standen die Namen der toten Frauen. Durchgestrichen und dahinter stand „erledigt”.

„Ich fand ihn rein zufällig. Ich räumte das Frühstücksgeschirr ab, und der Zettel lag auf dem Nachttisch. Er steckte zwischen Briefen, Ansichtskarten und anderen Zetteln. Der miese Typ konnte ja leider nicht ahnen, dass diese Mrs. Fraser einen Sohn hat und dass dieser genau hier arbeitet. Göttliche Fügung würde ich sagen, Bingo.”

„Teuflische Fügung wäre treffender, denn Gott richtet nicht, nur der Teufel richtet, Gott spricht nur Recht”, sagte Popskin gelassen, der jetzt ebenfalls in seine Hose griff, sein iPhone herausholte und Chiefinspektor Patterson anrief. Dieser kam ziemlich eilig angerast und hörte sich nochmals alles zähneknirschend an und führte dann Mr. Fraser ab.

„Ich warne Sie, Mr. Popskin, Maidstone ist nicht London.”

„Stimmt, London ist unfreundlich, ruppig, rücksichtslos, dreckig, grau, mit verstopften Straßen, rechthaberisch, und mir tun die Londoner leid, die in Maidstone nicht leben können.”

Chiefinspektor Patterson musste sich zurückhalten: „Trotzdem danke.”

„Wie ich hörte, hat das Opfer, diese Patsy Melone, keine Verwandten, da wäre das kleine Cottage doch eventuell zu kaufen, oder? Headcorn scheint mir ein kleiner, ruhiger Ort, fern von allem Übel. Könnten Sie mir da behilflich sein, Chiefinspektor?”

Dieser nickte verdutzt. Er wollte diesen pensionierten Pathologen nicht unbedingt in seiner Nähe wissen, auch wenn er nicht schlecht staunte, als er Popskin da über Fraser knien sah, wie ein 72-Jähriger es einem 33-JährigeN gezeigt hatte. Er hatte nicht nur pathologische und detektivische Fähigkeiten, sondern konnte auch körperlichen Einsatz zeigen, trotz des Buckels. Popskin rief seine Umzugsfirma an, und zwei Wochen später zog Jonathan Popskin in das alte Cottage in Headcorn, mit Tausenden Büchern, Antiquitäten, Hunderten Anatomiestudien von Leonardo da Vinci und einem Klavier. Die Nachbarin, Mrs. Gloria Stuart, beobachtete den Einzug mit trügerischen Blicken. „Wenn ich den Tratsch richtig einschätze, ist mein langweiliges Leben hiermit zu Ende.”

Spät in der Nacht hörte sie aus dem Cottage einen Song von Frank Sinatra, mit Klavierbegleitung, und sie war sich nicht sicher, ob der neue Mieter sang oder seine Musikanlage nur gut klingen würde. Ihrer Katze gefiel es scheinbar, denn sie miaute …

Ein gut angewendetes Leben ist lang.

Leonardo da Vinci 1452-1519

Die mörderische Speisekarte

Die Frühlingssonne ließ den Vorgarten von Jonathan Popskins Anwesen langsam erwachen, wenn auch einige dunkle Wolken über die Grafschaft Kent zogen. Sein urgemütliches Cottage hatte eben gerade eine mörderische Putzaktion hinter sich, was dem zweiundsiebzigjährigen Pensionär nicht leichtgefallen war. In der kleinen Gemeinde Headcorn hatte sich der schrullige ältere Herr mit dem Buckel gut eingelebt.

„Es gibt eine Menge sonderbarer Dorfgeister hier“, versicherte Mrs. Tippelborn jedem, „und schauen Sie diesen Buckligen nicht zu lange an. Seine Blicke stöbern immer in Sachen herum, die ihn nichts angehen.“ Sie führte die Bibliothek in Headcorn, als ob alle Bücher ihr gehörten. Es wurmte sie zutiefst, dass Popskin scheinbar alle Bücher zu kennen schien. Jeder Besuch ließ die beiden aneinandergeraten.

„Guten Morgen, Mrs. Tippelborn! Kaum tauchen Sie auf, zeigt sich die Sonne“, sagte Mr. Popskin laut.

Sie trat unbeeindruckt und hocherhobenen Hauptes in ihr Fahrradpedal und fuhr eilig an dem hübschen Cottage vorbei.

Seltsam, dachte er, warum beginnt mein Buckel zu jucken? Immer wenn der juckt, liegt etwas Unheilvolles in der Luft. Kaum hatte er zu Ende gedacht, hörte er einen Aufschrei. Mrs. Tippelborn war gegen ein Werbeschild gefahren und gestürzt.

„Möchten Sie Tee?“ Mr. Popskin kümmerte sich in seinem Wohnzimmer rührend um „das alte Biest“, wie er sie nannte, und verarztete sie, soweit es ihm möglich war.

Währenddessen nutze Mrs. Tippelborn die Zeit für ein paar neugierige Fragen. Als Mr. Popskin erzählte, dass er früher in London im St. Mary Hospital als Pathologe gearbeitet hatte, erstarb ihre Neugierde plötzlich. „Lassen Sie es gut sein. Kümmern Sie sich doch lieber um die Innereien unseres Bankangestellten Jeffrey Corner. Er hat ständig Magenbeschwerden. Schon sein Vorgänger, der leider nicht mehr unter uns weilt, hatte Magenbeschwerden. Mr. Hunter starb im letzten Jahr. Nun, mit einundsechzig zu jung, wie ich finde. Wie alt sind Sie, Mr. Popskin?“

Er erhob sich und tänzelte durch das Wohnzimmer. „Jonathan, Mrs. Tippelborn, Jonathan, nach drei aufgelegten Pflastern und einem vorzüglichen Tee sollten wir uns duzen, oder?“, und er lehnte sich grinsend an den Kamin. „Und Ihr Mr. Hunter sollte sich doch lieber an Dr. Varish wenden. Ich selbst würde mich lieber nach seinem Ableben über ihn hermachen. Ich betreibe nämlich hier in meinem Keller eine kleine Privatpathologie. Ich kann es einfach nicht lassen mit dem Sezieren. Im Moment liegt unten der aufgeschlitzte alte Schäferhund von Mr. Brown.“

Daraufhin verließ Mrs. Tippelborn fluchtartig das Cottage. Jonathan Popskin ging wieder in den Garten, genoss die frische Luft. Am Abend backte er sich einen Topfkuchen und sah fern. Im Bett las er seinen ersten Harry-Potter-Roman „Der Feuerkelch“. Die Wochen vergingen wie im Flug und er überlegte, ob er nicht eine regelmäßige Teestunde ins Leben rufen sollte. Jeden Freitag. Genug Leute waren ihm inzwischen bekannt. Sie würden sich gewiss darüber freuen. Er stellte eine Liste zusammen und entschied sich für Dr. Varish und seine Nachbarin Mrs. Gloria Stuart, Pfarrer Hatley und Mrs. Tippelborn. Trotz ihres ewigen Zwistes genoss er ihre Nähe. Und da er einen Kredit bräuchte, sollte auch Mr. Hunter dabei sein. Er schrieb Einladungen für den übernächsten Freitag. Da Headcorn nicht groß war, überbrachte er sie alle persönlich. Er verriet niemandem, wer alles dabei sein sollte, denn Mr. Popskin mochte es, sich und andere zu überraschen. In diesen Momenten entdeckte er immer viel über den Charakter. Falls die Runde nicht passte, dann würde ein anderer eingeladen werden. Chiefinspektor Patterson aus Maidstone, zum Beispiel. „Der wäre mit Sicherheit der Letzte, der mich sehen will.“

Als er in die Bank kam, verlangte er nach Mr. Corner.

„Es tut mir Leid, aber Mr. Corner..., ähm, Jeffrey ist ähh, vorgestern gestorben.“ Die Sekretärin brach in Tränen aus.

Mr. Popskin erinnerte sich an die Worte von Mrs. Tippelborne, seine Innereien seien krank gewesen, und fragte, woran ihr Kollege gestorben sei.

„Irgendwas mit dem Magen“ berichtete ihm die aufgelöste junge Dame. Jonathan Popskins Buckeljucken vor dem Sturz von Mrs. Tippelborn schien ihm nun nicht mehr unbegründet. Sogleich machte er sich auf den Weg zu Dr. Varish und fragte ihn allen Ernstes, ob er Mr. Corner bei ihm sezieren dürfte. Der Arzt hatte schon eine Menge erlebt, aber dies schlug dem Fass den Boden raus. „Pathologe hin oder her. Das darf nur die Gerichtsmedizin und nicht du, nur weil dein Buckel juckt. Pfarrer Hatley wird die Leiche deswegen kaum herausrücken.“

„Peter, woran starb Mr. Corners Vorgänger?“, forderte Mr. Popskin Dr. Varish heraus, „Scotland Yard ist überbeschäftigt mit Terrorverdächtigen und schiebt alles nur auf die lange Bank. Wer weiß, ob der Nachfolger von Jeffrey Corner nicht auch bereits in Gefahr ist?“

Doch Dr. Peter Varish berief sich natürlich auf die Schweigepflicht.

„Okay, Peter, du brauchst nichts zu sagen. Nicke, wenn ich Recht habe. Hatte er ebenfalls was mit dem Magen?“

Dr. Varish bejahte nickend. Nun überzeugten sie zusammen Pfarrer Hatley. Der stimmte der Obduktion mit Vergnügen zu.

„Endlich passiert was in diesem Nest.“

Dr. Varish und Mr. Popskin beschäftigten sich fachmännisch mit Mr. Corner und sezierten den Magen. Kurz vor dem Sezieren fiel Popskin in Trance, was Dr. Varish irritierte. Popskin war in der Renaissance gelandet, als Schüler von Leonardo da Vinci, und er sezierte den Magen eines Toten. Als Popskin plötzlich wieder bei klarem Verstand war, hatte er bei dem Mailänder Toten gesehen, was sich im Magen befand. Sie untersuchten unter dem Mikroskop jede Zelle, samt Inhalt. Plötzlich rief Mr. Popskin, obgleich er es bereits wusste: „Hier, schau dir das in Gottes Namen an! Reste einer Feuerbohne, der Phesolus coccineus. Nur sechs rohe Bohnen reichen, um ein tödliches Magen-Darm-Bluten auszulösen!“ Popskin machte eine freudige Drehung um sich selbst und strich sein verbliebenes grauweißes Haar zurecht.

Alle drei behielten den Vorgang für sich. Sie wollten, um sicher zu gehen, noch heimlich den Vorgänger exhumieren und untersuchen, bevor die Polizei den Vorgang übernahm.

„Chiefinspektor Patterson hat mir gegenüber so eine gewisse Affinität“, sagte Mr. Popskin beim Graben im strömenden englischen Regen auf dem Friedhof an der Kirche. Die Verwesung war bereits stark fortgeschritten, aber die Untersuchung ergab: Auch Jeffrey Corners Vorgänger hatte spärliche Reste einer Feuerbohne im Verdauungstrakt.

„Wer hätte Vorteile vom Tod der beiden Männer?“

Dr. Varish und Pfarrer Hatley überlegten.

„Eigentlich habe ich Schweigepflicht“, gab Pfarrer Hatley zu bedenken. Mr. Popskin juckte der Buckel: „Schweigen ist eine Waffe gegen Schwätzer, lieber Pfarrer, und wir schwatzen hier nicht, wir suchen die Wahrheit.“

„Adam Winston, unser Pächter der Village Hall, möchte zwischen Headcorn und Staplehurst viel Land aufkaufen. Mr. Corner sperrte sich. Winston habe immense Spielschulden, deshalb würde er keinen Kredit bewilligt bekommen. Mr. Winston nahm ihn sogar kostenlos im Golfclub auf, nur um an einen großen Kredit zu kommen.“

Die trauernde Mrs. Jane Corner erzählte Popskin ebenfalls, dass ihm dieser Winston stark zusetzte, ihm sogar drohte. „Mein Mann spielte“, berichtete sie zerknirscht. „Ich wusste es. Deshalb wirkte die Drohung nicht. Meinen Mann müssen die Sorgen sehr krank gemacht haben.“ Jonathan Popskin sagte nichts über seine Erkenntnisse, sondern dachte daran, dass Adam Winston tatsächlich ein Motiv hatte. Aber wie sollte er Mr. Hunter die rohen Bohnen verabreicht haben? Freiwillig würde nie jemand rohe Bohnen schlucken, sofern man weiß, wie giftig sie roh sind. Mr. Popskin rief jedenfalls einige Tage später bei Adam Winston an. Er wolle sich um die Mitgliedschaft im Golf Club, Weald of Kent, bemühen, sagte er am Telefon. Adam Winston war nämlich dessen Präsident. Man verabredete sich zum Dinner im Restaurant „Golfers Corner“ des Clubs, welcher einige Meilen außerhalb von Headcorn liegt. Jonathan Popskin besah sich nach einer herzlichen Begrüßung sogleich die Speisekarte und zog sofort scharfsinnig seine Schlüsse.

„Ich möchte schon Club-Mitglied werden, aber die Kosten...“

Adam Winston beschwichtigte: “Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Die Kreditzinsen unserer Bank sind unverschämt. Mr. Corner wollte mir gerade einen Kredit bewilligen, da stirbt er.“

„Spielte er eigentlich auch Golf?“ fragte Mr. Popskin, der gerade auf der Speisekarte das einzige Gericht mit Bohnen, den indischen Bohnen-Mais-Eintopf „Succotash“, entdeckt hatte. Adam Winston wurde unvermittelt ans Telefon gerufen, was Mr. Popskin ausnutzte.

Er rief den Kellner und fragte diesen nach den Gerichten, die Mr. Corner hier aß und erhielt die Bestätigung. „Er aß jeden Freitag sein Succotash.“

„Spielte hier auch ein gewisser Mr. Hunter Golf?“, fragte Mr. Popskin. „Ja.“

„Was aß dieser Herr?“, wollte Mr. Popskin wissen.

„Chili con carne“, antwortete der Kellner.

Also auch Bohnen, dachte Jonathan und wurde vom Handyklingeln überrascht.

„Hallo Peter! ...Bohnen?! Ihr habt ein Glas rohe Feuerbohnen bei Mr. Winston entdeckt? Ihr macht Euch als Detektive gut, du und Pfarrer Hatley. Ruf bitte sofort Chiefinspektor Patterson an und erzähl ihm alles. Corners Leibspeise hier im Club war ein Bohneneintopf!“

Mr. Popskin aß gerade Beef, als Chiefinspektor Patterson kam, um Winston festzunehmen. Beide würdigten Mr. Popskin keines Blickes. Während der offiziellen Vernehmung gestand Adam Winston, Jeffrey Corner rohe Bohnen unter das Essen geschoben zu haben - jedoch nicht in den Eintopf, sondern in die Salatbeilage.

„Nicht wegen eines Kredits, lächerlich, Jeffrey Corner hat mich erpresst, weil er bemerkt hatte, dass ich vom Konto des Clubs 300.000 Pfund auf mein eigenes Konto geschoben habe. Er kam per Zufall hinter das Passwort vom Onlinebanking, das unser Golfclub seit Längerem unterhält“, sagte Adam Winston.

„Und der Idiot gab sein Wissen dummerweise an Hunter.“

Am Freitag darauf kam Chiefinspektor Patterson tatsächlich zur ersten Teestunde bei Mr. Jonathan Popskin.

Es gab eine lebhafte Plauderei über den vergangenen Fall. Die Einzige, die schwieg, war Mrs. Tippelborn, bis Mr. Popskin sie grinsend ansprach. „Mrs. Elizabeth Tippelborn, im Mai werde ich Feuerbohnen aussähen, um Sie einmal zu einer kräftigen Bohnensuppe einzuladen. Gekocht schmecken Sie köstlich. Was halten sie davon?“

Keine Gewalt ist von Dauer

Leonardo da Vinci 1452.1519

Ein alter Fall

Das Leben ging in Headcorn in der Grafschaft Kent seinen gewohnten Gang und doch gab es etwas Ungewöhnliches. Mr. Jonathan Popskin wollte seinen 72. Geburtstag feiern. Eingeladen hatte er seine Teerunde, die jeden Freitag bei ihm erschien. Dabei waren Dr. Peter Varish, ein gut aussehender Junggeselle in den besten Jahren, und Pfarrer Hatley. Der lustige Pfarrer war ein Pfundskerl. Er nahm es mit den Tugenden nicht so genau und sein Bauch ähnelte stark dem Buckel von Mr. Popskin. Dabei war auch Mrs. Tippelborn, die Bibliothekarin, eine alte, quengelige Jungfer. Und schließlich seine reizende, aber stille Nachbarin Mrs. Stuart. Sie war Witwe und nur ein Jahr jünger als er.

Mr. Popskin bat Dr. Varish und Pfarrer Hatley, niemandem in Headcorne etwas von seinen kleinen detektivischen Ausflügen zu erzählen. Schwieriger war es in dieser Beziehung mit Mrs. Tippelborn. Sie galt als schwatzhaft und wusste um Popskins kriminalistische Schwäche. Anderseits hatte sie bisher nicht über ihn geplaudert, was ihn grübeln ließ.

Jonathan Popskin sah auf die Uhr. „Mm, es ist gleich fünf Uhr. Der Tee ist fertig. Mein Kuchen riecht göttlich.“ Im Wohnzimmer zündete er Kerzen an und rieb sich vergnügt tänzelnd die Hände. „Und das schönste Geschenk wird noch kommen!“ Er wollte die ständige Neugierde seiner Gäste befriedigen. Vom Buckel über seine frühere Arbeit als Pathologe am St. Mary Hospital in London. Und dann gab es da noch die Teestunde mit Queen Mum. But last not least wollte er von einem alten Fall erzählen, bei dem er zu seiner eigenen Überraschung in den letzten Monaten neue Erkenntnisse gewonnen hatte. Die Geschichte in London war ein purer Zufall. Er wollte an seinem Ehrentag einen unbekannt gebliebenen Zeugen überführen. Es ging damals, 1960, um einen brutalen Mord an einem alternden schwulen Ballettmeister.

Nach und nach trudelten alle Gäste ein. Man schenkte Mr. Popskin ein dickes Buch über Leonardo da Vinci. Peter Varish hatte den Film „Der da Vinci Code“ gesehen und überzeugte alle anderen, Mr. Popskin das Buch zu schenken. Nur Mrs. Elizabeth Tippelborn war anfangs nicht begeistert, da es mit zehn Kilo das schwerste und größte Buch sei, welches sie je gesehen habe. Sie war schlichtweg neidisch. Ein solches Exemplar hätte sie gern in ihrer Bibliothek. Mrs. Stuart brachte Blumen mit. Pfarrer Hatley einen Sherry, der im Laufe der Feier verköstigt wurde. Irritierend war nur, dass Mr. Popskins Bügelbrett im Wohnzimmer stand. Darunter ein Korb mit Wäsche. Darauf ein Bügeleisen. Mrs. Stuart rümpfte die Nase. „Junggeselle“, murmelte Pfarrer Hatley.

Es wurde zunächst über dörfliche Angelegenheiten geplaudert. Überwiegend ging es um Entscheidungen des Gemeinderates und über das nächste Fest in der Village Hall. Dr. Varish erregte sich über das Ober- und Unterhaus und Pfarrer Hatley ließ einen verstorbenen Mitbürger aufleben.

„Prost! Darauf einen Sherry.“ Dr. Peter Varish erzählte, dass er eine Frau beim Bowling kennengelernt hätte und Mrs. Tippelborn wolle einen Kaffeenachmittag in der - in „ihrer“ Bibliothek ausrichten. Mr. Popskin monologisierte danach über seinen Beruf als Pathologe. Draußen war es dunkel geworden, ein Sturm begann. Er berichtete vom komplizierten Verhältnis zwischen Justiz und Medizin. Ab und an fügte er in seinen Ausführungen gruselige Leichenfunde ein, an denen er mit Freude arbeiten durfte, weil seine Ergebnisse einen Mörder überführen könnten. Alle staunten, bewunderten ihn. Auch dem Kuchen wurde gut zugesprochen.

Nachdem Mr. Popskin einen weiteren Tee angeboten hatte, holte er richtig aus. Er begann mit einer Demonstration. Er schrubbte seinen Buckel am Türrahmen. „Verdammt, aber er juckt.“ Er sagte nicht, was das für ihn in der Regel zu bedeuten hatte. Immer, wenn er jucken würde, läge nämlich etwas Unheilvolles in der Luft. Es folgte eine Offenbarung.

„Vor über 40 Jahren ist ein Mord an einen Ballettmeister ungesühnt geblieben!“ Das machte alle neugierig. Als er jedoch davon anfing, dass in dieser Runde ein Zeuge sitzen würde, der den Täter endlich überführen könnte, waren alle schockiert. Es entstand ein heilloses Durcheinander, Mrs. Tippelborne wollte gar sofort aufbrechen, doch ein heftig einsetzender Regen hielt sie ab. Pfarrer Hatley beschwor den lieben Gott herbei. Dr. Varish schaute jedem tief in die Augen. Wer könnte der- oder diejenige sein? Gar er selbst? Wer könnte sich schon Jahrzehnte zurück erinnern? „Ich war acht Jahre alt, Jonathan!“ Mr. Popskins Nachbarin Gloria Stuart beschwichtigte und meinte, dass Mr. Popskin erst mehr dazu sagen sollte.

Plötzlich donnerte es draußen. Blitze zuckten auf. „Schauderhaft, Mr. Popskin. Ist das etwa ein dummer Trick? Soll sich jetzt jemand freiwillig melden?“, sagte Mrs. Tippelborn trocken.

„Mrs. Stuart.“ Nachdem Mr. Popskin dies laut ausgesprochen hatte, blickten alle sofort auf sie und hielten sie für die Zeugin. Entsetzen und auch Erleichterung durchfuhr Dr. Varish, Pfarrer Hatley und Mrs. Tippelborn. „Mrs. Stuart, wo lebten Sie 1960?“, fragte Mr. Popskin. „In London!“, sagte sie und stierte dabei ihre Teetasse an.

“Erinnern Sie sich eventuell an den äußerst spektakulären Fall des 68-jährigen Ballettmeisters Jack Hopsen?“

„Nein!“.

„Er lag damals halb verkohlt unter seiner eigenen Wäsche auf einer Matratze. Beim Obduzieren stellte ich damals fest, dass die Art und Ausdehnung seiner Weichteilblutungen am Kopf nur von einem Bügeleisen stammen konnten.

„Deshalb das Bügeleisen“, meinte Pfarrer Hatley und blickte auf den Wäschekorb.

„Jack Hopsen starb aber nicht daran, sondern wurde von seiner eigenen Wäsche erstickt. Dann stellte der Mörder das heiße Eisen zwischen die Textilien. Gerade rechtzeitig konnte die Londoner Feuerwehr den grausigen Fund entdecken, bevor er gänzlich verbrannt wäre. Jack Hopsen befriedigte seine Einsamkeit bei jungen Männern und beschäftigte sich mit orientalischem Tanz. Ein Freund, der tags zuvor bei ihm gewesen war, versicherte dem damaligen Chefermittler, dass auf Jack Hopsens Nachttisch ein ausgeliehenes Tanzbuch von Max Niehaus lag. „Himmel, Hölle und Trikot“, so der Titel. Hopsen verließ seine Wohnung nicht mehr. Dann besuchte ihn sein Mörder. Er musste ihn gekannt haben. Die Tür wies auf keinen Einbruch hin. Vielleicht war er ein Tänzer? Man erfuhr nicht, warum er ermordet wurde. Vielleicht verlangte sein Liebhaber zu viel Geld und es kam zu einem Streit? Wir wissen aber, dass dieses Buch spurlos verschwunden ist.“ Dr. Varish meldete sich zu Wort. „Dann hat der Mörder vielleicht heute noch das Buch! Woher stammte es? Hat er es irgendwo gekauft, geliehen?“

„Man ging der Sache nach, aber keiner der vielen Bibliotheken in London kannte dieses Buch, bis auf...“, jetzt knisterte die Spannung im Raum. Pfarrer Hatley trank einen doppelten Sherry. „...die Bibliothek der Schule für orientalische und afrikanische Wissenschaften. Dort, meine Freunde, vermisste man das wenig gedruckte Buch!“

Jonathan Popskin erhob sich. Er schritt an seine beschauliche Bücherwand und griff nach einem ziemlich abgegriffenen Exemplar. Dann legte er es unvermittelt auf den Tisch. „Himmel, Hölle und Trikot.“

Dr. Varish schnellte hoch. Pfarrer Hatley bekreuzigte sich.

Gloria Stuart blickte unverwandt zur Seite, zu Mrs. Tippelborn.

„Vor ein paar Wochen fand ich das Buch hier in unserer Bibliothek. Ich fragte Ihre junge Mitarbeiterin, Mrs. Tippelborn, ob dieses Buch im hiesigen Verzeichnis steht. Sie verneinte. Dann fuhr ich nach London. Ich besuchte dort die Schule für orientalische und afrikanische Wissenschaften.“

Urplötzlich krachte und blitzte es draußen und Mrs. Tippelborn sackte zusammen. „Ja, ja, hören Sie auf. Ich arbeitete damals dort und verlieh das Buch an diesen Mr. Hopsen...“.

„Und ein junger Mann brachte es zurück. Das Buch nahmen Sie mit. Sie ließen den Abgabetermin offen. Warum schützten Sie ihn?“

Elizabeth Tippelborn schluckte und begann weinend zu erzählen. Sie fiel fast vom Stuhl. Dr. Varish stütze sie, dann hob sie den Kopf. „Von wegen alte Jungfer, wie alle in Headcorn glauben. Ich wurde von meinem Vater vergewaltigt, versteht Ihr?“, schrie sie. „Und ich bekam ein Kind, von dem niemand etwas wissen durfte. Mein Mann gab es in ein Heim. Außerhalb von London. Er sagte, man habe uns dieses Kind vor die Tür gelegt.“

Mr. Popskin ging zu ihr und beruhigte sie. „Wie und wann sahen Sie ihn wieder?“

„Am Tag, als er das Buch brachte. Ich wusste dass er jeweils einen Leberfleck unter den Augen hatte. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte mir, in welchem Heim er groß geworden sei. Ich verschwieg, dass ich seine Mutter sein könnte. Er berichtete mir weiter, dass er Tänzer sei, und deshalb nahm ich das Buch mit, um zu erfahren, was ihn interessiert. Ich wollte ihm dadurch nah sein. Dann las ich am Tag drauf von dem Mord an Mr. Hopsen und dem verschwundenen Buch. Ich konnte nicht zur Polizei. Er war doch mein Sohn!“, schluchzte sie.

„War?“, fragte der Pfarrer.

„Er starb zwei Jahre später, 1962, bei einer Tournee in Newcastle. Ich besuchte alle seine Tanzvorstellungen am Londoner West End Theater. Als er nicht mehr auf den Besetzungslisten stand, fragte ich nach.“

„Aber er muss nicht unbedingt der Mörder gewesen sein. Vielleicht bekam Hopsen noch mehr Besuch!“, tröstete sie Mr. Popskin.

„Doch, er war der Mörder! Als er das Buch abgab, hatte er Verbrennungen an der rechten Hand. Was machen Sie jetzt mit mir?“

„Nichts! Hopsen hat keine Familie und Ihr Sohn ist ebenfalls tot! Über das Warum kann man nur spekulieren - und wem nützt es noch?“ Alle schwiegen lange und lauschten dem Regen, der an die Fenster prasselte. „Hört zu! Gott allein war Zeuge dieser Geburtstagsfeier“, sagte Pfarrer Hatley und blickte alle streng an. Eine noch längere Stille setzte ein, bis Mr. Popskins Magen gluckste. „OK, dann erzähle Ich Euch jetzt die Geschichte von Queen Mums hochprozentigem Tee!“ sagte Jonathan Popskin.

Ein gut angewendetes Leben ist lang.

Leonardo da Vinci 1452 - 1519

Die Leiche von Maidstone

Der kleine Ort Headcorn in der liebreizenden Landschaft der Grafschaft Kent beschäftigte seine dreieinhalbtausend Einwohner wie immer, nur die Bücher, die Mrs. Tippelborn in der Bücherei auslieh, wechselten die Titel. Das Wetter wechselte ebenfalls täglich. Mal Sonne, mal Regen, während die grauweißen Wolken nicht wussten, wohin die Winde sie schicken würden. Jonathan Popskin, dieser kleine, rundliche, ältere Herr mit Buckel, immer ein wenig gebeugt gehend, wusste an diesem Tag, was er zu tun hatte. Hausputz, und zwar die klassische Methode mit Putztuch und Federwedel.

Im gemütlichen Cottage des ehemaligen Gerichtsmediziners war dabei nichts, außer dem gleichmäßigen Ticken einer alten Kuckucksuhr zu hören, ein Erbstück seiner deutschen Halbschwester. Er selbst reinigte gerade ein Bild. Nicht nur, weil er mehr als genug besaß und sie von lästigem Staub befallen wurden, nein, wenn er die Bilder beim Putzen betrachtete, war dies für ihn eine Art von Entspannung. Bei dem Bild, welches er heute zur Zerstreuung reinigte, handelte es sich um eine Kopie von Leonardo da Vincis hirnphysiologischer Darstellung aus dem Jahr 1508. Feder und braune Tusche.

Wenn er die Studien in Augenschein nahm, konnte er mit einiger Genugtuung feststellen, dass er bei seinem letzten Fall in London einem Neugeborenen das Leben gerettet hatte, während die Mutter an einem Aneurysma starb. Auf dem Seziertisch stellte er unerwartet fest, dass das Baby im Mutterleib noch lebte und sofort leitete sein Team alle nötigen Maßnahmen ein. Man verdächtigte zuvor den Ehemann des Mordes an seiner Frau.

Die Wände des Cottages waren übervoll von den Studien des talentierten Florentiners Leonardo da Vinci. Eine Besonderheit zeichnet Mr. Jonathan Popskin aus, den ehemaligen Gerichtsmediziner Ihrer Majestät. Kurz bevor er sein geschliffenes Skalpell zum Schnitt ansetzt, schließt er seine Augen und gerät sogleich in eine Art Trance. Seine rundliche Nase zieht dann den duftenden Mischmasch von Desinfektionsmitteln und Verwesung ein und er macht einen gewaltigen Zeitsprung zurück in die Renaissance, in die Zeit der Florentiner. Er sieht sich dann als buckligen Schüler des Meisters Leonardo da Vinci, der nachts heimlich die Leichen der Anatomieschulen der Ärzte sezierte. Schüler Popskin hielt die freigelegten Eingeweide und die Nerven und Knochen offen, sodass Meister Leonardo in Ruhe zeichnen konnte und er, der Schüler, lernte dabei jedes Detail des menschlichen Körpers kennen. Die Beschaffung der Leichen war in Mailand äußerst schwierig und sehr gefährlich, da deren Verwendung zu anatomischen Zwecken durch die urkundlichen Anweisungen des Papstes Bonifatius VIII. streng verboten war.

Die allgegenwärtige Inquisition konnte sie selbst das Leben kosten. Die Hilfe des Gelehrten Marcantonios della Torre war für Leonardo da Vinci deshalb sehr wichtig, da dieser weniger davor zurückscheute, frische Leichen besorgen zu lassen. Leonardo wusste, dass er weder vor Gefahren noch vor Verbrechen zurückschrecken durfte, wenn er die Natur des Menschen besser begreifen wollte. Marcantonio della Torre war Doktor der Medizin an der Universität in Pisa.

Ihm kam Leonardo gelegen, denn dieser verwischte mit seinen Zeichnungen die Grenzen von Kunst und Wissenschaft. Sie kauften für viel Geld Leichen von den Scharfrichtern, den Totengräbern, aus Krankenhäusern oder eben direkt vom Galgen, was den Schüler Popskin Überwindung kostete. Nicht, weil ihm der Tote Angst einflößte, nein, weil er den Toten vor dessen Beerdigung Gott vorenthielt. Meister Leonardo beruhigte ihn und sagte: „Wenn der Mensch den inneren Menschen besser kennt, wird er weniger früh zu Gott gelangen und durch das Wissen länger gesund bleiben.“ Der bestialische Gestank, der in den kalten Kellern der Anatomieschulen herrschte, katapultierte Popskin geradezu in die Jetztzeit. Kaum, dass er seine Augen öffnete, fühlte sich Popskin seinem Studium und dem Idol verpflichtet. Er suchte im Organismus nach dem, was diesen Menschen ungewollt um sein Leben gebracht hatte. Und genau dies tat Leonardo da Vinci so nicht, er hatte kein Interesse an Anomalien, sondern nur an dem Organsystem. Dies allein war schon gefährlich genug.

„Gong ...“, unerwartet machte sich sein iPhone direkt bei Miss Jane bemerkbar. Eingerollt ruhte seine Katze auf dem Sessel neben dem Kamin, mitten auf einem alten Kissen. „... Gong, Gong, Gong ...“ Panisch fauchte Miss Jane auf und schoss quer durch das Wohnzimmer. Dabei brachte sie wieder einmal zwei Stapel Bücher zu Fall. Popskin stapelte diese erst am späten Abend auf. Ganz unter seinem Motto: „Ordnung ist das halbe Leben, Unordnung das ganze, denn auch wenn im menschlichen Organismus Ordnung herrschte, sorgten Viren, Bazillen, rote und weiße Blutkörperchen doch für eine Menge Unordnung.“ Miss Jane schaute ihn ungläubig an.

„Big Ben´s Glockenschlag gefällt dir nicht? Nun gut, Miss Jane, lass uns später überlegen, was wir stattdessen auf dem iPhone speichern.“ „Ah, Chief Inspektor Patterson! Was verschafft mir die Ehre Ihres Anrufes?“

„Was ist mit Big Ben, Mr. Popskin?“

„Nichts, ich sprach nur mit der Katze und nun erzählen Sie, was Ihnen auf dem Herzen liegt.“ Popskins Augen wurden größer. Er war sichtlich verwundert, dass sein alter Buckel nicht zu jucken begann. In seiner langen Dienstzeit an der Gerichtspathologie in London juckte er häufig und manch ein Neuling musste ihm sogleich den Buckel kratzen. Die Nachricht aus Maidstone hätte jetzt eigentlich dazu führen müssen. Selbst Miss Jane erwartete, dass er an den Türrahmen gehen würde, um seinem Jucken ein Ende zu bereiten, doch er kratzte sich nur am Hinterkopf. „Hm? Da schlägt Big Ben dreizehn!“ Eine entstellte Leiche ohne die geringste juckende Vorahnung? Dies war neu für ihn und dann aus dem Mund von Chiefinspektor Patterson, der ihn ansonsten nicht gerade freiwillig anrief. Den Chiefinspektor konnte er nicht unbedingt als einen Freund bezeichnen, denn Popskins Einmischung bei einigen Fällen nervte den Chiefinspektor seit Längerem gehörig. Natürlich ließ er es sich nicht anmerken, dass er Respekt hatte vor dem ehemaligen Gerichtspathologen aus London. Popskins Buckel hatte bereits in der Jugend zu wachsen angefangen und er juckte eigentlich von Anfang an, wenn auch noch nicht auf menschliche Untaten hin. Zunächst beschränkte es sich auf tierische Todesfälle in der Familie und Nachbarschaft.

Nach seinem Studium und der Promovierung in Rechtsmedizin bekam er einen Mann auf den Tisch, dem der Notarzt einen tödlichen Herzinfarkt bescheinigte. Popskins Buckel begann beim Sezieren zu jucken, nachdem ihm seine Trance eine Zeichnung eines geöffneten Hundes vor Augen hielt und wie ihm sein Meister Leonardo den anatomischen Unterschied zu den Katzen erklärte und warum man wildernde Tiere manchmal töten musste. Er erinnerte sich dann an den Hund seines Großvaters, der getötet wurde, weil er gewildert hatte, und an die ermordete Katze seiner Tante und nahm an, dass dies ein Zeichen war, dass der Mann nicht an einem Herzinfarkt gestorben sein konnte. Eine ausgiebige Obduktion, die sein damaliger Chef für unnötig hielt, führte jedoch zum Erfolg. Der gute Mann starb durch das Botulinumtoxin, ein Nervengift, das die Atemmuskulatur lähmt.

Mr. Jonathan Popskin galt in seiner Zunft eigentlich als der Stephen Hawking der Rechtsmedizin. Und er hat nicht nur mehrere Bücher verfasst, er gilt auch als unbequem, doch wer sich mit ihm verstand, konnte sich auf ihn hundertprozentig verlassen. Und irgendwann kam auch einer in den Genuss, ihn singen zu hören. Chiefinspektor Patterson sang allerdings nicht am anderen Ende der Leitung.

„Kommen Sie bitte ins Maidstone Hospital. Wir brauchen Ihre Hilfe, Mr. Popskin. Man fand einen Toten bei Leeds Castle, auf der Höhe der A20. Sein total zerstörtes Auto lag nicht weit von dem Toten entfernt. Ein bekannter Atomphysiker übrigens und es ist schon der dritte und im Maidstone Hospital geht der Pathologe gerade fremd und operiert am offenen Herzen und das kann dauern. Ein Serienkiller läuft wahrscheinlich noch frei herum. Wir brauchen also dringend Ihre Hilfe.

Er könnte weiter morden und die verdammten Medien haben davon Wind bekommen, also seien Sie nicht so störrisch. Sie sind doch das Genie!“, brüllte der Chief und warum er brüllte, konnte sich Jonathan Popskin nicht erklären, es sei denn, er stehe unter großem Druck aus London. Drei Atomphysiker ließen darauf schließen. Drei dieser Spezies sind bestimmt mit einem hochrangigen Politiker gleichzusetzen.

„Ich bin nur ein unbedeutender kleiner Pensionist. Untertan Ihrer Majestät.“

Der Chiefinspektor würgte ihn ab: Als Untertan sei er geradezu verpflichtet, sein Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. „Seit wann seid ihr allgemein, Chiefinspektor?“, fragte Popskin Patterson, der vor Wut kochte.

„Lassen Sie es gut sein, es ist keine Zeit für Witze. Ich lasse Sie abholen und ins Maidstone Hospital bringen. Zimmer 042.“

Mr. Popskin schwang sich in seinen hellbraunen Dufflecoat und raste eine halbe Stunde später ins Hospital von Maidstone. Der quirlige Constable Jeff Hunter lotste ihn durch die grauen Flure. Es roch überall nach Siechtum und Krankheit. Auf den Gängen rempelte er bemitleidenswerte Gestalten an. Da Popskin noch seine Mantelkapuze trug, sah er ein wenig aus wie ein zerstreut herumwandelnder Mönch auf der Suche nach einer hilflosen Seele. Die blass-kranken Gesichter verfolgten den kleinen „Mönch“ mit Buckel, der mehr tippelte als lief.

„Sorry, aber wenn wir uns noch schneller bewegen, können Sie mich gleich auf die Station für Herzkranke bringen!“ Jonathan Popskin blieb protestierend stehen, klopfte an die nächstgelegene Zimmertür und ging hinein, denn auf dem Flur stand kein Stuhl. Der Polizist bemerkte dies nicht. Als er in das abgedunkelte Zimmer schritt, sah Mr. Popskin einen abgemagerten Mann mittleren Alters, mit Glatze, im Bett liegen. Er sah sofort in das Antlitz des Todes. Nur zu gut kannte er diesen Ausdruck und der war eindeutig: Der Mann wird sterben. Manchmal hasste Popskin seine Erfahrung und hatte Angst, dass man ihm diese schon ansehen würde. Vorsichtig sprach er den Fremden an, der ihn seit Eintritt fixierte. „Entschuldigen Sie, draußen sind leider keine Stühle zum Ausruhen. Darf ich mich hier ein wenig setzen?“

„Okay!“

Jonathan Popskin saß einige Sekunden, da fing sein Buckel an zu jucken.

Constable Hunter lief unterdessen aufgeregt weiter, ohne sich um Popskin zu kümmern. Er bemerkte das Verschwinden von Popskin erst vor der Tür zur Pathologie. Der Chiefinspektor ließ nun, wütender werdend, nach ihm suchen. Popskin selbst rückte näher an das Bett des Kranken, der sich zu ihm drehte. „Darf ich fragen, wie Sie heißen? Was fehlt Ihnen? “, fragte Popskin schließlich den Mann im Bett.

„David, Ben David. Ich habe Krebs. Ich warte hier eigentlich nur auf den Tod. Und seltsamerweise hat man nach einer gewissen Zeit keine Angst mehr davor. Im Gegenteil, man sehnt ihn sich herbei. Ich danke Ihnen jedenfalls, Ihr Mitgefühl tut gut. Wie heißen Sie?“

„Jonathan Popskin, Ben. Ich kann Ihre Gedanken nur zu gut teilen, wenn mich im Moment auch keine Krankheit besucht, so ist doch in meinem vorgerückten Alter jedes Einschlafen eine kleine Probe für das Entschlafen.“

Jonathan Popskin atmete einmal tief durch, denn er kannte so unendlich viele Krankheitsverläufe, die natürlichen und die durch Menschenhand herbeigeführten. Mit zunehmendem Alter stellte er fest, dass es ihm schwerer fallen würde, einen jungen Menschen zu obduzieren, mit dem er sich noch vor Stunden gut unterhalten konnte. Er war nebenbei froh, nicht mehr in den Alltagsmühlen der Pathologie zu stecken. Eine Obduktion hieß nicht nur Organe auseinanderzulegen und die Ergebnisse zu analysieren und dann noch zu Protokoll zubringen, nein, man kam sein halbes Berufsleben selten vor Mitternacht ins Bett. Hinzu kamen Vorlesungen, das Bewerten von Doktorarbeiten, Gespräche mit Staatsanwälten, Scotland Yard, und selbst diese mussten noch in die Akten. Dann kamen Gerichtstermine. Oftmals musste er am Tatort zugegen sein. Aufpassen, dass keiner den Tatort kontaminierte. Und immer wieder wurde er ungewollt zum Seelsorger von Angehörigen. Mit anderen Worten, eine Heirat kam für ihn nie infrage. Da lag ihm der Stress einer Autopsie mehr als der Stress einer Beziehung. „Die Toten sind mir die liebsten Gesprächspartner“, sagte Jonathan Popskin und genau daran dachte er jetzt, als er den Kranken ansprach und erkannte dass dieser Mann die Schwelle des Unbekannten bald übertreten werde.

Ben David erzählte, dass er früher Fischer gewesen sei, in Seascale. Er liebte den rauen Wind, den Geschmack von salziger Luft, das wilde Plätschern der Wellen an den Holzplanken. Begeistert erzählte Ben von dem einstigen Fischreichtum der Irischen See, aber irgendwann kamen die Schweine, um dort ein Atomkraftwerk zu bauen. „Sellafield. Und nach und nach vergifteten sie uns Fischern das Meer…“

Ben David berichtete von seinem Kampf mit den Behörden. Sogar der Königin habe er einen Brief geschrieben. „Keine Antwort, Mr. Popskin. Krebskranke Untertanen interessieren Ihre Majestät nicht. Atomlobbyisten werden jedoch geadelt.

„Welch ein Zufall“, überlegte Popskin, „ein paar Räume weiter liegt ein Atomphysiker. Sellafield? Die Atomanlage und ein totgeweihter Mann vor meinen Augen, hm ... Zufall?“

„Sellafield? Wie kommen Sie hier ins Maidstone-Hospital?“

„Eine Tante meiner Frau lebt hier und sie empfahl meiner Frau den Krebsspezialisten Dr. Burning und so bin ich hier gelandet, mit wenig Aussicht auf Erfolg, wie man unschwer erkennt ...“ und die Stimme wurde von Mal zu Mal leiser.

„Wo ist Ihre Frau, in Sellafield?“, wollte Popskin wissen und war sich sicher, dass der Mann noch mehr unter Heimweh nach Nordengland, seiner See, litt, als an Krebs.

„Sicher, was denken Sie, was all dies kostet“, sagte er und schloss die Augen.

Plötzlich öffnete sich die Zimmertür und ein sichtlich genervter Constable Hunter forderte Mr. Popskin energisch auf, ihm zu folgen, sonst würde der Chief explodieren. Popskin drückte Mr. David die dünne Hand und versprach ihm, ihn wieder zu besuchen.

Hunter und Popskin schritten eilig auf das Zimmer 042 zu, dem ersten Vorzimmer zur Pathologie. Zimmer 042? Da hätte der Chiefinspektor ja gleich Pathologie sagen können“, dachte Mr. Popskin.

Eine große Freude brandete auf, als Jonathan Popskin unter seinesgleichen erschien, sogar der Chiefinspektor vergaß seinen Unmut. Popskin zog sich einen weiten Kittel über und sah währenddessen auf eine grauenvoll zugerichtete Leiche. Seine Augen erfassten den gesamten Zustand in nur wenigen Augenblicken. Seine bereits hier gesichteten Erkenntnisse wurden in seine Erfahrungen transformiert, in sein "Fälle-Lexikon" und das Stammhirn signalisierte ihm, was er längst ahnte. „Kratzen Sie mir bitte meinen Buckel?“, bat er eine Schwester, die etwas verwirrt dreinschaute. So etwas war ihr bisher nicht untergekommen, und sie wusste nicht so recht, wie sie damit umgehen sollte. “Machen Sie schon!“, forderte sie der Chiefinspektor auf.

„Machen Sie auch schon“, verlangte Popskin trocken vom Chief. „Erzählen Sie mir, was Sie alles wissen. Wie nah Sie am Täter sind. Waren alle so schändlich zugerichtet? Man kann ja hier kaum zwischen Gesicht, Gesäß, Rücken und Brust unterscheiden.“