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Prinz Schamyl, Sohn des Sultans von Daghestan, steht als Major im Dienst des Zaren, als dieser gegen die Türken in den Krieg zieht. Sein Freund Paul Platoff steht ihm treu zur Seite. Prinz Schamyl liebt die junge Fürstin Maritza, die "Rose von Tiflis", und die Sehnsucht nach ihr begleitet ihn durch alle Kriegswirren. Von Neid und Eifersucht zerfressen, wird Schamyls Bruder, Ghazi, zum bedrohlichen Gegenspieler. Ghazi setzt alle Hebel in Bewegung, um Maritza zu einer seiner Frauen zu machen, und scheut dabei nicht davor zurück, gegen den eigenen Bruder Mordpläne auszuhecken. Die "weiße Gräfin", die schöne Nadja Bronsky, ist dabei Ghazis gefährliche Komplizin. Wird Prinz Schamyl alle Abenteuer bestehen und am Ende Maritza heimführen?-
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Seitenzahl: 384
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Richard Henry Savage.
Verfasser von „Meine offizielle Frau“.
Autorisierte Uebersetzung aus dem EnglischenvonNatalie Rümelin.
Saga
Richard Henry Savage: Prinz Schamyls Brautwerbung -. Eine Geschichte aus dem russisch-türkischen Kriege. Aus dem Englischen von Natalie Rümelin © 1894 Richard Henry Savage. Originaltitel:. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.
ISBN: 9788711462973
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.
Prinz Liebwert und die Rose von Tiflis.
Im Kasino der Garde-Ulanen. — Soldaten. — Drohendes Kriegsgewitter. — Ein fürstlicher Judas.
„Suleiman Effendi hurra!“
Die Gläser klangen zusammen, die Wände dröhnten von den Hochrufen der Gardeoffiziere, und der Schaumwein floss in Strömen.
Im Kasino der kaiserlichen Garde-Ulanen, dieser Teufelskerls, die es selbst in dem tollen St. Petersburg an Liebenswürdigkeit und Genussfähigkeit allen zuvorthun, geht es anerkanntermassen am lustigsten zu. Heute gaben sie dem Hauptmann Suleiman, der sich, während er als Militärattaché der türkischen Gesandtschaft zugeteilt gewesen war, alle Herzen gewonnen hatte, ein kleines Abschiedsfrühstück. Etwa ein Dutzend der kühnen, liebenswürdigen Ulanen umgaben den lustigsten kleinen Türken, der je einen Tschibuk geraucht hat.
Es war eine inhaltschwere Zeit. Draussen wirbelte der Schnee in grossen wolligen Flocken hernieder, und mit lustigem Schellengeklingel flogen die Troïkas dahin, denn die Kaiserstadt an der Newa hatte den Höhepunkt ihrer winterlichen Herrlichkeit erreicht.
Die innere Rastlosigkeit der eroberungslustigen Moskowiten äusserte sich vorderhand erst in einer ganz besonders lustigen und belebten Saison. Es war nämlich im Jahre 1876, und die Konstantinopeler Konferenz quälte sich an der endlosen Aufgabe ab, der elastischen Karte der Türkei eine neue Form zu geben.
In der Stadt des grossen Peter war die „Elite“ der Armee versammelt, die Luft allüberall mit einem gewissen „Pulvergeruch“ erfüllt, und jedes Gespräch drehte sich um die Mobilmachung. War erst dieser jetzt herniederfallende Schnee wieder geschmolzen, so sollte die Erde erbeben unter den Tritten der Legionen des weissen Zaren. Im Augenblick aber herrschte im Speisesaal des Ulanenkasinos nur die herzlichste Gastfreundschaft, und über die reichbesetzte Tafel und die verschiedenfarbigen Gläser weg, durch dichte Rauchwolken hindurch lächelten schöne, mutige Gesichter dem lustigen Türken Suleiman freundlich zu.
Gar bald kam wohl der Augenblick, wo seine Gesandtschaft — mit hohler slavischer Höflichkeit hinausbekomplimentiert — ihre Schritte nach dem Bosporus zurücklenken musste, und schon hatte Hauptmann Suleiman den Befehl erhalten, sofort persönlich in Konstantinopel Bericht zu erstatten, da er dem türkischen Kriegsministerium eine Fülle der mannigfaltigsten, wichtigsten Nachrichten geben konnte.
Während seiner dreijährigen diplomatischen Verwendung in Petersburg hatte sich Suleiman eine Menge Freunde erworben, denn er war ein lustiger Mann mit munteren, strahlenden Augen, ein vorzüglicher Reiter, ein beherzter Bonvivant und ein entzückender Wirt.
Bei gar vielen glänzenden Festen hatte sein rotes Fez einen leuchtenden Mittelpunkt gebildet, und gelassen pflegte er den Wein von Schiras hinunterzustürzen und den von Röderer zu schlürfen. Auch verstand er es, Cigaretten zu drehen, Anekdoten zu erzählen und mit der jeunesse dorée der Garde um die Wette die zierlichen Knöchel der Mitglieder des unerreicht dastehenden Petersburger Balletts zu kritisieren, denn wenn Suleiman auch selbst nie tanzte, so war er doch mit den üppigen Priesterinnen Terpsichores aufs genaueste bekannt und zählte zu den ständigen Besuchern hinter den Coulissen der grossen Oper.
Kurzum, er war ein ganz moderner Türke und pflegte alle Verfehlungen gegen den Islam, die sein lebenslustiges Naturell verschuldete, mit frommem Sinn als Opfer zu betrachten, die er als Diplomat gar nicht umhin konnte, den „Interessen“ seines Vaterlandes zu bringen. Einzelne bei dem Gedanken an die bevorstehende Heimkehr dennoch auftauchende Gewissensbisse ertränkte er in dem alle Sorgen brechenden Wein und flüsterte dazu ehrfurchtsvoll: „Maschallah! Bismillah!“
In dem Kreis der Ulanenoffiziere war er sehr beliebt, denn gar manchem flotten moskowitischen Reiter hatte er den oder jenen in den Ebenen Armeniens erlernten Kunstgriff gelehrt. „Jeder Zoll ein Soldat,“ sagten sie von ihm.... „Aber ein Türke! Ein Türke!“
Suleiman erhob sein Glas und rief in dem ihm gleich einer zweiten Muttersprache geläufigen Französisch den Segen Allahs auf diesen liebenswürdigen Kreis von Kriegern herab.
Schon wurde auf dem Bahnhof der Zug rangiert, der ihn in fliegender Eile nach Odessa befördern sollte, von wo er zu Schiff über das Schwarze Meer nach den romantischen Gestaden des Goldenen Hornes zu fahren beabsichtigte. Bis ins tiefinnerste Herz hinein fühlte sich der Moslem erschüttert: wusste er ja doch nicht, ob er die tapferen Ulanen nicht nächstens in den Sumpfniederungen der Donau oder auf den Steppen Armeniens wiedertreffen würde.
Für seine russischen Freunde hing die Entscheidung darüber vom Kriegsglück, für Suleiman Effendi vom Kismet ab.
In seinen Augen glitzerte es verdächtig, als er die Hände, die sich ihm wieder und wieder entgegenstreckten, zum letztenmal schüttelte, nachdem schon im Laufe des Morgens allerlei Andenken, hier ein Cigarettenetui, dort ein schöner Dolch 2c., wie sie sich gute Kameraden beim Abschiednehmen überreichen, ausgetauscht worden waren....
Nun meldete der feierliche Haushofmeister des Kasinos, dass Suleimans Schlitten vorgefahren sei, und der junge Türke bahnte sich seinen Weg nach der Thüre mit dem letzten, herzlichen Zuruf: „Au revoir, mes frères! Bonnes chances aux braves! Vivent les Ulans!“
In der hochgewölbten Halle des grossen Kasinos blieb er stehen, schlang seine Arme um einen auffallend grossen jungen Mann, der ihm das Geleite gab, und flüsterte ihm einige türkische Worte ins Ohr.
Mit wildem Schellengeläute rasten die drei schwarzen Orloffs davon, und Suleiman war „en route“.
Im Rauchzimmer des Kasinos sassen die Offiziere zusammen und schwelgten im Genusse der den Russen so unentbehrlichen Cigaretten. In dem ganzen glänzenden Kreis war indes nicht einer mit Mohammed Ahmed Schamyl zu vergleichen, der schweigend eintrat und sich niedersetzte, während ihm die letzten Worte Suleimans noch in den Ohren klangen.
Aus Prinz Schamyls dunkeln Augen brach ein Strahl warmer Zärtlichkeit, als er von Paul Platoff, seinem alten Kameraden vom Pagenkorps, einem flotten Hauptmann der reitenden Gardeartillerie, eine Cigarette nahm.
Schamyl war das einzige Mitglied des Ulanenkasinos, das zugleich russischer Offizier und geborener Mohammedaner war.
Stolz und anmutsvoll in Haltung und Wesen, hatte sich Ahmed Schamyl den ganzen Reiz der wilden Berge Cirkassiens bewahrt, zwischen dessen schneegekrönten Firnen er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte.
Als jüngster Sohn des grossen, kriegerischen Sultans Schamyl von Daghestan hatte er bei Hofe und im Feld ein bewegtes Leben geführt und in seinen siebenundzwanzig Jahren gar mancherlei erlebt.
Mit der grossen, geschmeidigen Gestalt, der dunkeln Hautfarbe und den feurigen, blitzenden Augen sah der ritterliche junge Major in der prächtigen Uniform der kaiserlichen Leibwache gar schön und stattlich aus, und es bedurfte weder der silbernen Kartusche und des von Juwelen strotzenden Dolches, den er im Gürtel trug, noch des „Chaska“ in seiner reichen Scheide und des hübschen astrachanischen Turbans, um den gezähmten Prinzen vom Kaukasus zu kennzeichnen.
Während Platoff und seine Freunde sich für den Sieg der russischen Waffen im bevorstehenden Krieg verbürgten, träumte sich Ahmed Schamyl in eine bewegte, von den von Tag zu Tag sich näher heranwälzenden Rauchwolken der Schlachtfelder verhüllte Zukunft hinein.
Der Abschied von dem kleinen Suleiman, dessen Gesandtschaft ihre Pässe so gut wie in der Tasche hatte, war dem ausländischen Krieger des Zaren nahe gegangen.
Aus ferner Vergangenheit tauchte die Erinnerung an den Tag in ihm auf, wo er sich als neunjähriger Knabe an seinen gewaltigen Vater schmiegte, als dieser stolz herniederschritt von seinem Adlerhorst „Aul Gunib“, um sich dem ritterlichen Fürsten Bariatinsky zu übergeben und damit den dreissigjährigen erbitterten Krieg gegen Russland zu Ende zu bringen.
Zwischen damals und heute lag die im Pagenkorps und in der Kadettenanstalt verlebte Zeit — lange bevor er gelernt hatte, den geistvollen Hofdamen im Winterpalast leidenschaftliche Worte ins Ohr zu flüstern! — und doch war ihm alles so gegenwärtig, als sei es erst gestern gewesen.
Dann sah Ahmed Schamyl im Geist die Leiche seines erhabenen Vaters vor den heiligen Altären des grossen Mohammed in Medina aufgebahrt.
Seine Mutter.... Ach, seine Mutter! Vielleicht zuckte durch die immer näher heraufziehende Kriegswolke einmal ein Strahl des Lichtes und erhellte ihm das Bild der lieblichen Frau, die wie ein wesenloses Schemen, als „weisse Dame“ durch seine Kinderträume zog.
Trotz der lustigen Kameraden, die ihn umgaben, wurde der Geist des edlen Cirkassiers im Speisesaal seines Regiments von sonderbaren Einbildungen gequält und verfolgt.
Der Mann, der ihn vor wenigen Minuten verlassen hatte, war seinem Herzen sehr teuer, denn er hatte Suleiman, dessen Vater als Pascha in Erzerum lebte, schon vor Jahren während einer kurzen militärischen Lehrzeit im Kaukasus in Tiflis kennen gelernt, und manch fröhlicher Jagdtag an den Ufern des wogenden Kura, manch glückliche Stunde, in der sie gemeinsam den Sagen Georgiens, Armeniens und Anatoliens gelauscht, hatte eine Freundschaft gefestigt, die sie freudig erneuten, als Suleiman in diplomatischer Sendung als Hauptmann des Generalstabs nach St. Petersburg kam. Und nun hatte ihn sein türkischer Kamerad wiederum verlassen.
Wohl schlürfte Ahmed Schamyl aus dem Liebesbecher des Regiments, aber sein Herz war schwer, und Suleimans letztes Flüstern klang ihm noch immer in den Ohren.
„Wir wollen Brüder sein und bleiben, Ahmed — selbst wenn wir uns mit dem Schwert in der Hand, auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen sollten!“
Also mussten sich alte Freunde als junge Feinde gegenübertreten, sobald die Kriegsfahne wehte!
Suleimans Klinge sollte im Strahl des Halbmondes blitzen, und er, Ahmed, der Sohn eines grossen Herrschers und Propheten, der der Moslem der Moslem gewesen war, musste seine unbändigen Cirkassier unter dem Zeichen des griechischen Kreuzes ins Feld führen und für den Zaren kämpfen!
Aus diesen Gedanken schreckte ihn die heitere Anrede Paul Platoffs auf, der munter zu ihm sagte: „Speise bei mir, Ahmed, dann wollen wir heute abend die Zigeuner singen hören — es sollen einige neue Schönheiten angekommen sein.“
Schamyl nahm die Aufforderung gerne an — alles schien ihm besser als die geräuschvolle Kannegiesserei um ihn her.
Die Unterhaltung wurde nämlich immer leidenschaftlicher und hitziger geführt, und von allen Seiten sprachen die angehenden Generäle aufeinander ein und erörterten und lösten im Handumdrehen alle diplomatischen Schwierigkeiten der aufregenden, ereignisreichen Gegenwart.
„Konferenz in Konstantinopel,“ „Alliierte Mächte,“ „Bismarck“, „Englische Flotte,“ „Balkanpässe,“ „Ignatiefs Politik,“ „Gortschakoffs Forderungen“ — diese abgerissenen Worte klangen aus dem Klappern der Würfel und dem Stimmengewirr an Ahmeds Ohr.
Schamyl betrachtete durch die Rauchwolken hindurch ernsthaft die Gesichter seiner Kameraden, während sie sich über die ungelöste orientalische Frage stritten. Durch Blut konnte sie vielleicht gelöst werden, ja, aber nicht durch Worte! Er bahnte sich einen Weg durch die befreundete Schar, griff nach Mantel, Säbel und Turban und fuhr mit Platoff in dessen Schlitten nach der Artilleriekaserne.
Lässig warf sich der trübgestimmte Prinz in der Wohnung seines Freundes auf einen mit köstlichem Pelzwerk bedeckten Diwan und betrachtete sinnend seinen russischen Herzensfreund.
Aller Wahrscheinlichkeit nach mussten die leichten Batterieen Pauls zur schweren Artillerie der zum Einfall ins feindliche Gebiet bestimmten Donauarmee stossen, denn obwohl nichts Näheres bekannt war, errieten doch die Eingeweihten die Pläne so ungefähr.
Er selbst, Schamyl, war ja nichts weiter als ein sturmverwehtes Blatt — wohin würde er wohl getrieben werden? Niemand vermochte diese Frage zu beantworten.
„Ahmed,“ begann Platoff, „ich habe ein ernstes Wort mit dir zu reden. Ich habe heute bei den Galitzins ein Gerücht vernommen, das mich durchaus nicht angenehm berührte.“
„Nun und ...?“ sagte der Cirkassier langsam, indem er mächtige Wolken aus seinem Tschibuk blies.
„Es betrifft deinen Bruder, den Prinzen Ghazi,“ fuhr der Artillerist fort.
Schamyls Stirne umwölkte sich bei diesen Worten; in der Tiefe seines Herzens war er sich der bitteren Wahrheit wohl bewusst, dass er keinen wirklichen Bruder besitze; denn Jamal-Eddin, der Erstgeborene der Söhne des grossen Schamyl, lag tot und begraben unter dem Triebsand der fernen armenischen Wüste. Mit fanatischer Ueberzeugung war er dem Glauben Mohammeds treu geblieben und gestorben, als der frömmste Türke, der je dem aus reinen Höhen zu den Gläubigen herniederklingenden Ruf der Muezzin gelauscht hat. Der junge Gardeoffizier bewahrte indessen nur eine verschwommene Erinnerung an diesen Bruder, denn als ihr kriegerischer Vater im Jahre 1859 von seinem uneinnehmbaren Horst herniederstieg und sein tapferes Schwert für immer in die Scheide stiess, hatte Jamal-Eddin, für den ein goldener Käfig keine Reize hatte, den besiegten Krieger nicht nach Kaluga, seinem Aufenthaltsort im Lande des weissen Zaren, begleitet.
Gar wohl entsann sich Ahmed noch des glänzenden Hofhaltes, in dessen Mitte der alte Beherrscher des Kaukasus die Zeit seiner Verbannung aus dem romantischen Lande des „fünfunddreissigjährigen Krieges“ verlebte.
Sechs lange Jahre waren nun vergangen seit dem Tag, wo der stolze gefangene Held beim Zaren als letzte Gunst die Erlaubnis nachsuchte, sich seines hohen Alters wegen nach Arabien begeben und am Grab des Propheten, in der heiligen Stadt, sterben zu dürfen.
Sein Bruder! Dann handelte es sich also um Ghazi Mohammed, den Gardeoffizier, der nur dem Namen nach sein Bruder war.
„Was ist mit meinem Bruder?“ fragte der fürstliche Jüngling in kaltem Ton.
„Mehrere Generalstabsoffiziere waren da und stöhnten über den bevorstehenden Feldzug, weil es ihnen gar schwer ankommt, sich so plötzlich von den lieblichen Sirenen der Gesellschaft und — des Ballettes losreissen zu müssen,“ berichtete Platoff spöttisch. „Es war auch von deinem Bruder die Rede, und ich fing einige Worte auf. Der alte Lazareff sagte, er werde mit keinem Kommando betraut werden.“
„Und warum nicht?“ fragte Schamyl scharf, indem er in die Höhe fuhr.
„Weil seine Beziehungen zu der Gräfin Nadja Vronsky allzu bekannt sind.“
„Nun und ...?“ Schamyls Augen blitzten, als er diese Frage stellte.
„Ich weiss nicht, wo Vronsky sie aufgelesen haben mag — er ist tot und begraben, der arme Kerl! Aber sie kam irgendwoher aus dem Balkan und soll nun, wie ich höre, die hauptsächlichste Helfershelferin des türkischen Chargé d’affaires bei all seinen Ränken sein — ein ganz gefährliches Frauenzimmer.“
Wie ein gefangener Tiger schritt Schamyl im Zimmer auf und ab, während Platoff gelassen fortfuhr: „Ich hielt es für geboten, dich von dem zu unterrichten, was vorgeht, denn leicht könnten auch deine Aussichten auf ein selbständiges Kommando dadurch beeinträchtigt werden.“
„Wie meinst du das, Paul?“
„Man sagt,“ erwiderte Platoff, „die Türken wollen uns mit einem allgemeinen Aufstand im Kaukasus in den Rücken fallen, und der Sohn des grossen Schamyl, der dafür zum Oberpascha in Armenien ernannt werden solle, sei zum Befehlshaber der aufständischen Moslems ausersehen.“
Ahmeds Augen sprühten Funken, als er zischte: „Also behaupten sie, er wolle desertieren und dem Zaren die Treue brechen! So lautet ja wohl die Lüge?“
„Genau so, Ahmed,“ erwiderte Platoff freundlich; „ich war der Ansicht, dass du es sofort erfahren müssest. Du vertraust mir doch, Prinz?“
„Bis in den Tod, Paul,“ erwiderte Schamyl, während er mit den leichten Schritten eines Wolfes aus der Ukraine das Zimmer durchmass.
Schweigen herrschte in dem Gemach, bis die tiefen, dröhnenden Klänge der Riesenglocken der St. Isaakskirche die Stille unterbrachen. Es war ein Festtag, deren zweiundfünfzig im Verein mit ebensovielen Sonntagen eine angenehme Abwechselung in das moskowitische Jahr bringen, was ein Meisterzug der russischen Tyrannei ist.
Ahmed legte seine Hände auf Pauls Schultern und sagte: „Komm, Platoff, ich will dir vertrauen! Ich bin im Begriff, diesen Mann aufzusuchen, aber ehe ich es thue, will ich dir mein Herz ausschütten, denn ich bedarf deines Rates.“
„Setze dich, Ahmed, und vertraue mir, was du magst,“ antwortete Paul, den des Prinzen trostloser Blick und der seiner Ehre angethane Schimpf mit tiefstem Mitleid erfüllten, denn beide Söhne Schamyls trugen den Rock des Zaren. Noblesse oblige — ein Schamyl konnte ein Krieger sein, doch ein Verräter und Deserteur — nimmermehr! ...
Nachdem er eine Weile sinnend das Haupt in die Hand gestützt hatte, richtete Ahmed sich auf und sprach leise wie zu sich selbst: „Ich bin nicht wie ihr andern. Mein Vater war ein grosser Krieger, Priester, Herrscher und offener Empörer. Auf den schimmernden Firsten der stolzen Höhen des unbesiegten Daghestan hatte er das Licht erblickt, und er kämpfte um sein eigenes Land. Während vierzig langer Jahre hallte der Donner der Kanonen und das Krachen der Gewehrsalven durch die lieblichen Thäler Cirkassiens. Viermal trieb er grosse russische Invasionsheere zurück und vernichtete sie beinahe völlig. Als er aber von Gunib herniederstieg und Bariatinsky sein Soldatenwort verpfändete, da wurde die Ehre der Familie mitverpfändet. Zar Nikolaus hat Wort gehalten und Kaiser Alexander ebenfalls. Mein Vater hat wie ein König gelebt, und schliesslich wurde ihm auch noch gestattet, zu gehen und wie ein Prophet auf heiligem Boden zu sterben.“
Platoff nickte zustimmend.
„Du weisst, Paul, dass dieser so viel ältere, düstere, rotbärtige Mann und ich nichts miteinander gemein haben. Der Zar hat uns gleich den Söhnen regierender Herrscher erziehen lassen, uns an seinen Hof genommen und uns unser persönliches Vermögen erhalten. Ein Schamyl wenigstens wird treulich unter unsrer Fahne kämpfen! Ich muss die Ehre der Familie retten!“
Schamyls Augen glühten vor Wut.
„Gott sei Dank, Ahmed, du sprichst wie ein Mann,“ rief Paul freudigen Herzens.
„Ich habe meine Mutter nie gekannt,“ fuhr Ahmed in weichem Tone fort; „ein jeder der drei Söhne Schamyls wurde von einer andern Mutter geboren. Manchmal denke ich, dass man ein Geheimnis vor mir bewahre, Paul. Ich bin dunkel wie ein Georgier, und mein Vater hatte helles Haar und helle Augen.
„Seit Jahren schon hat sich Ghazi fern von mir gehalten und eigentlich sind wir uns seit unsres Vaters Tod ganz fremd geworden. Ich glaube, dass er um das Geheimnis meiner Geburt weiss, mich aber furchtbar hasst und deshalb schweigt. Er hat überhaupt für niemand ein Herz. Mein Vater hatte oft mystische Träume und geriet in wilde Verzückungen und alle seine dunkeln Geheimnisse starben mit ihm. Natürlich hatte er nach türkischer Sitte mehrere Frauen — das wirst du wohl wissen?“
Platoff nickte bejahend, und Ahmed fuhrt fort: „Vielleicht habe ich meine Loyalität von der schwächeren Seite geerbt — wer weiss, vielleicht von einer russischen Mutter!“
Träumerisch blickte Ahmed vor sich hin: seine Gedanken flogen in die Ferne, zurück nach dem alten pontischen Reich, wo die stolzen Höhen des Ararat und Kasbek mit ihren riesigen silbernen Firnen bis in den blauen Himmel hineinragen, der auf ihnen zu ruhen scheint.
„Hast du noch nie daran gedacht, den alten Sergeanten Hassan einmal gründlich vorzunehmen?“ fragte Paul.
Ahmed schreckte aus seinen wachen Träumen auf.
„Vergebens!“ erwiderte er. „Hassan ist ein störrischer alter Mann — halb Heide, halb Moslem. Als er nach meines Vaters Tod von Medina zurückkehrte, trat er in meinen persönlichen Dienst. Ich bin überzeugt, dass er alles weiss, denn er focht zwanzig Jahre lang an meines Vaters Seite; er muss, wie ich glaube, auch meine Mutter gekannt haben, denn auf seinen Armen trug er mich an einen unsrer Zufluchtsorte. Bei dem Jagdausflug, den ich nach meinem Austritt aus dem Kadettenhaus in den Kaukasus unternahm, zeigte er mir wohl den Schauplatz von meines Vaters Thaten, wollte ich ihn aber ausfragen, so brummte der Sergeant: ‚Ich habe auf des Sultans Amulett geschworen!‘ und weiter war nichts aus ihm herauszubringen.“
„Aber jetzt befindet er sich doch in deiner Gewalt!“ rief Paul lebhaft.
„Wohl wahr,“ entgegnete Ahmed, „aber er liebt mich und wollte nicht in Ghazis Dienste treten, obwohl er diesem das heilige Amulett übergab, das mein Vater in fünfzig Schlachten getragen hat.
„Mein Vater und König war ein mystischer Seher. Du kennst ja die düstere Macht, die er über seine Krieger und Gläubigen ausübte. Er hinterliess für Ghazi einige mit arabischen Zeichen beschriebene Papierstreifen, die seine letzten Wünsche enthielten, und sandte ihm das geweihte Amulett, auf das seine Anhänger einstens den schrecklichen Eid der alten Feueranbeter schwuren, und dazu die mündliche Botschaft: ‚Denke daran!‘
„Ghazi, mein hartherziger Bruder, ist zwanzig Jahre älter als ich, und wenn ich über diese Dinge mit ihm zu sprechen versuchte, so drehte er sich auf dem Absatz herum und rief: ‚Ich habe dir nichts zu sagen!‘ Ich glaube, er jagt einer schattenhaften Krone nach. Der alte Hassan aber ist mir ein treuer Diener gewesen, und es kommt mir sonderbar vor, Paul, dass er noch immer zu mir hält, denn wie du weisst, bin ich nicht mohammedanisch.“
Bei diesen Worten bekreuzte sich Paul, und Ahmed fuhr fort: „Der alte Hassan ist ein strenggläubiger Mohammedaner und erfüllt den letzten Befehl des sterbenden Propheten Schamyl aufs genaueste; gleichwohl dient er dessen christlichem Sohn und weigert dem Haupt unsres einst königlichen Hauses, dem russisch erzogenen Mohammedaner, dem Prinzen Ghazi, den Gehorsam.
„Ich bin nur neugierig, lieber Paul,“ schloss Ahmed traurig, „ob mich die mir bestimmte Kugel findet, ehe es mir gelungen ist, dies Geheimnis zu ergründen — der Krieg bricht aus, sobald das Gras auf den Ebenen des Südens zu sprossen beginnt.“
„Prinz,“ erwiderte Paul Platoff, „deine Verlassenheit schmerzt mich tief, aber für den Augenblick haben wir von deiner Pflicht zu reden. Du musst diesen Knoten lösen! Suche Ghazi auf, sorge wenigstens, dass er den Namen Schamyl nicht entehrt, lass ihn nicht zum Deserteur werden. Denke an deine Pläne, an dein eigenes Kommando, an deine Aussicht, militärischer Oberbefehlshaber im Kaukasus zu werden!
„Du hast soeben edel und männlich gesprochen, Ahmed Du allein kannst den Namen Sultan Schamyls vor Entehrung schützen; mit diesem Namen hat er dir eine so königliche Erbschaft hinterlassen wie die der Habsburg, der Hohenzollern, ja sogar der Romanoff — die Erbschaft des Ruhms!“
„Ich danke dir, Paul,“ rief Ahmed, „noch heute abend werde ich Ghazi aufsuchen! — Wo ist er am sichersten zu finden?“
„Da sitzt gerade der Haken! Der türkische Chargé, Gräfin Nadja Vronsky und Prinz Ghazi Mohammed Schamyl bilden ein Verschwörertriumvirat. Dort kannst du nicht hingehen! Wir hatten eben erst Hauptmann Suleiman zum Frühstück bei uns — bedenke, wie leicht auch du verdächtigt werden könntest — nur nicht allzuviele türkische Beziehungen!“
„Das ist wahr,“ erwiderte Ahmed finster, „wir leben ja in dem eisigen Lande des Zweifels und des Misstrauens. Nach Tisch fahre ich in meinem Schlitten vor und lasse ihn herausrufen. Du sollst alles erfahren.“
Paul Platoffs Haushofmeister meldete, dass das Essen aufgetragen sei, das sich als ein Meisterstück seiner Art erwies, denn Platoff, der einer alten Bojarenfamilie entstammte, war eine „rara avis“ — von vornehmer Herkunft, und doch kein Fürst, ein Russe, und doch kein Verschwender.
Ahmeds Gesicht heiterte sich wieder etwas auf, während er mit seinem Freund die Aussichten des bevorstehenden Feldzuges besprach. Nicht nur Bulgarien, Serbien, Bosnien, die Herzegowina und das Vorrücken an der Donau wurden in Erwägung gezogen, sondern auch die Komplikationen am Schwarzen Meer, der grosse asiatische Kampf im Kaukasus, in Anatolien, Georgien und Armenien wurden eifrig und gründlich besprochen.
„Diesmal nehmen wir Kars, Batum und Erzerum, und behalten es dann aber auch,“ prophezeite Ahmed.
Vergnügt leerte Platoff sein Glas und sagte: „Das ist richtig, lieber Freund, der Kaiser braucht einen Weg nach Baku und —“
„Turkestan,“ vollendete Schamyl in düsterer Ahnung des künftigen unvermeidlichen Riesenkampfes, „in dem Russland und England auf Tod und Leben miteinander ringen werden, um das Herz Asiens, um Persien und Indien.“
„Du solltest in deiner Heimat dienen, Ahmed,“ bemerkte Platoff nachdenklich, „du kennst die Grenze so gut.“
„Ich kenne jede Schlucht und jedes Thal vom grossen Pass des Elbrus und von See zu See, so weit sich unsre Adler schwingen werden — denn diesmal müssen wir in Trapezunt Halt machen.“
„Warum das?“ rief Platoff.
„England,“ erwiderte der Cirkassier kurz und bündig.
„Koste einmal diesen Chambertin,“ befahl der Artillerist gastfreundlich, „ich will dir einen Toast vorschlagen.“
Fragend sah ihn Ahmed an, und mit schelmischem Lächeln erwiderte Paul: „Maritza, die Rose von Tiflis, soll leben!“
„Da stimme ich von Herzen mit ein!“
Beiden war die Prinzessin Maritza wohl bekannt; unter all den vornehmen Schönheiten in dem Katharinenstift war keine der blühenden georgischen Erbinnen der Tochter des grossen Hauses Deschkalin zu vergleichen gewesen.
Unter dem Schutz der Gattin des Gouverneurs von Transkaukasien und in Begleitung zweier gleichaltriger, lieblicher Standesgenossinnen war diese kaukasische Schönheit nach Petersburg gesandt worden.
Glücklicher Ahmed! Während ihres kurzen Aufenthaltes im Gefolge der Kaiserin hatte auch er Dienst im Palast gehabt und sich zum Aerger der übrigen eleganten Gardeoffiziere mit der strahlenden Schönheit in ihrer nahezu vergessenen Muttersprache unterhalten.
Während er den vollen, weichen Chambertin schlürfte, sah Ahmed im Geist Maritzas dunkle, im Glanze unvergleichlicher Schönheit leuchtende Augen blitzen.
„Ach, das Mädchen mit den Sternenaugen weilt nun in weiter Ferne, Paul, und am Hof des Vizekönigs von Tiflis gibt’s viele galante Herren!“
Allerdings war die unvergleichliche Georgierin, mit russischer Anmut ausgestattet, zum Entzücken der dortigen vergnügungssüchtigen Gesellschaft nach dem grossen Hauptquartier an der Grenze von Russland, Persien und der Türkei zurückgekehrt.
„Besitzt sie nicht einige der ehemaligen Herrschaften deines Hauses, Ahmed?“ fragte Paul.
„Das will ich meinen,“ erwiderte Ahmed lachend; „mein lieber Junge, die Deschkalin gebieten heute über den bei weitem grössten Teil unsres Landes vom schwarzen Grat des Dariel bis zu den Rosengärten des sonnigen Tiflis. Mein königlicher Vater hielt das Land mit vierzigtausend gepanzerten Reitern — immerhin ein kräftiger Besitztitel! — Dank der Grossmut des Kaisers haben wir jetzt Reichtümer genug, aber an Grund und Boden besitzt das Haus Schamyl in dem Lande seiner Väter nichts mehr als das alte Felsennest Gunib und die romantischen Wildparke um Dargo!“
Während sie bei Cigarren und Likören ihren Kaffee schlürften, erwogen die beiden Offiziere die Möglichkeit eines türkischen Aufstandes im Kaukasus.
„Wenn Ghazi sich dem Kaiser gegenüber treulos erweist, so ist es leicht möglich, dass du, Ahmed, statt in die Berge deiner Heimat in die Sümpfe der Dobrudscha geschickt wirst. Der Kaiser kann nicht alles wissen, indes ist nicht sehr wahrscheinlich, dass man dem einen Bruder die grössten Vertrauensstellungen überträgt, wenn man den andren als Ueberläufer und Verräter erkannt hat.“
„Ach, Paul, es ist zu traurig,“ rief Ahmed und rang die Hände, „aber selbst einen solchen Bruder vermag ich nicht im voraus anzugeben. Und kann ich für mich selbst eine Loyalität geltend machen, die noch nie erprobt worden ist? Aber,“ setzte er mit blitzenden Augen hinzu, „das Schlachtfeld wird sie bezeugen! ...“
„Ich möchte dir raten, nichts zu thun, um deinen mohammedanischen Halbbruder davon abzuhalten, dass er sich jetzt davonmacht, Ahmed,“ bemerkte Platoff bedächtig, während er forschend das edle Antlitz des jungen Ulanenoffiziers betrachtete.
„Warum?“ fragte Ahmed in tiefem Ton.
„Bring’ es heute abend noch zum Klappen! Du bist nicht im stand, ihn zu zwingen, dass er Treue halte, also lass ihn laufen. Der Krieg wird nicht vor einem Vierteljahr erklärt, und wenn er jetzt geht, kannst du deine Unschuld beweisen; desertiert er aber im letzten Augenblick, so sind deine Aussichten wenigstens für diesen Feldzug zerstört.“
„Paul, ich danke dir!“ Mit diesen Worten sprang Ahmed auf und versprach, wieder zu kommen, um Bericht zu erstatten.
In den blitzenden dunkeln Augen des Ulanen lag, als er mit den Schritten eines kriegerischen Bergbewohners die Treppe hinabeilte, ein Ausdruck, der für Ghazi nicht viel Gutes verhiess.
Die Schlittenglöckchen bimmelten, ein Schatten huschte am Fenster vorüber, und mit Sturmeseile flog Schamyl dieser traurigen Unterredung entgegen.
„Ein tapferer Kamerad,“ sagte Paul vor sich hin, während er in einem leichtfertigen französischen Roman blätterte; „ich glaube, das wird eine stürmische Scene geben. Welch ein Verhängnis!“
Wieder liess der Artilleriehauptmann seine Augen über den anscheinend abgedroschenen Inhalt seines Romans gleiten, dann schleuderte er den Band seinem Hund zu und rief: „Basta! Ich wollte, ich könnte noch einmal mit der lieblichen Maritza, der Rose von Tiflis, die Mazurka tanzen. Guter Gott, was für Augen!“ Platoff griff nach einer Cigarette und schloss träumerisch die Augen. Welch ein Ränkeschmied doch dieser Ghazi war!
„Bei St. Wladimir — ich hab’s! Ich durchschaue den Plan dieses Teufels! Schon hier verfolgte er Prinzessin Maritza mit Liebenswürdigkeiten; jetzt hofft er, die Herrschaft des Halbmondes werde sich bis über den Kaukasus ausdehnen, und wenn er diese Bewegung unterstützt, so kann er Pascha von Georgien werden. Soll er als unbeschränkter Gebieter über dies Zauberland herrschen und die Rose von Tiflis an der Brust tragen?“
Aufgeregt nahm Paul einen Schluck Wutki.
„Gewiss,“ sagte er vor sich hin, „ich muss Ahmed davor warnen! Er wird — er muss sie beschützen! Was für ein merkwürdiges Schauspiel würde es sein, wenn Sultan Schamyls Söhne in ihrem eigenen Lande um die schöne Rose von Georgien ihre Schwerter kreuzten!“
Platoff war ein hochherziger und bedächtiger Mann.
„Ich werde zu meinem Bruder Iwan gehen,“ überlegte er weiter, „und ihm die ganze Geschichte erzählen; dann kann er Fürst Gortschakoff mitteilen, wie treu und zuverlässig Ahmed ist, und das übrige wird sich der alte schlaue Fuchs schon selbst zusammenreimen. — Ja wohl, Ahmed muss in seinem eigenen Lande kämpfen! Heiliger Georg, welch ein Land für die Entfaltung der Artillerie!“ Damit verloren sich Platoffs Gedanken in den Rauchwolken noch ungeschlagener Schlachten.
Während Platoff rauchte und träumte, fuhr Ahmed mit zornerfülltem Herzen zu seines Bruders prächtigem Stadthaus, denn Ghazi Mohammed verschmähte es nicht, einen Luxus zu entfalten, der selbst auf die verschwenderischen Russen Eindruck machte.
Von dem kriechenden Dwornik erfuhr Ahmed, dass Seine Hoheit beim türkischen Geschäftsträger speise, und fuhr eilends nach dessen Palais, das er glänzend beleuchtet fand.
„Karten, Verschwörungen, Weiber und gemeines Ränkespiel!“ Ahmed knirschte mit den Zähnen. „Der alte Ben Schamyl herrschte als Sultan und hätte sich nimmermehr so tief erniedrigt!“
In der Sprache der Heimat schrieb der Major ein paar Worte auf eine Karte und übergab sie dem Dragoman, der sie unter tiefen Verbeugungen in Empfang nahm, weil er wohl wusste, dass der stolze Cirkassier auch nicht die kleinste Verzögerung dulden würde.
Mit dem Hut in der Hand kehrte er eilends zurück und meldete: „Der Prinz wird sofort kommen. — Salaam, Hoheit!“
Zwanzig Minuten lang fuhr Ahmed vor der Statue der grossen Katharina auf dem Newsky hin und her. Als er dann eine wohlbekannte Troïka herankommen sah, sprang er aus seinem Schlitten, und der Schnee auf dem Platz, wo die grosse Katharina, gleich einer bronzenen Göttin von ihren zahlreichen, in Stein ausgehauenen Liebhabern umgeben, im krystallhellen Sternenschein der Winternacht thronte, knirschte unter seinen hohen cirkassischen Stiefeln.
Ja, sein Bruder nahte sich ihm — sein Bruder und vielleicht auch sein Feind!
Nicht mehr Brüder. — Auf dem Ball des türkischen Gesandten. — Ein Königssohn als Deserteur. — Diplomatische Spinngewebe.
„Du willst mich sprechen? Wozu?“ fragte Ghazi, als er mit schweren Schritten an der Seite des leichtfüssigen Ahmed die Strasse entlang ging.
Das Haupt des Hauses Schamyl war ein schwerfälliger, finsterer, rotbärtiger Mann von mittleren Jahren. Seine Stimme verriet weder irgend eine zärtliche Empfindung oder auch nur das flüchtigste Interesse; offenbar wünschte er möglichst schnell zu Mustapha Pascha zurückzukehren.
„Ghazi, ich habe dir nur wenige Worte zu sagen, und es steht dir selbstverständlich frei, sie zu beantworten oder nicht. Du bist mir nie ein liebevoller Bruder gewesen, aber immerhin führen wir denselben Namen, und noch trägst du die russische Uniform.“
„Bitte,“ grollte Ghazi, „fasse dich kurz!“
Ahmeds Augen blitzten wie schwarze Diamanten, und seine Stimme klang tief gleich einer Glocke. Sie befanden sich nun in ziemlicher Entfernung von dem Fahrweg, auf dem Schlitten aller Art mit gespensterhafter Schnelle vorübersausten.
„Bist du gesonnen, in diesem Krieg fahnenflüchtig zu werden?“
„Wer sagt das?“ knurrte Ghazi.
„Ein Mann, dem ich morgen eine Kugel durch den Kopf jage, wenn du mir sagen kannst, dass es nicht wahr ist,“ gab Ahmed schneidig zurück.
„Wo wird dieser Klatsch verbreitet?“
„In allen Salons, in den Klubs und in den Kasernen,“ zischte Ahmed, der seinen Bruder so fest im Auge hielt wie ein Duellant seinen Gegner im entscheidenden Augenblick.
„Ich habe dir darauf nichts zu erwidern! Scher dich zum Teufel!“ lautete die nicht übermässig scharfsinnige Antwort des älteren Bruders.
Ahmed stürzte auf seinen Gefährten los, packte ihn energisch an den Handgelenken und blickte ihm fest ins Auge.
„Bist du verrückt?“ fragte er.
„Nein! Aber ich werde mich diesem Krieg fernhalten. Uebrigens bin ich nicht gesonnen, mich verhören zu lassen.“
Ahmed gab seine Hände frei.
„Hast du bis morgen mittag nicht bedingungslos den russischen Dienst quittiert, so gebe ich dich selbst beim Kriegsministerium an.“
Der junge Mann war ausser sich vor Scham und Zorn, als er fortfuhr: „Du magst deine eigene Ehre beflecken, aber du sollst nicht auch mich zu Grunde richten. Wenn du gehen willst, so gehe wie ein Mann, und nicht wie ein Ueberläufer und Verräter. Ich werde nicht dulden, dass du hier bleibst und den Spion machst.“
Die stillen Sterne blinkten wie verwundert herab auf die beiden fürstlichen Brüder, die sich im Schatten des stolzen Monumentes der Katharina so feindlich gegenüberstanden.
„Beim Grab meines Vaters, ich verfluche dich, du Hund, du Narr, du Speichellecker des Giaurs! Nach Eblis, in die Heimat der Verdammten mit dir! Sei verflucht!“
Das Amulett Ben Schamyls flimmert im fahlen Sternenschein. Ahmeds Hand tastet mechanisch nach seinem Dolche, aber starr vor Staunen liess er ihn wieder sinken. War sein Bruder wahnsinnig geworden?
„Wir werden uns wiedersehen, aber als tödliche Feinde,“ zischt Ghazi noch im Gehen.
Regungslos, von der Ueberraschung gelähmt, sieht Ahmed die Gestalt des Mannes entschwinden, der ihm fürder kein Bruder mehr ist. Es war vorbei!
Die Troïka saust fort. Ahmed Schamyl steht und zeichnet mit der Scheide seines Säbels Figuren in den schimmernden Schnee. Er weiss, dass er nun, da das Entsetzliche wahr ist, allein steht in der Welt. Oh, über diese Schmach!
Lässig schritt er zu seinem Schlitten zurück und fuhr nach Platoffs Wohnung. Seine Pulse stockten, sein ganzes Sein war wie gelähmt. Aber seine Hände hatten wenigstens nicht des Bruders Blut vergossen.
Paul wartete auf ihn, und wortlos begrüssten sich die beiden Freunde. Schweigend warf sich Ahmed auf ein Ruhebett, während Platoffs Herz fast hörbar pochte vor Angst um den Waffenbruder.
Nach einer Weile erhob sich Ahmed, schüttelte ihm die Hand und sagte: „Morgen will ich dir alles sagen, Paul; komm um vier Uhr zu mir!“
Mechanisch nahm er den ihm gereichten Abschiedstrunk, lächelte matt und wankte die Treppe hinab.
Als er aus der Thüre trat, sah sein Antlitz so starr und geisterhaft blass aus, dass Platoff dachte: „Gerade so sah Bolski aus, als er mit Arenburgs Degen im Herzen zusammenbrach!“ Dann begab er sich zur Ruhe, denn der nächste Tag sollte ihm ja neue Enthüllungen und Aufregungen bringen. Paul Platoffs Träume waren nicht angenehmer Art. Dagegen herrschte im türkischen Gesandtschaftspalais Lust und Leben, während er sich unruhig auf seinem Lager wälzte; dort drehten sich festlich geschmückte Paare im Tanz, liebliche Musik ertönte und seltene Blumen erfüllten die Säle mit ihrem Wohlgeruch. Prinz Ghazi Schamyl bahnte sich einen Weg durch die Menge und suchte, ohne die lustigen Begrüssungen und die munteren Herausforderungen, die von rosigen Lippen fielen, irgendwie zu beachten, eine ihm wohlbekannte Gestalt.
Ah, da war sie ja! Mit ihrem bernsteinfarbigen Haar und ihren harten, kalten blauen Augen thronte Nadja Vronsky als Königin des Festes dort auf dem Ehrenplatz.
Der wuchtige Prinz schob einige ihrer geringeren Verehrer bei Seite und flüsterte nur ein Wort; dann bot er ihr mit der Sicherheit eines Mannes, der schon manche Petersburger Saison mitgemacht hat, den Arm und führte sie nach einem Alkoven.
Ein paar leise geflüsterte Worte verbreiteten eine aschfahle Blässe über das hochmütige, österreichisch aussehende Gesicht der Dame.
„Heute nacht noch, Prinz?“ flüsterte sie; ihr Busen wogte — es traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Finster verneigte er sich vor ihr.
„Sage ihm, er müsse mir sofort eine Viertelstunde in seinem Zimmer schenken.“
„Und was wird mit mir geschehen?“ Ein leises Zittern klang aus der Stimme der kalten Gräfin.
„Das wirst du erfahren, wenn du dich zu uns gesellst. Sei vorsichtig und sorge nie, dass du nicht beobachtet wirst!“
Damit verbeugte er sich tief vor ihr und schlenderte nachlässig, hier und dort einem Bekannten zunickend, ins Speisezimmer. Dann schlüpfte er unbemerkt durch einen Thürvorhang und suchte sich den Weg in das Allerheiligste, Mustapha Paschas Studierzimmer, wo er auf einem Diwan niedersank.
Als nach einer kleinen Weile der schwarzbärtige Chargé ins Zimmer glitt und sachte die Thüre hinter sich abschloss, blickte Ghazi gelassen zu ihm auf. In den Augen des Diplomaten war die brennende Frage zu lesen: „Was ist geschehen? Welcher Streich ist gefallen?“
„Alles ist verraten, Mustapha!“ grollte Ghazi. „Ich gehe heute nacht oder nie! Aber wie komme ich fort? Ich kann jeden Augenblick verhaftet werden! Der dumme Junge, der Ahmed, hat es in den Klubs gehört.“
„Sprechen Sie persisch?“ fragte Mustapha hastig, denn sein schlagfertiger Geist zeigte ihm schon einen Ausweg.
Ghazi nickte bejahend.
„Dann sind Sie gerettet!“ rief sein Wirt und klatschte in die Hände. Bediente stürzten herbei, und in Zeit von zehn Minuten war Ghazi, der Gardeoffizier, in einen glattrasierten, beturbanten Perser verwandelt.
„Sind meine Haare dunkel genug gefärbt?“ fragte er.
„Das weitere wird im Bazar gemacht,“ erwiderte der Diplomat.
Ein Dutzend flinker Hände hatte die Verkleidung des Prinzen bewerkstelligt, und nun trat auch noch die Gräfin Nadja Vronsky in das geheime Gemach und half den Faltenwurf der weiten Gewänder vollends in Ordnung bringen.
„Ich habe ganz ausgefüllte, visierte Pässe für die persischen Kaufleute, die nach Hamburg gehen. Iskander, mein armenischer Sekretär, wird für alles sorgen und Sie auf den Dampfer bringen. Geben Sie ihm einen chiffrierten Brief für mich mit.“
In Nadja Vronskys Augen standen Thränen.
„Du willst allein gehen?“ stammelte sie.
„Ja — wenn ich kann,“ erwiderte Ghazi brummig. „Nun gehe aber wieder zu den Dummköpfen da unten und verlasse den Ball so bald als möglich. Mache aber keinen Unsinn und entferne dich mit ermüdeter Miene ganz offen! Fange nicht an zu wimmern und zu winseln, wenn ich fort bin. Du wirst ja bald genug nach Konstantinopel kommen.“
Gräfin Vronsky barg ihr Gesicht in den Händen, und bittere Thränen tropften zwischen den juwelengeschmückten Fingern durch. Höhnisch gab er ihr zum Abschied noch den Rat: „Jetzt lass aber das Geflenne! Mustapha wird für dich sorgen — sei seiner Wünsche gewärtig. Ich muss jetzt gehen. Zwar werden diese russischen Hunde nicht wagen, das Gesandtschaftshotel zu durchsuchen, aber sie werden wie gewöhnlich ihre schmutzige Spionenrolle spielen und jeden beobachten, der das Haus verlässt.“
Leidenschaftlich schlang sie ihre Arme um seinen Hals und flüsterte: „Also in Konstantinopel — bald?“
„Ja, ja,“ erwiderte Ghazi hastig, indem er sie nach der Thüre hindrängte, sie gleichgültig küsste, hinausschob und die Thüre hinter ihr abschloss.
„So, Mustapha, nun lassen Sie Ihre Diener meine ganze Uniform nebst Mantel vernichten und meinem Kutscher bestellen, ich sei mit einem Freund in den Klub gegangen. Geben Sie mir noch einen guten Dolch! Ja, der ist recht! Morgen, wenn wir Kronstadt im Rücken haben, schicken Sie Dimitri, meinem griechischen Haushofmeister, diesen Ring — er kennt das Zeichen. Nun darf ich mich aber nicht mehr länger aufhalten! — Dies Teufelsweib senden Sie über Wien nach Konstantinopel, aber es hat gar keine Eile. Sie können sie mit jeder Botschaft für mich betrauen.“
„Wünschen Sie noch etwas?“ fragte der Vertreter des Sultans ängstlich, denn er sehnte sich danach, allein zu sein.
„Ja, Ihre Feldflasche mit altem Cognac und Cigaretten.“
„So! Sie werden ja bald zu uns stossen! Wie soll ich hinauskommen? Vielleicht am besten über die Dienerschaftstreppe?“ fragte Ghazi, als er nun völlig bereit war zur Flucht.
„Osman hier wird Sie sicher geleiten! Verlassen Sie sich ganz auf Iskander. Allah schütze Sie! Brauchen Sie Geld?“
„Nein!“
„Gut, Iskander wird Ihnen in Hamburg jeden Betrag verschaffen!“
Noch ehe die letzten Worte verhallten, war Prinz Ghazi Mohammed Schamyl verschwunden — die kaiserliche Garde hatte einen Offizier verloren.
Schlaftrunkene Thürsteher, Küchenmägde und das ganze Bedientenpack warf dem Asiaten, der in der Nacht verschwand, nur einen verächtlichen Blick nach: vermutlich ein armseliger Juwelenhändler mit seinem Kram.
Während Ghazi von seinem Begleiter hinausgeführt wurde, vernahm er noch das Gläserklingen und das muntere Lachen der glänzenden Gesellschaft oben.
Der Weg des Verräters verlor sich in der Dunkelheit. Nach wenigen Schritten hatte er einen Schlitten erreicht, und eine Stunde später schlief er inmitten der persischen Reisenden, während sein Begleiter Osman den Schlummer des treulosen Mannes bewachte.
Mittlerweile hatte sich Mustapha Pascha wieder zur Gesellschaft verfügt, wo sich ein Dutzend Kavaliere um die Gräfin Vronsky drängten, die sie zu ihrem Wagen geleiten wollten. Als sie sich von ihrem Wirt verabschiedete, bemerkte dieser liebenswürdig: „Wie ich höre, gnädige Gräfin, hat Ihr treuloser Prinz Sie verlassen und ist zu einer Partie Roulette in den Klub gegangen.“
Mit Vergnügen vernahmen die umstehenden Kavaliere, dass sich Ghazi Schamyl schon entfernt hatte, denn nun konnten sich die minder bevorzugten Herren unbehindert darum streiten, wer die schöne Göttin geleiten dürfe.
Noch ehe die ermüdeten Schönen, die das Fest des Diplomaten geziert hatten, ihre Morgenschokolade schlürften, schaukelte Ghazi Schamyl auf den hochgehenden Wogen des Golfes von Finnland. Mit gekreuzten Beinen sass er unter einem Haufen Perser, und seine Finger schlossen sich fest um den Griff des Dolches, so lange noch Leute, die ihn möglicherweise kennen mochten, über das Deck schritten, um das Schiff zu durchsuchen. Er war entschlossen, sich lieber den Tod zu geben, als sich verhaften zu lassen — es war eine schicksalsschwere Stunde!
Das Beispiel der halberfrorenen Perser, die bis zu den Augen eingewickelt waren wie Mumien und zitternd und ängstlich bei einander hockten, gewährte Ghazi genügenden Vorwand, sein Gesicht ebenfalls zu verhüllen.
Die Gefahr ging schnell vorüber. Bald lagen die Forts weit hinter dem Schiff, und die stolze Flagge der Romanoffs versank hinter den dichten, wogenden Rauchwolken. Ghazi hatte sein altes Leben, seinen neuen Feind, den er einst Bruder genannt, und seine Ehre weit hinter sich gelassen — ein Deserteur war er schon in diesem Augenblick, und ein Verräter wollte er werden.
Wohin mochte der Pfad führen, den er betreten hatte?
Nadja Vronskys thränenfeuchte Wangen ruhten bis spät am Nachmittag auf ihrem Kissen. Ein Diener der türkischen Gesandtschaft brachte einen prächtigen Strauss aus Warmhausblumen, die in dem eisigen Reiche des Zaren geradezu unschätzbar waren. Ein zierliches Briefchen, das der duftigen Sendung beilag, lautete:
„Alles steht gut. Das Schiff hat Kronstadt im Rücken. Erwarten Sie mich heute abend zu Tisch.“
Offenbar wünschte der kluge Mustapha abwesend zu sein, falls in der Gesandtschaft nach Ghazi gefragt werden sollte. Des Abends aber zögerte er so lange, dass die tadellos gekleidete Gräfin annahm, es seien gar keine Erkundigungen in der Gesandtschaft eingezogen worden, und sich mit erleichtertem Herzen allein zu Tische setzte.
Endlich erschien der ruhige Diplomat und flüsterte ihr, während er ihr die Hand küsste, leise zu: „Adjutanten suchten Prinz Ghazi in seinem Haus und im Klub.“
Gleichwohl lächelte Mustapha milde, denn der Ring hatte seine Schuldigkeit gethan.
Weder die Wirtin, noch ihr Gast konnten die Blitzesschnelle begreifen, mit der man die Abwesenheit Ghazis entdeckt hatte, denn sie hatten keine Ahnung von Fürst Gortschakoffs Absicht.
Während diese beiden sich über den Sterlet und den Chablis unterhielten, sassen sich in Ahmed Schamyls Wohnung zwei ernste Männer gegenüber.
Des Morgens hatte Paul Platoff nicht lange gezögert, sondern war, seinem Entschlusse getreu, sofort zu seinem Bruder Iwan gegangen, der zur nächsten Umgebung des allmächtigen Gortschakoff gehörte.
So schnell der gewiegte, alte Diplomat auch zu handeln pflegte, so war er doch auch ein geduldiger Zuhörer.
Kaum erst hatte Platoff mit bedeutend erleichtertem Herzen seine Wohnung erreicht, und schon hatte Fürst Gortschakoff bei einer Tasse Thee und einer Cigarette seinen Plan entworfen: er entdeckte plötzlich, dass es unumgänglich nötig sei, Oberst Ghazi Schamyl in besonderer Mission unter starker Bedeckung nach Taschkent zu schicken.
„Ich denke, die Bedeckung, die ich ihm mitgebe, wird diesem feigen Schurken schon dafür thun, ans Goldene Horn zu entkommen, vorausgesetzt, dass die Toten nicht mehr laufen können,“ brummte der zornige alte Fürst, als er seinen Kollegen, den Kriegsminister, empfing. Eine Spezialliste besonders zuverlässiger Offiziere wurde durchgesehen, und hierauf schleunigst nach Oberst Iranoff gesandt, der dann auf dem Kriegsministerium ganz erstaunliche Instruktionen empfing. Gleichwohl riss er seine kleinen, runden Tartarenaugen nicht ein bisschen weiter auf — es war ja des Zaren geheiligter Befehl!
Platoffs Vorgehen hatte den gewünschten Erfolg gehabt, und auf dem Exerzierplatz dachte er fröhlich bei sich selbst: „Gott sei Dank! Ich habe Ahmed die Schmach erspart, seinen eigenen Bruder denunzieren zu müssen!“
Als Platoff später seine mutigen Krieger in ihren Baracken inspizierte und sich an ihren roten Wangen, ihren strohblonden Bärten und ihrem echt russischen kraftvollen Aussehen erfreute, lächelte er befriedigt vor sich hin, denn von diesen Leuten war kein Verrat zu befürchten, wie von den halb türkischen, halb kurdischen Bergbewohnern, diese Leute waren, wenn’s not that, bereit, bis auf den letzten Mann für den weissen Zaren zu sterben.
Bei Tisch machte Ahmed Schamyl mit der ganzen, peinlichen Höflichkeit seines Heimatlandes den Wirt.
„Tapfer im Kampf“, „beredt im Rat“ sind grosse Lobsprüche in Cirkassien, aber den Preis trägt doch der davon, dem man die grösste Gastfreundschaft nachrühmt.
Als sich die Dienerschaft endlich entfernt hatte, vernahm Platoff, wie die beiden Brüder auf dem schneebedeckten Platz als Feinde auseinander gegangen waren.
„Wäre es ein andrer gewesen als meines Vaters Sohn,“ schloss der dunkellockige Riese, dessen Hände erregt mit dem schweren silbernen Wehrgehänge spielten, „so hätte er den Platz nicht lebendig verlassen! — Aber nun erzähle auch du, was es heute Neues gibt! Ich habe den Klub absichtlich gemieden und mich nicht einmal auf den Newsky gewagt!“
„Prinz, ich habe heute nachmittag spät durch Iwan erfahren, dass eine geheime Expedition nach Taschkent befohlen war: Iranoff mit sechs Donkosaken und dein Bruder, der mit der Ausführung des Auftrages betraut werden sollte!“
Schamyl war sprachlos vor Verwunderung.
„Die Adjutanten haben den Prinzen Ghazi vergebens in seiner Wohnung gesucht.“
Der schlaue Paul verriet mit keinem Hauch weder Fürst Gortschakoffs geheime Absicht, noch den Umstand, dass er seine eigenen Sammetpfötchen im Spiel gehabt hatte.
„Welcher Bescheid wurde in seiner Wohnung erteilt?“ fragte Ahmed mit heiserer Stimme.
„Der Haushofmeister erwiderte, Prinz Ghazi habe sich vergangene Nacht vom Ball in den Klub begeben; sein Wagen habe gewartet und sei auf seinen Befehl nach Hause geschickt worden. Im Jachtklub ist er nicht gesehen worden, und bis zu diesem Augenblick war er noch nicht aufzufinden!“
Platoffs Stimme hatte einen eisigen Ton angenommen, der dem jungen Hörer ins Herz schnitt. Ghazi, sein Bruder — ein Deserteur!
„Dann ist er entflohen!“ schrie Schamyl auf.
Paul neigte bejahend sein Haupt.
„Aber wohin? Wie? Mit wessen Hilfe?“ fragte der loyale Prinz in Todesangst.
„Dies ausfindig zu machen, lieber Ahmed, werden wir, wie ich fürchte, der Dritten Abteilung überlassen müssen,“ antwortete der Hauptmann in mitleidigem Ton.
„Der Sohn Schamyls ein steckbrieflich verfolgter Flüchtling!“ stöhnte der Prinz.
„Du weisst wohl, dass er drei Tage nach der in seinem Hause erfolgten Citation dem Kaiser als Deserteur bekannt gegeben wird.“
„Und bei mir hat man gar nicht angefragt!“ flüsterte Schamyl.
„Nein, aber du befindest dich in einer sehr schwierigen Lage. Ich bezweifle, dass man dich persönlich verhört, und die Sache wird auch nicht in die Oeffentlichkeit getragen werden. Iwan sagte mir, das Auswärtige Amt und das Ministerium des Innern hätten die in solchen Fällen üblichen Befehle an alle Grenzen und Gesandtschaften telegraphiert.“
„Wo werde ich Ghazi wohl wiedersehen, Paul? Am Galgen?“ stöhnte Ahmed.
„Nein, Prinz, ich glaube, dass er von etlichen tausend kurdischen Teufeln umgeben sein wird, wenn du wieder mit ihm zusammentriffst. ... Ihr werdet euch auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen.“