49,90 €
Therapeutisches Gammeln? Was steckt hinter diesem Konzept? Überlässt man hier Menschen mit Demenz sich selbst? Im Gegenteil. Das Begleiten der Menschen und ihrer Wünsche steht im Mittelpunkt, nicht die Standardabläufe in der stationären Pflege. Die Autonomie der Pflegebedürftigen zu erhalten, zu schützen und zu fördern, ist Ziel des Therapeutischen Gammelns. Das Handbuch stellt das Konzept vor, macht die konkrete Arbeit und die Praxiseinführung des Konzeptes anhand von Fallbeispielen transparent: Welche Voraussetzungen braucht es, um eine Gammel-Oase einzurichten? Wie reagieren Mitarbeitende, Angehörige oder die Heimaufsicht? Welche typischen Probleme sind zu lösen? Der Leitfaden beschreibt sämtliche Bausteine. Checklisten und Fragebögen runden das Praxishandbuch ab. Nutzen Sie die praktischen Erfahrungen aus Deutschlands erster Gammel-Oase in Marl. Lassen Sie sich vom Autorenteam ermutigen, gemeinsam mit Ihrem Team neue Wege zu gehen. Für mehr zufriedene Bewohner:innen mit Demenz und zufriedenere Mitarbeiter:innen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 430
Veröffentlichungsjahr: 2024
Stephan Kostrzewa (Hrsg.), Gisela Kreutz, Christian Löbel
Mit einem Geleitwort von Erich Schützendorf
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Sämtliche Angaben und Darstellungen in diesem Buch entsprechen dem aktuellen Stand des Wissens und sind bestmöglich aufbereitet.
Der Verlag und der Autor können jedoch trotzdem keine Haftung für Schäden übernehmen, die im Zusammenhang mit Inhalten dieses Buches entstehen.
© VINCENTZ NETWORK, Hannover 2024
Besuchen Sie uns im Internet: www.altenpflege-online.net
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.
Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen und Handelsnamen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne Weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um geschützte, eingetragene Warenzeichen.
Fotos Titelseite und Innenteil: Stephan Kostrzewa
eISBN 978-3-7486-0756-4
Geleitwort
Prolog
Danksagung
Einleitung
Welche Absicht verfolgt das hier vorliegende Werk?
IDer Bezugsrahmen
1.1Expertenstandard und Therapeutisches Gammeln
IIHauptfokus einer guten Demenz Care
2.1Autonomie stärken trotz Demenz
2.2Mit Betroffenen über das Thema „Demenz“ sprechen
IIIGrundlagen des Konzepts
3.1Palliativ Care und/oder Demenz Care?
3.2Demenz erzeugt Trauer
3.3Eine gewährende Haltung als Kernstück
3.4Die Phänomenologie der Demenz berücksichtigen
3.5Sinn und Unsinn in der Biografiearbeit
3.6Auch Angehörige haben eine Biografie
3.7Macht und Ohnmacht im Umgang mit Menschen mit Demenz
3.8Müssen alle Menschen mit Demenz validiert werden?
3.9„Das ist nicht mein Zuhause“
3.10Alles Friede, Freude und Eierkuchen?
3.11Erfahrungen mit Zweibettzimmern
3.12Falsche Hoffnungen und Versprechungen
IVTherapeutisches Gammeln in die Praxis überführen
4.1Voraussetzungen
4.2Von der Idee zum Projekt
4.3Klassische Projektarbeit
4.4Schulungen und Fortbildungsinhalte
4.5Exkurs: Schattentage als wichtiger Schulungsansatz
VIntegrierte Konzepte
5.1Willkommenskultur
5.2Integrierte Basale Stimulation
5.3Schlafstörungen lindern
5.4Die Rolle der Hauswirtschaft (Mamsell)
5.5Lebensqualität bei Menschen mit Demenz
VISchritt-für-Schritt zur eigenen Gammel-Oase
VIIGrenzen, Widerstände und Erfolgserlebnisse
VIIIAngehörigenarbeit
8.1Trauer bei Angehörigen von Menschen mit Demenz
8.2Angehörige als gesetzliche Betreuer:innen
8.3Angehörigen Fachwissen vermitteln
IXTrauer und Sterben
9.1Mit Menschen mit Demenz über das Sterben sprechen
9.2Palliative Care für Menschen mit Demenz
XFlexibilität über Fallbesprechungen
10.1Diagnostik bei Menschen mit Demenz unterstützen
XIQualitätskriterien für das Therapeutische Gammeln
11.1Exkurs: Ruhiggestellt – Vorsicht mit Psychopharmaka
11.2Symptomlinderung kann Psychopharmaka minimieren
11.3Schulungen stärken die Qualität
XIIReaktionen auf das Therapeutische Gammeln
XIIIHäufigste Fragen zur Arbeit in der Gammel-Oase
XIVAusblick
Anhang
Verwendete und empfohlene Literatur
Herausgeber/Autor/Autorin
Den Download mit Checklisten und Arbeitshilfen aus diesem Buch finden Sie unter: https://www.altenpflege-online.net/downloads/
Wie sieht ein Mittagessen aus – sagen wir mit Kolleg:innen in der Kantine?
Man setzt sich an den Tisch, beginnt fast gleichzeitig mit dem Essen, vermeidet unappetitliche Geräusche sowie Kleckereien und man beteiligt sich mehr oder weniger an dem Gespräch. Geschirr, Besteck und Speisen werden nur ihrem Zweck entsprechend benutzt. Kurz gesagt: Es geht zivilisiert zu.
Warum sollte ein Mittagessen mit Bewohner:innen eines Pflegeheimes anders aussehen? Die Rahmenbedingungen in den Speiseräumen sind die gleichen wie in einer Kantine. Tische, Stühle und das Geschirr stehen an ihrem Platz. Die Mahlzeit wird pünktlich aufgetischt. Und dennoch geht es nicht im üblichen Sinne zivilisiert zu. Die Bewohner:innen, die mit der Diagnose Demenz versehen wurden, halten sich nicht an die Spielregeln. Sie bleiben nicht am Tisch sitzen, sie spielen mit den Nahrungsmitteln, sie vergreifen sich an den Mahlzeiten der Mitbewohner:innen oder beschäftigen sich anderweitig. Das sorgt in den Pflegeheimen für Unruhe, die noch dadurch verstärkt wird, dass Mitarbeitende die vorgesehene Ordnung aufrechterhalten und die eigensinnigen Aktivitäten der Bewohner:innen unter Kontrolle bekommen wollen.
In der Gammel-Oase im Julie-Kolb-Seniorenzentrum in Marl findet man die gleichen Rahmenbedingungen und auch die Menschen mit der Diagnose Demenz verhalten sich genauso eigensinnig wie in anderen Einrichtungen. Sie setzen sich an den Tisch, wann sie es wollen, sie wandern durch den Raum oder sie liegen auf einem Sofa und dösen, während andere essen. Der Unterschied besteht darin, dass es ihnen im Julie-Kolb-Seniorenzentrum erlaubt ist. Die Mitarbeitenden bleiben gelassen und tun so, als wäre das Verhalten der Bewohner:innen normal. Sie sind nicht gestresst, wie man das aus anderen Einrichtungen kennt. Sie verzichten auf Reglementierungen, haben stattdessen ein Lächeln, ein Lob oder ein Lied für die Bewohner:innen, die sich nicht an die Ordnung halten, bereit. Sie sitzen neben einer alten Dame auf dem Sofa, statt einem Bewohner, der zittrig eine Kartoffel zum Mund führt, zur Seite zu springen.
Überlässt man die Menschen sich selber? Bekommen sie keine Anleitung, keine Begleitung?
Doch. Aber die Mitarbeitenden beherrschen die hohe Kunst des Tango-Tanzens und sie schaffen Räume, in denen sich die Kreativität der Menschen entfalten kann.
Das gefällt mir sehr und solche Begleiter:innen wünsche ich mir, wenn ich mich demnächst auf eine Reise begebe, die mich vom Verstand wegführt. Eine Partnerin oder einen Partner, die oder der sich wie beim Tango-Tanz auf meinen Rhythmus, meine Schrittfolge einlässt, und dies mit Hingabe tut, sodass ich bereit bin, mich auf seine oder ihre Schrittfolge einzulassen, wenn er/sie vorübergehend die Führung übernimmt.
Da ist ein Mann, der keine Anstalten macht, sich zum Essen an den Tisch zu setzen, und lieber durch den Raum wandert. Statt ihn aufzufordern, sich an den Tisch zu setzen, wird er bei seiner Wanderung begleitet, um dann, nachdem man denselben Rhythmus gefunden hat, mit ihm an den Tisch zu „tanzen“ oder das Essen während der Wanderung oder bei einer Pause auf einer Bank zu verzehren. Und selbstverständlich erwarte ich, wenn es so weit ist, dass man mir eine künstlerische Freiheit zugesteht, damit ich mich kreativ mit meiner Umwelt auseinandersetzen und beschäftigen kann. Dadaisten, jene Künstlergruppe, die vor 100 Jahren ihre Blütezeit hatte, wollten mit ihrer Kunst bewusst Unsinn erzeugen. Menschen mit der Diagnose Demenz unterscheiden sich von ihnen dadurch, dass sie den Dingen unbewusst einen neuen Sinn geben. So viel kreative Freiheit muss ihnen zugestanden werden. Sie benutzen das Wasser in einem Trinkglas, um ihre Karriere als Maler fortzusetzen. Statt das Kunstwerk auf dem Mittagstisch zu zerstören, indem das Wasser aufgewischt wird, wird den Menschen in der Gammel-Oase ein zweites Trinkglas angeboten, sodass sie sich beim „Malen“ einen Schluck genehmigen können. Das klingt nach einem entspannten Miteinander. Aber die Entspanntheit stellt sich nicht von alleine ein. Die Mitarbeitenden müssen immer wieder neu bereit sein, die Eigensinnigkeiten der Menschen zu interpretieren, um sich auf diese einzulassen. Sie müssen ihren Verstand benutzen, um nach dem Werden von Möglichkeiten Ausschau zu halten. Sie wissen, dass die Menschen ein Recht auf Mitwirkung und auf spielerische, ja unvernünftige Selbstbestimmung haben. Das alles ist leichter gesagt als getan.
Ich kann nachvollziehen, dass das Personal in vielen Pflegeeinrichtungen lieber den ordentlichen und bequemen Weg geht, dass es viel Zeit mit der Frage verbringt, warum die Bewohner:innen sich nicht so verhalten, wie sie es tun sollen, wie man sie auf den rechten Weg führt und dass es den Menschen lieber eine geplante Beschäftigung anbietet, als deren Eigenaktivität zu unterstützen und zu fördern. Verstehen kann ich es hingegen nicht, denn das Arbeiten und Leben in einer Gammel-Oase scheint doch allen Beteiligten mehr Freiheit, mehr Freude und mehr Wohlbefinden zu bieten.
Erich Schützendorf
Wir sind fest davon überzeugt, dass Menschen mit Demenz keine Exoten oder gar Aliens von einem fremden Planeten sind, die mit unserer Spezies (orientierte Menschen) nichts zu tun hätten. Sie sind uns ähnlicher als manchem lieb ist. Würden wir genauso erleben, wie es die Betroffenen tun, würden wir uns genauso verhalten, nämlich: unsicher, ängstlich und hilfesuchend. Hierzu gibt Lisa Snyder zu bedenken: „Wir können uns von der Alzheimer-Krankheit distanzieren, aber nicht von der Möglichkeit, abhängig oder behindert und von der Gesellschaft isoliert zu sein. Wir sollten genau hinschauen, wie Menschen mit Alzheimer betreut werden, denn die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit Betroffenen umgeht, ist das, was wir selbst erwarten können, wenn wir vorübergehend oder dauerhaft auf Unterstützung angewiesen sind“ (Snyder 2011: 30).
In dem hier vorliegenden Buch geht es daher auch darum, einen lebbaren Ansatz zu präsentieren, um den Menschen mit Demenz ihre Würde und ihre Autonomie zurückzugeben, in dem die „Schwarze Pädagogik“ und die Marktgesetze des Demenz-Marktes zurückgedrängt werden und die Ablauforientierung einer stationären Pflegeeinrichtung sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen zu orientieren haben – nicht umgekehrt.
Wir haben die begründete Hoffnung, dass uns diese Vorhaben mit dem Ansatz des Therapeutischen Gammelns in Deutschlands 1. Gammel-Oase gelungen sind.
Da wir Autoren unsere eigenen Erfahrungen mit dem Therapeutischen Gammeln mit in dieses Buch eingebracht haben, werden diese individuellen Textstellen besonders hervorgehoben. Hier findet sich dann „S.K.“ für Stephan Kostrzewa, „G.K.“ für Gisela Kreutz und „C.L.“ für Christian Löbel.
Dieses Buch hat nur entstehen können, weil uns viele aufgeweckte und uns zugewandte Menschen hierbei unterstützt haben. Insbesondere gebührt den Mitarbeiter:innen, Bewohner:innen und Angehörigen der Gammel-Oase unser Dank. Durch reichhaltige Rückmeldungen, konstruktive Kritik und gute Ideen ist das Konzept des Therapeutischen Gammelns mithilfe der praktischen Arbeit in Deutschlands 1. Gammel-Oase bereichert und erweitert worden.
Hier gilt unser ausdrücklicher Dank
Dr. Friedhelm Lischewski, Erich Schützendorf, Constance Afari-Krause, Gabriele Naskrent, Jessica Arns und Thulasi Usanthan.
Das Buch „Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz“ (Kostrzewa 2023a) hat Wellen geschlagen. Überhaupt zeigt sich ein reges Interesse an diesem Ansatz. Schon 2017 hat ein entsprechender Fachbeitrag in der ALTENPFLEGE (Vincentz Network) für reichlich Furore in den sozialen Netzwerken gesorgt. Hier wurde der Tenor „Nun lasst sie doch einfach einmal in Ruhe!“ mehrheitlich geteilt.
Der therapeutische Mumpitz und das tägliche „Disneyland“ (Schmieder, in Kostrzewa 2023a) scheinen auch Mitarbeiter:innen der Pflege und Betreuung sauer aufzustoßen. Vor Ort, in klassischen Pflegeeinrichtungen, wird dieser Kokolores oftmals mit den Anforderungen der externen Kontrollinstanzen gerechtfertigt. Zusätzlich scheinen Angehörige – so die Sicht mancher Praktiker in der Sozialen Betreuung – entsprechende Erwartungen an den Alltag einer stationären Einrichtung zu stellen. Hierbei beobachten dann Anwender:innen von manch skurrilen Aktivitäten und Angeboten bei den „bespaßten“ Bewohner:innen entsprechende Abwehrreaktionen. Trotzdem halten die Teams an entsprechenden Wochenplänen fest – es wird ja angeblich von „oben“ bzw. „außen“ gefordert.
Deutlich zeigt sich in den Selbstzeugnissen von Demenzbetroffenen (vgl. hierzu Kostrzewa 2023a: 31ff), dass diese sich intensiv mit ihren Phänomenen der Demenz befassen und diese auch nicht ohne Konsequenzen auf die Personen mit Demenz bleiben. Daher geht Demenz bei den Betroffenen mit einem großen Gefühlschaos einher. Dieses ist geprägt von Angst, Unsicherheit und Hilflosigkeit gegenüber der Demenzdynamik und eigentlich auch gegenüber der gesamten Umwelt. Vor allem aber ist es die Trauer über die zunehmenden Verluste, die die Betroffenen erleben und erleiden. Vertraute Personen, z. B. Partner:innen, nehmen hierbei (aber nicht in allen Fällen) eine stützende Funktion ein. Nicht selten aber sind diese Angehörigen mit der eigenen Trauer befasst, ohne diese als solche zu erkennen. Hieraus entstehen dann oftmals toxische Beziehungen zu den Profis. Hier ist dann mindestens genauso viel Energie vonseiten der Teams gefordert, wie es die eigentliche Arbeit mit den Demenzbetroffenen benötigt – mit einem Unterschied: Für Angehörigenarbeit gibt es kein Geld. Weder von den Kranken- noch den Pflegekassen. Dass sich die Mitarbeiter:innen mit den Sorgen der Angehörigen befassen, ist also reiner Service. Bei manchen besonders unterstützungsbedürftigen Angehörigen bzw. Zugehörigen1 umfasst dieses Hilfsangebot mehrere Stunden in der Woche, zumindest zu Beginn des Auftrags.
Das vorliegende Buch versteht sich nicht als Fachbuch, das eine Einführung in das große Themenfeld der „Demenz“ liefert. Daher verzichten wir auch auf eine differenzialmedizinische Darstellung einzelner Demenzformen. Auch möchten wir keine typischen Verläufe und Auflistungen von primären und sekundären Symptomen liefern, denn diese Darstellung von naturwissenschaftlich-reduktionistischem Denken, steht der eigentlichen Intention dieses Buches im Weg. Sollte der interessierte Leser nach entsprechender Literatur suchen, so kann er z. B. bei Gutzmann, H. & Zank, S. (2005) fündig werden.
Hier in diesem Werk soll es um Menschen gehen, die im Laufe ihres Lebens den Phänomenen einer Demenz begegnen – ob als Betroffene, Angehörige oder professionell Begleitende. Der Umgang mit Demenzbetroffenen richtet sich eben nicht nach der jeweils durch die Schulmedizin bestimmten und definierten Demenzform, sondern nach dem Faktum, dass die Betroffenen Menschen sind, denen mit vollem Respekt begegnet werden muss. Der hier propagierte Respekt stellt daher die Autonomie des Betroffenen in den Mittelpunkt. Diese zu erhalten, zu schützen und zu fördern ist das vornehmliche Ziel des Therapeutischen Gammelns.
Zum einen soll es das große Interesse an dem Ansatz des Therapeutischen Gammelns bedienen. Es soll aber auch den Einrichtungen oder Teams behilflich sein, die etwas Ähnliches auf die Beine stellen wollen. Erste Leitungsteams aus anderen Pflegeeinrichtungen waren schon in Deutschlands 1. Gammel-Oase in Marl, um sich zu informieren und inspirieren zu lassen. Aus diesem Grund haben wir reichlich Werkzeug in den Text, aber auch in die Anlage eingefügt. Anhand der einzelnen Fallvignetten soll aber auch die konkrete Arbeit in der Gammel-Oase transparenter werden. Hieran kann der/die interessierte Leser:in nachvollziehen, dass es ein großes Stück Arbeit bedeutet, wenn Teams mit ihren Bewohner:innen mit Demenz zukünftig therapeutisch gammeln wollen. Selbstverständlich stehen die Autor:innen interessierten Leser:innen für Nachfragen zur Verfügung – erst recht, wenn es um ähnliche Projekte geht, bei denen interessierte Nutzer:innen Unterstützung und Anregung benötigen.
Immer wieder bekommen wir Anfragen von interessierten Mitarbeiter:innen der stationären Altenarbeit zugeschickt, die uns fragen, ob denn Therapeutisches Gammeln möglich ist, ohne dass die Leitungsebene diesen Ansatz unterstützt. Leider müssen wir diese Frage mit einem klaren NEIN beantworten. Die Devise lautet hier: „Ganz oder gar nicht!“ Nur ein bisschen gammeln2 in einer ansonsten verwahrenden Versorgung von Menschen mit Demenz geht nicht. Adorno würde hier kommentieren: Es gibt kein richtiges Leben im falschen (Adorno 1997).
Das Implementieren des Therapeutischen Gammelns bedeutet auch nicht, dass hier ein Ponyhof entsteht. Mitarbeiter:innen benötigen z. B. eine hohe Toleranzschwelle gegenüber dem Chaos, das immer wieder auch mit zum Alltag von Menschen mit Demenz gehört. Das ist nicht jedermanns Sache. Daher werden wir auch an gegebener Stelle auf die Schwierigkeiten hinweisen, die das Arbeiten in einer Gammel-Oase mitbringen kann.
Nichtsdestotrotz möchten wir Einrichtungen dazu ermutigen, das Therapeutische Gammeln zu implementieren. Ja, es bedeutet viel Arbeit und verlangt einen hohen Einsatz an Zeit, Manpower und Geld. Aber der Lohn sind zufriedene Bewohner:innen mit Demenz und zufriedene Mitarbeiter:innen(!), was ja heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
Also: Let´s gammeln!
1Da oftmals mit dem Begriff „Angehörige“ eher die Familienangehörigen gemeint sind, hat sich im Gesundheitswesen der Begriff „Zugehörige“ etabliert. Hiermit sind dann z. B. auch Freunde, ehemalige Nachbarn, Arbeitskollegen oder nicht Blutsverwandte gemeint. Im Text nutzen wir wahlweise beide Begriffe.
2Insbesondere finden wir Fortbildungsangebote irritierend, die sich auch „Therapeutisches Gammeln“ nennen, jedoch Entspannungsangebote für Bewohner oder Ähnliches anbieten. Das ist aber Therapeutisches Gammeln mitnichten. Vorsicht also vor Etikettenschwindel und Trittbrettfahrern!
Das Therapeutische Gammeln ist nicht im luftleeren Raum entstanden oder vom Himmel gefallen. Für das Konzept des Therapeutischen Gammelns ist der Person-zentrierte Ansatz von Tom Kitwood als übergeordneter Theorieansatz die eigentliche Leitlinie. Der in Tom Kitwoods Ansatz zentrale Begriff »Person-zentriert« geht ursprünglich unter anderem auf den Psychotherapeuten Carl Rogers zurück. Er versteht Person-zentriert als eine grundlegende Form der zwischenmenschlichen Interaktion. Für eine Person-zentrierte Beziehung empfiehlt Rogers (1992) drei sogenannte Therapeutenvariablen: Kongruenz, Empathie und Wertschätzung. Was meinen diese drei Variablen?
–Kongruenz: Die Begleitperson ist echt und unverfälscht im Umgang mit dem Gesprächspartner (bei Rogers Klient:in). Das heißt, dass der/die Begleiter:in „… kein professionelles Gehabe und keine persönliche Fassade zur Schau trägt“. (Rogers 2015: 67).
–Wertschätzung: Die Begleitperson begegnet ihrem Gegenüber mit bedingungsloser positiver Zuwendung. Sie muss nicht das, was ihr Gegenüber tut und sagt, selber für gut erachten. Sie akzeptiert hingegen die Einstellung und das Erleben des anderen.
–Empathie: Die Begleiterperson lässt sich in der Form auf ihr Gegenüber ein, dass sie ein einfühlendes Verstehen entwickeln kann. Unterstützt wird das empathische Einfühlen durch entsprechende Techniken des aktiven Zuhörens, die dem Gegenüber verdeutlichen, dass es verstanden wird. Das Gegenüber wird vorbehaltlos angenommen.
Den hier von Carl Rogers erarbeiteten Person-zentrierten Ansatz überträgt nun Kitwood auf die Begegnung mit dem Menschen mit Demenz und dessen Erlebenswelt. Hier werden nun Angebote (Beachte: Auch Pflege ist nur ein Angebot!) grundsätzlich vor dem Hintergrund der Bedürfnislage und der Autonomiebestrebungen des/der Betroffenen mit Demenz reflektiert und infrage gestellt. Hieran orientiert geht es uns daher nicht darum, irgendwelche Aufgaben an dem/der Betroffenen abzuarbeiten. „Personenzentrierung umfasst demnach auch gemeinsame Entscheidungsfindungen und die Unterstützung des Selbstmanagements des Pflegebedürftigen.“ (DNQP 2018: 76).
Somit geht es darum, wie (respektvoller und erwachsenengerechter Umgang) und ob (die Autonomie des/der Betroffenen berücksichtigend) etwas mit einer oder für eine Person mit Demenz getan wird – aber nicht, was (z. B. Aufgabenkatalog abarbeiten) getan wird. Daher ist es so schwierig, in klassischen Einrichtungen der Altenarbeit einen Person-zentrierten Ansatz zu implementieren, denn der Person-zentrierte Ansatz verfolgt eine grundsätzlich andere Philosophie im Umgang mit Personen mit Demenz. Die leitende Devise lautet hierbei:
AUTONOMIE TROTZ DEMENZ!
Es macht auch überhaupt keinen Sinn, wenn nur wenige Akteur:innen eines Teams eine Person-zentrierte Haltung dem Menschen mit Demenz gegenüber einnehmen und die übrigen sind weiterhin verwahrend (kustodial) oder aufgaben- und ordnungsorientiert unterwegs. Also:
ALLE ODER KEINER!
Im (Pflege-)Alltag mit den Betroffenen können schon kleine Gesten, Maßnahmen oder Interventionen Ausdruck von Person-zentrierter Arbeit sein. Kitwood nennt verschiedene Interventionen (Kitwood 2013: 159ff), die die Fähigkeiten, das Person-Sein auszuleben, unterstützen und stärken können. Diese möchten wir (in Anlehnung an: Klug, M.: Tom Kitwood und die Person-zentrierte Pflege, In: Pro Alter, KDA, Köln Heft 01/2018, 14–15) hier näher vorstellen:
–Anerkennen: Eine Person mit Demenz mit ihrem Namen begrüßen, ihr erst einmal zuhören, den Blickkontakt aufnehmen, ihr also Aufmerksamkeit schenken.
–Verhandeln: Ein Mensch mit Demenz soll, soweit es ihm möglich ist, in den Entscheidungsprozess der Pflege und Betreuung eingebunden werden. Hierüber erhält er dann die Kontrolle und die Regie über diese Angebote zurück.
–Zusammenarbeit: Wenn Personen mit Demenz zweckfreie Handlungen durchführen, liegt es an uns Begleitpersonen, diese Eigeninitiative zuzulassen und zu ermöglichen. Hieraus entsteht dann eine Form der Zusammenarbeit. Mitunter müssen noch nicht einmal „Betreuungs- und Beschäftigungsangebote“ von außen vorbereitet werden, wenn Mitarbeiter:innen die Muße aufbringen, auf die Eigeninitiative der Personen mit Demenz zu warten, um dann mit in diese Beschäftigung einzusteigen.
–Spielen: Zweckfreier Selbstausdruck ist ein Wesensmerkmal des Menschen. Kinder lernen hierüber spielerisch ihre Umwelt kennen. Auch wir pflegen einen zweckfreien Selbstausdruck, wenn wir z. B. während einer Teamsitzung kleine Bildchen auf unseren Block kritzeln.
–Stimulation: Das Gehirn möchte stimuliert werden – es benötigt also einen Reiz-Input. Hierbei ist es allerdings nicht egal, welche Reize dem Menschen angeboten werden. Die Basale Stimulation liefert eine Fülle von Reizvarianten. Diese werden allerdings nicht wahllos, sondern abgestimmt und absichtsvoll angeboten.
–Miteinander feiern: Wenn Mitarbeiter:innen mit Personen mit Demenz gemeinsam feiern, wird die Beziehungsasymmetrie zwischen betreuter und betreuender Person aufgehoben. Beim Feiern begegnet man sich somit auf Augenhöhe.
–Entspannen: Da die meisten Personen mit Demenz eher ängstlich, hilflos und unsicher sind, benötigen sie wohldosierte Nähe durch vertraute Personen. Hierüber kann dann ein Gefühl der Sicherheit entstehen.
–Validieren: Nicht als Technik verstanden, sondern als Haltung. Einer Person mit Demenz wird darüber Wertschätzung (Validation) vermittelt, dass wir Begleiter:innen ihre subjektiven Gefühle, Motive und Antriebe anerkennen und dass wir aber auch anerkennen, dass es für die Betroffenen nur die eine individuelle Realität gibt (Geiger 2015).
–Halten: Vertraute (Bezugs-)Personen und ein überschaubares Wohnumfeld mit vertrauten Gerüchen, vertrauten Gegenständen und Geräuschen schaffen einen Raum, der Sicherheit vermittelt.
–Erleichtern: Zeigt eine Person mit Demenz eigene Aktivitätsimpulse, so ist es Aufgabe der Mitarbeiter:innen, diese zuzulassen, aufzunehmen, zu unterstützen und hierin eine mögliche Bedeutung zu sehen.
–Kreativität ausleben lassen: Personen mit Demenz geben ihren Handlungen oftmals eine eigene Bedeutung. Hier liegt es nun an den professionellen und familiären Begleiter:innen, diese kreativen Handlungen zu erlauben, auch wenn dies mit Mehrarbeit und „Unordnung“ verbunden ist.
–Gegenseitiges Schenken zulassen: Gegenseitiges Schenken stärkt die Beziehung. Auch Personen mit Demenz haben den Wunsch, die Beziehung zu einzelnen Begleiter:innen hierüber zu würdigen. Wichtig ist hier, dass Begleiter:innen das Schenken als solches erkennen und zulassen.
Die hier beschriebene Haltung muss in einen organisatorischen Rahmen eingebettet sein, der diese Arbeit mit den demenziell veränderten Personen auch wirklich ermöglicht. Daher muss von Beginn an die komplette Leitungsebene in den Implementierungsprozess eingebunden werden. Ohne sie geht es nicht!
Hierbei ist uns in der praktischen Umsetzung in Deutschlands 1. Gammel-Oase aufgefallen, dass es im Vergleich zur herkömmlichen Versorgung von Menschen mit Demenz in klassischen Pflegeeinrichtungen, wie wir sie bisher erlebt und selber auch gelebt haben, eine radikal veränderte Arbeit ist. Leider ist nicht jede:r Mitarbeiter:in fähig oder gewillt diesen Schwenk mitzugehen, da es das Selbstverständnis, das über Jahrzehnte gewachsen ist, vermittelt und gepflegt wurde, ebenfalls radikal infrage stellt.
In meinen (S.K.) Seminaren zur Palliative Care und Sterbebegleitung beschreiben Teilnehmende immer wieder, dass, wenn ein:e Schwerstkranke:r ans Lebensende kommt, das Team nur noch das Notwendigste an Pflege und Betreuung anbietet und es dem/der Betroffenen so „schön wie möglich“ gemacht wird. In uns provoziert das dann immer wieder die Frage: „Warum erst dann?“ Die so Befragten sind dann immer ganz verdutzt über diese Frage. Manche antworten dann: „Ja, dann bringt das ganze Aktivieren, Motivieren und Rehabilitieren doch nichts mehr!“ Genau! Aber auch hier bleibt dann zu fragen, ob es denn vorher, also vor dem eigentlichen Sterbeprozess, etwas gebracht hat? Auf welche Expertise oder evidenzbasierte Studie berufen sich die Anwender:innen bei manch fragwürdigen Trainings und vermeintlichen Demenz-Angeboten?
Der Ansatz der Person-zentrierten Pflege des englischen Sozialpsychologen Tom Kitwood ist in der Demenz-Szene in aller Munde. Hier ist es ein innovativer Ansatz – in der Hospizarbeit und Palliative Care ist diese Ausrichtung (»Die Bedürfnisse und Wünsche des Betroffenen stehen im Mittelpunkt all unserer Bemühungen und Sorge«) hingegen die Seele einer palliativen Haltung und daher schon lange bekannt. Die Wünsche, Bedürfnisse und Bedarfe der Schwerkranken und Sterbenden in den Mittelpunkt einer Sorgekultur zu stellen ist in der Palliative Care selbstverständlich. Warum nicht auch bei allen Menschen mit Demenz? Insbesondere in der fortgeschrittenen Demenz?
Hier herrscht leider immer noch in vielen klassischen Betrieben der Altenarbeit eine sogenannte „Schwarze Pädagogik“ vor. Diese zeigt dem Betroffenen auf, wie er „richtig dement“ ist und wer denn der/die eigentliche Spezialist:in für Demenz ist, nämlich der/die Mitarbeiter:in. Dieser trainiert und therapiert den/die zu Pflegende:n mit Demenz – mitunter auch gegen seinen Willen. Die Logik lautet hier: „Bitter für den Mund – für den Körper gesund!“ Da muss man halt durch – lautet die bedauernde, aber zwingende Logik. Aber ist das wirklich so? Haben wir als Mitarbeiter:innen das Recht und die Verpflichtung, alte Menschen mit Demenz zu nötigen, zu überreden oder mitunter zu erpressen? Selbstverständlich nicht! Kitwood würde hierbei von einer malignen Sozialpsychologie sprechen (Brooker 2008: 22f).
Der Person-zentrierte Ansatz tickt hierbei anders, denn er überlässt den Betroffenen die Expert:innenrolle und somit auch die Regie für ihre Pflege, Versorgung und Betreuung. Das ist immer noch nicht selbstverständlich in der Demenz Care. Für klassische Altenpflegeeinrichtungen resümiert schon in 2005 Dürrmann:„Vielmehr besteht die Illusion, dass wir die allein Handelnden sind. Der Bewohner ist Objekt, reduziert auf Pflegestufen und Zeitkontingente, und sollte nach Möglichkeit unserer Erwartungshaltung gemäß dem standardisierten Pflegeprozess entsprechen. Intuitiv erkennen wir aber, nicht auf dem richtigen Weg zu sein“ (Dürrmann 2005: 26).
Aus diesen Überlegungen leiten wir somit in Anlehnung an Tom Kitwood die folgenden Prämissen ab, die wir hier in einer Übersicht aufzeigen.
Kernaussagen des Person-zentrierten Ansatzes
•Die Person des Menschen mit Demenz steht im Mittelpunkt der Betrachtung,
•es werden nicht seine Defizite aufgezeigt,
•nicht die Demenz steht im Mittelpunkt,
•nicht Funktionen sollen erhalten werden durch Trainings,
•sondern die Persönlichkeit bzw. die Person, also ihre Individualität und in letzter Konsequenz ihr Wohlbefinden.
Besonders der letzte Punkt in der Übersicht macht deutlich, dass alles unterlassen werden sollte, was einem Menschen mit Demenz das Person-Sein nimmt oder dieses untergräbt. Hierzu gehört z. B., dass niemals in Gegenwart einer Person mit Demenz über sie gesprochen wird. Dieses Verhalten erklärt sie nämlich zu einem Objekt.
Praxisbeobachtung:
Die Ehefrau eines Menschen mit Lewy-Body-Demenz ist über die Verhaltensweisen ihres Mannes entsetzt. Sie ist völlig überfordert mit seiner häuslichen Pflege und Versorgung. Dieses schildert sie einem Mitarbeiter der ambulanten Pflege im Beisein des Betroffenen, während er völlig indifferent vor sich hinstarrt. Gelegentlich fällt dann auch in ihren Beschreibungen das Wörtchen „er“. Also: „Nachts macht er dieses und jenes …“ Während sie also seine „Untaten“ schildert, hebt er langsam den rechten Finger, als wenn er sich in der Schule melden würde, und sagte klar und deutlich: „Er – das bin ich.“
Auch Mitarbeiter:innen unterläuft dieser Fehler immer wieder. Daher hat sich eine bestimmte Übung (siehe in Kapitel 5.5.) bewährt. Sie lässt die Übenden nachempfinden, wie es ist, wenn in Anwesenheit eines Betroffenen über ihn gesprochen wird.
Betroffene mit Demenz fühlen sich sowieso in einer reduzierten und defizitären Lage. Wenn nun auch noch seine soziale Umwelt sie als Objekt sieht und behandelt, wird die Kränkung umso stärker erlebt. Auch Geiger erzählt von der Selbsteinschätzung seines Vaters. Dieser sieht sich wie folgt: „Ich bin einer, der nichts zu melden hat. Da ist nichts mehr zu machen.“ Und weiter:„Ich bin nichts mehr“ (Geiger 2015: 114).
Praxisbeobachtung aus der Gammel-Oase:
Ein eher einsilbiger und stiller Bewohner mit Demenz, Herr B., hatte Geburtstag. Er bekam reichlich Besuch und Geschenke. Kaum waren seine Gäste gegangen, teilte er unserer Betreuungsassistentin, Gabriele Naskrent, klar und deutlich mit: „Ich fühle mich wie ein Affe im Zoo. Alle kommen zu Besuch, starren mich an, werfen mir ein Leckerchen zu und gehen dann wieder weg in mein Zuhause, wohin ich nicht mehr darf.“ Die Kollegin war völlig überrascht und erschüttert über diese Aussagen. Deutlich war (wieder einmal) zu erkennen, dass Menschen mit Demenz verwirrter wirken, als sie wirklich sind. Deutlich ist hierbei aber auch das Thema „Trauer“ zu bemerken.
Unbedingt gilt es die folgenden Verhaltensweisen zu berücksichtigen, die das Person-Sein (laut Kitwood) stärken. In der Übersicht finden sich daher neun wichtige Handlungsempfehlungen, die die Integrität der Demenzbetroffenen stärken können.
Neun Handlungsempfehlungen zur Stärkung der Person mit Demenz
1.Akzeptiere den Menschen so, wie er ist
2.Lass den/die Betroffene:n den eigenen Willen behaupten und Gefühle ausdrücken
3.Biete ihm/ihr Nähe und Wertschätzung an
4.Gib dem Menschen mit Demenz die Möglichkeit, Selbstachtung zu erleben
5.Fördere seine sozialen Kontakte
6.Biete dem/der Betroffenen die Möglichkeit, sein/ihr Leben normal zu gestalten und sich vertrauter Beschäftigung zu widmen (Vertrautheit durch Normalität)
7.Stimuliere seine/ihre Sinne, und lass ihn/sie genießen und sich entspannen
8.Arbeite mit Humor
9.Schaffe eine sichere und fördernde Umgebung
(Quelle: In Anlehnung an Kitwood 2008 und Brooker 2008)
Kann sich nun der/die Betroffene nicht mehr verständlich mitteilen, sind die Teams zusammen mit den Zugehörigen darauf angewiesen, intuitiv und/oder im Rahmen einer Fallbesprechung, die Bedarfe des/der zu Pflegenden mit Demenz zu erfassen. Wie das gehen kann, zeigen wir in einer weiter unten aufgeführten Schritt-für-Schritt-Anleitung.
Wir leben nun einmal in einer innovativen und von Ratio geprägten Gesellschaft, in der ein kognitives oder psychisches Problem nach wie vor einen Makel darstellt. Dass die Betroffenen zu Beginn der Demenz nichts von ihrer Erkrankung merken würden, ist eine mittlerweile längst überholte Ansicht. Überdeutlich erleben sie, dass die Welt immer fremder wird und ihre kognitiven Kompetenzen zunehmend schwinden. Dieses Erleben löst Ängste und Peinlichkeitsreaktionen bei den Betroffenen aus.
Um den Betroffenen gerecht zu werden, wenn diese ihre eigentlichen Wünsche und Bedürfnisse nicht deutlich verbal mehr mitteilen können, braucht es Mitmenschen, die versuchen, sich in die Menschen mit Demenz hineinzuversetzen. Hierbei ist es allerdings wichtig zu wissen, dass dieses Einfühlen in einen anderen Menschen vielen verzerrenden Einflüssen ausgesetzt ist. Diese gilt es so weit wie möglich zu minimieren. Wie das gelingen kann, zeigt die hier aufgeführte Schritt-für-Schritt-Anleitung.
Schritt-für-Schritt-Anleitung für die Interpretation von empathischen Eindrücken
1. Schritt: Nehmen Sie Ihre Empfindungen bewusst wahr
Haben Sie es mit Personen mit Demenz zu tun, die ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr verbal äußern können, bleibt Ihnen noch die Möglichkeit, sich intuitiv in diese Menschen zu versetzen. Das tun Sie gewiss ganz selbstverständlich und täglich. Hier ist es nun wichtig herauszufinden, ob es sich hierbei um ein Empfinden handelt, das Sie quasi über Ihren „Seismografen“ wahrgenommen haben, oder ob es eigene Bedürfnisse sind, die Ihre Wahrnehmung beeinflussen. In dem Fall würden wir dann von einer Projektion sprechen.
2. Schritt: Setzen Sie sich mit Menschen zusammen, die den/die Betroffene:n auch kennen
Um das eine vom anderen zu trennen, sollten Sie Ihre empathischen Eindrücke mit weiteren Personen abgleichen, die den/die Betroffene:n ebenfalls kennen bzw. erleben. Hierzu sollten Sie Zugehörige und auch pflegeferne Mitarbeiter:innen, z. B. aus der Sozialen Betreuung oder Hauswirtschaft, mit einbeziehen. Organisieren Sie hierzu eine Fallbesprechung.
3. Schritt: Sammeln Sie die Eindrücke und Empfindungen
Erfragen Sie die Empfindungen bei anderen Personen (z. B. Kolleg:innen oder Angehörigen), wenn diese den/die Betroffene:n beobachten und bei ihm/ihr sind. Sammeln Sie die geäußerten Empfindungen auf einem Flipchart-Bogen. Ähnliche Empfindungen setzen Sie untereinander oder zählen deren Häufigkeit.
4. Schritt: Versuchen Sie die eigenen aktuellen Bedürfnisse auszublenden
Die teilnehmenden Personen sollen sich ihrer eigenen Bedürfnisse und aktuellen Themen bewusst werden. Bitten Sie die Teilnehmenden, diese Bedürfnisse zu benennen (sofern sich diese darauf einlassen). Versuchen Sie nun, diese Aspekte aus den aufgeführten Empfindungen herauszustreichen.
Bedenken Sie, dass oftmals den Demenzbetroffenen aufgrund ihrer Demenz ein Leiden unterstellt wird. Das ist aber nicht immer der Fall, denn häufig leiden die Betroffenen an ihrem sozialen Umfeld – hingegen nicht unbedingt an der Demenz. Diesen Sachverhalt gilt es nun aus der Gesamtbetrachtung herauszufiltern.
5. Schritt: Suchen Sie den gemeinsamen „Empfindungs-Nenner“
Versuchen Sie nun gemeinsam einen „Empfindungs-Nenner“ zu formulieren, z. B.:
•Angst,
•Hilflosigkeit,
•Unsicherheit oder
•Unwohlsein.
Erfragen Sie noch einmal in der Runde der Teilnehmenden, ob diese sich mit dieser Empfindung identifizieren können. Formulieren Sie nun gemeinsam eine „Verstehenshypothese“ zum Verhalten der Person mit Demenz.
6. Schritt: Entwerfen Sie Maßnahmen und wenden Sie diese an
Leiten Sie mögliche Maßnahmen für den gemeinsamen „Empfindungs-Nenner“ bzw. die „Verstehenshypothese“ ab, z. B.:
•beruhigende Ganzkörperwaschung,
•beruhigende Handmassage oder
•einen „Nestbau“ mithilfe verschiedener Kissen.
7. Schritt: Werten Sie deren Effekte gemeinsam aus
Ob die eingeleitete Maßnahme einen positiven Effekt auf die Person mit Demenz hat, können Sie gemeinsam über ein gleiches Vorgehen herausfinden. Hierzu können Sie zudem noch körperliche Parameter mit einbeziehen, wie z. B.:
•Muskeltonus
•Atmung
•Pulsfrequenz
•Blutdruck
Tauschen Sie sich regelmäßig mit den anderen beteiligten Personen über den intuitiven Eindruck aus, den Sie von der beobachteten Person mit Demenz haben.
Vertiefungsliteratur:
Van der Kooij, C. (2012). Ein Lächeln im Vorübergehen. Erlebnisorientierte Altenpflege mit Hilfe der Mäeutik, Hans Huber, Bern.
Marshall, M. & Allan, K. (2011). Ich muss nach Hause. Ruhelos umhergehende Menschen mit einer Demenz verstehen, Hans Huber, Bern.
(Quelle: Eigene Darstellung)
Lange Zeit hat sich die Arbeit mit Menschen mit Demenz an einem naturwissenschaftlich-reduktionistischen Modell der Psychiatrie orientiert. Dieses ist eher defizitorientiert und sieht nicht den ganzen Menschen mit seiner Bedürfnislage. Dem hält Dürrmann entgegen:„Es zählt die Normalität und Wirklichkeitssicht der Bewohner, nicht die des Betreuers“ (Dürrmann 2005: 22). Schon Kitwood hat auf diesen Zusammenhang hingewiesen: „Die Psychiatrie tendiert von da an zu einem eher enggefassten Umgang mit Demenz, bei dem oft die größeren menschlichen Themen ignoriert wurden, und andere mit der Medizin verbundene Disziplinen schlossen sich dem an“ (Kitwood 2022: 27).
Der Person-zentrierte Ansatz hebt diese menschlichen Themen nun hervor, da sie aus Sicht der Demenzbetroffenen existenziell sind. Das Therapeutische Gammeln folgt dieser Logik und bietet daher mithilfe der Gammel-Oase einen Schutzraum für Menschen mit Demenz an, in dem Betroffene ihre zutiefst menschlichen Bedürfnisse ausleben dürfen. Zudem werden die Mitarbeiter:innen in begleitenden Schulungen für diese Bedürfnislagen und Lebenssituationen sensibilisiert. Auch ein begleitendes Mappen, in Anlehnung an das DCM (2004), kann diese Sensibilisierung des Teams noch unterstützen.
Seit 2018 gibt es nun den Nationalen Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ (DNQP 2018). Wie alle anderen nationalen Expertenstandards besteht dieser Expertenstandard aus sogenannten Struktur-, Prozess- und Ergebniskriterien. Diese sind auf fünf verschiedenen Prozess-Ebenen angelegt. Die Strukturkriterien geben den Einrichtungen vor, was diese im Sinne des Expertenstandards vorhalten müssen, z. B. Kompetenzen der Pflegefachkräfte und Angebote zur Beziehungsgestaltung.
Ein Prozesskriterium beschreibt, wie das jeweilige Angebot umgesetzt werden soll. Um nun zu erfassen, ob das gesetzte Ziel auch erreicht wurde, werden im Standard Ergebniskriterien aufgeführt. Aus dieser Logik ergibt sich ein Ablauf, der in sich schlüssig ist und dessen Schritte aufeinander aufgebaut sind, was anhand der Reaktionen der Betroffenen überprüft werden kann. In einer Übersicht hat Kostrzewa (2023a) die einzelnen Prozessebenen wie folgt dargestellt:
Diese fünf Kriterien behandelt der Expertenstandard
Prozessebene 1: Haltung und Kompetenz
•Die Pflegefachkraft kann eine Person-zentrierte Haltung entwickeln.
•Pflegefachkräfte kennen sich im Thema „Demenz“ aus, z. B. in Bezug auf Demenzarten und -verläufe.
•Es obliegt der Einrichtung, Rahmenbedingungen zu organisieren, die für die Teams vor Ort eine Person-zentrierte Arbeit ermöglichen.
Prozessebene 2: Planung und Durchführung der Maßnahmen auf Grundlage einer Verstehenshypothese
•Maßnahmen für Betroffene werden zeitnah auf Grundlage einer „Verstehenshypothese“ im Rahmen von Fallbesprechungen entworfen.
•Diese müssen den „hypothetisch“ angenommenen Bedürfnissen des Betroffenen stetig neu angepasst werden.
Prozessebene 3: Anleiten, schulen und beraten
•Pflegefachkraft und Pflegeeinrichtung unterbreiten der Person mit Demenz und deren Angehörigen ein entsprechendes Informations-, Anleitungs- und Beratungsangebot.
•Sie informieren hierbei z. B. über regionale Demenznetzwerke, Selbsthilfegruppen, Internetplattformen und Beratungsstellen.
Prozessebene 4: Eine Palette an Maßnahmen und Angeboten
•Gemäß der hypothetisch angenommenen Bedürfnislage der jeweiligen Person mit Demenz werden nun entsprechende Angebote und Maßnahmen entwickelt und durchgeführt, z. B. Musiktherapie oder Validation.
Prozessebene 5: Evaluation des Effekts der Maßnahmen und Angebote
•Der Effekt der Maßnahmen wird an der Person mit Demenz erhoben, z. B. über sogenannte Wohlbefindenswerte wie positive verbale, paraverbale oder nonverbale Reaktionen.
•Hierbei kann dann z. B. die Bradford-Skala zum Einsatz kommen.
(Quelle: Kostrzewa 2023a: 51f)
Der Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ stellt die Beziehungen des Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt. Er folgt der Logik, dass die Identität eines Menschen durch Beziehungen zu anderen Menschen gestützt bzw. erst ermöglicht wird. Nach unserem Verständnis sollte aber auch dem Streben des Menschen mit Demenz nach Autonomie in der täglichen Arbeit mit den Betroffenen mindestens ein gleichwertiges Gewicht zuteilwerden. Auch wenn herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz sich als „Bindungssuche“ interpretieren lassen, zeigt die tägliche Praxis aber auch, dass die emanzipatorischen Anstrengungen der demenziell veränderten Menschen ebenfalls herausfordernde Verhaltensweisen hervorbringen können. Hier geht es dem Betroffenen darum, seine Identität und Individualität zu stützen, zu schützen und zu behalten. Dieser Fokus wird nach unserem Verständnis zu wenig im Nationalen Expertenstandard berücksichtigt.
Der Nationale Expertenstandard orientiert sich an dem Person-zentrierten Ansatz nach Kitwood (2000). Leider wird dieser Ansatz oftmals mit individualisierter Pflege übersetzt, was mitnichten der Fall ist. Hier ist es somit angezeigt zu verdeutlichen, was den Unterschied zwischen individueller und Person-zentrierter Arbeit ausmacht. Die individuelle Pflege und Versorgung gibt vor, welche Aufgaben „notwendig“ sind in der Arbeit mit Menschen mit Demenz, z. B.: Waschen, Essen, Anziehen, Gedächtnis- und Orientierungstraining, Mandalas-Ausmalen oder Sitztanz. Diese werden dann individuell gestaltet, indem z. B. die Waschgewohnheiten der zu Pflegenden im Rahmen der Biografiearbeit (mehr oder weniger) berücksichtigt werden. Die grundsätzliche Notwendigkeit der Aufgaben (z. B. Waschen) und die grundsätzliche Zustimmung der Person mit Demenz zu eben diesen Aufgaben, werden hierbei dann eher nicht kritisch reflektiert, was z. B. Kostrzewa (2023a) wie folgt infrage stellt:
–Haben wir Pflegemitarbeiter:innen den Auftrag „Pflege“ von dem Betroffenen selber erhalten? Wenn „nein“, warum tun wir es dann? Oder: „Muss das eigentlich so sein?“ (Dürrmann 2005: 29).
–Wie signalisiert die Person mit Demenz ihre Zustimmung zur jeweiligen Pflegehandlung?
–Warum muss täglich gewaschen werden?
–Wieso muss auf eine bestimmte Art und Weise gewaschen werden?
–Haare sind selbstpflegend – wieso müssen sie also gewaschen werden?
–Wie kann es sein, dass Angehörige von Pflegemitarbeiter:innen etwas fordern, was die Person mit Demenz aber nicht möchte (… und es wird trotzdem durchgeführt)?
–Wo bleibt der kommunikative Charakter der Pflege, wenn diese auf Kriterien zur Begutachtung des Hautzustands reduziert wird?
–Wie wird das Recht auf Verwahrlosung gewahrt?
–Wieso muss regelmäßig (zu vorgegebenen Zeiten) gegessen werden?
–Mit welchem Recht wird das Kulturgut „Essen“ auf einen Messwert (Body-Mass-Index, kurz: BMI) reduziert? (Hier wird dann z. B. peinlich genau darauf geachtet, dass der BMI „stimmt“, aber nicht, ob Essen für den Menschen mit Demenz mit Genuss und Freude verbunden ist.)
–Wieso ist eine bestimmte Kleiderordnung notwendig?
Eine Pflegeeinrichtung wäre gut beraten, wenn diese eine Arbeitsgruppe gründen würde, um die einzelnen Prozessebenen des Expertenstandards auf die eigene Einrichtung anzuwenden. Diese Arbeitsgruppe sollte mit allen Professionen der Einrichtung besetzt sein und sie müsste sich folgenden Aufgaben stellen:
–Schulungen zu den Themen „Grundlagen der Demenz“ und „Person-zentrierte Pflege und Betreuung“ organisieren,
–Zeit für regelmäßige Fallbesprechungen ermöglichen, damit „Verstehenshypothesen“ in den Teams erarbeitet werden können,
–Beratungsangebote für Betroffene und deren Angehörige erarbeiten und anbieten
–und sich für ein Assessment für die Erfassung von Wohlbefinden entscheiden und den Umgang hiermit in den Teams einüben.
Dass der Nationale Expertenstandard sehr gut zum Ansatz des Therapeutischen Gammelns passt, werden wir weiter unten anhand der täglichen Praxis in der Gammel-Oase aufzeigen.
Hier an dieser Stelle soll dem Thema »Stärkung der Autonomie bei Menschen mit Demenz«, einem Ziel, das wir in der Gammel-Oase anstreben, Raum gegeben werden. Allein schon aus dem Grund, weil aus unserer Sicht der Nationale Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ (DNQP 2018) den Aspekt der „Beziehungsgestaltung“ zu stark betont. Die Beziehungsgestaltung ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Wir präferieren hingegen eine Fokussierung auf die „Autonomie“, denn diese ist ein Selbstzweck. Wir erleben nämlich in unserer mehrjährigen Arbeit mit den Betroffenen, dass diese täglich um ihre Autonomie und Integrität kämpfen. Dieses Bedürfnis wollen wir mit unserer praktischen Arbeit stärken und unterstützen.
In den letzten Jahren müssen stationäre Pflegeeinrichtungen gegenüber der Heimaufsicht darstellen, was diese an Gewaltprävention im Angebot haben. Dementsprechende Inhouse-Schulungen bedienen das Feld dann in der Form, dass sie den Sachverhalt auf die Vis-à-vis-Situation begrenzen, so, als wenn der/die Mitarbeiter:in mit dem/der Bewohner:in mit Demenz auf einer einsamen Insel leben würde. Das ist selbstverständlich viel zu kurz gesprungen. Nehmen dann diesbezügliche Fortbildungen auch noch den Sachverhalt der Strukturellen Gewalt mit auf, dann wird diese meist am Pflegenotstand oder/und den festen Essens-, Aufsteh- oder Zubettgehzeiten festgemacht. Richtig ist, dass eine strukturelle Gewalt sich unter anderem hieran festmachen lässt. Nach unserer Lesart müsste hingegen aber auch geschaut werden, wie viel Totaler Institution (vgl. Goffman 1973) der/die Bewohner:in mit Demenz unterworfen ist und warum dieses so ist. Das sind doch die Ursachen von struktureller Gewalt.
Seit den 1980erJahren werden sukzessive die stationären Pflegeeinrichtungen transparenter. Hier wurde der Schlachtruf „Öffnet die Altersheime!“ (Hummel 1982) peu à peu in die Tat umgesetzt – für orientierte Bewohner:innen. Hingegen zeigt sich, dass die immer größer werdende Gruppe der Bewohner:innen mit (fortgeschrittener) Demenz diese Demokratisierung nicht erfährt. Unter dem Deckmäntelchen der medizinisch-therapeutischen Versorgung hat die Neurologie respektive die Gerontopsychiatrie diverse Programme gerechtfertigt (z. B. das ROT oder das Gedächtnistraining), die mitunter eine Verbesserung der Kognition nach sich ziehen können. Ob denn auch ein Auftrag für diese Interventionsprogramme durch die Betroffenen selber vorliegt, wurde und wird hingegen nicht gefragt. Hier wird die große Gruppe der fortgeschritten an Demenz Erkrankten zu geronto-therapeutischem Freiwild, an dem jeder noch so abstruse Therapie-Ansatz ausprobiert werden darf. Liegt schon keine Zustimmung durch den Betroffenen selber vor, wird es noch surrealer, wenn obendrein zu diesen Ansätzen noch nicht einmal eine wissenschaftlich nachgewiesene Wirksamkeitsprüfung vorliegt. Was für ein reduziertes Menschenbild muss hierbei unterstellt werden?
Der kritische Leser wird ziemlich schnell an die „Praktische Ethik“ von Peter Singer (2013) erinnert, der in seiner Philosophie einem Menschen das Person-Sein dann abspricht, wenn dieser keine distinkte Entität vorweisen kann. Das bedeutet: Das Person-Sein ist bei dieser Denkweise daran gebunden, dass ein Mensch Autonomie, Rationalität und Selbstbewusstsein besitzt. Die Menschen hingegen, die diese Eigenschaften nicht aufwiesen, etwa Menschen mit fortgeschrittener Demenz, wären nach der Lesart von Singer „Nicht-Personen“. Nach unserem Verständnis beginnt hier die eigentliche strukturelle Gewalt, indem nämlich den Menschen mit Demenz abgesprochen wird, autonom zu sein und autonom handeln zu können. Daher begreift sich das Therapeutische Gammeln als Ansatz zum Erhalt und zur Stärkung der Autonomie der Betroffenen und als Demokratisierung der Demenz Care. Das bedeutet dann in letzter Konsequenz: Keine Therapie und kein Training für Menschen mit Demenz ohne Auftrag durch den Betroffenen!
Schon hier wollen wir darauf hinweisen, dass wir nicht Anspruch darauf erheben, den Königsweg in der Demenz Care gefunden zu haben. Da sich das Therapeutische Gammeln und die praktische Arbeit in der Gammel-Oase immer noch im Stadium des Aufbaus befinden und wir aktuell noch keine abgeschlossene Begleitforschung1 vorweisen können, kann keine Evidenz für diesen Ansatz belegt werden. Nichtsdestotrotz halten wir erst einmal an unserem Weg fest, da wir deutliche Effekte aufseiten der Bewohner:innen, aber auch aufseiten des Teams, erkennen, die uns zuversichtlich stimmen.
Demenziell veränderte Menschen benötigen oftmals umfangreiche Hilfen und Unterstützungen. Schnell besteht die Gefahr, dass die Autonomie untergraben wird, wenn über den Kopf des/der Betroffenen hinweg entschieden wird. Kann ein: Erkrankte:r sich noch klar und deutlich zu seinen Wünschen und Bedürfnissen äußern, so ist es für das betreuende Team einfach, sich an diesen Äußerungen zu orientieren. Fehlt hingegen die Fähigkeit, sich verständlich verbal zu äußern, besteht schnell die Gefahr, nicht nach dem Willen des Betroffenen zu handeln (ob als Einzelperson oder auch als Organisation). Damit nun die Kommunikation so lange wie möglich erhalten bleibt, sollte dem Erkrankten entsprechend viel Zeit zum Verstehen und Nachvollziehen angeboten werden.
Oftmals können auch Zugehörige bei der Entschlüsselung der Bedürfnislage des Betroffenen behilflich sein, denn sie können die Wünsche und Bedürfnisse meist intuitiv gut erfassen.
Es muss unbedingt vermieden werden, dass die betreuenden Teams dem zu Pflegenden zu schnell „ihr Programm“ bzw. einzelne Maßnahmen überstülpen. Schon kleinste non- und paraverbale Signale können etwas über die Befindlichkeit des Betroffenen mitteilen. Diese Äußerungsformen müssen gemeinsam im Team und zusammen mit den Angehörigen identifiziert und interpretiert werden (siehe hierzu weiter oben).
Damit nun die Autonomie des zu Pflegenden mit Demenz, trotz Hilfebedarfs, Abhängigkeit und Bewusstseinseinschränkung erhalten bleiben kann, können Mitarbeiter:innen sich an den in der Übersicht aufgeführten 6 Tipps orientieren.
6 Tipps zur Stärkung der Autonomie von Menschen mit Demenz
Tipp 1: Berücksichtigen Sie den vorverfügten Willen
Sollte der Pflegebedürftige eine Patientenverfügung erstellt haben, müssen Sie diese bei Ihren Maßnahmen berücksichtigen. Lesen Sie sich daher die Patientenverfügung gründlich durch und übertragen Sie entsprechende Wünsche z. B. in eine sogenannte Notfallplanung. Stimmen Sie sich hierbei eng mit dem/der gesetzlichen Betreuer:in und dem/die Vorsorgebevollmächtigten ab.
Tipp 2: Beziehen Sie eine:n GVP-Berater:in mit ein
Im stationären Bereich steht dem zu Pflegenden zudem das kostenlose Angebot der GVP-Beratung zur Verfügung. Diese Gesundheitliche Vorsorgeplanung für die letzte Lebensphase (kurz: GVP) erfasst alle relevanten Aspekte bezogen auf das Lebensende, also die medizinisch-pflegerischen, die psychosozialen und die spirituellen Belange für diese Lebensphase. Auch aus diesen Gesprächen kann dann eine Patientenverfügung und eine Notfallplanung erstellt werden. Dem Thema GVP widmen wir uns weiter unten noch vertiefend in Kapitel 10.
Tipp 3: Erfassen Sie immer auch die aktuellen Wünsche
Neben diesen Verfügungen gilt es aber auch als permanente Aufgabe der Teams, die jeweils aktuellen Wünsche und Bedürfnisse des Pflegebedürftigen zu erfassen. Ist dieses nicht mehr sprachlich möglich, da der zu Pflegende z. B. eine Bewusstseinseinschränkung hat, müssen entsprechende Assessments zum Einsatz kommen. Für den Schmerz gibt es entsprechende Fremdbeobachtungsinstrumente (z. B. BESD) – hingegen leider nicht für andere belastende Symptome. Nichtsdestotrotz müssen Sie immer auch versuchen, den sogenannten natürlichen Willen des zu Pflegenden über seine Mimik, Gestik und Lautmalerei zu erfassen. Bedenken Sie, dass der natürliche Wille über der Patientenverfügung steht.
Tipp 4: Nutzen Sie Wohlbefindensassessments
Mittlerweile stehen diverse Assessments zur Verfügung (siehe hierzu Anlage 1), um das Wohlbefinden von z. B. Menschen mit fortgeschrittener Demenz zu erfassen. Selbstverständlich kann Wohlbefinden nicht gemessen werden, aber entsprechende Assessments sensibilisieren uns Begleiter:innen für sogenannte Wohlbefindensäußerungen der Betroffenen. Orientieren sich die Mitarbeiter:innen an diesen Merkmalen, dann kann der zu Pflegende im Rahmen der Pflege, Betreuung und Begleitung seine Autonomie über diese Äußerungsformen steuern.
Tipp 5: Brechen Sie Maßnahmen bei Unwohlseinsäußerungen sofort ab
Wichtig ist, dass jegliche Maßnahmen beim Auftreten von Unwohlseinsäußerungen sofort abgebrochen werden. So äußert der zu Pflegende quasi nonverbal, dass er mit der Maßnahme nicht einverstanden ist bzw. dass sie ihm missfällt. Dieses „Nein“ ist unbedingt zu befolgen, um die Autonomie zu erhalten bzw. zu stärken.
Tipp 6: Entwickeln Sie mit Ihrem Team Verstehenshypothesen im Rahmen von Fallbesprechungen
Fällt es Ihnen alleine schwer, die Wünsche und Bedürfnisse der Person mit Demenz zu erfassen, dann steht Ihnen noch die Möglichkeit der Fallbesprechung zur Verfügung. In diesem Rahmen können Sie nun gemeinsam versuchen die Bedürfnislage des zu Pflegenden zu ergründen. Dieses Vorgehen wird auch als Entwickeln von Verstehenshypothesen (siehe hierzu Anlage 2) beschrieben. Dabei können auch die Angehörigen des Betroffenen gut einbezogen werden.
(Quelle: Eigene Darstellung)
Eine maligne Sozialpsychologie muss vermieden werden
Der englische Demenzexperte Tom Kitwood hat jede Form der Untergrabung der Integrität und der Aushöhlung der Autonomie des zu Pflegenden als eine maligne Sozialpsychologie bezeichnet (Kitwood 2008 und 2019). Hierzu hat er verschiedene Verhaltensweisen, die sich leider immer wieder in der Praxis der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz beobachten lassen, aufgeführt, z. B.: Einschüchtern, Verkindlichen, Herabwürdigen, Entwerten, zur Machtlosigkeit verurteilen oder einen zu Pflegenden zum Objekt zu erklären. Diese Verhaltensweisen gilt es konsequent zu identifizieren und zu eliminieren.
Eine der größten Leistungen der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross war es damals vor über 60 Jahren, dass sie sterbende Menschen zu ihrem Befinden befragt hat. In den 1960er-Jahren war dieses fast schon unmoralisch, denn es gehörte sich einfach nicht, einen Sterbenden auf seinen nahen Tod hin anzusprechen. Auch Menschen mit Demenz „umweht“ diese Unberührbarkeit, sodass erst seit wenigen Jahren die Betroffenen gezielt nach ihrer Meinung und ihrer Perspektive zum Thema Demenz befragt werden, denn sie können am besten Stellung dazu nehmen, wie sich Demenz anfühlt und was sie als Betroffene in ihrer dementen Welt erleben.
Exkurs: Rechtzeitig eine Lebensverfügung anlegen
Damit auch in der Pflegesituation (ob mit oder ohne Demenz) der Wille des Betroffenen berücksichtigt wird, empfiehlt Erich Schützendorf (2017) schon frühzeitig eine Lebensverfügung anzulegen:„Eine Lebensverfügung ist – davon bin ich überzeugt – neben einer Vorsorgevollmacht und einer Patientenverfügung eine sinnvolle Vorsorgemaßnahme“ (ebd.: 8). Schützendorf geht nämlich davon aus, dass die Eigenlogik des Pflegesektors sich wenig um Lust, Freude, lieb gewonnene Gewohnheiten und Wohlbefinden schert und, dass medizinische Parameter, wie z. B. der Blutzuckerwert, als wichtiger angesehen wird. Selbst wenn lebensbedrohliche Risiken durch seine Wünsche und Gewohnheiten drohen: „Ich übernehme die Verantwortung“ (ebd.: 11). Damit nun auch diese höchstpersönlichen Wünsche umgesetzt werden, gilt es „eine Sachwalterin oder einen Sachwalter zu finden, die oder der couragiert genug ist, sich gegen die Vertreterinnen oder Vertreter des Gesundheits- und Pflegewesens durchzusetzen“ (ebd.: 10). Das Primat der medizinischen Logik soll hierbei hinter den persönlichen Wünschen stehen. Hier ist es die vorverfügte Autonomie, die umgesetzt werden soll. „Was gibt denen eigentlich das Recht, über meine schriftlich niedergelegten Verfügungen hinwegzugehen? Weil meine Wünsche ihnen ein wenig Mühe bereiten? Weil sie keine wissenschaftlichen Grundlagen für die Berechtigung meiner Wünsche finden? Weil meine Verfügungen gesundheitsgefährdend sind? Weil sie meinen Tod beschleunigen könnten? Ja und? Ich will es doch so. Das müsste doch ausreichen“ (ebd.: 17).
Die persönlichen Wünsche, wie z. B. Wohlbefinden, scheinen in der Betriebsamkeit einer stationären Pflegeeinrichtung unterzugehen. Hier wird dann auch das Waschen der medizinischen Prämisse unterworfen, z. B. Duschen statt Baden in einer Wanne: „Reinigen scheint wichtiger zu sein als ein Wohlfühlbad“ (ebd.: 21). Hier bringt Schützendorf diesen Aspekt deutlich auf den Punkt, wenn er schreibt:„Ich will nicht gesund, sondern lebend sterben“ (ebd. 23).
Auch den Aspekten der Aktivierung und Mobilisierung widmet sich Schützendorf in seinem wichtigen Buch. Diese Ansätze haben sich in den letzten Jahrzehnten verselbstständigt und werden durch die Akteur:innen vor Ort kaum noch infrage gestellt: „Manchmal, so scheint es, hat das Recht auf Selbstbestimmung rasch ausgedient, weil eine scheinbar selbstverständliche Selbstverpflichtung zur Mobilität besteht“ (ebd.: 24) und weiter: „Je älter ich werde, umso mehr geht mir der allgemeine Aktivierungswahn gegen den Strich. Ich bin nicht untätig, aber ich schätze Teilhabe mehr als Teilnahme. Ich muss nicht mehr überall mitmachen und immer teilnehmen. Natürlich will ich teilhaben, also geachtet und beachtet werden. (…) Passivität schätze ich mehr als Aktivität …“ (ebd. 26). Im Weiteren ergänzt dann Schützendorf noch: „Im Alter, so scheint es mir, wird man vom Tick-Tack-Menschen, der Zeit verbraucht, zum Erlebniszeit-Mensch, der die Zeit vorüberziehen lässt. Da aber diese Form des Zeiterlebens vielen jungen Menschen, die sich um die Alten kümmern wollen, eher unnütz und trostlos wie vertane Zeit vorkommt, machen diese den alten Menschen Beschäftigungsangebote“ (ebd.: 27). Das Gebot (?) der Mobilisierung und Aktivierung schreckt auch nicht davor zurück, dem alten Menschen Hilfe zu verweigern, da er die Verrichtung ja noch selber durchführen könnte. Hier läuft etwas gehörig durcheinander, nämlich die Verwechslung von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung: „So kann es passieren, dass sie Selbstständigkeit und Selbstbestimmung durcheinanderbringen und mit dem Verweis auf die Selbstständigkeit das Recht auf Selbstbestimmung außer Kraft setzen“ (ebd.: 38). Auch wir erleben immer wieder in klassischen Pflegeeinrichtung, dass Mitarbeiter:innen dem alten Menschen Hilfen vorenthalten, wenn dieser darum bittet, z. B. gewaschen zu werden oder Essen gereicht zu bekommen, da dieser diese Verrichtungen doch noch selbstständig durchführen könnte. Nach unserem Verständnis zeigt sich auch hier eine Seite der schwarzen Pädagogik. Daher formuliert Schützendorf fast schon drohend:„Niemand soll auf die Idee kommen, mich in die Wirklichkeit zu holen, mich abzulenken oder mir einen Rat zu geben, was mir besser täte, als vor mich hinzustarren“ (ebd.: 65). Hier bricht er klar und deutlich eine Lanze für die Autonomiewünsche der zu Pflegenden.
Warum geben wir dem Buch von Schützendorf hier so viel Raum? Weil er hierin von der Grundeinstellung her dem Therapeutischen Gammeln das Wort redet: „Woher soll sie wissen, dass ich Ruhe, Stille und Nichtstun, der aktiven Teilnahme vorziehe …“ (ebd.: 8) und weiter:„Ich jedenfalls will, wenn ich abgebaut habe, nicht beschäftigt und aktiviert, sondern verwöhnt werden“ (ebd.: 28).
Seit wenigen Jahren fordert das Hospiz- und Palliativgesetz (HPG 2015), dass alten Menschen, die in Pflegeheimen oder in Wohnstätten der Eingliederungshilfe leben, ein Beratungsgespräch angeboten werden soll, zu allen Belangen des Lebensendes. Dieses Gespräch führt dann dazu, dass die Betroffenen eine Patientenverfügung und einen sogenannten Notfallplan erstellen können. Geführt werden diese Beratungsgespräche von extra hierfür geschulten Berater:innen, sogenannten ACP-Berater:innen (ACP steht für: Advance Care Planning). In Deutschland werden diese GVP-Berater:innen genannt. Dieses Akronym steht für Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase.
Fokussieren diese Gespräche die Themenfelder des Lebensendes, wird hingegen mit den Betroffenen kaum über die Demenz selber gesprochen, obwohl die Betroffenen die Phänomene der Demenz deutlich miterleben. Möchten nun Teams mit einem Demenzbetroffenen über das Thema „Demenz“ sprechen, dann können diese sich an den hier aufgeführten Fragen orientieren.
Mit Betroffenen über das Thema „Demenz“ sprechen
Vorbereitung:
Haben Sie den Eindruck, dass einer Ihrer zu Pflegenden mit Demenz mit Ihnen über das Thema „Demenz“ sprechen möchte, sollten Sie ihm gegenüber Bereitschaft hierzu signalisieren. Am besten wählen Sie hierzu einen Termin im Vormittagsbereich, da hier das Leistungsvermögen recht hoch ist. Wählen Sie für das Gespräch einen ungestörten Raum.
Sollten Sie den Eindruck gewinnen, dass Ihrem Gesprächspartner das Gespräch zu viel wird, sollten Sie dieses abbrechen und einen späteren Termin anbieten.
Fragen:
1.Darf ich mit Ihnen ein Gespräch führen zum Thema „Demenz“?
2.Bei Ihnen liegt ebenfalls eine Demenz vor. Wie merken Sie das im Alltag?
3.Welche Situationen im Alltag sind für Sie schwierig?
4.Was wünschen Sie sich von Ihren Angehörigen?
5.Welche Wünsche haben Sie bezüglich der Mitarbeiter:innen?
6.Was macht Ihnen Angst, wenn Sie an Ihre Zukunft denken?
7.Wie können wir Sie unterstützen?
8.Benötigen Sie Informationen zum Thema „Demenz“?
(Quelle: Eigene Darstellung)