PowerBlood - Edgar Franzmann - E-Book

PowerBlood E-Book

Edgar Franzmann

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Beschreibung

Ein Chip in deinem Körper, der die totale Gesundheitskontrolle übernimmt: Fluch oder Segen? Der Kölner Schriftsteller Edgar Franzmann stellt diese Frage in seinem brandaktuellen Thriller, Titel: "PowerBlood", der bei epubli erschienen ist. In Hauptrollen: Jan Christian Bach (28), der im Co-Working Köln-Kalk, kurz CoWoK, einen Mikrochip entwickelt, der Menschen implantiert wird und jede Gesundheitsgefahr erkennt, eine Staatsministerin im Berliner Bundeskanzleramt, die alle Bürger mit dem Chip versorgen will, und eine in San Francisco gebaute Pflegeroboterin, die über Leben und Tod entscheidet. Jans eigener Chip teilt ihm mit, dass er Krebs hat, die US-Konkurrenz attackiert ihn mit kriminellen Mitteln und die Staatsministerin lässt Jan fallen, um Karriere in Brüssel zu machen. Franzmann, Autor der Köln-Krimis um den "Blitz"-Reporter Georg Rubin, siedelt seinen packenden Roman in der "nahen Zukunft" an. Schauplätze sind Köln, Buenos Aires, San Francisco mit dem Silicon Valley und Berlin. "PowerBlood" ist Franzmanns erster Start-up- und Medizin-Thriller, in dem er auch eigene Erfahrungen verarbeitet: Vor fünf Jahren wurde bei ihm in der Kölner Uniklinik Leukämie festgestellt, vor zwei Jahren erhielt er eine Stammzelltransplantation. Franzmann, 1948 in Krefeld geboren, lebt als Journalist und Autor in Köln.

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Edgar Franzmann

PowerBlood

Edgar Franzmann, 1948 in Krefeld geboren, lebt als Journalist und Schriftsteller in Köln. Er war Redakteur der Zeitung „EXPRESS“, Leiter der Online-Angebote von „Kölner Stadt-Anzeiger“ und „Kölnische Rundschau“ sowie Chefredakteur des Web-Portals „koeln.de“.  Franzmann ist Mitglied des Syndikats, des Vereins deutschsprachiger Krimiautoren, von April 2012 bis Mai 2014 war er dessen geschäftsführender Sprecher.

„PowerBlood“ ist Franzmann erster Medizin- und Start-up-Thriller. Vor fünf Jahren wurde bei ihm Leukämie festgestellt, die mit Chemotherapien behandelt wurde. Nach einem Rückfall erhielt er eine Stammzelltransplantation, die ihn – nach aktuellem Stand – vom Krebs befreite und die ihm sogar eine neue Blutgruppe bescherte.

Impressum

Texte:   © 2023 Copyright by Edgar Franzmann

Umschlag: © 2023 Copyright by Edgar Franzmann

Herr, die Not ist groß.

Die ich rief, die Geister,

Werd ich nun nicht los.

Kapitel 1

Mit einem Knall wurde es dunkel. Jan wollte cool bleiben, aber sein Körper zuckte vor Schreck, als wäre der Säbelzahntiger im Raum.

Die Bildschirme an den Wänden erloschen wie die Deckenleuchten und die Bauhauslampen auf dem Schreibtisch.

Der akkubetriebene Laptop gab ein Lebenszeichen von sich. Jan berührte die Tastatur, die Hintergrundbeleuchtung erwachte. Er tippte sein Passwort ein. „Eingabe nicht korrekt“, erschien auf dem Bildschirm, „Sie haben noch zwei Versuche“.

Jan schaute sein Handy an, das ihn mit seinen Kameras identifizierte. „Maria Magdalena, schalte den Computer frei“, sagte Jan. Smartphone und Laptop gehorchten.

Der Strom kam zurück.

Es wurde Licht, eine der Deckenleuchten flimmerte und knisterte. Jan probierte vier Lichtschalter aus, bis er die defekte Leuchte abgeschaltet hatte.

Die Computer nahmen ihre Arbeit auf.

Jan Christian Bachs Büro lag im zweiten Stock des Co-Working Köln-Kalk, kurz CoWoK. Der modernisierte Glas-Ziegel-Bau hatte eine Maschinenfabrik verdrängt, in der früher im Drei-Schichten-Betrieb gearbeitet wurde.

Genau hier, in den Mauern der alten Maschinenfabrik, hatte Jans Großvater Hermann sein Leben gelebt.

Seine Uniform war der Blaumann gewesen.

Jetzt war hier ein Paradies der Selbstausbeutung.

Die Start-up-Generation hatte den Arbeitern nicht nur die Arbeitsplätze genommen, sondern auch die Kleidung.

Die modernen Blaumänner hießen Bluejeans.

Jans Bluejeans waren schwarz. Er trug dazu weiße Wollschuhe, bunte Happy-Socks und ein schwarzes T-Shirt.

Es war ungemütlich kalt. Seit dem Ukraine-Krieg galt im CoWoK die Selbstverpflichtung, nicht über 19 Grad zu heizen. Das rettete die Umwelt und sparte Geld, sagte man.

Fröstelnd schlurfte Jan zum Kleiderständer und nahm einen schwarzen Pullover vom Bügel.

Er warf einen Blick nach draußen. Das „K“ in der grünen CoWoK-Leuchtreklame flackerte.

Noch ein Kurzschluss-Opfer?

In der alten Maschinenfabrik war es immer hemdsärmelfrei warm gewesen. Alle acht Stunden wurde die Belegschaft ausgewechselt. Eine Sirene heulte den Feierabend ein, der morgens um sechs, mittags um zwei oder nachts um zehn Uhr sein konnte.

Tausende Arbeiter drängten an die Tore und drückten Stempelkarten in Stechuhren, die die Arbeitszeit protokollierten.

In lauten Grüppchen pilgerte man nach Schichtschluss zur Kalker Hauptstraße und trank einen Absacker. Oder zwei.

Dann trottete man nach Hause, legte sich schlafen.

Wachte auf und marschierte zur nächsten Schicht.

Irgendwann war man tot, was auch nicht so viel anders als das Leben war.

Hermann Bach hatte es mit 56 Jahren erwischt. Herzinfarkt während der Nachtschicht. Die Arbeit ruhte für fünf Minuten; so lange dauerte es, bis man den Leichnam aus der Halle getragen hatte.

Jan war 28. Wenn es ihm wie seinem Opa erginge, dann hatte er sein halbes Leben schon hinter sich.

Jan betrachtete die Fotos auf seinem Schreibtisch. Links ein Actionfoto seines Hundes Kobe beim Sprung durch einen Reifen. Rechts ein Hochzeitsfoto seiner Eltern mit seinen Halbgeschwistern Stella und Geronimo als Blumenengel. In der Mitte ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto aus dem letzten Jahrhundert: Großvater Hermann, Oma Käthe, ihre fünf Kinder fein gemacht und wie die Orgelpfeifen aufgereiht, rechts im Matrosenanzug Jans Vater, Gerhard, der Einzige, der studieren durfte.

Und was war aus ihm, Jan, geworden? Ein promovierter, frierender Jüngling mit unverstandenen Träumen.

Sechs der sieben Computer-Monitore an der Wand flimmerten wieder, als hätte es den Stromausfall nie gegeben.

Zahlenkolonnen und Grafiken erschienen, manchmal unterbrochen durch ein Video oder eine Animation.

Der siebte Bildschirm zeigte den Eingangsbereich des CoWoK mit Gästelounge und Kaffeebar, in der Lydia Wellmann hinter spucksicherem Plexiglas Dienst tat.

Freundlich lächelte sie jeden an, der an ihr vorbeiging.

Jan wusste nicht viel von Frauen, außer, dass es einige weibliche Geschöpfe gab, Lydia war eines davon, deren Lächeln reinste Zauberei war.

Es war 18 Uhr.

Auf der Multimediawand im Foyer erschien wie jeden Abend ein Foto des irischen Schriftstellers Oscar Wilde und sein Spruch: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“

 Der CoWoK leerte sich in die graunasse Novembernacht.

Die Erfassung der Anwesenheitszeiten lief elektronisch über das hellgrüne Fitnessbändchen am Handgelenk, das vordergründig als Hausausweis diente, aber auch den Puls, Bewegung, Schlafintensität und Werweißwas aufzeichnete.

Jan wusste, seitdem er das CoWoK-Bändchen trug, dass er durchschnittlich drei REM-Phasen pro Schlaf durchlebte. Wenn er denn mal schlief.

Jan trank seinen Energydrink und ließ die schlanke Dose in den Papierkorb fliegen, wo sie auf ein Dutzend Schwestern schepperte.

Wenn er seine Computerchips doch genauso einfach mit Energie versorgen könnte wie seinen Körper!

Er konzentrierte sich auf die Computermonitore und ihre Rechenaufgabe: Wie muss ein stecknadelkopfkleiner Mikrochip konstruiert sein, der Menschen implantiert werden kann, damit dessen Batterie mindestens drei Jahre hält?

Die aktuelle Version vereinigte in einer Schale von drei Millimetern Durchmesser 1,07 Milliarden Transistoren. Integriert waren Dutzende Sensoren, Bluetooth, NFC und ein GPS-Modul.

Sein Mikrochip sammelte Blut- und Körperdaten. Und löste Alarm aus, wenn er eine Unregelmäßigkeit feststellte.

Die beste Vorsorge, die man sich denken konnte!

Kein Herzinfarkt mehr, Opa Hermann würde noch leben.

Kein Viren-Chaos mehr, sein Chip würde jeden Erreger entdecken, selbst unbekannte.

Jan nannte seinen Chip „ImpChip“.

Gott hatte für seine Welt sechs Arbeitstage benötigt.

Jan hatte zwei Jahre in die Entwicklung gesteckt, hatte Prototypen in China bauen lassen, die immer besser funktionierten.

Aber fertig war er noch lange nicht.

Die Energieversorgung stimmte nicht. Drei Jahre Batterielaufzeit waren das selbst gesteckte Ziel, 1095 Tage.

Mit einem Pling beendete einer von Jans Rechnern seine Arbeit. „291 Tage“ gab er aus. Drei Tage mehr als beim bisherigen Rekord – und trotzdem endlos weit vom Ziel entfernt.

Was hätte sein Vater in dieser Lage getan, der Junge im Matrosenanzug, der es bis zum Professor gebracht hatte?

Mehr als drei Jahre waren seit ihrer letzten bewussten Begegnung vergangen. An jenem Tag hatte Gerhard die Entwicklung seines nobelpreisverdächtigen Hirnschrittmachers mit einer Operation erfolgreich abgeschlossen. Dann geschah dieser tragische Unfall auf der Treppe der Uniklinik, der Jan in schlaflosen Nächten verfolgte.

Sein Handy meldete eine Bewegung aus seiner Wohnung: Hund Kobe hatte die Couch verlassen und sich vor der Haustür abgelegt.

Jan switchte um auf die Kameras in Vaters Krankenzimmer in der Privatklinik Lindenthal: Eine Pflegeroboterin saß an seinem Bett und blätterte in einer Illustrierten namens „frau aktuell“. Sie blickte in die Kamera, die mit Rotlicht und einem Warnton meldete, wenn sie aktiv geschaltet wurde.

Die Roboterfrau sah aus wie Gerhards Jugendfreundin Dana aus Rumänien. Das Äußere war perfekt. Ihr Gang war etwas ruckend-roboterhaft, aber wenn sie rollte, wirkte es sanft-elegant.

Seitdem man sie mit der neuesten künstlichen Intelligenz à la ChatGPT vermählt hatte, war sie auch intellektuell beeindruckend.

Gerhard lag ohne Bewusstsein und scheinbar leblos in seinem Bett. Aber er lebte. Der Monitor zeigte einen Herzschlag von 43 Schlägen pro Minute.

Über einen Portkatheter wurde er künstlich ernährt.

Mit einem Hupton stellten zwei von Jans Rechnern ihre Arbeit ein und holten Jan zurück in den CoWoK. Jan hatte seinen Computern die Namen des internationalen Funkalphabets gegeben: Alfa, Bravo, Charlie, Delta, Echo, Foxtrot, Golf.

Hupen bedeutete schlechte Nachrichten. 237 beziehungsweise 241 Tage wurden angezeigt.

Frustriert sprang Jan auf, der Bürostuhl torkelte auf seinen fünf Rollen durchs Zimmer und knallte vor den Drucker, der sich vor Schreck an einem Stück Papier verschluckte.

An der Wand rechts neben dem Schreibtisch hingen ein Langbogen und ein Köcher, ein Geschenk seines Vaters nach einer Argentinienreise.

Jan nahm einen gefiederten Pfeil, spannte die Waffe und zielte auf das Bild des dornengekrönten Jesus, das er auf einen Sandsack neben der Tür geklebt hatte.

Auf der Stirn des Jesusporträts war ein Ballon befestigt, den Jan anvisierte. Er zog ab.

Daneben. Der Pfeil bohrte sich in die linke Schulter des Gekreuzigten.

Jan nahm einen zweiten Pfeil.

Er ließ sich Zeit.

Er zielte.

Er korrigierte.

Er entließ den Pfeil und traf.

Der Ballon zerplatzte, eine klebrige blutrote Flüssigkeit rann über Jesus' Gesicht.

Jan quittierte den Blattschuss mit einem indianischen Kriegsgeheul, das von den Betonmauern zurückgeworfen wurde.

Jan schoss ein drittes Mal, die Tür zu seinem Büro flog auf.

Der Pfeil knallte gegen das Türblatt, flitzte hinaus auf den Flur und verfehlte Lydia Wellmann um Haaresbreite.

„Bist du verrückt geworden? Hast du das Licht ausgeschossen? Der ganze CoWoK hatte Stromausfall.“

Schweigend hängte Jan den Bogen an seinen Platz, sortierte die Pfeile in den Köcher.

„Es war vermutlich ein Kurzschluss“, sagte Jan.

Zum Beweis schaltete er die defekte Leuchte an, die wieder ihre nervösen Zuckungen hatte.

Lydia ließ sich nicht beeindrucken.

„Diese blutrote Sauerei an der Wand und auf dem Boden. Wer soll die jetzt wegmachen?“

„Ich mach das weg. Ist kein Blut. Nur Farbe.“

„Warum Jesus? Ich dachte, du glaubst an Gott.“

„Ist vorbei.“

Jan schob ihr den Bürostuhl hin: „Kannst dich setzen.“

Lydia trug Jeans und ein CoWoK-T-Shirt, die blonden Haare waren kurz geschnitten wie vom Männerfriseur.

Jan schloss die Augen. Lydia erschien in seinem Kopf. Wenn sie lächelte, lächelte nicht nur ihr Mund, sondern das ganze Gesicht, und die blauen Augen funkelten dazu. Ein Wunder, das sich wiederholte, sogar wenn sie wütend war.

„Schau mich gefälligst an“, sagte sie.

„Ich seh' dir in die Augen, Kleines“, imitierte Jan den Casa–blanca-Bogart, „ich wollte dich nur in meinem Zimmer haben.“

„Hat geklappt“, sagte Lydia.

„Darf ich dich zum Essen einladen?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Zu gefährlich.“

„Ich werde nicht mehr auf dich schießen.“

„Das ist es nicht.“

„Sondern?“

„Deine Daten.“

„Was ist mit meinen Daten?“

„Sie gefallen mir nicht.“

„Bin ich zu dick?“

„Nein.“

„Zu intelligent?“

„Spinner.“

„Nun sag schon.“

„Du würdest spätestens nach der Pizza …“

„Es muss keine Pizza sein.“

„Du würdest nach dem Essen … über mich herfallen.“

„Wie kommst du darauf?“ Jan fühlte sich unwohl.

„Deine Daten. Orgasmusquote null.“

„Was?“

„Orgasmusquote null.“

Lydia stöckelte aus dem Büro und ließ Jan stehen.

Orgasmusquote null.

Lydias Worte pochten als nerviges Echo durch Jans Kopf.

Er schrubbte sich Hände und Knie wund.

Die rote Masse war getrocknet und klebte auf den teuren Bodenfliesen. Ohne Spezialwerkzeug würde das nichts.

Drei Plings erlösten Jan.

Plings bedeuteten gute Nachrichten.

Er nahm die Parade seiner Rechner ab.

Foxtrot meldete 334 Tage. Neuer Rekord.

Bravo zeigte ebenfalls 334 Tage.

War das die Grenze, die erreichbar war?

Aus einem unerklärlichen Gefühl heraus hatte er sich die Kontrolle von Echo für den Schluss aufgehoben.

Der Bildschirm zeigte das Zufallsmuster eines Bildschirmschoners.

„Hör auf, mich zu ärgern“, sagte Jan.

Mit dem Zeigefinger der rechten Hand tippte er auf den Touchscreen und stoppte die Animation.

Was er sah, raubte ihm den Atem.

571 Tage.

Er umarmte den Bildschirm und drückte ihm einen Kuss auf die kalten Pixel.缍

Kapitel 2

Die Eingangshalle der Casa Irigoyen im feinen Stadtteil Recoleta der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires war mit vier goldgerahmten Weltzeituhren geschmückt.

Maya Shakyamuni blieb wie jeden Tag davor stehen und lauschte auf das simultane Ticketacketicke: Tijuana/San Francisco 09:53 Uhr, Buenos Aires 14:53 Uhr, Köln 18:53 Uhr, Kathmandu 23:38 Uhr.

Die letzte Uhr mit der Zeit aus der nepalesischen Hauptstadt war ein Geschenk der Hausherrin an Maya. Sie gehörte jetzt zur Familie, hatte sie gesagt und meinte mit Familie ihre Kinder, die über den halben Erdball verstreut lebten.

Dass Kathmandu bei den Minuten eine Viertelstunde aus der Reihe tanzte, fand sie lustig, weil unwissende Besucher immer glaubten, die Uhr ginge falsch.

Seit drei Jahren war Maya Krankenpflegerin der großen Alejandra Irigoyen de Bach.

Damals wirkte sie noch völlig gesund. Niemand außer ihr hatte das minimale Zittern gespürt, als sie im Teatro Colón Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 in d-Moll spielte.

Die Aufnahme dieses denkwürdigen Tages vor heimischem Publikum lief als trauriges Ritual jeden Nachmittag im Musikzimmer im ersten Stock des Hauses.

Alejandra stand in ihrem silbernen Seidenhausmantel vor dem weißen Flügel, stützte sich mit den Händen ab.

Auf der Wand hinter dem Flügel flimmerte das Konzertvideo aus dem Teatro Colón. Alejandras Finger tanzten über die Tasten.

Die Frau auf der Wand war berauschend schön.

Die Frau davor war ein zitternder Schatten.

Es geschah zu Beginn des zweiten Satzes, der Romanze, die Maya wie ein Volkslied mitsummen konnte.

Alejandras Hände in Großaufnahme.

Die traumsüßen Töne.

Verzücken im Publikum.

„Hast du gehört?“, fragte sie mit ihrer brüchigen Stimme, die in der letzten Zeit immer weniger geworden war.

„Es war himmlisch, Señora“, sagte Maya.

„Es war der Anfang vom Ende“, sagte Alejandra und sank ohnmächtig zu Boden.

Das Konzert war fünfzehn Minuten alt, weitere fünfzehn Minuten folgten. Im Video brachte Alejandra das Stück bravourös zu Ende, wurde frenetisch bejubelt.

Es war ihr letztes Konzert.

Öffentlich hatte sie sich nie erklärt, nur ihrem Mann Gerhard hatte sie sich anvertraut. Sie wusste schon länger, dass sie an Parkinson litt, aber an jenem Tag war es das erste Mal, dass sie das Zittern beim Klavierspielen gespürt hatte.

„Mein Mann hat mir Mut gemacht“, erzählte Alejandra mit stockender Stimme, als das Video beendet war und sie zu sich kam. „Er würde etwas erfinden, das Parkinson besiegt. Dann ist er nach Deutschland zurück. Ich habe ihn nie wiedergesehen.“

Ein Sonnenstrahl fiel ins Klavierzimmer, bahnte sich einen Weg durch die blauviolette Blütenpracht der Jacaranda-Bäume und malte flirrende Muster auf den Parkettboden.

Maya öffnete das Fenster, Frühlingswärme strömte ins Haus. Sie kannte kein anderes Land, in dem der November so schön war.

„Dort unten im Garten hat Gerhard mir seinen Hirnschrittmacher erklärt“, sagte Alejandra. „Er war so voller Hoffnung. Er sagte, wenn seine Erfindung funktionierte, und er wäre sicher, dass sie funktionierte, dann hätte ich ein langes Leben vor mir.“

Alejandra schloss die Augen, als könnte sie dann besser in die Vergangenheit sehen. „Gerhard hatte recht. Ich lebe noch, aber: Jetzt ist es genug.“

Maya ängstigte der traurige Ton, den sie so nicht kannte.

„Was hat Buddha über den Tod gesagt?“, fragte Alejandra.

Sie wusste, dass Maya eine Nachfahrin des Siddhartha Gautama war, des Prinzen aus dem Geschlecht der Shakya, der fünfhundert Jahre vor Christus geboren und zu Buddha, dem Erleuchteten wurde.

„Bitte“, flüsterte Alejandra, „was hat Buddha über den Tod gesagt?“

Maya suchte nach einem Zitat. „Unser ganzes Dasein ist flüchtig wie Wolken im Herbst; Geburt und Tod der Wesen erscheinen wie Bewegung im Tanz. Ein Leben gleicht dem Blitz am Himmel, es rauscht vorbei wie ein Sturzbach den Berg hinab.“

„Ich will wie die Wolken tanzen. Wie ein Blitz im Sturzbach“, wiederholte Alejandra. „Ich habe keine Angst vor dem Tod, weißt du? Ich habe gerne gelebt. Ich habe genug gelebt. Vielleicht nicht an Jahren, aber an Leben.“

Aus der Halle drang Lärm. Stiefel marschierten über Marmor. Die Tür des Musikzimmers flog auf. Ignacio Valdez trat ein, Alejandras Fahrer, groß mit Pferdeschwanz. Für Ignacio war Macho nichts Negatives, er sah sich als der zuverlässige Mann, der Frauen immer beschützen würde.

„Hast du bekommen, worum ich gebeten habe?“, fragte Alejandra.

„Ja“, sagte Ignacio. Er holte eine Pistole aus seiner Lederjacke, eine Smith & Wesson.

„Was soll das werden?“, fragte Maya.

„Ein Blitz auf Erden“, sagte Alejandra.

Ignacio legte die Waffe in ihren Schoß.

Alejandra schaute Ignacio an: „Wenn ich es nicht kann, musst du es für mich tun.“缍

Kapitel 3

Jan schlief in seinem CoWoK-Bürostuhl, sein Oberkörper lag auf dem Schreibtisch.

Es klingelte in seinem Kopf.

Jan blinzelte in Richtung des Handy-Displays. Anruf von Walter Prüm, seinem Laufkumpel und Lieblingspriester. Sie hatten sich auf der Bonner Uni kennengelernt, als Jan dort Theologie studierte.

„Maria Magdalena, nimm das Gespräch an“, sagte Jan.

Maria Magdalena war der Name seiner persönlichen Sprachassistentin. Vor einigen Jahren hatten die Handyhersteller erlaubt, den Programmen eigene Namen zu geben. Statt „OK Google“, „Hey Siri“ oder „Alexa“ riefen die Menschen jetzt eben irgendwelche ausgedachten Namen.

Jans Maria Magdalena, die eine „Siri“ war, erschien als animierte Büßerin auf dem Bildschirm, wie Tizian sie gemalt hatte, sprach aber mit tiefer Männerstimme, eine Kombination, die das schräge Ergebnis eines kleinen Computerspaßes war, den Jan sich ausgedacht hatte.

„Herr Prüm“, meldete sich Maria Magdalena, „Herr Bach hat mich gebeten, das Gespräch anzunehmen.“

„Maria Magdalena, sag deinem vom Glauben abgefallenen Meister, dass ich seit einer halben Stunde auf ihn warte. Heute ist Dienstag. Lauftag. Ich stehe hier, arschkalt und laufbereit, und er lässt mich sitzen.“

„Ja, was denn?“, schaltete sich Jan in das Gespräch ein, „stehst du oder sitzt du?“

„Hä?“, fragte Walter.

„Sorry, ich war eingedöst. Im Büro. Wo bist du?“

„Wo soll ich sein? Ex-Vertretung. Wie immer.“

„Ich bin in 15 Minuten da.“

Die Ex-Vertretung war eine Gaststätte in der Kölner Altstadt direkt am Rhein. Sie trug einst den Spitznamen „Rote Kapelle“, weil sich hier die Sozis versammelten, als sie sich noch mächtig in Köln fühlten und es wohl auch waren.

Später war sie eine Filiale der Bonner und Berliner Polit-Kneipe „Ständige Vertretung“, nach einem Besitzerwechsel hieß sie die Ex-Vertretung, das Konzept mit den Politiker-Fotos an den Wänden wurde beibehalten. Walter und Jan tranken hier ihre Absacker nach den Joggingrunden.

„18 Minuten 30“, sagte Walter nach einem Blick auf seine Stoppuhr, als Jan keuchend und regennass ankam.

„Schneller konnte ich nicht bei dem Wetter“, sagte Jan, „wollen wir noch?“

Walter schüttelte den Kopf und zeigte auf seinen Deckel mit drei Strichen für Bier und zwei Kreuzen für Doppelkorn: „Ich musste mich aufwärmen.“

„Geht auf mich“, sagte Jan.

„Klar“, sagte Walter.

Walter war Jans bester Freund.

Vermutlich war er sogar Jans einziger Freund.

„Ich bin eingepennt“, sagte Jan, „tut mir leid.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Du bist ein Genie“, sagte Walter. Dann rief er in den Wirtsraum hinein: „Wahrlich, ich sage euch, dieser Mann wird die Welt verändern.“

„Hier, zwei Bier“, sagte Agnes, die Kellnerin.

Sonst gab es keine Reaktionen.

„Du könntest für mich predigen wie Johannes der Täufer für den Messias, keiner würde dich hören.“

„Ist dir schon mal aufgefallen, dass die Initialen deiner Vornamen JC sind? JC wie Jesus Christus?“

„Meine katholische Mutter hat sich das ausgedacht. Aus Protest bin ich dann Protestant geworden.“

„Schade, dass du die Theologie aufgegeben hast.“

„Ich bin Doktor der Theologie.“

„Du hättest Pfarrer werden können. Wie ich. Aber du musstest ja aus der Kirche austreten.“

„Wenn Gott existierte, würde er nicht all das Elend zulassen. Krankheiten. Hunger. Kriege.“

„Was ist mit allem anderen? Liebe? Freundschaft? Hilfsbereitschaft. Den Wundern der Natur?“

„Wir drehen uns im Kreis.“

„Die Erde dreht sich im Kreis. Und deshalb ist jeden Morgen ein neuer Tag. Und Menschen wie du werden Neues erschaffen.“

„Prost“, sagte Jan und hob sein Kölschglas.

Walter antwortete, indem er den Boden seines Glases an den Boden von Jans Glas anstieß.

„Wie weit bist du?“, fragte Walter.

„571 Tage.“

„571 Tage? Brauchst du noch so lange?“

„Nein. Mein Chip hätte Energie für 571 Tage, ehe er ausgetauscht werden müsste.“

„Aber das ist besser als alles vorher.“

„Ich brauche über 1000 Tage.“

„Auf deinem Reiskorn sitzen eine Milliarde Transistoren?“

„1,07 Milliarden.“

„Sag ich doch. Brauchst du die alle? Oder sitzen die nur auf deinem Reiskorn, damit du damit angeben kannst?“

Jan winkte nach der Kellnerin: „Noch zwei Kölsch, bitte.“

„Deine 1,07 Milliarden Transistoren. Die brauchen jede Menge Energie. Die brauchen sogar Energie, wenn sie dumm rumsitzen und nichts tun, denn sie müssen ja immer mal melden, dass sie da sind und bei Bedarf mitrechnen könnten. Aber wenn sie niemand ruft, dann machen sie sich einen Lenz und fressen Energie.“

„Du meinst, ich sollte einen Chip konstruieren, der mit 500 Millionen Transistoren auskommt?“

Jan legte einen 50-Euro-Schein auf den Tisch und sprang auf. „Zahl du. Ich muss ins Büro. Wir sehen uns.“

Jan lief zum CoWoK und programmierte seine Computer um.

„Alfa“, „Bravo“ und „Charlie“ bekamen denselben Rechenauftrag, der bei „Echo“ zum Ergebnis von 571 Tagen geführt hatte.

„Delta“ und „Foxtrot“ sollten nicht mehr 1,07 Milliarden Transistoren versorgen, sondern 500 Millionen.

„Echo“ erhielt den Spezialauftrag, zu bestimmen, welche Transistoren man stilllegen könnte, ohne die Funktionsfähigkeit des Chips insgesamt zu gefährden.

„Golf“ durfte weiter den Eingangsbereich überwachen.

Lydia war nicht da.

Wenn sie nicht da war und er trotzdem an sie dachte und nach ihr suchte, war sie dann doch da?缍

Kapitel 4

Jan fuhr nach Hause ins Belgische Viertel und holte Kobe zu einem nächtlichen Spaziergang ab. Der Lagotto liebte die letzte Runde des Tages, kaum Autos, kaum Spaziergänger.

Diesmal änderte Jan den üblichen Weg und landete im Eckschlösschen, seiner Lieblingskneipe am Stadtgarten.

Jan setzte sich allein an einen Tisch, Kobe schlief zu seinen Füßen und rührte sich nicht, als sein Herrchen ans schwarze Klavier auf dem Podium trat.

Im Eckschlösschen waren Jazz, Blues und Swing angesagt, Jan durfte spielen, was er wollte. Heute war ihm nach den Goldberg-Variationen seines Namensvetters Johann Sebastian Bach.

Olaf Geisler, dem Schlossherrn, gefiel es so gut, dass er dem Mann am Klavier gleich ein Bier spendierte.

Jan hatte seit dem dritten Lebensjahr Klavierunterricht bekommen, zunächst von seiner Mutter, der großen Alejandra Irigoyen, später, als er zu seinem Vater Gerhard nach Deutschland zog, von Lehrern, von denen keiner seinem Vater gut genug war.

Mit vierzehn hatte Jan sich auf die Computerei verlegt.

Als Klavierspieler wäre er immer schlechter geblieben als seine Mutter, aber am Computer konnte er besser werden als sein Vater.

Bei der Auswahl seines Studienfachs hatte er seine Eltern ein zweites Mal enttäuscht. Wenn schon nicht Musik, dann wenigstens Medizin, hatten sie gehofft. Er wählte Theologie, die protestantische Variante.

Jans Mutter war katholisch, sein Vater evangelisch. Sie stritten nie über Religion. Im Zweifel einigten sie sich auf die Musik von Bach, der ein Lutheraner war, und die Ermahnungen des argentinischen Papstes Francisco, der Oberhaupt aller Katholiken war.

Olaf brachte ein weiteres Bier. Er deutete mit dem Kopf zur Seite, als wollte er sagen, schau mal, wer gekommen ist.

Lydia Wellmann. Sie saß an einem der kleinen runden Tische vor der Theke und beobachtete Jan.

Jan nahm das Bier, stieg vom Bühnenpodest hinab und ging zu ihr. „Darf ich?“

Sie nickte.

„Wieso bist du nachts allein in einer Kneipe?“, fragte er.

„Versetzt worden.“

„Oh!“

„Will nicht drüber reden. Warum bist du allein hier?“

„Ich bin nicht allein. Mein Hund ist bei mir.“

Jan weckte Kobe auf und zog ihn an Lydias Tisch.

„Der ist aber süß“, sagte sie.

„Das sagen alle“, sagte Jan und schaute in ihre blauen Augen. Sie hielt dem Blick stand.

„Ich wusste nicht, dass du Klavier spielst.“

„Ich dachte, du weißt alles über mich.“

„Falsch gedacht.“

Jan lachte.

„Warum lachst du?“

„Über uns. Sind wir nicht komisch?“

„Findest du?“

Olaf brachte Lydia ein Wasser.

„Prost“, sagte Jan.

„Prost. Ich trinke keinen Alkohol.“

„Ich auch nicht, normalerweise. Aber heute …“

„War wohl kein so guter Tag“, sagte Lydia.

Am nächsten Morgen wachte Lydia gegen zehn Uhr in Jans Bett auf. Die Orgasmusquote stand nicht mehr auf null.

Jan war nicht da.

Die Wohnungstür wurde aufgesperrt, dann sprang ein braunes Fellknäuel aufs Bett und leckte mit feuchter Schnauze Lydias Hand und nahm Kurs auf ihr Gesicht.

„Nein, nicht“, wehrte sie ab.

Jan brachte einen Kaffee ans Bett: „Kobe ist es gewohnt, nach unserem Morgenspaziergang noch etwas zu schmusen.“

Rings um das französische Bett herrschte Junggesellenunordnung. Jan sorgte für Übersicht, indem er die Stapel auf drei reduzierte.

Lydia stieg aus dem Bett, sie trug einen Slip und eins von Jans schwarzen T-Shirts.

Sie inspizierte die Wohnung.

Das war alles andere als eine kleine Studentenbude.

Ein Altbau mit hohen Decken, vor Kurzem renoviert.

Es gab eine moderne Küche mit Kochinsel, ein kombiniertes Musik- und Bücherzimmer mit alten Regalen und einem schwarzen Konzertflügel.

Glastüren führten auf eine Terrasse und in einen Garten.

Jan besaß ein Arbeitszimmer mit mehreren Rechnern, ein Gästezimmer, sogar ein Hundezimmer.

Der Clou in Lydias Augen war das Bad mit ebenerdiger Dusche und einer Doppelwanne mit Whirlpool.

„Ich habe eine reiche Mutter“, sagte Jan. „Mein Vater hat mir auch etwas Geld gegeben, ich sollte es in einer Wohnung anlegen.“

Beim Frühstück erzählte Jan von seinen Mikrochips, mit deren Hilfe er alle Krankheiten der Welt besiegen wollte. Er sprach von seinen Testreihen im CoWoK, seinen Misserfolgen.

„Deshalb warst du gestern so wütend?“, fragte sie.

„Am Ende nicht mehr. Nachdem du gegangen bist …“

„Interessant“ unterbrach sie ihn.

„Nachdem du gegangen bist, hat Echo, so heißt einer meiner Computer, ein Ergebnis ausgespuckt: 571 Tage. So lange würde die Batterie halten. Die Hälfte des Weges ist erreicht. Und für die zweite Hälfte habe ich schon eine Idee gefunden.“

Jan steigerte sich in seine Vision hinein, redete schneller und schneller, bis er sich an Lydia wandte: „Was meinst du?“

„Du hast dir viel vorgenommen.“

„Wieso?“, sagte Jan.

„Für mich klingt das, als wolltest du Gott spielen. Übernimm dich nicht. Wer wie Gott sein will, muss zum Unmenschen werden.“

„Was soll das denn bitte?“

„Denk drüber nach.“

„Ich will doch nur Krankheiten besiegen.“

„Wer wie Gott sein will, muss zum Unmenschen werden“, wiederholte Lydia, „mir gefällt der Satz. Reine Logik.“

„Reine Logik?“, sagte Jan, „reiner Unsinn. Wenn es einen Gott gäbe, so wie du ihn dir vorstellst, dann hätte er auch den Unmenschen erschaffen, weil er alles erschaffen hat. Dann wäre der Unmensch ein Gottesgeschöpf. Ein solcher Gott ist ein Widerspruch in sich selbst. Diesen Gott kann es nicht geben. Und diesen Gott will ich nicht spielen. Ich will einfach Gutes tun. Wenn ich ein Menschenleben retten könnte! Ein einziges Menschenleben! Ist das zu viel vorgenommen?“

Lydia schaute ihn mit ihren blauen Augen an und sagte endlich: „Du schaffst es noch, mir Gott auszutreiben.“

„Willst du mal auf den Dornenjesus schießen?“

„Nein, auf keinen Fall. Aber danke. Für alles.“

„Nichts zu danken. Darf ich einen Wunsch äußern?“

Lydia nickte.

„Darf ich dich zum Essen einladen?“

„Das hatten wir schon.“

„Ja“, sagte Jan und wartete auf eine Antwort.

„Einverstanden“ sagte Lydia.

„Wann?“

„Freitagabend. Nach meiner Schicht. Um neun.“缍

Kapitel 5

Im ersten Stock der Casa Irigoyen tobte der Religionskrieg.

Begonnen hatte ihn Sofía Valdez, Haushälterin und Ehefrau des Fahrers Ignacio, nachdem der von Alejandras Selbstmordgedanken erzählt hatte.

Vor Alejandras Zimmer baute Sofía einen Marienaltar auf. Ins Zentrum stellte sie ein Bild der Virgen de Guadalupe, die vor Hunderten von Jahren einem Indio in Mexico City erschienen war.

„Ich will das nicht“, protestierte Doña Alejandra, „spart euch die Blumen und die Kerzen für meine Beerdigung.“

Ignacio schimpfte mit seiner Frau: „Wieso stellst du ein mexikanisches Heiligenbild auf?“

„Die Madonna ist die Madonna. Schutzpatronin Amerikas. Der Papst hat sie anerkannt, dann wirst du das auch tun.“

Am nächsten Morgen errichtete Ignacio neben dem Marienaltar einen zweiten Altar, geweiht dem „Heiligen Gaucho“.

Antonio Mamerto Gil Núñez war ein argentinischer Landarbeiter, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts wegen eines Verhältnisses mit einer reichen Witwe in Schwierigkeiten geriet. Er wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Ausgerechnet sein Henker baute ihm den ersten Altar, weil sein Sohn von schwerer Krankheit genas, wie der Gaucho es vor seinem Tod prophezeit hatte.

Den dritten Altar steuerte Maya bei. Über der Jungfrau von Guadeloupe und dem Heiligen Gaucho spannte sie ein Seil mit buddhistischen Gebetsflaggen in den fünf Farben Blau, Weiß, Rot, Grün und Gelb.

Sofía rief Ignacio zu Hilfe. „Das darf sie nicht. Alejandra ist Christin. Das ist Gotteslästerung.“

Ignacio nahm das Seil mit den Fähnchen ab, was ihm den Zorn der Nepalesin einbrachte: „Ich werde mich bei Doña Alejandra über dich beschweren. Sie fragt immer nach dem Buddha.“

Ignacio brummte etwas und hängte die Fähnchen wieder auf.

An der Wand links neben dem Altar der Madonna befestigte die Nepalesin das Foto eines jungen Mädchens, Stirn und Lippen rot geschminkt, die großen Augen schwarz umrandet, rot und golden ihr Gewand, das Bild der Kumari von Kathmandu, einer lebenden Göttin.

„Bist du das?“, fragte Ignacio?

Maya sagte nichts.

„Soll jetzt jeder hier ein Karnevalsbild aufhängen, oder was?“, polterte Ignacio.

Sofía ließ einen Rosenkranz durch die Finger gleiten und betete: „Heilige Maria, bitte für uns. Heilige Mutter Gottes, bitte für uns. Heilige Jungfrau der Jungfrauen …“

„Ich weiß nicht, ob das hilft“, sagte Ignacio, „wir müssen etwas unternehmen.“

„Beten hilft immer“, sagte Sofía und fuhr mit ihrer Litanei fort: „Mutter der göttlichen Gnade …“

„Wieso hast du ihr die Pistole gekauft?“, fragte Maya.

„Ich mache nur, was sie sagt“, antwortete Ignacio.

„Wirst du sie erschießen?“

„Alejandra weiß, dass ich das nicht tun werde.“

Sofía war bei „Du Königin der Familien …“

„Das ist es“, sagte Ignacio.

„Was ist was?“, fragte Maya.

„Wir müssen ihrer Familie Bescheid geben.“

„Sie sehnt sich nach ihren Kindern“, sagte Maya.

„Amen“, sagte Ignacio.

„Wir müssen das mit Alejandra besprechen“, sagte Sofía.

„Was?“, fragte Ignacio.

„Das mit ihrer Familie.“

„Es sind ihre Kinder“, warf Maya ein.

„Was ist mit ihren Männern?“, fragte Ignacio.

„Die sollen bleiben, wo kein Pfeffer wächst“, ertönte Alejandras Stimme.

Die Herrin des Hauses war unbemerkt in den Flur gerollt und fuhr zu den drei Altären.

Als sie das Bild des Heiligen Gaucho entdeckte, lachte sie laut auf. Vor dem Foto der Kumari machte sie einen Stopp: „Bist du das?“, fragte sie Maya.

„Das ist meine kleine Schwester.“

„Gut sieht sie aus. Kleine Göttin. Wie du.“

„Doña Alejandra“, sagte Maya, „Sie sollten sich nicht so anstrengen.“

„Ach was! Ich möchte meine Kinder sehen. Bekommt ihr das hin? Bis Freitag.“

„Wie soll das gehen?“, fragte Ignacio.

„Was soll ich kochen?“, fragte Sofía.

„Samstag haben Sie Geburtstag“, sagte Maya.

„Wenigstens eine, die sich daran erinnert. Ich will meinen Kindern etwas bieten. Ignacio, du sorgst für die Parilla und die Getränke. Sofía, du kümmerst dich um Dekoration und Süßes. Du Maya, du organisierst was mit Tango.“

„Aber“, stotterte Maya, „müssten das nicht die Argentinier?“缍

Kapitel 6

Als Jan Christian Bach und Kobe am Donnerstag im CoWoK erschienen, war Lydia nicht da.

„Sie hat ihren freien Tag. Morgen ist sie wieder hier“, sagte der junge Mann an der Kaffeebar. Er trug ein Namensschild mit der Aufschrift „Ingo“.

„Morgen, Freitag“, murmelte Jan enttäuscht vor sich hin. Kobe wuffte aus Solidarität zu seinem Herrchen.

Im Büro füllte Jan Wasser in Kobes Napf und kontrollierte die sechs Arbeitsrechner. Keine neuen Erkenntnisse.

Mit dem siebten Rechner ging Jan auf die Suche nach einem Restaurant, das Lydia gefallen sollte.

Alles, außer Pizza.

Jan entschied sich für ein japanisches Restaurant, das Menüs für Vegetarier und Veganer im Angebot hatte. Er reservierte online einen Tisch für zwei und einen Hund.

Jan googelte Lydias Namen. Sie war 22 Jahre alt, sechs Jahre jünger als er. Sie studierte Deutsch und Kunst auf Lehramt. Er schaute auf ihre Profile in den sozialen Netzwerken. Er fand viele Fotos, die Lydia mit Freundinnen zeigten. Oft war sie mit einer blonden Frau unterwegs, die sie Vera nannte. Auf zwei Fotos wurde sie von Männern umarmt. Sie lachte ihr strahlendes Lachen.

Der Dornenjesus auf dem Zielsack neben der Bürotür schaute Jan traurig an. Die roten Farbflecke klebten noch auf dem Boden. Jan rief Ingo an der Kaffeebar an und fragte nach einem Reinigungsunternehmen. „Können Sie nicht googeln?“, war die Antwort.

Jans Handy meldete sich.

Ein unbekannter Anrufer.

Er nahm das Gespräch nicht an.

Jemand sprach auf seine Mailbox.

Eine Frauenstimme. Sie redete spanisch und englisch durcheinander. Sie war aufgeregt.

Es ginge um seine Mutter Alejandra. Sie wäre sterbenskrank. Jan müsste nach Buenos Aires kommen. Dann nannte die Stimme eine Telefonnummer mit argentinischer Vorwahl.

In Köln war es ein Uhr. In Buenos Aires musste es sieben Uhr morgens sein.

Er wählte die Nummer. „Hola“, meldete sich die Frauenstimme.

„Ich bin Jan Christian Bach. Ich sollte zurückrufen.“

„Ja, Don Juan“, sagte die Frauenstimme, „ich bin Maya Shakyamuni. Die Krankenschwester Ihrer Mutter.“

„Ich heiße Jan, nicht Juan“, sagte Jan.

„Sí, Señor Batsch“, sagte die Frauenstimme.

Jan ließ es dabei bewenden, dass sein Name nicht korrekt ausgesprochen wurde, spanisch „Batsch“ und nicht deutsch „Bach“.

„Wie geht es meiner Mutter?“, fragte er.

„Sie hat Geburtstag. Sie will ihre Kinder sehen. Sie müssen kommen. Sie sagt, sie müssen am Freitag alle hier sein.“

„Aber Freitag, das ist morgen.“

„Ja.“

„Ich kann nicht.“

„Sie müssen kommen. Wenn Sie Ihre Mutter lebend sehen wollen. Doña Alejandra wünscht sich das so. Es geht ihr nicht gut.“

Er erinnerte sich an die lange Umarmung seiner Mutter, als er mit seinem Vater Buenos Aires verließ. Es wäre besser, wenn er in Deutschland zur Schule ginge.

„Also gut“, sagte er. „Ich rufe an, wenn ich einen Flug habe.“

Er ging zur Rezeption des CoWoK. „Kannst du Lydia Wellmann etwas ausrichten?“, fragte er Ingo.

„Sie hat heute frei.“

„Ich meine, ob du ihr das morgen ausrichten kannst.“

„Morgen habe ich frei.“

Wie konnte man so desinteressiert sein an einem Job, für den man ordentlich bezahlt wurde? Jan grauste davor, irgendwann einmal solche Mitarbeiter einstellen zu müssen.

War er zu anspruchsvoll? Nein, das musste besser gehen. Er würde die Maßeinheit „ein Ingo“ für das Mitdenken und die Empathie von Menschen nehmen, je weniger „Ingo“, desto besser. Der CoWoK-Ingo bekam von ihm 100 Ingo.

Jan nahm einen hellgrünen CoWoK-Zettel und schrieb eine Notiz an Lydia: „Ich muss aus familiären Gründen dringend nach Buenos Aires. Sorry. Jan.“

Wohin mit dem Zettel?

„Lydia hat ein Fach“, sagte Ingo.

„Ja?“, fragte Jan.

„Ich kann die Notiz hineinlegen.“

Geht doch. Ingos Ingo-Wert verbesserte sich auf 90.

Die schnellste Verbindung nach Buenos Aires führte über Madrid. Abflug Donnerstag um 18:40 Uhr, Ankunft Freitag um 7:25 Uhr Ortszeit. Reisezeit: 16 Stunden und 45 Minuten.

Jan rief Maya an und teilte ihr die Daten mit, was sie mit einem Freudenschrei beantwortete: „Don Juan kommt“, rief sie laut, als müsste sie das ganze Haus informieren.

„Ignacio wird Sie am Flughafen abholen, Señor Batsch.“

Jan fuhr in die Privatklinik Lindenthal.

Pflegeroboterin Dana ließ ihn mit seinem Vater allein, als wäre sie das rücksichtsvollste Wesen der Welt.

Kobe sprang auf das Krankenbett und kuschelte sich in Gerhards Achselhöhle. Kobe war Gerhards Hund gewesen, Jan hatte ihn nach dem Unfall zu sich genommen.

Jan berührte Gerhards rechte Hand und hoffte auf Antwort.

„Ich fliege nach Buenos Aires. Zu Alejandra. Ich werde sie von dir grüßen“, sagte er.

Gerhards Pulsschlag erhöhte sich um zwei auf 45. Bekam sein Vater doch etwas mit?

„Alejandra. Hast du gehört? Deine Frau. Meine Mutter.“

Der Puls sank wieder auf die üblichen 43 Schläge.

„Dana bleibt hier und wird sich um dich kümmern.“

Jan drückte Gerhard einen Kuss auf die kühle Stirn.

Dana saß vor dem Krankenzimmer in einem beigen Ledersessel und las in einer Frauenzeitschrift.

„Interessiert Sie das?“, fragte Jan.

Die Roboterfrau schaute Jan verwundert an. „Interessiert Sie alles, was Sie lesen? Ich mache meinen Job und ich mache ihn gut. Das Lesen von Frauenzeitschriften gehört zu den zulässigen Freizeitbeschäftigungen.“

„Und was tun Sie, das unzulässig ist?“

„Ich verstehe nicht“, sagte Dana.

„Was dürfen Sie auf keinen Fall tun?“, hakte Jan nach.

Dana schien zu überlegen, welche Antwort Jan erwarten könnte: „Ich darf die künstliche Ernährung Ihres Vaters nicht unterbrechen.“

„Unterstehen Sie sich“, sagte Jan und war nicht beruhigt.

„Sei vorsichtig“, meldete sich Maria Magdalena auf seinem Handy, „Danas Intelligenz ist nur künstlich.“

„Musst du gerade sagen.“

Sollte er schellen oder durch den Garten nach nebenan gehen? War Gianna Berardi, seine Nachbarin, zu Hause? Und ihr Junge? War Adriano in der Schule?

Kobe sprang in den Garten und bog links ab, wo Giannas Kater Carlo ihn schnurrend begrüßte.

Jan stolperte hinterher. Das Essen, das er bei seinem Lieblingsitaliener Giovanni besorgt hatte, trug er in der linken, eine Flasche Sauvignon Blanc in der rechten Hand.

„Gianna“, sagte Jan, „ich muss noch heute Abend nach Buenos Aires. Meiner Mutter geht es nicht gut. Könntest du, bitte, auf Kobe aufpassen? Ich würde euch natürlich bezahlen.“

„Wir wollen dein Geld nicht“, sagte Gianna, „Adriano, sag was.“

„Kein Geld. Geht klar“, sagte der Junge.

„Wir sind Nachbarn. Wir helfen uns.“

„Danke“, sagte Jan, „kann ich euch wenigstens einen Gefallen tun, wenn ich zurück bin?“

„Ja“, freute sich Adriano, „ich brauche Nachhilfe.“

„Welche Fächer?“

„Musik. Mamma will, dass ich Celentano werde.“

„Klar.“

„Und ich“, unterbrach Gianna, „hätte auch etwas, bei dem du helfen könntest. Du hast einen Freund, einen Deutschen, den ich nett finde, der mich nicht beachtet. Dem bin ich vermutlich zu katholisch. Den möchte ich kennenlernen.“

Im Hintergrund lief Celentanos „Azzurro“, Gianna und Adriano sangen voll Inbrunst mit: „Ma il treno dei desideri, nei miei pensieri, all'incontrario va.“

Doch der Zug der Sehnsucht, in meinen Gedanken, fährt er verkehrt herum.缍

Kapitel 7

Ignacio Valdez döste vor sich hin. In seiner dunkelblaugebügelten Chauffeuruniform wartete er in der wuseligen Halle des Flughafens Ezeiza von Buenos Aires. Er war einer von vielen mit einem Pappschild in der Hand, seines war weiß und blau mit einer gelben Sonne wie die argentinische Nationalflagge, darüber rot gedruckt: „Señor Jan Christian Bach.“

Jan sprach ihn an: „Vos sos el Señor Valdez?“

Ignacio schreckte hoch. Er musterte den jungen Mann, der vor ihm stand. Jan trug einen weißen Leinenanzug.

„Pero sí, sí“, rief Ignacio, setzte sich hastig die Mütze auf, griff nach dem Pappschild, ließ es fallen, hob es wieder auf, umarmte den Ankommenden: „Willkommen zu Hause. Groß sind Sie geworden. Ein Mann.“

„Ignacio! Und du bist dick geworden. Wir können uns duzen. Wie geht es meiner Mutter?“

„Sie ist traurig. Sie ist lustig. Ihr wird es besser gehen, wenn sie dich sieht.“

Ignacio packte Jans Koffer und verstaute ihn auf dem Rücksitz des alten weinroten Mercedes-Cabrio, das er im Halteverbot vor dem Eingang geparkt hatte.

Sie kamen nach Recoleta. Am Café La Biela fuhr Ignacio Schritttempo, schlürfte Mate aus seiner in der Frühlingssonne funkelnden Bombilla, nickte Terrassengästen zu, bekreuzigte sich und erwies der Skulptur des argentinischen Formel-1-Weltmeisters Juan Manuel Fangio die Ehre, der lebensgroß in Rennmontur vor dem Eingang stand, den Helm in der Hand. „Nur den Tod, den Tod hat Fangio nicht überlebt. Der Unsterbliche.“

Ignacio gab Gas, erschreckte eine greise Hundesitterin, die ein Dutzend große und kleine Kläffer Gassi führte und Mühe hatte, die aufjaulende Meute zu bändigen. Die Frau drohte Ignacio mit der Faust, ging zeternd weiter, barfuß.

Am Bund ihrer zerlumpten Hose trug sie einen Gürtel aus Kordeln, an dem die vielen Hundeleinen befestigt waren.

Ein weißbrauner Windhund lief verstört im Kreis um die arme Alte herum, bis sie über die verdrehte Leine stolperte und auf den Steinboden fiel, erst auf die Knie, dann mit dem ganzen Körper.

Sie fluchte, konnte sich aus dem Leinenwirrwarr befreien und humpelte in Richtung des Friedhofeingangs von Recoleta, wo drei Kolleginnen und vier Kollegen auf sie warteten.

„Faules Gesindel! Alle. Die blieben besser in ihren Löchern!“, schimpfte Ignacio.

„Ignacio!“, sagte Jan, „was redest du?“

Ignacio öffnete das Handschuhfach, holte eine Pistole heraus, fuchtelte mit der Waffe herum: „Man muss sich verteidigen.“

„Verteidigen? Gegen wen?“, fragte Jan. „Gegen die Frauen? Gegen die Armen? Gegen die Polizei?“

„Deine Mutter hat mir aufgetragen, diese Waffe zu besorgen: Smith & Wesson Military & Police, 9 mm Luger.“

„Du bist verrückt.“

Ignacio sah Jans missbilligenden Blick.

„Nicht verrückt. Das ist die Wahrheit. Arm sein ist die Pest. Ansteckend. Gewalttätig.“

„Total verrückt!“, wiederholte Jan.

„Du warst lange nicht hier. Es ist anders als früher. Arm sein ist die Pest. Und arme Polizisten sind die schlimmsten.“

Alejandras Haus lag in einer durch einen Sicherheitsdienst bewachten Gated Community.

In seiner Erinnerung war Jan durch ein freistehendes doppelstöckiges Haus mit einem großen Garten getollt, jetzt stand an derselben Adresse ein fünf Stockwerke hohes Gebäude, das eng in die benachbarten Fassaden eingepasst war.

Die Eingangshalle war in weißem Marmor ausgekleidet. Jan klopfte gegen eine der Wandplatten. Kühl und echt.

Links am Eingang saß ein Mann in einer Uniform, die an Ignacios Dienstkleidung erinnerte. „Das ist mein Neffe Horacio, er passt auf und weiß alles.“

Vier goldgerahmte Weltzeituhren dominierten die Halle. In Buenos Aires waren es 10:43 Uhr, eine Köln-Uhr zeigte 15:43 Uhr. Jan wurde bewusst, dass er seit zweiunddreißig Stunden auf den Beinen war.

„Wo ist meine Mutter?“, fragte Jan.

„Sie hat ihre Räume im ersten Stock“, sagte Ignacio.

„Ich will zu ihr.“

„Das geht jetzt nicht. Der Arzt ist da. Komm, ich zeig dir dein Zimmer.“

Ignacio verschwand in einem Gang, der links von der großen Halle abzweigte. „Hier rechts wohnen die anderen. Deine Schwester Stella hat das alles sehr mitgenommen. Ihr Bruder Geronimo versucht, sie aufzubauen. Lockerer Typ.“

Jans Zimmer hatte eine Tür zum Garten. Er trat hinaus, ließ sich auf den Rasen fallen und schlief ein unter einem Dach aus blauvioletten Jacaranda-Blüten.

„Aufstehen, Señor Batsch!“

Jan öffnete die Augen. Vor die Jacaranda-Blüten hatte sich ein Frauengesicht geschoben. Er sah tiefschwarze Mandelaugen und rote Lippen. Sein Herz schlug schneller.

„Es ist gleich elf Uhr. Ihre Mutter erwartet Sie. Ich bin Maya Shakyamuni. Wir haben telefoniert.“

Was für eine angenehme Stimme!

Jan stand auf, klopfte sich die Grashalme vom weißen Leinenanzug.

Maya lachte ihn an. „Ich bin die Pflegerin Ihrer Mutter. Doña Alejandra ist aufgeregt. Und Ihre Geschwister wollen Sie wiedersehen. Kommen Sie.“

Maya schwebte voran. Sie trug ein seidenleichtes rotes Kleid. Jan konnte den Blick nicht abwenden.

Am Absatz zur ersten Etage blieb sie stehen. An der Stirnseite befanden sich drei Türen. Vor der linken Tür brannten Kerzen. Jan erkannte einen Marienaltar. Darunter sah er ein rotes Häuschen mit der Figur eines Gaucho.

Über den Altären wehten bunte Fähnchen mit Aufdrucken in einer ihm unbekannten Schrift.

Links neben den Altären hing das Foto eines geschminkten Kindes, auf dem die Farben Rot und Schwarz dominierten.

Zwischen den Altären und der mittleren Tür stand ein Paar.

„Ist das …?“, fragte Jan.

„Das ist Ihre Schwester Stella mit ihrem Mann Edward.“

Stella war blass. Ihr blondes Haar fiel glatt über die linke Schulter. Wieso blonde Haare als Tochter einer Argentinierin und eines Mexikaners?

Jan wusste über seine Halbgeschwister nur das, was ihm sein Vater erzählt hatte. Stella war in San Francisco geboren worden, als Alejandra Irigoyen dort den mexikanischen Dirigenten Pablo Rodriguez kennenlernte. Er leitete das San Francisco Symphony Orchestra, sie war eine aufstrebende Pianistin. Neun Monate nach einem gemeinsamen Konzert wurde Alejandra von Zwillingen entbunden, Stella war zwölf Minuten älter als Geronimo, beide bekamen die amerikanische Staatsbürgerschaft. Pablo überließ Alejandra sein Haus in San Francisco, er selbst verbrachte die Zeit zwischen seinen Welttourneen lieber in Mexiko.

Als Geronimo sieben Jahre alt war, zog er zu seinem Vater und bekam neben der US-amerikanischen die mexikanische Staatsbürgerschaft. Stella lebte weiter in San Francisco, Geronimo hatte sich inzwischen in Tijuana direkt an der mexikanisch-amerikanischen Grenze niedergelassen.

Stella kam Jan ein paar Schritte entgegen und umarmte ihn: „Ich bin so froh, dass du da bist.“

„Stella. Lange nicht gesehen.“

Sie hakte sich bei Jan ein. „Meinen Mann Edward und meine Kinder kennst du nicht, oder?“

Edward Frost, grauer Anzug, graue Haare, begrüßte ihn zurückhaltend. „Sie sind der Theologe und Tüftler.“

„Mehr Tüftler“, sagte Jan, „die Religion hilft nicht, die Welt zu verbessern.“

Die Kinder, Joe und Zoe, kickten sich am Ende der Halle einen Tennisball zu und hatten keine Lust, Jan zu begrüßen.

„Wo ist Geronimo?“, fragte Jan.

„Der hat mit Ignacio Freundschaft geschlossen und zieht mit ihm um die Häuser“, sagte Stella mit missbilligendem Ton.

„Wenn man vom Teufel spricht …“, sagte Edward.

Geronimo und Ignacio verließen gut gelaunt den Aufzug. Jeder hatte ein Mategefäß in der Hand, in dem Bombillas steckten. Ignacio hatte außerdem eine knallgelbe Thermosflasche bei sich.

„Du musst Jan sein“, sagte Geronimo und klopfte ihm auf die Schulter. Geronimo war einen halben Kopf kleiner als er, aber kräftig. „Hier, probieren“, sagte er und hielt Jan die Kalebasse hin.

„Trink schon“, sagte Geronimo.

„Aber die Blätter“, widersprach Jan.

„Du musst die Flüssigkeit durch den Trinkhalm einsaugen. Der hat unten ein Sieb, du wirst dich nicht verschlucken.“

Der Mate-Tee war heiß und bitter. Jan verzog das Gesicht.

„Ist wohl nichts für Bleichgesichter“, lachte Geronimo.

Jan mochte dieses Lachen.

Geronimos braune Füße steckten in offenen Sandalen. Er trug blaue Jeans und eine braune Lederjacke über einem weißen Hemd, auf dem Kopf saß eine Che-Guevara-Kappe mit rotem Stern.

Es war fünf Minuten nach elf, als Ignacios Frau Sofía die Tür zum Salon öffnete und alle hereinbat.

Alejandra trug ein weißes Nachtgewand. Sie saß im Rollstuhl. Sie strecke ihre rechte Hand aus. Die Hand zitterte.

Geronimo erreichte sie als erster.

Alejandra beachtete ihn nicht.

Stella und Edward folgten, Joe und Zoe versteckten sich hinter ihren Eltern.