Predigtstudien 2024/2025, 1. Halbband -  - E-Book

Predigtstudien 2024/2025, 1. Halbband E-Book

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Beschreibung

Die Predigtstudien sind eine bewährte Arbeitshilfe für die qualifizierte und fundierte Predigtvorbereitung. Sie enthalten praxisorientierte Anregungen für die Predigt und die Gestaltung des Gottesdienstes. Jeder Predigttext wird von zwei Theologinnen und Theologen aus Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft bearbeitet. Dieser Dialog verbindet wissenschaftliches Niveau mit homiletischer Praxis.

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Seitenzahl: 513

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Predigtstudien

Herausgegeben

von Birgit Weyel (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,

Doris Hiller, Christopher Spehr,

Christian Stäblein und Manuel Stetter

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände

Darstellungsschema

A-Teil: Texthermeneutik

I Eröffnung

Was veranlasst zu einer Predigt mit diesem Text?

II Erschließung des Textes

Welche Überzeugung vertritt der Verfasser des Textes? Welche existenziellen Erfahrungen ruft der Text auf? Wie verstehe ich heute den Text?

III Impulse

Was folgt aus meiner Textinterpretation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

B-Teil: Situationshermeneutik

IV Entgegnung

Wo ich A nicht folgen kann! Was leuchtet mir ein? Was sehe ich kritisch?

V Zur homiletischen Situation

Welche existenziellen Erfahrungen und exemplarischen Situationen habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?

VI Predigtschritte

Was folgt aus meiner Interpretation der Situation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwabisch Hall

Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISSN 0079-4961

ISBN Print 978-3-451-60136-1

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83659-6

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83587-2

Inhalt

Einladung

Homiletischer Online-Workshop: Die Predigt alttestamentlicher Texte Predigterarbeitung und Künstliche Intelligenz

Christian Stäblein

01.12.2024 1. Advent

Matthäus 21,1–11

Sanftmütigkeit ist sein Gefährt

Friedrich Wilhelm Horn/Sebastian Feydt

08.12.2024 2. Advent

Jesaja 35,3–10

Woher kommen Kraft und Courage, wenn der Boden wankt?

Sara Egger/David Plüss

15.12.2024 3. Advent

Römer 15,4–13

Irgendwas, das bleibt

Roland M. Lehmann/Georg Raatz

22.12.2024 4. Advent

Lukas 1,(26–38)39–56

In der Zwischenposition

Andreas Kubik-Boltres/Martin Zerrath

24.12.2024 Heiligabend (Christvesper)

Jesaja 9,1–6

Das mit dem Kind

Wiebke Köhler/Cornelia Coenen-Marx

24.12.2024 Heiligabend (Christnacht)

1Timotheus 3,16

Raum für Mehr

Manuel Stetter/Christian Stäblein

25.12.2024 1. Weihnachtstag (Christfest I)

Johannes 1,1–5.9–14(16–18)

»Du höchstes Licht, du ewger Schein« (EG 441)

Frank Thomas Brinkmann/Hans-Martin Gutmann

26.12.2024 2. Weihnachtstag (Christfest II)

Römer 1,1–7

Weihnachten erwachsen

Christof Jaeger/Margrit Wegner

29.12.2024 1. Sonntag nach dem Christfest

Matthäus 2,13–18(19–23)

Gottfunken im Schatten der Welt

Kay-Ulrich Bronk/Friedemann Magaard

31.12.2024 Silvester (Altjahrsabend)

Jesaja 51,4–6

Ganz bei Trost

Martin Vorländer/Ursula Roth

01.01.2025 Neujahrstag

Josua 1,1–9

Warte nicht zu lange!

Tobias Sarx/Jennifer Marcen

05.01.2025 2. Sonntag nach dem Christfest

1Johannes 5,11–13

In Christus leben und in Gegensätzen

Matthias Lobe/Johann Hinrich Claussen

06.01.2025 Epiphanias

Matthäus 2,1–12

Und sie folgten einem Stern

Senta Zürn/Helge Martens

12.01.2025 1. Sonntag nach Epiphanias

Josua 3,5–11.17

Zwischen Schwellensituation und Gewaltkonstellation

Carolyn Decke/Heiner Kücherer

19.01.2025 2. Sonntag nach Epiphanias

Römer 12,9–16

Liebend durch Krisen – seid brennend, seid fröhlich, seid geduldig

Christiane Renner/Lukas Grill

26.01.2025 3. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 4,5–14

Wasser für alle, Wasser für jede*n

Christoph Karle/Marie-Luise Karle

27.01.2025 Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Epheser 4,25–32

Leben jenseits der Lüge

Matthias Loerbroks/Angelika Obert

02.02.2025 Letzter Sonntag nach Epiphanias

2Mose 3,1–8a(8b–9)10(11–12)13–14(15)

Gottes Treue zieht dir die Schuhe aus

Martin Böger/Angelika Behnke

09.02.2025 4. Sonntag vor der Passionszeit

Markus 4,35–41

Die Stille nach dem Sturm

Norbert Schwarz/Andreas Hinz

16.02.2025 3. Sonntag vor der Passionszeit (Septuagesimä)

Kohelet 7,15–18

Gottes Lieb in Ewigkeit

Heinz-Dieter Neef/Birgit Weyel

23.02.2025 2. Sonntag vor der Passionszeit (Sexagesimä)

Apostelgeschichte 16,9–15

Der Heilige Geist mag Purpurschnecken

Dieter Beese/Jan Peter Grevel

02.03.2025 Sonntag vor der Passionszeit (Estomihi)

Lukas 10,38–42

Lass dich unterbrechen!

Lisa Stiller/Inga Kreusch

09.03.2025 1. Sonntag der Passionszeit (Invokavit)

Hebräer 4,14–16

Heilsame Gegenwelten

Daniel Hoffmann/Elis Eichener

16.03.2025 2. Sonntag der Passionszeit (Reminiszere)

Johannes 3,14–21

Liebes Zeichen

Claudia Tietz/Johannes Weidemann

23.03.2025 3. Sonntag der Passionszeit (Okuli)

Jeremia 20,7–11a(11b–13)

So ist es – und das ist in Ordnung

Christina Weyerhäuser/Sonja Beckmayer

30.03.2025 4. Sonntag der Passionszeit (Lätare)

Johannes 6,47–51

Das gibt im Leben Halt

Sabine Winkelmann/Ricarda Schnelle

06.04.2025 5. Sonntag der Passionszeit (Judika)

Johannes 18,28–19,5

Zwischen Identität und Menschlichkeit

Michael Kösling/Claas Cordemann

13.04.2025 6. Sonntag der Passionszeit (Palmarum)

Jesaja 50,4–9

Gottesknecht, »anderer« König – widerständige Hoffnung für Gestern, Heute, Morgen

Lars Heinemann/Henriette Crüwell

17.04.2025 Gründonnerstag

1Korinther 11,(17–22)23–26(27–29.33–34a)

Irritiert und eingeladen

Albrecht Grözinger/Elisabeth Grözinger

18.04.2025 Karfreitag

Johannes 19,16–30

Lichtstrahl in der Dunkelheit

Thomas Schlag/Ralph Kunz

19.04.2025 Osternacht

1Thessalonicher 4,13–18

Auferstehung als Beweggrund der Lebenden

Wilfried Engemann/Christian Grethlein

20.04.2025 Ostersonntag

Johannes 20,11–18

Berührender Gott

Doris Hiller/Bernd Kuschnerus

21.04.2025 Ostermontag

Jesaja 25,6–9

Gerettet und getröstet – Gottes Feier des Lebens

Joel-Pascal Klenk/Dirk Vanhauer

27.04.2025 1. Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti)

1Petrus 1,3–9

Ostern im normalen Leben

Samuel Lacher/Gerald Kretzschmar

04.05.2025 2. Sonntag nach Ostern (Miserikordias Domini)

Johannes 10,11–16(27–30)

Hingabe als Aufgabe?

Helmut Aßmann/Sven Petry

Perikopenverzeichnis

Anschriften

EinladungDie Predigt alttestamentlicher Texte Homiletischer Online-Workshop

Liebe Leser:innen der Predigtstudien,

mit der Revision der Perikopenordnung hat sich die Anzahl der alttestamentlichen Texte erhöht. Predigende stehen in ihrem beruflichen Alltag häufiger vor der Aufgabe, eine christliche Rede auf Grundlage eines Textes auszuarbeiten, der lebendiger Teil auch der jüdischen Tradition ist. Die hermeneutischen Fragen, die sich damit stellen, wurden in der Homiletik immer wieder bedacht, gewinnen unter den aktuellen Bedingungen allerdings nochmals an Brisanz. Wer heute Texte aus dem Alten Testament öffentlich auslegt, tut dies in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Antisemitismus neu greifbar wird und in Kunst, Politik und Popkultur über den Krieg in Gaza und um eine angemessene Haltung gegenüber Israel gestritten wird.

Vor diesem Hintergrund laden wir herzlich zu einem homiletischen Workshop am 13. November 2024 ein. Er findet von 17:00 bis 19:00 Uhr online statt. Ziel ist, die homiletischen und hermeneutischen Fragen, die sich aktuell mit der Predigt alttestamentlicher Texte stellen, konkret am Beispiel von zwei Perikopen zu besprechen:

– Psalm 90,1–14 (Reihe VI, Totensonntag, 24.11.24)

– Jesaja 9,1–6 (Reihe I, Christvesper, 24.12.24)

Der Workshop bietet damit auch die Gelegenheit, zwei wichtige Predigtanlässe der anstehenden Wochen gemeinsam zu bedenken und vorzubereiten.

Wenn Sie Interesse haben, melden Sie sich bitte bis zum 1. November 2024 unter [email protected] an. Sie erhalten dann alle weiteren Informationen und den Zoom-Link zur Veranstaltung.

Mit herzlichen Grüßen im Namen des Herausgeberteams der Predigtstudien und in Vorfreude auf den Workshop,

Dr. Johann Hinrich Claussen, Prof. Dr. Manuel Stetter,

Prof. Dr. Birgit Weyel

Predigterarbeitung und Künstliche Intelligenz

Christian Stäblein

Dass man eine Predigt mit ChatGPT, BingCopilot oder anderen Programmen aus dem Bereich Künstlicher Intelligenz schreiben lassen kann, weiß inzwischen praktisch jede/r. Nicht wenige haben es auch ausprobiert – nicht als erstes, um das Ergebnis dann im homiletischen Akt zu verwenden, womöglich eher, um zu testen, was auf diese Weise entsteht. Mancher wird das Instrument auch als Ideenpool benutzt haben – für das Abfassen der eigenen Predigt, oder als »schlechtes Beispiel«, wie man es jedenfalls nicht machen will. Vielleicht aber auch schon mal als Vorlage für einen Predigtauftritt, zu dessen Vorbereitung nicht viel Zeit war. In dieser Möglichkeit unterscheidet sich die Zuhilfenahme von KI nicht von anderen homiletischen Hilfsmitteln, seien es fertige Predigten – in Druckerzeugnissen oder als Angebote im Internet –, sei es die gute, auch mit den Predigtstudien vorliegende Predigthilfeliteratur, die als Meditation oder als Exegese in homiletischer Absicht oder als Dialog die Vorbereitung unterstützt. Hilfsmittel bleibt Hilfsmittel – wenn auch die Geschwindigkeit bei der Verfügbarkeit sowie die mundgerechte Fertigkeit erheblich differieren. Jenseits davon scheint mir, dass sich die Programme Künstlicher Intelligenz nicht nur graduell, sondern eben auch kategorial von den bisherigen Hilfsmitteln auf dem Markt abheben. Das sagt sich gewiss schneller als es sich belegen lässt. Ich versuche es, gleichsam tastend, mit zwei verschiedenen Zugängen:

Der erste Zugang: Zu den konstitutiven Bedingungen einer Predigt gehört – klassisch – das homiletische Dreieck, etwas verkürzt formuliert: Text/Botschaft – Hörende – Predigender/Predigende.

Wenn ich also etwa BingCopilot bitte, eine Predigt zu Gen 15 – Bundesverheißung an Abraham – zu formulieren, kann das Chatprogramm das spielend, in wenigen Sekunden. Dabei bleibt allerdings unkenntlich, mit welchen Informationsquellen das Programm im Blick auf Gen 15 »gefüttert« wurde. Die exegetisch-, systematisch- und praktisch-theologisch geleitete hermeneutische Arbeit am Text hat in diesem Fall nicht mehr das Gegenüber des Textes selbst, ja hat nicht mal mehr das vertraute Gegenüber von verschiedenen Kommentaren oder zumindest einer Bearbeiterin oder Vorarbeiterin dieses wichtigen Schrittes, die sich in ihrer Verfasserschaft kenntlich gemacht hat. Vielmehr hat das Programm das alles – aber was genau?! – bereits rezipiert und verarbeitet. Nun, selbstverständlich lassen sich die Programme selbst programmieren, also es ließe sich eine homiletisch-hermeneutische Richtung bestellen bzw anlegen: mehr evangelikal, mehr liberal, mehr katholisch, mehr evangelisch, mehr interreligiös, mehr feministisch, usw – was immer sich hinter diesen Ausrichtungen dann genau verbirgt. Schwieriger als die hermeneutische Ausrichtung ist, den Verarbeitungsprozess selbst zumindest im Ansatz kenntlich zu machen, zumal er sich nicht mehr mit einer Autorin/einem Autor in Verbindung bringen lässt. Gleichwohl: Im von außen eines KI-Laien betrachteten weitgehend opaken Raum der Programmierung entsprechender Software, die an diesem wie allen weiteren Punkten ja nicht im Modus des Algorithmus, also der Problemabarbeitung nach eingegebener Teilschrittfolge arbeitet, sondern als Simulation eines neuronalen Netzwerkes, das in extrem kurzer Zeit extrem viele Möglichkeiten testet, auswertet und auf diese Weise auch generiert, ist die Erstellung einer wie auch immer gewonnenen und profilierten Texthermeneutik noch der am leichtesten nachvollziehbare Schritt.

Wenn ich BingCopilot hingegen weiterhin bitte, eine Predigt zu Gen 15 für eine Gemeinde in der Metropole Berlin oder aber für eine ländliche Gemeinde in Brandenburg zu entwerfen – in getrennten Schritten –, wird noch viel schwerer zu entschlüsseln sein, woher die Informationen zu den verschiedenen Kontexten genommen wurden. Das Einfangen einer empirischen Adressat:innen-Wahrnehmung oder gar der homiletischen Großwetterlage, wie der zentrale Schritt einst bei Ernst Lange noch hieß, also das Wahrnehmen und Aufnehmen dessen, was jetzt ist und was an der Zeit ist, ist ein Momentum, in dem sich unendlich viel mehr Möglichkeiten vorfinden, als es Schachzüge oder Go-Züge gibt – beides sind Spiele, die, wegen ihrer schier Menschenvermögen übersteigenden Zahl an Zugoptionen inzwischen von Apparaten Künstlicher Intelligenz besser gespielt und beherrscht werden als von den jeweiligen Welt- oder Großmeistern. Eine homiletische Situation in ihrer Konkretion ist auf ihre Weise nur auf dem Weg fast unbegrenzter, aber notwendiger Komplexitätsreduktion zu gewinnen. Natürlich kann auf die Nachvollziehbarkeit dessen hier – wie bei der homiletischen Texthermeneutik – vollständig verzichtet werden, überlässt man diese der KI. Es bedeutet allerdings, auch auf jedwede Form der Zurechenbarkeit zu verzichten. Geschenkt? Am Ende, wie immer bei der Nutzung von KI, liegt ja die Verantwortung im Sinne dieser Zurechenbarkeit bei dem Nutzer/ der Nutzerin, sprich den Predigenden.

Gleichwohl kulminiert die angedeutete Problematik, wenn (und weil) der zentrale Dreh- und Angelpunkt im homiletischen Prozess das Ich des/der Predigenden ist. Hier liegt der Schlüssel zur Verarbeitung, also zur Erstellung von rekursiven, wechselseitigen, im günstigen Fall ständig hin- und her laufenden Prozessen zwischen Situations- und Textwahrnehmung, ein unabschließbarer Prozess, dessen Anfangspunkt im Grunde nicht auszumachen ist. Die homiletische Vorbereitung läuft bekanntlich nicht eindimensional vom Text über die Situation zur Predigtformulierung, sondern mindestens so sehr von der Situation zum Text, insofern ich die Situation ja im Text vorfinde. Diese Schleifen werden wiederholt durch das Ich gleichsam hindurchgetrieben – und zwar in jenem für die Vorstellung des evangelischen Glaubens fundamentalen Sinn, dass nur der konkrete, beispielhafte Aneignungs- und Vermittlungsprozess des immer neuen Zum-Glauben-Kommens angemessenes Predigtzeugnis ist. Was aber geschieht an diesem Punkt im Programm Künstlicher Intelligenz?

Die Frage, ob diese ein Bewusstsein – also eine wie auch immer geartete Form von »Ich« – hat bzw haben kann, wird seit Jahren viel diskutiert. Und ist natürlich eine tief anthropologische Frage: Stelle ich mir letztlich jedes Ich als eine Menge unendlich vieler Kombinationsmöglichkeiten einzelner neuronaler Prozesse vor? Oder gibt es ein überschießendes Mehr über diese Kombinationsreproduktionen hinaus, das wir Seele, Geist, inwendiger Mensch oder auch Identität nennen; individuell also, unverwechselbar, unteilbar, womöglich inspiriert? Dieses Mehr wird sichtbar in einem unverwechselbaren, individuellen Predigterarbeitungsprozess, zu dessen Gelingen eben eine aus einem Geistesblitz oder einem wie auch immer gestalteten Kreativprozess entstandene Idee hervorgegangen ist, ein Moment der Verdichtung, über das die Vermittlung von Text und Situation geschieht. Und selbst wenn es so ist, dass die KI überaus kreative Prozesse selbst gestaltet, gerade weil sie als Simulation neuronaler Zusammenhänge unendlich viel mehr Rekombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Zutaten zur homiletischen Aufgabe in viel kürzerer Zeit durchspielen kann, ist sie – Stichwort anthropologische und pneumatologische Grundfrage – nicht in der Lage, diese in Gestalt und Bewusstsein eines unverwechselbaren Subjekts hervorzubringen, das dieses alles aus einer Gottesbeziehung heraus tut. Theologisch ist vermutlich dies der entscheidende Punkt: die Gottesbeziehung. Meine These ist deshalb: Das Defizit Künstlicher Intelligenz wird sichtbar an den fehlenden Störungen der ausgearbeiteten (und vorgetragenen!) Predigt. Die Predigtanalysen im Kontext von Klinischer Seelsorgeausbildung haben zu Tage gefördert, dass Predigthörende vor allem da einhaken, wo die Predigt in ihrer Sprache oder ihren Bildern missverständlich oder verstörend ist. Und dass es genau diese Verstörungen sind, die in der Regel – im durchaus produktiven Sinne – eine Arbeit an der Gottesbeziehung bzw – nota bene! – deren Irritation für die Hörenden neue Zugänge ermöglicht. Wie aber könnte ein KI-Programm das generieren? Oder schlichter gesagt: Noch schwieriger als die Simulation individueller Kreativität dürfte die Simulation von individuell unverwechselbaren Brüchen oder Irritationen in der Beziehung zu Gott sein.

Es wird also erkennbar, woraus sich nun relativ leicht homiletisch-pastoralethische Normen aufstellen lassen, die im Endeffekt das einst von einem Praktischen Theologen ausgesprochene Internetverbot für Predigteinsteiger:innen auf ein KI-Verbot für den Predigterarbeitungsprozess ausweiten würden. Denn auch die beste KI-generierte Predigt – und es mögen ja auf diesem Weg handwerklich bessere entstehen als die unter Bedingungen von Zeitdruck, Konzentrationsmangel, Erschöpfung und Amtsmüdigkeit erstellten – erfüllt nicht ihre Aufgabe, ja kann es gar nicht!

Zurecht mag man einwenden: Dieses Ergebnis war absehbar. Weshalb ich zu meinem zweiten Zugang komme, der vermutlich sehr viel realistischer und für die KI-Arbeitsweise zutreffender ist. Die Erstellung einer Predigt durch ein KI-Programm vollzieht sich im Zweifel nicht über den komplexen Weg des Abschreitens des homiletischen Dreiecks, sondern durch Generierung einer neuen Predigt aus einem für uns kaum überschaubaren Reservoir von bestehenden Predigten, mit denen das Programm »gefüttert« wurde bzw auf das es zugreifen kann – im Internet und darüber hinaus. Freundlicherweise gibt der BingCopilot bisweilen sogar andere Predigten als Quellen an, die er zur Erstellung genutzt hat. (Indirekt lässt sich die KI auch stets nach ihren verwendeten Quellen fragen.) Im Blick auf das im oben beschriebenen Prozess vor allem fehlende Subjekt des/der Predigenden lässt sich natürlich relativ leicht ein Zustand herstellen, in dem das KI-Programm mit den bzw. allen Predigten (m)einer Person »gefüttert« wurde. Mit anderen Worten: Das KI-Programm generiert einfach, schnell und verlässlich aus vielen meiner Predigten eine neue Predigt – durch Rekombination von Motiven, Sprache, Inhalten und Ausrichtungen. Man wird das nur so lange für verwerflich halten, bis man darüber nachdenkt, wie oft wohl diese Form der Predigterstellung auch bei Menschen stattfindet – also wie oft neue Predigten in vielen Teilen eine weitgehende Rekombination bisheriger, eigener Motive, das Zitieren oder Wiederverwenden von eigenen Ideen oder Ähnlichem ist. Zumal die Rekonstruktion eines persönlichkeitsspezifischen homiletischen Credos – leicht zu gewinnen durch die Analyse der letzten eigenen zehn bis zwanzig Predigten – zeigt, dass es – wir sind Menschen mit unseren Grenzen – einen bestimmten Sound, eine bestimmte Ausrichtung, eine bestimmte und in dieser Bestimmung immer auch begrenzte Botschaft gibt, für die Menschen stehen. Jede psychologische oder psychoanalytische Typenlehre von Predigenden führt das Spektrum vor. Das KI-Programm wäre also auf seine Weise eine Art persönlicher Referent, im digitalen Sprachgebrauch wohl der allseits beschworene persönliche Avatar. Bei diesem Zugang zum Weg der Predigterstellung durch KI stellt sich weniger die Frage nach dem Ich und dessen Gottesbeziehung, dafür umso mehr die nach der Möglichkeit von Neuem, also nach einer Predigt, die nicht nur rezeptiv, sondern in sich produktiv, auf Zukunft angelegt ist. Fehlt im ersten Zugang die religiöse Person, fehlt hier die Möglichkeit zur kreativen Vision!

Man wird also festhalten können: Das KI-Programm ist bei beiden Zugängen ein homiletisches Mängelwesen. Fairerweise wird man anfügen dürfen: Die festgestellten Mängel erlauben auch eine unverstellte Sicht auf die Mängel etlicher Predigten – jedenfalls dann, wenn das Subjekt sich dem mühevollen Predigterarbeitungsprozess nicht unterzogen hat. Oder die Kraft nur für die Rekombination von bereits Vorhandenem ausgereicht hat. In diesen Fällen werden die Möglichkeiten der Programme der KI zur Konkurrenz, womöglich sogar zur alsbald homiletisch-handwerklichen überlegenen Konkurrenz. So oder so können sie zur Anfechtung werden. Weshalb ich so schließen will: Ich möchte lieber eine handwerklich womöglich durch Zeitdruck nicht so ausgefeilte, aber durch das Ich des/der Predigenden und dessen Gottesbeziehung glaubwürdig gestaltete Predigt erbaut, gestört, irritiert und in all dem zum Glauben gereizt werden als durch noch so gute vorgefertigte Kost. Ein Programm, womöglich der beste persönliche Avatar, kann nie mehr als eine Hilfe auf dem Weg sein. Die Aufgabe der eigenen Predigterstellung ist prinzipiell nicht ersetzbar. Weshalb ich viel Spaß bei der Lektüre der Predigtstudien wünsche. Sie haben exakt diesen Vorbereitungsprozess vollzogen – exemplarisch, um jeden und jede so gut wie möglich auf ihren eigenen Predigtprozess zu bringen und dort im besten Fall zu inspirieren und zu begleiten.

1. Advent – 01.12.2024

A

Matthäus 21,1–11

Sanftmütigkeit ist sein Gefährt

Friedrich Wilhelm Horn

I Eröffnung: Der rote Teppich

Der rote Teppich wird ausgerollt – in Cannes bei den Filmfestspielen, in Berlin bei dem Besuch eines hohen ausländischen Staatsgastes gleich auf dem Flugplatz. Ist es ein Empfang mit militärischen Ehren, so folgt man einem präzisen Protokoll, zu dem auch das Abspielen der Nationalhymnen gehört. Seit der Antike kennt man diesen Brauch des roten Teppichs, um bestimmte Personen besonders zu empfangen und zu ehren. Rot gilt als die kostbarste Farbe und die Länge des Teppichs kann schon mal, wie bei dem Teppich der deutschen Bundesregierung, 65 Meter betragen.

Der Teppich, auf dem Jesus in Jerusalem einreitet, besteht aus Kleidern und Baumzweigen. Protokollarisch ist hier nichts geregelt. Eine Eselin und ihr Fohlen müssen zunächst »arrangiert« werden. Zweige werden schnell abgeschlagen. Dem Reittier werden Kleider als Sattel aufgelegt. Der Hosianna-Ruf begleitet den in die Stadt wie ein König einziehenden Jesus. Erkennt man hier beim Volk auf der einen Seite begeisternde Zustimmung, so auf der anderen Seite in der Stadt Jerusalem Verwirrung, ja erschrockene Erregung (so auch V.15). Wer ist dieser auf einem Esel in die Stadt Einziehende? Das Empfangsprotokoll besteht also in einer Frage! Seitdem dieser Text Mt 21,1–11 bereits in der Alten Kirche Einzug in die Adventsfrömmigkeit genommen hat und Lesungstext am 1. Adventssonntag wurde, wird die Frage an jeden Einzelnen gerichtet, wie sie und er dem einziehenden Jesus begegnet. Martin Luther hat seine Auslegung unter den Satz »Dein König kommt zu Dir« gestellt und geschrieben: »Es gibt keinen anderen Anfang, als daß dein König zu dir komme und fange in dir an.« (Luther 692) Die Adventslieder sind getränkt von dieser Begegnung. »Wie soll ich dich empfangen …« (EG 11). Ich möchte fragen, wie eine zeitgemäße Auslegung und Gestaltung dieser Begegnung aussehen kann, die nicht beim unbeteiligten Rezitieren der Lieder stehen bleibt und auch nicht in eine süße Jesusfrömmigkeit zurückfällt. Was sagt mir der Predigttext über diesen Messias und König, der Anfang meines Christseins sein soll?

II Erschließung des Textes: Jubel und Erschütterung

Der Bericht vom Einzug Jesu in Betfage, einem Vorort der Stadt Jerusalem in der Nähe des Ölbergs, leitet eine Reihe letzter großer Auseinandersetzungen mit den Führern Israels ein (Mt 21,1–24,2). Exegetisch bietet der Text einige schwierige Aussagen, deren Klärung vielleicht mühsam, aber doch lohnend ist. In V.5 setzt Matthäus ein Mischzitat aus Jes 62,11 und Sach 9,9, dessen Herkunft er einfach als Prophetenrede anzeigt. Gegenüber der Fassung der LXX entfällt aus Sach 9,9 »ein Gerechter und ein Retter ist er«. Sacharja mag in seiner Zeit mit 9,9 und 10(!) möglicherweise an Judas Makkabäus und die politischen Erwartungen der Makkabäer gedacht haben. Die weitere Rezeption von Sach 9,9, neben Mt 21,5 etwa in Joh 12,15 und in der rabbinischen Literatur (Bill. I, 842–844), zeigt an, dass dieser Vers in jüdisch-christlicher Literatur messianisch gedeutet wurde. Da aber der das messianische Reich ausmalende Vers aus Sach 9,10 (Vernichtung der Feinde und Aufrichtung des Friedens) nicht Bestandteil des Mischzitats bei Matthäus ist, rückt als Eigenschaft des Messias einzig praus (sanftmütig) in den Blick – eine Eigenschaft also, die Matthäus bereits in den Makarismen (5,5) und im Heilandsruf (11,29) angezeigt hat.

Die Eselin und ihr Fohlen waren Ausgangspunkt manch allegorischer Interpretation. Dass es sich um ein Eselsfohlen handelt, wird nur derjenige lesen, der den Sprachgebrauch der LXX kennt, die pōlos immer als Eselsfohlen kennt (deutlich Joh 12,15). Pōlos bezeichnet im Griechischen allgemein das Fohlen. An eine Eselin und nicht an einen Esel zu denken, lag für die Übersetzer wohl wegen des Fohlens nahe. Das Reiten Jesu gleichzeitig auf beiden Tieren hat Spekulationen begünstigt, in beiden Tieren Symbole für die Juden- und Heidenwelt zu sehen, was natürlich völlig abwegig ist. In der Parallele Mk 11,2 ist von nur einem Tier die Rede. Erst durch die Verdopplung der Tiere im Sacharja-Zitat, der sich Matthäus anschließt, entsteht das Verwirrspiel. In V.7 wird man auch lesen müssen, dass Jesus sich auf die (auf den Eseln liegenden) Kleider und nicht gleichzeitig auf Eselin und Fohlen setzt. LXX-Deutsch liest explikativ: »auf ein Lasttier, und zwar auf ein Füllen«, räumt aber ein, dass Matthäus zwei Tiere im Blick hat. Man darf den Esel als Reittier nicht gegenüber dem Pferd abwerten (vgl. 2 Sam 16,2; Ri 5,5), auch wenn Pferde das adäquatere Herrscherreittier sind.

Der Einzug Jesu in die Stadt wird begleitet von Volksmengen, die – durchaus typisch für Introitus- oder Adventusszenen – ihm vorangehen und ihm folgen und dabei Huldigungen und Gesänge ausrufen. Das Psalmwort (Ps 117,26[LXX]) wurde ursprünglich den zum Tempel wallfahrenden Pilgern von Priestern zugerufen. Dessen Rahmung durch den Hosianna-Ruf gilt nun jedoch Jesus, dem Sohn Davids, und es schließt die himmlischen Engel in der Höhe mit ein. Hosianna ist in neutestamentlicher Zeit ein allgemeiner, etwas unspezifischer Freudenruf geworden.

Die Spaltung zwischen dem Jesus begleitenden Volk und der Stadt Jerusalem nimmt nach dem Betreten der Stadt Jerusalem sogleich dramatische Begleiterscheinungen an, denn die ganze Stadt wird erschüttert. So jedenfalls deutet es das Verb seiō an, das im eigentlichen Sinn für ein Erdbeben verwendet wird. Die Frage »wer ist dieser« spiegelt daher die tiefe Bestürzung und Verunsicherung der Stadt wider. Man wird an die Geburtsgeschichte zurückdenken (Mt 2,3), gemäß der die Stadt Jerusalem bereits aufgrund der Geburt des Kindes erschüttert wurde. Die Auskunft der Jesusbegleiter »Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa« bleibt im Rahmen der erzählten Jesusgeschichte und bietet keine weitergehende christologische Belehrung.

Im Blick auf die Gesamtperikope möchte ich festhalten, dass nur ein einziges Attribut des einziehenden Herrschers genannt wird: Er ist sanftmütig. Manche Lexika übersetzen praus auch mit freundlich, milde, gnädig, liebevoll. Diese Reduktion herrscherlicher Attribute (gerade auch im Verhältnis zu Sach 9,9 und 10[LXX]) ist auffällig, aber eben auch konsequent, da die Sanftmut bereits in den Makarismen (Mt 5,5) und im Heilandsruf (Mt 11,29) und nur hier als Signatur der Herrschaft Jesu genannt wurde. Der Sinn der Sendung Jesu gilt nach dem Mischzitat und nach Jes 62,11 der Tochter Zion, also der heiligen Stadt Jerusalem. Wie wird sie auf die Ankunft des Messias Jesus reagieren?

III Impulse: Der sanftmütige Herrscher

Es bestehen vielfältige Resonanzen des Predigttextes in Adventsliedern. »Er ist gerecht, ein Helfer wert, Sanftmütigkeit ist sein Gefährt […] Sein Zepter ist Barmherzigkeit« (EG 1,2). »Er kommt zu uns geritten auf einem Eselein« (EG 9,2). »Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin, und ich will dir in Psalmen ermuntern meinen Sinn« (EG 11,2). »Tochter Zion, freue dich« (EG 13,1). »Hosianna, Davids Sohn, sei gegrüßet, König mild« (EG 13,3). »Dein König kommt in niedern Hüllen, ihn trägt der lastbarn Eselin Füllen« (EG 14,1). Und wir dürfen noch einen Schritt weitergehen. Innerhalb des Kirchenjahres stellen die Adventslieder nach wie vor einen wesentlichen Resonanzboden »spätmoderner Frömmigkeit« (Fechtner) dar. Diese vertrauten Melodien bringen die »kirchenjahresspezifische Gestimmtheit des Gemüts zum Ausdruck«. (Fechtner, 90) Die Adventszeit rührt an in einer Bewegung nach innen. Der Einzelne steht vielleicht von Ferne, aber doch angerührt vor dem Kommen Christi und fragt mit Hilfe der vertrauten Lieder: Wie kann ich dich empfangen? Oder bittet: Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist.

Die Reaktionen innerhalb Israels sind unterschiedlich. Die Volksmenge, gedacht ist wohl an Jesus begleitende Festpilger, erkennen in diesem, dem Propheten aus Nazareth, den sanftmütigen Messias seines Volks. Die Stadt Jerusalem aber tritt ihm erneut skeptisch gegenüber, was an späterer Stelle im Evangelium dezidiert zur Anklage des Prophetenmords hin verschärft wird (Mt 23,37–39).

Mich bewegt bei diesem Predigttext der Blick auf den Messias, dessen einziges Attribut die Sanftmut ist. Dieses fällt umso mehr auf, wenn man messianische Erwartungen anschaut, die etwa in Sach 9,10 oder in weiteren jüdisch-nationalen Texten kursierten. Erwartet wurde die militärische Beseitigung der Feinde, das Vernichten aller Widersacher als Voraussetzung für Frieden. Ebenso unterscheidet sich dieser sanftmütige Herrscher von Machthabern und Autokraten, deren herzlose und skrupellose Regierung uns heute oftmals fassungslos macht. Demgegenüber lautet die christologische Tonart, die im Advent als Alternative angestimmt wird, »Sanftmütigkeit ist sein Gefährt« (EG 1,2). Es ist nicht angezeigt, jetzt gleich in einem Atemzug zu benennen, was Christen tun sollen, wo sie für Frieden eintreten sollen, wenn sie sich zu diesem sanftmütigen Messias bekennen. »Es gibt keinen anderen Anfang, als daß dein König zu dir komme und fange in dir an.« (Luther, 692) Daher gilt es als Antwort zu loben und zu preisen und dankbar dafür zu sein, dass der Messias, dem wir vertrauen, sanftmütig ist, oder, wie andere Übersetzungen sagen, freundlich, milde, gnädig, liebevoll.

Literatur: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, Neukirchen-Vluyn u. a. 1997; Kristian Fechtner, Mild religiös. Erkundungen spätmoderner Frömmigkeit, Stuttgart 2023; Wolfgang Kraus/Martin Karrer (Hg.), Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009; Martin Luther, Evangelien-Auslegung II (hg. von Erwin Mühlhaupt), Göttingen 31960.

B

Sebastian Feydt

IV Entgegnung: Roter Teppich oder doch mehr ein rotes Tuch?

Geht es um den roten Teppich oder nicht doch eher um ein rotes Tuch? Beim Blick auf den von Mt erzählten Einzug Jesu in Jerusalem ist die spannungsgeladene Atmosphäre mit Händen zu greifen: Da sind die Pilger aus Galiläa, die Jesus jubelschreiend voraus und hinterher laufen und in Betfage, am Fuß des Ölbergs, auf die dortigen Dorfbewohner stoßen. In der Stadt werden sie dann gemeinsam auf die Städter, auf die Menschenmenge in Jerusalem treffen. Was für eine demonstrative und zugleich konfliktreiche Szene, die sich hier eröffnet, die auch nicht frei von populistischen Zügen ist. Es sind viele, die da den Weg bereiten und die in einen sehnsüchtigen Hilfe- und Freudenruf einstimmen: Menschen aus dem Norden, die sich auf ihrer Pilgerreise Jesus und seinem engeren Kreis angeschlossen haben, weil sie in ihm ihren Propheten aus Nazareth in Galiläa sehen und das allen kundtun müssen. Sie erleben, ebenso wie Jesus und die Seinen, dass sie in Jerusalem überhaupt nicht euphorisch begrüßt werden, man dort vielmehr regelrecht bestürzt reagiert. Eine Stadt in Aufruhr. Viele sind erschüttert, verunsichert, durcheinander, hin- und hergerissen. Das gesellschaftspolitische Gefüge scheint zum Bersten angespannt zu sein. Was für ein Kontrast: Während die pilgernden Massen jubelschreiend Jesus begleiten und einziehen, sind die Menschen vor Ort konsterniert und aufgebracht.

Offenbart sich hier eine gespaltene Gesellschaft der damaligen Zeit? Und begibt sich Jesus nicht mit den Insignien der ihm gegebenen Vollmacht mitten hinein in diese aufgeheizte, politisch wie religiös angespannte Situation?

Am ersten Sonntag im Advent 2024 liegt der 5. November, der Tag der Präsidentenwahl in den USA, erst wenige Wochen zurück und die traditionelle Amtseinführung am 20. Januar 2025 wirft schon ihre Schatten voraus. Weltweit werden Menschen an diesem Einzug eines Mannes in eines der, wenn nicht gar das einflussreichste politische Amt Anteil teilnehmen. Und es wird sich eine zerrissene Weltgemeinschaft und eine gespaltene US-Gesellschaft zeigen. Vermutlich freudige Jubelgesänge bei den einen, Erschütterung, Verzweiflung auf der anderen Seite. Unter Umständen gar erneut der Versuch, das rechtsstaatliche System zum Einsturz zu bringen.

Wie lässt sich angesichts dieser höchst angespannten Weltlage Jesu Advent predigen, noch dazu inmitten der Verunsicherung, die die Landtagswahl in den drei ostdeutschen Bundesländern dort und im gesamten Bundesgebiet seit Herbst hinterlassen haben werden? Gewiss nicht als absolute Alternative zu den aktuellen Ereignissen. Mt 21,1 ff. stellt uns ja nicht kommentarlos als stille Beobachter/innen an den Weg Jesu von Betfage nach Jerusalem. Umgekehrt heißt das: Wir stehen heute auch nicht hilflos am Rand des Einzugs neuer Machtverhältnisse. Weder in den USA noch in Europa. Am Anfang des Advents dieses Jahres verweben sich aber die Ebenen, verschränken sich biblische Botschaft und meine gegenwärtige Erfahrung. Dabei eröffnet sich die Chance, dass meine Wahrnehmung der tagespolitischen Ereignisse begleitet und bestimmt wird von dem Blick auf den Mann auf dem Esel beim Einzug in Jerusalem einst.

V Zur homiletischen Situation: Kommt die Sanftmut an?

A hat, angelehnt an Martin Luther, stark herausgearbeitet, dass es eine Frage an jede und jeden Einzelnen ist, wie der einziehende Jesus bei ihr oder ihm ankommt. Ganz in dem umgangssprachlich gebrauchten Wortsinn: Wie kommt Jesus hier und jetzt bei mir an? Wie kommt Jesus mit der ihm eigenen Sanftmut bei mir an? Was fange ich damit an? Lass ich mich von diesem, um des Friedens Willens engagierten Mann orientieren? Gehe ich mit wie die pilgernde Menge aus Galiläa?

Tief in uns ist das Grundvertrauen angelegt, dass mehr möglich ist, als gerade möglich scheint. In diesem Vertrauen stehen wir mit an der Straße der Sehnsucht, von der Mt so eindrücklich zu erzählen weiß: »Eine sehr große Menge steht dort. Sie breiten ihre Kleider aus, andere hauen Zweige von den Bäumen und streuen sie auf den Weg« (Mt 21,8).

Grüne Zeichen der Hoffnung an der Straße der Sehnsucht. Wer sich umschaut, wird erstaunt sein, wer alles in dieser Menschenmenge zu sehen ist. Nicht sofort die Leute mit den bekannten Namen. Nicht ein einziger Name wird im Evangelium erwähnt. Es sind vielmehr Leute an der Straße, die sind wie du und ich. Vorn stehen die kleinen Leute. Und weiter hinten einige von denen, die meinen, größer zu sein; weil sie größere Verantwortung tragen, größere Lasten schultern müssen als die anderen. Gemeinsam ist allen in dieser Menschenmenge an der Straße der Sehnsucht die Hoffnung, Heil und Hilfe zu finden. Hosanna rufen alle: »O Herr, hilf doch!«

Gewissheit und Sicherheit hören sich anders an. Und doch schwingt in den Rufen die große Hoffnung mit, dass Abhilfe geschaffen werden kann, dass sich im Lauf der Welt etwas verändern kann. Und gleichzeitig fällt auf: Je genauer wir hinschauen, umso größer werden die Zweifel. Ungereimtheiten tun sich auf. Kann es wirklich sein, dass der, auf den alle so sehnsüchtig warten, auf einem Esel daherkommt? Hat sich der neue Hoffnungsträger tatsächlich das störrischste unter den Lasttieren gesucht, um mir entgegen zu kommen, um bei mir anzukommen? Er hat! Er kommt genau so! Er kommt nur so. Anders ist es ihm nicht möglich. Das ist die Entscheidung, die ein für alle Mal gefällt ist: Jesus kommt so auf Menschen zu, wie es beim Propheten Sacharja festgeschrieben steht. Siehe, dein König kommt zu dir: Sanftmütig und reitet auf einem Esel (vgl. Sach 9,10). Deshalb: Stoßen wir uns nicht an diesem Esel! Achten wir vielmehr auf ihn! Der Esel ist der Schlüssel, um zu verstehen, wer Jesus für die Menschen ist. Der Esel ist der Garant, dass hier niemand getäuscht wird. Ein Esel ist es, der nach der Schrift die Verheißung trägt. Mehr noch: Ein Esel trägt den, der die Verheißung erfüllt.

Würden wir das nicht wissen, hätten uns nicht die Propheten genau dafür den Blick geschärft, viele würden an der Straße der Sehnsucht an einem wie Jesus von Nazareth, auf einem Esel sitzend, glattweg vorbeischauen. So aber lässt dieses Evangelium den Einzug Jesu in Jerusalem bis heute zu einer anspruchsvollen Orientierung werden. Denn längst setzen viel zu viele wieder auf einen, der hoch zu Ross daherkommt, am besten auch mächtig gewaltig. Stärker als in der Vergangenheit verbinden Menschen in unserem unmittelbaren Umfeld Veränderungen nur mit Stärke, nicht mit Demut. Veränderte Verhältnisse, die herbeigesehnt werden, verlangen nach der harten Hand, dem Mann mit Mut, aber keinesfalls nach Sanftmut. Man setzt zuerst auf Vergeltung und macht das Angebot der Vergebung lächerlich.

Der Mann, der da auf einem Esel die Straße der Sehnsucht auf Menschen zukommt, lehrt anderes. Mit Jesus von Nazareth vor Augen kann das eigene Denken und damit auch die eigene Lebensgestaltung eine andere Ausrichtung aufnehmen: Nachhaltige Veränderung ist von dem zu erwarten, der auf die Leute zugeht, der die Armut angeht und um Ausgleich bemüht ist. Das ist der Weg, den Jesus auf dem Esel geht. Seine Art, die Not der Menschen zu sehen, sich ihnen zuzuwenden, sein Verständnis für die Situation in der Mitte der Gesellschaft ebenso wie an ihrem Rand, offenbart allen die Grundhaltung Gottes zu uns Menschen. Gottes Freundlichkeit ist in Jesus von Nazareth Mensch geworden, hat der Menschenfreundlichkeit Gottes Gestalt gegeben.

Voraussetzung für diese umwälzende Kraft ist die Sanftmut. In dieser Haltung kommt Jesus auf die Menschen zu. Siehe, dein König kommt zu dir: Sanftmütig und reitet auf einem Esel. Friedfertigkeit, Bescheidenheit und Sanftmut sind eine starke Trias im Advent. Dabei ist die Sanftmut wohl die große Schwester der Friedfertigkeit. Und sie geht im Einklang mit der Milde.

VI Predigtschritte: Einzug in die Stadt oder den Ort

Der erste Sonntag im Advent wird vielerorts mit einem Festgottesdienst gefeiert. Das Evangelium Mt 21,1–11 hat leider nicht den Bekanntheitsgrad, wie ihn Evangeliumstexte an den folgenden hohen kirchlichen Feiertagen im Kirchenjahr besitzen. Und doch gehört der Einzug Jesu in Jerusalem zum Kernbestand bekannter biblischer Texte; nicht zuletzt auch durch die doppelte Aufnahme des Ereignisses, sowohl an Palmarum als auch am Ersten Advent.

Vor diesem Hintergrund braucht es zu Beginn der Predigt keine hinführenden oder einordnenden Passagen, zumal davon auszugehen ist, dass die oben erwähnte Aktualisierung viele Gottesdienstbesucher mehr als umtreiben wird. Es kann gut sein, dass eine seelsorglich angelegte Predigt, die die Befürchtungen und das Erschrecken der Menschen aufgreift und ins Wort bringt, angezeigt ist. Die Folgen der auseinanderdriftenden Gesellschaft, bis tief hinein in die vielfältigen Formen von Gemeinschaft heute, auch hinein in die Kirchgemeinden, stehen gleichsam als Spiegelbild der Einzugs-Erzählung im Raum; sie wurden ggf. noch durch die Assoziationen, die Mt 21 aktuell weckt, befördert.

Der entscheidende Perspektivwechsel, zu dem die Predigt am ersten Adventssonntag verführen darf, gelingt, wenn nicht der Umstand im Mittelpunkt steht, dass Jesus in Jerusalem einzieht, sondern wie es geschieht. Wie auf diesem Weg Menschen in ganz unterschiedlichen Lebensumständen und Haltungen erreicht werden, um die Frage zu vertiefen und zu beantworten: Was kommt da auf mich zu, wenn ich mich diesem Einzug stelle? Was fange ich dann mit der Sanftmut an? Gelingt es, sie greifbar und vermittelbar zu machen, kontextualisiert in den Gegebenheiten unmittelbar vor Ort?

Das wäre eine neue Ausrichtung von Mt 21. Wenn mit Hilfe dieser biblischen Botschaft konkret wird, wie die Sanftmut in unseren Ort, in meine Stadt, in meiner Straße einziehen kann. Wenn das keine sozialraumorientierte und das Gemeinwohl im Blick haltende Botschaft am 1. Dezember, am 1. Advent wird.

2. Advent – 08.12.2024

A

Jesaja 35,3–10

Woher kommen Kraft und Courage, wenn der Boden wankt?

Sara Egger

I Eröffnung: Kratzen am äußeren Anstrich

»Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!« (V.3). Klar und deutlich dringen die Imperative des ersten Satzes der Perikope für den Zweiten Advent auf die Hörenden ein. Und mit weiteren Imperativen geht es in den folgenden Versen zunächst auch weiter. Der nicht näher bestimmte Sprecher scheint eindeutig zu wissen, wie die Lage sich präsentiert und was zu tun ist. Weil exegetisch kaum Gründe auszumachen sind, weswegen die ersten beiden Verse des Kapitels nicht mit in die Predigt einfließen sollten, kann vermutet werden: Möglicherweise wurden die ab V.3 auftretenden Imperative als Ausdruck spürbarer Zuversicht für die Zeit des Wartens auf die Geburt Jesu als passend angesehen und der Beginn des Predigttextes in der Perikopenordnung deswegen hier vorgesehen. Wo allerdings mit überschießendem Nachdruck eine Wahrnehmung als Realität behauptet wird, ist stets Vorsicht angebracht und der äußere Anstrich dieser Behauptung mit ein paar Kratzproben zu überprüfen: Kann es sein, dass sowohl die Zuversicht des protojesajanischen Textes als auch jene des Advents das sprichwörtliche Pfeifen im Dunkeln sind? Trotz des heraufbeschworenen lieben Friedens im Advent ist für viele gerade diese Zeit geprägt von aufwühlenden Gleichzeitigkeiten: Traditionen und Konventionen gegenüber gegenwärtigen Bedürfnissen; weihnachtlicher Kommerz und Geschenkeflut gegen Besinnung auf das Eigentliche oder Ebbe im Portemonnaie; das Ideal der einträchtigen Familienfeier gegenüber den komplizierten, oft konfliktreichen Realitäten oder der drückenden Einsamkeit für viele. Gerade für jene, die in diesem Jahr einen wichtigen Menschen verloren haben, wird die entstandene Lücke in der Advents- und Weihnachtszeit besonders fühlbar. Der Totensonntag liegt zwei Wochen zurück. Doch die damit verbundenen Verluste sind damit ja noch nicht überwunden. So stehen wir kurz nach dem Übergang ins neue Kirchenjahr in einer Spannung zwischen Tod, Trauer und Verlust auf der einen Seite und der frohen Erwartung neuen Lebens auf der anderen Seite. Advent also eine Zeit der Gleichzeitigkeiten. Findet sich davon auch etwas im fünfunddreißigsten Kapitel des Jesajabuches wieder?

II Erschließung des Textes: Überschießende Lebenskraft am Ort der Geborgenheit

Der Predigttext entwirft die Vision eines zukünftigen Geschehens (vgl. die vielen Imperfekt-Formen im hebräischen Text, welche noch nicht abgeschlossene Handlungen zum Ausdruck bringen und deswegen als Futur gelesen werden können). In dieser Vision sprudelt das Gute geradezu über: Wasser fließt in Sturzbächen an Orten, wo zuvor alles vertrocknet war. Menschen, die kaum gehen konnten, springen wie Hirsche durch die Landschaft. Die Landschaft selbst jubelt und jauchzt über ihre Transformation. Und Menschen, die sprachlos waren, finden nicht einfach nur die Sprache wieder – sie frohlocken. Ein Festzug wird sich auf dem Weg der Gerechtigkeit aufmachen in Richtung Zion. Die personifizierte, unbegrenzte Freude führt diesen lautstark feiernden Zug an, und Schmerz und Seufzen werden in die Flucht geschlagen. Es scheint, als wäre dies alles zu gut, um wahr werden zu können. Utopisch – ein unmögliches Geschehen. Neben der unbändigen Lebenskraft sind im Text auch scheinbar gegenläufige Tendenzen zur Ordnung auszumachen. Es gibt einen klar erkennbaren Weg, der gegangen werden kann. Und es ist eindeutig, wer ihn gehen darf und wer nicht. Diese klare Ordnung bietet ebenso Sicherheit wie die Tatsache, dass es keine wilden Tiere mehr geben wird, die die Menschen auf diesem Weg bedrohen könnten.

Jes 35 erzählt von der Rückkehr der Exilierten zum Zion. Die Entstehungszeit und damit der historische Kontext, aus dem heraus und in den hinein der Text geschrieben wurde, ist jedoch später anzusetzen. Die meisten Exegeten vermuten das 4. Jahrhundert v.Chr. als möglichen Zeitraum, in dem der Text entstanden sein könnte. (vgl. Beuken, 336; Steck, 80) Das 4. Jahrhundert war ein sehr wechselhaftes Jahrhundert für Israel/Palästina: Ab der Wende zum 4. Jahrhundert und der Befreiung Ägyptens von der persischen Herrschaft war die Gegend immer wieder Durchzugsort von Truppen Ägyptens und des persischen Reiches. Etwas Stabilität erlebte Israel/Palästina dann ab der makedonischen Eroberung durch Alexander den Großen 332 v.Chr., bevor nach seinem Tod im Jahr 323 v.Chr. in den Diadochenkämpfen Israel/Palästina erneut Gegenstand und Schauplatz von Auseinandersetzungen war. (vgl. Knauf/Niemann, 459–382) Wenn auch nicht genau festgelegt werden kann, welche dieser wechselhaften Zeiten den Kontext von Jes 35 bildet, so wird doch deutlich: Der Text spricht in eine Situation hinein, die durch Verunsicherung, Entbehrungen und drohende Gefahr geprägt ist. Darauf weisen auch die möglicherweise vor Angst schlotternden Knie und vor Schreck kraftlosen Hände hin, die in V.3 wieder fest und stark gemacht werden sollen. Den verunsicherten, orientierungslosen und entkräfteten Menschen wird das Kommen Gottes verkündigt. Gott wird sie retten und erlösen und die so dringend benötigte Lebenskraft, Sicherheit und Ordnung mit sich bringen. Es besteht kein Grund mehr, sich zu fürchten!

Nahezu paradiesische Zeiten werden erhofft. Auf den ersten Blick wird diese Idylle jedoch von der in Aussicht gestellten Rache (V.4b) gebrochen. Im evangelischen Kontext, in dem Vergebung zu oft höher gewichtet wird als Anerkennung von Schuld und deren angemessene Sanktion (vgl. die Ergebnisse der erst kürzlich publizierten ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt und Missbrauch in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland), kann Rache nur schwerlich als Teil einer Vision von paradiesischen Zuständen gedacht werden. Doch in Jes 35 ist das Versprechen, dass Unrecht nicht vergessen, sondern vergolten wird, Teil der Heilsvision: Es wird Rache durch Gott in Aussicht gestellt. Damit werden die Angesprochenen davon abgehalten und entlastet, selbst Rache zu üben. Zugleich wird aber auch beteuert: Bei Gott geht nicht vergessen, was nicht wieder gut zu machen ist.

Ex negativo kann aufgrund der überschießenden Affirmationen in der Perikope also vermutet werden, dass die Vision in eine Situation hineingesprochen wurde, in der große Bedrängnis herrschte. Daraus ergibt sich für die in Jes 35 entworfene Vision die Gleichzeitigkeit mit einer ihr gegenläufigen Realität, in die hinein und zu der sie spricht. Die Heilsvision könnte so eine ähnliche Funktion erfüllt haben, wofür heute die Imaginationsübung des »inneren Ortes der Geborgenheit« (Reddemann, 45 f.) bei Menschen mit Traumafolgestörungen genutzt wird: In Momenten der überwältigenden Angst und des Kontrollverlustes mittels Vorstellungskraft an einen Andersort zu gehen, an dem erlebte Sicherheit, Ordnung und Zuversicht genügend Kraft und Hoffnung entstehen lassen, um eine überfordernde (Lebens-)Situation dennoch bewältigen zu können. Das Plus des protojesajanischen inneren Ortes der Geborgenheit besteht dabei gegenüber der reinen Imaginationsübung darin, dass er als prophetische Heilsankündigung nicht nur Kraftquelle im Moment ist, sondern die Hoffnung in sich trägt, irgendwann Realität zu werden. Eben dies soll Gott garantieren: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!« (V.4)

III Impulse: Inspirieren statt appellieren

»Seht, da ist euer Gott!« – auf diesen Ruf läuft auch die Adventszeit zu. Er verleitet dazu, im Brustton der Überzeugung von Hoffnung zu sprechen. Im Bewusstsein um die Gleichzeitigkeiten im Advent wie auch in Jes 35 bietet es sich aber an, eine Form der Predigt zu wählen, die Zwischentöne und Spannungen zulässt und aushält. Dazu könnte es gehören, von Menschen zu erzählen, die für sich einen (guten) Umgang mit solch spannungsvollen Situationen gefunden haben: Woraus haben Menschen in leidvollen und schwierigen Situationen Hoffnung schöpfen können? Welche Vorstellungen haben ihnen die Kraft gegeben, ihre Situation auszuhalten? Welche imaginären Orte der Geborgenheit haben sie sich gesucht, wenn die Realität nicht mehr auszuhalten war? Wo haben sie für sich Spielräume entdeckt, sich die Situation zu erleichtern? Als Beispiele können bekannte Persönlichkeiten aus Vergangenheit und Gegenwart herangezogen werden (beispielsweise: Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King Junior oder Malala Yousafzai). Vielleicht sind es aber auch ganz gewöhnliche Menschen, die einem etwas von ihrem Erleben anvertraut haben und uns als Inspiration geblieben sind. Indem die Predigt solche Erfahrungen zur Sprache bringt, kann sie das Gefühl der Gleichzeitigkeit enttabuisieren. Hemmungen, sich mit belastenden und problembeladenen Gedanken in der Weihnachtszeit anderen anzuvertrauen, können so vielleicht fallen und die Einsamkeit, die sie verursachen, etwas gelindert werden. Über die Auswahl der Gemeindelieder können weitere Visionen von Orten der Geborgenheit angeboten werden, während die nach dem Perikopenbuch vorgeschlagenen Textlesungen die Gleichzeitigkeiten aufnehmen. So werden die schlotternden Knie und schlaffen Hände durch den Imperativ »Seid getrost, fürchtet euch nicht!« nicht verleugnet, sondern hoffentlich tatsächlich gestärkt.

Literatur: Ulrich Berges, Jesaja. Der Prophet und das Buch (BG 22), Leipzig 2010; Willem A. M. Beuken, Jesaja 28–39 (HThKAT), Freiburg i.B. 2010; Ernst Axel Knauf/Hermann Michael Niemann, Geschichte Israels und Judas im Altertum, Berlin/Boston 2021; Luise Reddemann, Imagination als heilsame Kraft, Stuttgart, 2001; Andreas Schüle, Das Jesajabuch heute lesen, Zürich 2023; Odil Hannes Steck, Bereitete Heimkehr. Jesaja 35 als redaktionelle Brücke zwischen dem Ersten und dem Zweiten Jesaja (SBS 121), Stuttgart 1985.

Internet: Forschungsverbund ForuM, Abschlussbericht und Zusammenfassung der Ergebnisse, Hannover u. a. 2024 unter https://www.forumstudie.de/ (zuletzt abgerufen am 22.03.2024).

B

David Plüss

IV Entgegnung

Es stimmt, die Perikope beginnt mit einem Imperativ. Dennoch höre ich den ersten Vers nicht imperativisch, nicht als Befehl, sondern als Ermutigung und Beauftragung, als Aussendung in den »Alltag der Welt« (Käsemann). Dies liegt wohl daran, dass ich, wenn ich Gottesdienste leite, die Verse 3 und 4 regelmäßig als Sendungswort vor dem aaronitischen Segen spreche, allerdings mit einer gewichtigen Auslassung: Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt […] und wird euch helfen.« – Die Auslassung habe ich nicht selbst vorgenommen. Sie entspricht der liturgischen Vorlage und war mir bisher nicht bewusst. Ausgelassen wird die Rache. Dies scheint mir für den Sendungsteil angemessen. Ohne die göttliche Rache dominieren Aufforderung und Ermutigung, der göttliche Anspruch vor dem Zuspruch des Segens, die inhaltlich aufeinander bezogen und ineinander verwoben sind. Ich erlebe die Verse, wenn ich sie am Ende des Gottesdienstes, verbunden mit dem Segen, höre oder zuspreche, als Vitalisierung, als Schwungräder für das Aufstehen und Hinausgehen und couragierte Anpacken dessen, was ansteht, was mir anzupacken und ins Werk zu setzen aufgetragen ist.

Weil ich die Verse so höre, scheint es mir angemessen, den Predigttext in dieser Weise zuzuschneiden und mit V.3 zu beginnen. Es empfiehlt sich, sie dann auch als Sendungswort zu verwenden.

V Zur homiletischen Situation

A weist trefflich auf die Ambivalenz der Adventszeit hin, die sich auf die Perikope beziehen und im Gespräch mit ihr in befreiender und tröstlicher Weise reflektieren lässt. Ich würde den Horizont der homiletischen Situation jedoch gerne noch etwas weiter aufspannen und die krisenvolle Weltlage, in der wir stecken, in den Blick nehmen. Wenn ich diese Zeilen schreibe, tobt der Gaza-Krieg, eine schwere Atom-Katastrophe in Saporischschja in der Südostukraine und eine Eskalation des Konflikts zwischen Israel und dem Iran drohen. Die Situation, in die die Worte unseres Bibeltextes heute fallen, ist die der müden Hände und der wankenden Knie, der Furcht vor sehr konkreten und medial täglich ins Wohnzimmer gespülten Krisen und Kriegen. Und ja, es ist leider auch die Zeit der Blinden und der Tauben, der Lahmen und der Stummen. Es ist auch die Zeit jener, die wegschauen und die Ohren zuhalten, weil sie das Grauen ringsum – verständlicherweise! – nicht mehr aushalten, nicht mehr sehen und hören können oder wollen. Die Worte fallen in eine Situation der wachsenden Wüsten und sich ausbreitenden Trockenheit, der Weg- und Ratlosigkeit, der Ruchlosen und der Toren, der Löwen und reißenden Tiere. Die Metaphorik des Textes lässt sich beklemmend mühelos auf unsere Gegenwart übertragen.

In eine solche Situation fielen die Worte damals und fallen sie heute – und stellen göttliche Rache und göttliches Heil in Aussicht. Gott wird, so wird verblüffend frohgemut verkündet, das Blatt wenden und Unrecht vergelten. Nicht wir, sondern der Ewige selbst wird es tun. Interessant ist, wie Er dies tut. Zunächst dadurch, dass die Hände seiner Leute stark werden und ihre Knie fest; dass sie wieder hinsehen können und verworrene Situationen im persönlichen oder gesellschaftlichen Umfeld durchschauen; dass sie ihre In-Ear-Kopfhörer aus den Ohrmuscheln ziehen und hören können: auf die Kakophonien und die Harmonien der Stimmen um sie herum, das Lärmen der Großen, das Schreien der Flüchtenden, aber auch auf die belebenden und ermutigenden Worte der Ewigen. Die göttliche Aufforderung und Vitalisierung soll die Angesprochenen so in die Lage versetzen, die Krisen und Abgründe ihrer Gegenwart ungeschönt zu sehen und zu hören, Unrecht zu benennen und denen beizustehen, die unter die Räder geraten. Rache und Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit ist, wenn wir der Aussagerichtung des Textes folgen, nicht menschlicher Vergeltungssucht geschuldet, sondern Gottes Wille und in Aussicht gestelltes Tun. Recht und Gerechtigkeit sollen sein. Wo Unrecht ist, soll Recht werden. Dass das Vergelten und Rechtschaffen Gottes Sache ist, wird im vorangehenden Kapitel, wo über das südlich angesiedelte Nachbarvolk Edom das göttliche Gericht ergeht, in drastischer Weise deutlich.

Die Herausforderung der Predigt sehe ich wie A vor allem darin, einerseits die Krisen und Abgründe der Gegenwart möglichst ungeschminkt ins Auge zu fassen und andererseits Gottes in Aussicht gestellte Vergeltung und Aufrichtung von Recht und Gerechtigkeit glaubhaft und tröstlich zum Ausdruck zu bringen. Dies kann meines Erachtens am besten in den Sprechakten der Klage und der Bitte geschehen, indem Gott angerufen und an seine in Aussicht gestelltes Reich erinnert wird. Dazu gehört allerdings auch die Bereitschaft, dass, wenn und sobald Gottes Geist die Hände stärkt und die Knie festigt, die Menschen sich senden und segnen lassen, um ihre »Steine zu tragen aufs Baugerüst« (EG 254/RG 811).

VI Predigtschritte

Falls der Gemeinde die ersten beiden Verse der Perikope als Sendungswort bekannt sind, könnte mit einem Hinweis darauf begonnen werden. Der:die Pediger:in könnte davon erzählen, wie er:sie selbst diese Worte am Schluss des Gottesdienstes in Verbindung mit dem Segen hört und erlebt.

Für die Zuhörenden von Interesse dürfte indes auch die Auslassung des Rachemotivs bei der Verwendung als Sendung sein. Damit könnte zum insgesamt düsteren Kontext der Perikope – das Exil, die verwüstete Heimat, die Rache Gottes an Edom – und der Gegenwart übergeleitet und dieser ausgeführt werden: möglichst exemplarisch, konkret und präzis (statt allgemein und mit Stichworten). Dabei sollte meines Erachtens deutlich werden, dass die Krisenhaftigkeit unsere Gegenwart so sehr prägt, dass eine grundsätzliche und kurzfristige Überwindung derselben nicht in Aussicht steht, sondern vielmehr ein krisenbewusster modus vivendi zu suchen und zu kultivieren ist (vgl. Reckwitz 2023) – allerdings ein solcher »im Licht der Verheißung« (Lange, 27).

Die Verbindung weltpolitischer, gesellschaftlicher und ökologischer Krisen mit persönlichen und kollektiven Traumata, auf welche A hinweist, eröffnet die Chance, dass die Krisenhaftigkeit nicht ausschließlich distanziert und global, sondern auch persönlich wahrgenommen, reflektiert und bearbeitet werden kann.

Hier ist davon zu sprechen, dass und inwiefern Rache und Vergeltung nicht Sache von uns Menschen, sondern Gottes ist und wie sich unser Handeln und unsere Verantwortung, unsere hoffentlich immer wieder gestärkten Hände und festen Knie dazu verhalten. Und es ist vom Heil zu reden, von Bildern und Klängen und Ritualen, die Schutzräume bieten, Zeit zum Atmen und Regenerieren gewähren, Orientierung geben. Aber es ist so davon zu reden, dass die Hoffnungsbilder nicht als fromme Luftschlösser daherkommen, die von kritischen Zeitgenoss:innen als naiv belächelt und abgewehrt werden müssen. Die Hoffnung des Evangeliums überschießt zwar das Menschenmögliche bei weitem, aber sie verbindet sich mit diesem immer wieder. Und vor allem: Sie kommt uns von außen und vorne entgegen – wie das leuchtende Angesicht des Ewigen beim Segen. Advent eben.

Literatur: Ernst Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt. Zu Römer 12, in ders., Exegetische Versuche und Besinnungen Bd. 2, Göttingen 21965, 198–204; Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: ders., Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, München 21987, 9–51; Andreas Reckwitz, Krisen und Katastrophen. Das Ende ist ziemlich nah, in: DIE ZEIT Nr. 13/2023 (26.03.2023).

3. Advent – 15.12.2024

A

Römer 15,4–13

Irgendwas, das bleibt

Roland M. Lehmann

I Eröffnung

Ich sehe viele Menschen auf dem Adventsmarkt an den Buden stehen, Glühwein trinken oder eine Kartoffel mit geschmolzenem Käse essen. Ein Laser projiziert an den Kirchturm einen tanzenden Weihnachtsmann. Am Stehtisch werde ich wegen des Gedränges ständig von hinten angestupst. Die Musik plärrt über den Marktplatz. Vielleicht liegt es ja an mir. Doch es fällt mir zunehmend schwerer, in die Adventsstimmung zu kommen. Die Wochen vor Weihnachten werden für mich zu einer Zeit der Aufforderungen: »Machen Sie Wünsche wahr!« »Lassen Sie Kinderaugen leuchten!«, »Überraschen Sie ihre Liebsten!«. Advent – ein Fest der Ablenkungen und immer weniger eine Zeit der inneren Konzentration? Dabei sind gerade diese Tage des Jahres besonders geprägt von der »Sehnsucht nach dem ganz anderen«, wie es Max Horkheimer formuliert hat – nicht nur bei Christen, sondern bei allen Menschen.

Die Brücke zum Text sehe ich in den Worten »Geduld«, »Trost« und »Hoffnung«. Advent als Zeit des geduldigen und hoffenden Wartens auf die Ankunft (adventus) Jesu Christi. Die ersten drei Verse erzeugen in mir eine positive Resonanz. Aus der Trias »Geduld«, »Trost« und »Hoffnung« erwächst »Eintracht« und »Einmütigkeit«. Dies führt zur Aufforderung, einander anzunehmen. Danach wird für mich der Text spröde. Was bedeutet es, dass Jesus »ein Diener der Beschneidung« geworden ist? Es folgen vier weihnachtlich anmutende Schriftbeweise und der paulinische Wunsch, sich von Freude und Frieden erfüllen zu lassen, damit die Hoffnung wächst.

II Erschließung des Textes

Im 15. Kapitel des Römerbriefes erweitert sich das Thema »Die Starken und Schwachen« zum Thema »Heidenchristen und Judenchristen«. Bis etwa 100 n.Chr. stellten Judenchristen die Mehrheit des Urchristentums dar. Eine innerjüdische Sondergruppe, die Jesus nachfolgte, aber an der jüdischen Tradition (Speisegesetze, Schabbat und Beschneidung) festhielten. Dies führte zu Konflikten mit Christen nichtjüdischer Herkunft, auch in Rom. Im Hintergrund steht die Frage: Wie universalistisch ist die Botschaft Jesu? Gilt sie allen Menschen? Wie sehr hängt das Christentum an alten Lebensformen? Ist das Christentum eine Religion der Freiheit?

Im V.4 formuliert Paulus sein Schriftverständnis. Die hebräische Bibel ist für Paulus nicht hinfällig geworden, sondern dient der Belehrung. Schriftauslegung bedeutet Gegenwartsorientierung im Lichte der Botschaft Jesu. Die Begriffe »Geduld«, »Trost« und »Hoffnung« stehen dabei nicht parallel nebeneinander, sondern besitzen je nach Lesart eine gewisse Stufigkeit. Insofern könnte man den Vers folgendermaßen interpretieren: Wir sollen Geduld mitbringen, die Schrift wird uns Trost geben und durch diese Kombination wird neue Hoffnung entstehen.

Der V.5 enthält einen liturgisch geprägten Gebetswunsch. Nun werden die Begriffe »Geduld« und »Trost« auf Gott bezogen. Handelt es sich hier um Gaben, die Gott den Menschen schenkt oder um Eigenschaften, die auf Gott zu beziehen sind? Ist er ein Gott, der uns beides schenkt, oder der geduldig und tröstend ist? Ich denke, beides ist möglich. Die Aufforderung zur Einmütigkeit im Loben Gottes aus einem Mund könnte darauf hinweisen, dass sich die judenchristliche Gruppe aus rituellen Gründen vom allgemeinen Gottesdienst absonderte. Der Imperativ »Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat« klingt danach, einen neuen Anfang zu wagen.

Der Ausdruck »Diener der Beschneidung« oder wörtlicher »Diakon der Beschnittenheit« (diakonos peritomēs) kann in diesem Kontext als pars pro toto für das Judentum verstanden werden. Dann wäre der Ausdruck wohl bewusst im ambivalenten Sinn gemeint. Zum einen steht Jesus in der jüdischen Tradition und ist ihr Diener, zum anderen dient er der Beschneidung, indem er diese überwindet. Man denke dabei auch an die paulinische Rede über die »Beschneidung des Herzens« (Röm 2,29).

Es folgt eine Zitatenkollektion. Die Auswahl repräsentiert den gesamten Tenach mit seinen drei alttestamentlichen Schriftgattungen Weisung (Thora), Propheten (Nebiim) und Schriften (Ketubim). Alle Zitate enthalten die Worte »Heiden« (ethnē) oder »Völker« (laoi). Es geht dabei um die Entschränkung des Christentums zu einer universellen Religion. Im Aufbau kann man eine Steigerung erkennen und vor allem einen Wechsel der Angesprochenen: Zuerst das von einem Juden vollzogene Gotteslob unter den Heiden, dann die Aufforderung an die Heiden zur Freude, gefolgt von der Betonung, dass alle Völker Gott loben sollen, und schließlich die messianische Hoffnung auf den Spross aus der Wurzel Isais.

Die Perikope mündet in einem feierlichen Gebetswunsch mit einer kettenartigen Aneinanderreihung großer Begriffe (Hoffnung, Freude, Frieden, Glauben, Kraft). Wie in V.5 sehe ich hier wieder die Hoffnung in einer doppelten Bedeutung als Eigenschaft Gottes und als Gottes Werk an uns Menschen.

III Impulse

Aufgrund der Vielfalt des Textes würde ich mich bei der Predigt auf die V.4–7 konzentrieren. Ich sehe darin drei Ratschläge, die Paulus auch uns mit auf den Weg gibt. Dabei frage ich mich, ob das Aufbringen von Geduld des ersten Ratschlags – nicht nur im Bibellesen – ein immer schwierigeres Unterfangen in der heutigen temporeichen Gesellschaft wird. Wir leben in einer Zeit der technischen Beschleunigung, der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Beschleunigung des eigenen Lebenstempos, wie es Hartmut Rosa unterscheidet. (Rosa, 16) Vor diesem Hintergrund lohnt es sich über »Geduld« nachzudenken. In diesem Wort erblicke ich auch die Bedeutung »dulden«. Manches geht halt nicht so schnell, wie ich es üblicherweise gewohnt bin. Geduld kommt von Dulden, von einer Toleranz demgegenüber, was einem nicht sofort präsent ist. Ungeduld wäre dann eine Form der Intoleranz gegenüber anderen und gegenüber sich selbst. Ohne Geduld, kein Advent.

Wie verhält es sich mit dem zweiten Ratschlag, dem zur Eintracht und Einmütigkeit? Für mich bedeutet Einmütigkeit gerade nicht, dass alle einer einzigen Meinung sein müssen. In der Eintracht lebt die Vielfalt. Damit ist kein Kompromiss gemeint, auf den man sich notgedrungen einigt und bei dem man die eigenen Bedenken gewaltsam zurückdrängt. Vielmehr geht es darum, aus verschiedenen Stimmen eine Harmonie zu erzeugen – Dissonanzen eingeschlossen, denn sie machen den Akkord erst interessant.

Der dritte Ratschlag lautet: Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat. Also nicht: »Nimm den anderen an, dann wirst du auch angenommen«, sondern umgekehrt »Du bist bereits angenommen, darum nimm andere an«. Du bist angenommen, geliebt, getröstet und nur deswegen kannst du etwas davon weitergeben. Für mich ist dieser Vers der biblische Topos der berühmten Formulierung Paul Tillichs, mit der er das Rechtfertigungserlebnis paraphrasiert. Rechtfertigung bedeutet: »Annehmen, dass ich angenommen bin« (accepting acceptance). (Tillich, 233) Die Adventszeit ist für mich eine Einladung, sich wieder auf diese Erkenntnis zu konzentrieren: »Ich bin von Gott angenommen!« So, wie ich bin, bin ich von Gott »recht« geschaffen, »recht« gefertigt. Mir kommt dabei der Song »Irgendwas bleibt« von Silbermond ins Gedächtnis. Für mich drückt sich im Refrain auf ganz intime Weise das Rechtfertigungsgeschehen aus. Hier einmal nicht, wie sonst gewöhnlich in der forensisch-imputativen Lesart, in Form eines juridischen einmaligen Gnadenaktes Gottes, verbunden mit der Reflexion über die eigene Schuldigkeit und Sündhaftigkeit. Stattdessen wird die Rechtfertigung viel zärtlicher und sehnsüchtiger zum Ausdruck gebracht:

»Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit / in einer Welt, in der nichts sicher scheint. / Gib mir in dieser schnellen Zeit / irgendwas, das bleibt. Gib mir einfach nur ein bisschen Halt. / Wieg mich einfach nur in Sicherheit. / Hol mich aus dieser schnellen Zeit. / Nimm mir ein bisschen Geschwindigkeit. / Gib mir was, irgendwas das bleibt.« (Silbermond, 162–164)

Vielleicht sollte ich so eingestimmt noch einmal den Adventsmarkt besuchen. Mich weniger von den Laserstrahlen des tanzenden Weihnachtsmanns ablenken lassen, bewusst die Gesichter der Menschen wahrnehmen. Dann könnte ich vielleicht ein kleines Mädchen entdecken, wie es an den Mantel der Mutter zupft, zur ihr nach oben schaut und mit dem Finger auf ein Lebkuchenherz zeigt. Irgendwie süß! Oder ich nehme den einen älteren Mann wahr, wie er an mir vorbeigeht und dabei leise das Weihnachtslied, das aus den Lautsprechern erklingt, mitsummt.

Literatur: Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior, Berlin 1970; Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 122020; Paul Tillich, Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie, Bd. 2 (GW 8) Stuttgart 1970; Silbermond, Das Liederbuch 2004–2010, o.O. 2010.

B

Georg Raatz

IV Entgegnung: Ja, aber doch mehr

Ja, A, bis V.7 geht der Text runter wie Öl; danach wird er abständig. Jedoch begründet Paulus gerade in den V.8–12 die Gebetswünsche, so A, aus V.5 f. und die paränetische Konsequenz in V.7. A bezieht die in V.8–12 im Hintergrund stehende konkrete Konfliktsituation in Rom zwischen den sogenannten Juden- und Heidenchristen sogleich und einleuchtend auf große Fragen: nach der Universalität der Botschaft Jesu, ihrem Geltungsbereich, nach der Traditionalität des Christentums und schließlich nach dem Freiheitscharakter dieser Religion. Hier hake ich ein und nehme die Anregung von A auf. Und diese homiletische Aufwertung des Mittelteils hat auch Rückwirkungen auf die Schwerpunktsetzung in den Rahmenstücken. Für sich genommen bliebe man gewiss bei den schönen Worten Geduld, Trost, Hoffnung, Freude und Frieden hängen. Vom Mittelteil her gelesen rückt nun aber stärker des Paulus Ermahnung zur Eintracht, Einmütigkeit in den Fokus und vor allem zur wechselseitigen Annahme. »Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre« (V.7). Darauf richtet auch A (III) sein besonderes Augenmerk und deutet diesen Aspekt im Anschluss an Paul Tillich und Silbermond mit »zärtlicheren« rechtfertigungstheologischen Figuren. Hier will ich weiterdenken und über eine rechtfertigungstheologische Anverwandlung hinausgehen.

V Zur homiletischen Situation: Immanente Transzendenz

Annahme – Angenommensein – wechselseitige Anerkennung. Im Dezember geht ein Wahljahr zu Ende, das von politischen Debatten um unsere verfassungsrechtliche Grundordnung geprägt war. Im Dezember geht ein Jahr zu Ende, in dem wir den 300. Geburtstag von Immanuel Kant begangen haben. Im Dezember 2024 geht ein Jahr zu Ende, in dem wir an die Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vor 75 Jahren erinnert haben. Alle drei Ereignisse koinzidieren in der Idee der Würde des Menschen. Kurzfassung: Sie gehört konstitutiv zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung; und in Art. 1 des Grundgesetzes wird in der Kommentierung und höchstrichterlichen Rechtssprechung auf Kants Konzept der Menschenwürde zurückgegriffen. – Aber was hat das nun mit unserer Perikope zu tun? Ich will drei Perspektiven miteinander verschränken: 1. Jesus als Verkündiger der Menschenwürde, 2. die universelle Geltung der Menschenwürde als Analogon zur Universalität des Christentums im Sinne einer Religion der Freiheit (so A) und 3. die wechselseitige Anerkennung bzw Achtung der Menschenwürde als eine (christliche) Religion der Moderne.

Zu 1.: Adolf von Harnack hat in seiner Abhandlung »Wesen des Christentums« (1899, noch ein Jubiläum!) das Wesen der Verkündigung Jesu in der Formel zusammengefasst: »Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele«. (Harnack, 43–47) Bereits in seinem Verhalten vermittelt Jesus eine ungeheure Wertschätzung des Menschen, die unabhängig von allen Bedingungen erfolgt, also unbedingt. Auch in seiner Verkündigung habe Jesus »das Höchste in Bezug auf den Menschen gesagt, indem er gesprochen hat: Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? [Mt 16,26]«. Harnack begründet diese Umwertung so: »