20,99 €
Evangelischen Ethik in Lebensskizzen
Die Herausforderungen von Modernisierung, Pluralisierung und Globalisierung vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts prägen die Lebenswelten der Menschen in den zurückliegenden 100 Jahren. Die beständige Veränderung hatte und hat kontroverse ethische Debatten zur Folge. Profilierte Vertreter und Vertreterinnen Evangelischer Ethik haben diese mitbestimmt. Die ethischen Entwürfe von 30 von ihnen stellen die Herausgeber der Zeitschrift für Evangelische Ethik in diesem Band vor. Dargestellt werden u.a. die ethischen Konzepte von: Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth, Emil Brunner, Heinz-Dietrich Wendland, Helmut Thieliecke, Wolfgang Trillhaas, Reinhold Niebuhr, H. Richard Niebuhr, Paul Tillich, Ernst Wolf, Arthur Rich, Heinz Eduard Tödt, Dorothee Sölle und Trutz Rendtorff.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 346
Die maßgeblichen ethischen Entwürfe der letzten 100 Jahre in knappen Skizzen
Vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts prägen beständige Veränderungen die Lebenswelten der Menschen in den zurückliegenden 100 Jahren. Das hatte und das hat kontroverse ethische Debatten zur Folge. Profilierte Vertreter:innen Evangelischer Ethik haben diese mitbestimmt.
Die ethischen Entwürfe von 30 von ihnen stellt dieser Band vor. Dargestellt werden u. a. die ethischen Konzepte von:
Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth, Emil Brunner, Heinz-Dietrich Wendland, Helmut Thielicke, Wolfgang Trillhaas, Reinhold Niebuhr, H. Richard Niebuhr, Paul Tillich, Ernst Wolf, Arthur Rich, Heinz Eduard Tödt, Dorothee Sölle und Trutz Rendtorff.
Ein orientierender Überblick über die Antworten der Evangelischen Ethik auf die Herausforderungen des 20. und 21. Jahrhunderts
30 Konzepte aus 100 Jahren
Herausgegeben von
Reiner Anselm, Traugott Jähnichen
und Mathias Wirth
Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber.
Copyright © 2024 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagfotos, von links nach rechts: Dietrich Bonhoeffer, Porträt Juli1939, © Gütersloher Verlagshaus | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH – Karl Barth, Porträt um1955, © epd-bild / akg-images – Helmut Thielicke,
© Universitätsarchiv Tübingen, UAT S 23/1, 1471 – Dorothee Sölle, Porträt
1. September1999, © epd-bild / Boris Rostami-Rabet – Katie Geneva Cannon, Porträt 6. Oktober2010, © Union Presbyterian Seminary / Flickr, USA
ISBN 978-3-641-30764-6V001
www.gtvh.de
VORWORT
DIETRICHBONHOEFFER (1906–1945)
Von Wolfgang Huber
H. RICHARDNIEBUHR (1894–1962)
Von Christian Polke †
GEORGWÜNSCH (1887–1964)
Von Traugott Jähnichen
PAULTILLICH (1886–1965)
Von Traugott Jähnichen
EMILBRUNNER (1889–1966)
Von Hans-Richard Reuter
KARLBARTH (1886–1968)
Von Sándor Fazakas
REINHOLDNIEBUHR (1892–1971)
Von Christian Polke †
ERNSTWOLF (1902–1971)
Von Hans-Richard Reuter
WOLF-DIETERMARSCH (1928–1972)
Von Hans-Richard Reuter
KNUD E. LØGSTRUP (1905–1981)
Von Hans-Richard Reuter
HELMUTTHIELICKE (1908–1986)
Von Peter Dabrock
HEINZEDUARDTÖDT (1918–1991)
Von Wolfgang Huber
HEINZ-DIETRICHWENDLAND (1900–1992)
Von Reiner Anselm und Katja Bruns
ARTHURRICH (1910–1992)
Von Hartmut Kreß
HELMUTGOLLWITZER (1908–1993)
Von Traugott Jähnichen
ERVINVÁLYINAGY (1924–1993)
Von Sándor Fazakas
WOLFGANGTRILLHAAS (1903–1995)
Von Reiner Anselm
DOROTHEESÖLLE (1929–2003)
Von Elisabeth Gräb-Schmidt
JANMILIČLOCHMAN (1922–2004)
Von Ulrich H. J. Körtner
MARCELLAALTHAUS-REID (1952–2009)
Von Mathias Wirth
BEVERLY W. HARRISON (1932–2012)
Von Elisabeth Gräb-Schmidt
WOLFHARTPANNENBERG (1928–2014)
Von Wolfgang Huber
HERMANNRINGELING (1928–2014)
Von Mathias Wirth
TRUTZRENDTORFF (1931–2016)
Von Reiner Anselm
JAMES H. CONE (1938–2018)
Von Nathalie Eleyth und Traugott Jähnichen
KATIEGENEVACANNON (1950–2018)
Von Torsten Meireis und Mathias Wirth
MARKUSHUPPENBAUER (1958–2020)
Von Reiner Anselm
JAMESGUSTAFSON (1925–2021)
Von Mathias Wirth
DIETRICHRÖSSLER (1927–2021)
Von Thorsten Moos
MARTINHONECKER (1934–2021)
Von Reiner Anselm
DIEHERAUSGEBERSOWIEDIEAUTORINNENUNDAUTOREN
Evangelische Ethik weiß sich der Überlieferung des christlichen Glaubens verbunden, seiner Quellen und seiner Traditionen. Sie ist dennoch eine zutiefst gegenwartsorientierte Disziplin, getragen von dem Bemühen, die evangelische Botschaft fruchtbar zu machen für die Fragen der Lebensführung, für die Handlungsorientierung von Christinnen und Christen, aber auch für die Gestaltung des Gemeinwesens, von Institutionen und Organisationen. In diesem Zuschnitt kommt der jeweiligen Perspektive, aus der heraus eine solche Ethik entworfen wird, eine wichtige Bedeutung zu. Ethik erfolgt in Zeitgenossenschaft; der Blickwinkel, aus dem heraus sie entworfen wird, die Erfahrungen und auch die Theorie- und Wissensbestände, die in sie eingegangen sind, spielen eine entscheidende Rolle bei ihrer Formulierung.
Dies vor Augen, legt es sich nahe, die evangelische Ethik der vergangenen Jahrzehnte durch werkbiographische Porträts maßgeblicher Vorderdenkerinnen und Vordenker zu erschließen. In den einzelnen Ausgaben der Zeitschrift für Evangelische Ethik wurden daher seit 2018 diejenigen Ethikerinnen und Ethiker vorgestellt, die nach Meinung des Herausgebendenkreises den Diskurs der deutschsprachigen evangelischen Ethik nach 1945 nachhaltig beeinflusst haben. Darunter sind zahlreiche Autorinnen und Autoren aus dem deutschen Sprachraum, aber eben nicht nur. Bei der Auswahl ethischer Profile aus dem nicht-deutschen Sprachraum ist die Relevanz für Diskurse innerhalb des deutschen Sprachraumes ein maßgebliches Kriterium gewesen.Jeweils eine Herausgeberin oder ein Herausgeber der ZEE hat es übernommen, diese Position den Leserinnen und Lesern vorzustellen. Dabei wurden ausschließlich Personen ausgewählt, die bereits verstorben sind.
Über die vergangenen Jahre ist dabei eine Sammlung wichtiger Entwürfe entstanden. Sie werden in diesem Band in leicht überarbeiteter Form erneut abgedruckt und um einige Beiträge ergänzt, die eigens für diese Publikation geschrieben wurden. Die einzelnen Konzeptionen werden jeweils in der ihnen zugrunde liegenden, von den vorgestellten Autorinnen und Autoren erlebten Situation verortet. Zudem werden die leitenden theologischen Entscheidungen dargestellt. Ein besonderes Augenmerk liegt schließlich auf der Frage, welche Innovation die einzelnen Theologinnen und Theologen in den ethischen Diskurs eingebracht haben. Darüber hinaus wird auch thematisiert, welche Aspekte dieser Theoriebildungen auch heute noch Bedeutung haben, wo aber auch Grenzen und Probleme deutlich werden.
In dieser Zusammenstellung liegt mehr als nur eine Anthologie maßgeblicher Personen und Entwürfe. In der Gesamtheit entsteht ein vielfältiges Bild des ethischen Diskurses der Gegenwart, der nur als das Ensemble seiner Vorgeschichten zu verstehen ist. Über die Möglichkeit, als Leserin oder Leser Querverbindungen herzustellen, ergeben sich neue, teils überraschende Wiederaufnahmen, auch verbindende Perspektiven und Fragestellungen, die häufig den Autorinnen und Autoren weniger deutlich waren, als es aus heutiger Sicht erscheint. Deutlich wird darüber hinaus, mit welchem Engagement und welcher Ernsthaftigkeit die Protagonistinnen und Protagonisten evangelischer Ethik darum bemüht waren, aus dem evangelischen Glauben etwas Hilfreiches, Versöhnendes und Integrierendes für das Zusammenleben in der jeweiligen Gegenwart zu gewinnen. So betrachtet, eignet allen Entwürfen immer auch etwas Vorbildhaftes für heute.
Bei der Lektüre der einzelnen Beiträge fällt jedoch auch noch etwas anderes auf: Die Herausgebenden der ZEE sind aufgrund ihrer doch recht großen Altersspanne selbst Zeuginnen und Zeugen sehr unterschiedlicher Zeitbezüge, Traditionen, Theoriebildungen. All dies spiegelt sich auch in ihren Texten und den jeweiligen Akzentsetzungen – und natürlich spiegelt es sich auch in der Wahl der Personen, die sie vorzustellen bereit waren. Indirekt lässt das daher ebenfalls Schlüsse auf den aktuellen Theoriediskurs der evangelischen Ethik zu. Diese Transparenz ist dabei gewollt; eine Vereinheitlichung in der Sprache oder auch des leitenden ethischen Konzepts haben die Herausgebenden dieses Bandes mit Absicht nicht vorgenommen. Wir danken allen, die Beiträge für diese Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben, ganz herzlich, dass sie damit zugleich einen Blick in ihre eigene ethische Denkwerkstatt ermöglichen.
Unser herzlicher Dank gilt zudem dem Gütersloher Verlagshaus, das in der schon bei der Herausgabe der ZEE selbst bewährten Weise unsere Arbeit unterstützt und ermöglicht hat. Namentlich sind hier Diederich Steen und Gudrun Krieger zu nennen, die die verlegerische und herstellerische Betreuung dieses Bandes übernommen haben. Eliane Ruef, die Redakteurin der ZEE, hat alle Beiträge zusammengestellt, Samantha Isenmann half beim Korrekturlesen. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank.
Wir hoffen, dass dieser Band die vorgestellten Konzepte lebendig werden lässt und dadurch auch vertiefende und weiterführende Impulse für die aktuelle evangelische Ethik vermitteln kann.
Reiner Anselm, Traugott Jähnichen und Mathias Wirth
Mit dem Gedanken, sich vertieft mit den Themen der theologischen Ethik zu beschäftigen, wurde Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) schon früh konfrontiert. Sein akademischer Mentor Reinhold Seeberg schlug ihm im Herbst 1928 vor, sich nach der Dissertation zum Kirchenverständnis in einer Habilitationsschrift mit der Geschichte der Ethik von der Bergpredigt bis zur Gegenwart im Sinn einer »ethischen Dogmengeschichte« zu beschäftigen. Bonhoeffer war gut beraten, als er diese Anregung nicht aufnahm. Doch wenige Monate später entschloss er sich, die »Grundfragen einer christlichen Ethik« in einem Gemeindevortrag für die deutsche Auslandsgemeinde in Barcelona zu behandeln. Vielleicht spürte er selbst die Überforderung, die in diesem Thema lag; jedenfalls nutzte er das Studienjahr 1930/31 am Union Theological Seminary in New York dazu, im Seminar von Reinhold Niebuhr, aber auch im Dialog mit Paul Lehmann und im lebhaften Austausch mit anderen seine Beschäftigung mit der theologischen Ethik zu vertiefen. Die Probleme der Rassentrennung in den USA und die Antworten des Social Gospel erwiesen sich als wichtige Impulse.
Neben sie trat bald die Friedensverantwortung als eine zentrale Herausforderung für Bonhoeffers Nachdenken; sie verband sich mit der Frage nach der politischen Verantwortung der Kirche im heraufziehenden Konflikt mit dem NS-Regime. Bonhoeffers Entscheidung zum Dienst in der Kirche und zur Verantwortung für die Ausbildung künftiger Pfarrer war aus dieser Perspektive kein Rückzug aus der unmittelbaren politischen Beteiligung; vielmehr ging es darum, dass die Kirche sich als Subjekt des Widerstands verstand und entsprechend handelte. Das bedurfte einer intensiven Beschäftigung mit den biblischen Quellen kirchlicher Existenz. Die Auslegungen biblischer Texte, die in Bonhoeffers Arbeit während der 30er-Jahre eine zentrale Bedeutung hatten, können insofern als Vorbereitung auf die Arbeit an der Ethik angesehen werden.
Als Bonhoeffer im Jahr 1936 die Nachfolge abschloss, trug er sich mit dem Plan, als Nächstes eine »Hermeneutik« zu schreiben. Doch dieses Vorhaben verfolgte er nicht weiter. Wann er den Entschluss fasste, sich stattdessen dem von ihm selbst als »groß« empfundenen Vorhaben einer Ethik zuzuwenden, wissen wir nicht genau. Konzentriert widmete er sich diesem Projekt erst nach der Rückkehr von einem zweiten USA-Aufenthalt im Sommer 1939. Die ersten Manuskriptteile, die er niederschrieb, lassen sich auf den Sommer 1940 datieren. Wie wichtig ihm dieser Plan war, sieht man nicht nur an der Beharrlichkeit, mit der er sich trotz der Dramatik der äußeren Umstände immer wieder auf dieses Vorhaben konzentrierte. Es zeigt sich auch daran, dass er sich in der Zeit der Haft selbstkritisch vorhielt, er habe es versäumt, seine Ethik zum Abschluss zu bringen.
Die Bedingungen für die Entstehung der Fragmente von Bonhoeffers Ethik waren mehr als ungewöhnlich. Denn1940, zu Beginn der Arbeit an diesem Buch, war Bonhoeffer im Oberkommando der Wehrmacht dem Amt Ausland/Abwehr, also dem militärischen Geheimdienst, zugeordnet. Damit gehörte er zu einer Gruppe um seinen Schwager Hans von Dohnanyi, die sich an den Umsturzplänen gegen Hitler planend und mitwissend beteiligte. Dietrich Bonhoeffers Ethik wurde dadurch zu einem Dokument, das die ethischen Herausforderungen einer Mitwirkung am politischen Widerstand reflektiert – und dies, obwohl eine Beteiligung an einem solchen Widerstand aus dem Text auf keinen Fall erkennbar werden durfte. Denn sobald der Text in falsche Hände kam, konnte das lebensgefährliche Folgen haben.
Drei Jahre lang, vom Mai 1940 bis zu seiner Verhaftung am 5. April1943, arbeitete Bonhoeffer parallel zu seinen amtlichen Verpflichtungen an den Manuskripten für das geplante Buch. Sie blieben Fragment. Die Gliederung, in die der Verfasser diese Textteile gebracht hätte, kennen wir im Einzelnen nicht. Die Gefahr ist groß, dass bei einer vermeintlich systematischen Anordnung die Vorannahmen der Herausgeber Pate stehen. Deshalb legt die Edition der Ethik in den Dietrich Bonhoeffer Werken eine historische Reihenfolge der Manuskripte zugrunde. Das beruht im Einzelnen auf schwierigen Abwägungen. Aus inhaltlichen Gründen muss man zur Interpretation der Ethik auch Texte heranziehen, die während des Zeitraums 1940–43 entstanden sind, sich aber in der Werkausgabe an anderer Stelle finden; es gibt auch Texte aus der Zeit der Inhaftierung in Tegel, die der Sache nach zur Ethik gehören.
Mit vergleichsweise großer Sicherheit kann man davon ausgehen, dass Bonhoeffer das zuerst geschriebene Kapitel auch an den Anfang seines Buchs stellen wollte. Es trägt den Doppeltitel Christus, die Wirklichkeit und das Gute. Christus, Kirche und Welt. Nachdrücklicher lässt sich die christologische Konzentration, von der diese Ethik geprägt ist, nicht zum Ausdruck bringen. Sie ist durch einen theologischen Wirklichkeitsbegriff geprägt, demzufolge die Christuswirklichkeit in die Weltwirklichkeit eingegangen ist. Diese Verknüpfung konkretisiert Bonhoeffer in einem Dreischritt, in dem vom menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus die Rede ist. Das bestimmt das Verständnis der Wirklichkeit genauso wie die Auffassung von verantwortlichem Leben. Nicht das moralische Kalkül, das meint, mit der Entgegensetzung von Gut und Böse operieren zu können, sondern die Bereitschaft zu gehorsamer und verantwortlicher Tat in der Bindung an Gott ist der Ausgangspunkt dieser Ethik.
Man kann Bonhoeffers Ethik die erste theologische Verantwortungsethik nennen. Der Begriff der Verantwortung tritt nun an die Stelle, an der in seiner Bergpredigt-Auslegung noch der Begriff der Nachfolge steht. Das ist nicht nur in der Absicht begründet, eine theologisch weniger hermetisch abgeschlossene Sprache zu verwenden; vielmehr ist Bonhoeffer dazu auch durch die Rezeption von Luthers Auffassung vom Beruf motiviert. Diese entwickelt er auf eine Weise weiter, in der nicht nur die Verpflichtungen in Arbeit und Familie, sondern auch in Politik und Kirche im Licht der Verantwortung vor Gott gesehen werden. Um diesen Horizont der Ethik zu unterstreichen, bezeichnet Bonhoeffer die gerade genannten Dimensionen menschlichen Lebens und Handelns als vier Mandate, also als Bereiche, in denen Menschen mit dem göttlichen Gebot konfrontiert sind. Dadurch grenzt er sich zum einen klar von einer Theologie der Schöpfungs- oder Erhaltungsordnungen ab, die vorgegebene Strukturen religiös sanktionieren und zum Maßstab menschlichen Handelns machen; zum andern widerspricht er einer Theorie der Eigengesetzlichkeit, in der die Weltwirklichkeit rein diesseitig gedeutet und vom Gebot Gottes entkoppelt wird.
Die herausgehobene Stellung des Verantwortungsbegriffs zeigt sich besonders markant daran, dass er sogar dem Begriff der Freiheit vorgeordnet wird. Bonhoeffer sieht die Verantwortung durch zwei Elemente geprägt, die er als Freiheit und Bindung beschreibt. Die Bindung zeigt sich in der Stellvertretung für andere sowie in der Wirklichkeitsgemäßheit; die Freiheit zeigt sich in der Selbstzurechnung des Lebens und Handelns, also in der Bereitschaft zur Schuldübernahme, sowie in der Freiheit, verstanden als Wagnis der konkreten Entscheidung. Im Blick auf alle Bereiche menschlichen Lebens und Handelns entwickelt Bonhoeffer somit vier Strukturelemente verantwortlichen Lebens: Stellvertretung, Wirklichkeitsgemäßheit, Schuldübernahme und Freiheit.
Es ist vorgeschlagen worden, Bonhoeffers Ethik in einer doppelten Perspektive zu betrachten: einerseits als eine Ethik des Widerstands, des Staatsstreichs und des Tyrannenmords, andererseits als eine Ethik für das Alltagsleben. Doch das Überraschende ist, dass für das »Normale« und das »Außerordentliche« keine unterschiedlichen Kriterien ins Spiel gebracht werden. Die vier Aspekte des verantwortlichen Lebens gelten im einen wie im anderen Fall. Sie radikalisieren sich allerdings angesichts der Angriffe auf menschliches Leben, die durch das nationalsozialistische Regime vollzogen wurden. Abschnitte wie das »Schuldbekenntnis der Kirche« machen das auf unvergessliche Weise deutlich – unvergesslich auch deshalb, weil nicht nur die Verbrechen des Gewaltregimes zur Sprache kommen, sondern auch das Schweigen der Kirche. Die Zeitdiagnose gewinnt dadurch an Präzision, dass Bonhoeffer – völlig neu für die Ethik seiner Zeit – das Augenmerk auf das natürliche Leben lenkt und dadurch Themen wie Selbstmord und gewaltsame Tötung, Fortpflanzung und werdendes Leben zur Sprache bringt. Auf diesem Weg werden konkrete Angriffe auf elementare Lebensrechte erörtert, von denen in keiner anderen Ethik der damaligen Zeit in vergleichbarer Weise die Rede ist. Aber nicht nur dies! Indem Rechte des leiblichen und des geistigen Lebens thematisiert werden, bereitet Bonhoeffer die evangelische Theologie darauf vor, einen eigenständigen Zugang zu den Menschenrechten zu entwickeln. So selbstverständlich das heute erscheint, so ungewöhnlich ist es doch zu Bonhoeffers Zeit.
Wir haben nicht ein Lehrbuch der Ethik im üblichen Sinn vor uns. Referate zu wichtigen ethischen Entwürfen fehlen; Literaturhinweise sind sparsam. Doch man sollte nicht unterschätzen, wie intensiv Bonhoeffer sich mit philosophischen und theologischen Konzeptionen der Ethik auseinandergesetzt hat. Stärker als Karl Barth hat er sich auf das neuzeitliche Autonomiebewusstsein eingelassen; auf diesem Hintergrund rückt er die Verantwortung vor Gott ins Zentrum seines Entwurfs. In dieser Spannung kündigt sich eine Aufgabe an, der er sich in den theologischen Briefen aus der Haft (Widerstand und Ergebung) weiter widmet.
Barth, Friederike: Die Wirklichkeit des Guten. Dietrich Bonhoeffers »Ethik« und ihr philosophischer Hintergrund, Tübingen 2011.
Bonhoeffer, Dietrich: Ethik (DBW 6), München 1992 (2., überarbeitete Aufl., Gütersloh1998, Sonderausgabe 2015), 7. Aufl., Gütersloh 2023.
Ders.: Zettelnotizen für eine »Ethik«, hg. von Ilse Tödt, Gütersloh 1993.
Green, Clifford: Freiheit zur Mitmenschlichkeit. Dietrich Bonhoeffers Theologie der Sozialität, Gütersloh2004, 303–329.
Huber, Wolfgang: Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt, München2012, 73–96.
Tietz, Christiane: Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand, München 2013.
Dies. (Hg.): Bonhoeffer Handbuch, Tübingen 2021.
Tödt, Heinz Eduard: Theologische Perspektiven nach Dietrich Bonhoeffer, hg. von Ernst-Albert Scharffenorth, Gütersloh 1993.
Nicht immer stehen in der Geistesgeschichte intellektuelle Wirkung und allgemeine Bekanntheit eines Autors in einem angemessenen Zusammenhang. Im Fall von H. Richard Niebuhr, dem jüngeren Bruder des weitaus bekannteren Reinhold Niebuhr, darf man jedenfalls konstatieren, dass sein Einfluss auf die Theologiegeschichte in den USA weitaus größer war und (noch) ist, als man dies für seine eigene Person sagen könnte; von der mangelnden Rezeption hierzulande einmal ganz zu schweigen. Dabei darf er zu Recht als ein Klassiker der theologischen Ethik im 20. Jahrhundert gelten. Von seinem Bruder ist die Anekdote überliefert, wonach die Auswahl der Musikinstrumente, welche die beiden Geschwister in ihrer Kindheit zu treffen hatten, symptomatisch für ihren weiteren Lebenslauf (und Charakter?) sei: Er, Reinhold, wählte die Trompete, H. Richard hingegen die Flöte.
Vom jüngeren Niebuhr-Bruder ist wenig Biographisches übermittelt. Auch sind seine wichtigsten Lebensstationen schnell erzählt: Nach Besuch des Elmhurst College, wo er 1912 graduierte, sowie des Eden Theological Seminary, promovierte er 1924 an der Yale University mit einer (beeindruckenden, leider bis heute nicht publizierten) Arbeit über die Religionsphilosophie des ein Jahr zuvor verstorbenen Ernst Troeltsch. Danach kehrte er an seine ersten Ausbildungsstätten in unterschiedlicher Funktion zurück: Am Eden Seminary lehrte er von 1919 bis 1924 und dann nochmals von 1927 bis 1933. Zwischenzeitlich stand er in Elmhurst der Einrichtung als Präsident vor. Von 1931 bis zu seiner Emeritierung lehrte er dann wiederum als SterlingProfessor of Theology and Christian Ethics an der Divinity School in Yale. Kurz nach Ende seiner Lehrtätigkeit starb er im August1962, noch bevor er sein lang geplantes Werk zur christlichen Ethik, das er sich für den Ruhestand vorgenommen hatte, ausarbeiten konnte. Schon diese wenigen Stationen belegen immerhin, wie wichtig Niebuhr, auch nach Auskunft vieler seiner Schülerinnen und Schüler, die akademische Lehre und Nachwuchsförderung waren. In den 1950er-Jahren fand unter seiner Federführung eine umfassende Evaluierung des theologischen Ausbildungswesens in Nordamerika (The Study of Theological Education in the United States and Canada) statt. In diesem Sinne war er, der 1916 als Pfarrer der Evangelical Synod, später United Church of Christ ordiniert wurde, ganz und gar ein Mann der christlichen und theologischen Unterweisung. Seinem eher als schüchtern zu bezeichnenden Wesen, das die breitere Öffentlichkeit scheute – auch darin ganz anders als Reinhold, dem er zeitlebens über alle Kontroversen eng verbunden blieb – kam dies entgegen. Gleichwohl, blickt man von heute auf das Wirken dieses Mannes, so kann man nur erstaunt sein, welch breite Schülerschaft daraus hervorging: James F. Gustafson, Gordon D. Kaufmann, Hans W. Frei und Sallie McFague sollten ebenso prägenden Einfluss auf die nachfolgenden Generationen entfalten, wie die ebenfalls von ihm beeinflussten (jüngeren) James W. Fowler, George H. Lindbeck und Robert N. Bellah.
Niebuhrs eigene Prägungen, die für das Profil seiner Theologie ausschlaggebend wurden, verweisen ebenfalls auf einen ungewöhnlichen Denker. Schon früh kritisierte er deutlich den religiösen Liberalismus als auch die Social Gospel-Bewegung. Beißend heißt es dazu noch in seinem späterhin bekannten Werk The Kingdom of God in America (1937): »Ein Gott ohne Zorn brachte Menschen ohne Sünde in ein Reich ohne Gericht durch den Priesterdienst eines Christus ohne Kreuz.« (dt. 140) In diesem, und nur in diesem Sinne, blieb er dem dialektischen Erbe des frühen Barth verpflichtet. Gleichwohl bedeutete dies nicht, dass er die berechtigten Anliegen einer Vermittlung von Religion und Kultur sowie die Frage nach dem Weltgestaltungsauftrag des Christentums vernachlässigte. Er stellte sie aber auf eine andere theologische Grundlage. Fast schon einzigartig sind darüber hinaus seine Bemühungen, die Einsichten aus Historismus und Pragmatismus für Theologie und Ethik fruchtbar zu machen. Niemand verband in dieser Zeit so produktiv Ideen eines Ernst Troeltsch mit denen eines George Herbert Mead und eines Josiah Royce. Daraus resultierte im Grunde, dass er zur gewichtigsten Alternative zum amerikanischen Paul Tillich werden konnte. Wo Letzterer bewusstseinstheoretische Sinntheorie mit Existentialismus, Psychoanalyse und Seinsontologie paarte, bemühte sich Ersterer darum, Handlungs- und Sozialtheorie mit einer historistischen Hermeneutik in ethischer Absicht zu verbinden. Bei ähnlicher Zeitdiagnose lautete die Devise somit nicht »Sein und Sinn«, sondern »power and value«.
Niebuhr hat selbst keine dicken Bücher verfasst. Seine Schriften bilden allesamt eher kleine, aber feine Kabinettstücke theologischer Reflexions- und Urteilskraft. Sein Interesse an der Verbindung von Soziologie und Geschichte kommt schon in seinen beiden ersten Werken zur Geltung. Sowohl The Social Sources of Denominationalism (1929) als auch die bereits erwähnte Schrift The Kingdom of God stellen Versuche einer historischen Soziologie der Gestalten des amerikanischen Christentums dar. Vor allem in Ersterer wird mit Hilfe soziologischer Typologien im Anschluss an Max Weber der enge, theologisch betrachtet allerdings problematische Konnex von Klassenzugehörigkeit, ethnischer Herkunft und Denomination analysiert. Der dabei geprägte Begriff der »Denomination«, der noch heute in Gebrauch steht, geht maßgeblich auf Niebuhr zurück. Wie sehr Niebuhr als Troeltschs eigentlicher Erbe angesehen werden kann, zeigen dann auch die Schriften der 1940er- und 1950er-Jahre. Darin stehen Fragen um die Zusammenhänge und wechselseitigen Einflüsse von Glaube und Kultur im Zentrum, und dies aus einer dezidiert ethisch-theologischen Perspektive. Ausgangspunkt ist die tiefe (reformierte) Überzeugung, dass Gott in der Geschichte stets handelnd präsent ist, und zwar auch dann, wenn dies vordergründig ganz und gar abwegig erscheint; wenn seine Güte gegenüber dem Bösen scheinbar machtlos zu scheitern droht. War as Crucifixion (1943) heißt nicht umsonst ein berühmter Artikel aus seiner Feder.
Niebuhrs »radikaler Monotheismus« ist Quelle und Fluchtpunkt all seines Denkens und Glaubens. Er ist die Basis sowohl für seine Kritik an moralistisch oder christlich imprägnierten Weltverbesserungsphantasmen als auch seine stets mit Selbstkritik einhergehende Sensibilität für die Widersprüchlichkeiten unseres Lebens. Dabei liegt ihm sehr daran, die transformative Kraft des christlichen Glaubens in der Geschichte wie für die Gegenwart herauszustellen. Das ist u. a. das Anliegen seines zweiten Klassikers, Christ and Culture, von1951, in dem er in Anlehnung an Troeltschs Soziallehren in wiederum idealtypischer Hinsicht fünf verschiedene, in der Geschichte wirksam gewordene Modelle christlicher Welt- und Kulturverantwortung analysiert: Christ against Culture, Christ of Culture, Christ above Culture, Christ and Culture in Paradox sowie Christ Transforming Culture. In keinem dieser Modelle lässt sich die Spannung zwischen universalem Glaubensanspruch und partikularen Kultur- als Wertgebilden auflösen. Dennoch unterscheiden sie sich wesentlich in der Art und Weise, wie sie die wechselseitigen Prägeprozesse deuten und bearbeiten. Obgleich Niebuhrs eigenes Denken dem letzten Modell am nächsten steht, so lautet die primäre Botschaft dieser Rekonstruktion doch, dass alle kulturellen und auch alle religiösen Wertgebilde sich selbst nicht verabsolutieren dürfen. Nur wenn Gott, der gerade keinen höchsten Wert darstellt, sondern als »Center of Value« (D. Grant) der Ursprung und das Ziel alles Wirklichen darstellt, als von der Welt unterschieden anerkannt bleibt, lässt sich an der Vielgestaltigkeit unserer kulturellen Lebenswelten und ihren Wertidealen festhalten. Anders gesagt: Wertepluralismus und radikaler Monotheismus bedürfen und bedingen einander. Dabei sind Werte für Niebuhr keine ontologischen Eigengrößen, sondern stellen vielmehr Qualitäten (Ideale) sozialer Relationen dar. Dies gilt für zwischenmenschliche Beziehungen nicht weniger als für Gemeinschaften oder die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Für deren Gelingen allerdings bedarf es stets eines Glaubens (faith), dessen wesentliche Komponenten Vertrauen (trust) und Treue (loyalty) darstellen.
Vor diesem Hintergrund versteht Niebuhr in seiner 1963 posthum erschienenen Skizze für eine christliche Moralphilosophie The Responsible Self – aus den Earl Lectures hervorgegangen – den Menschen als ein »verantwortliches Selbst«. Im Unterschied zu teleologischen wie zu deontologischen Ethiken mit ihren Leitmetaphern vom Menschen als Macher (»man-the-maker«) und Bürger (»man-as-citizen«) erblickt eine »Ethik des responsible self« im Menschen ein primär sozial konstituiertes und geschichtlich bedingtes Beziehungswesen: »The idea of responsibility […] may abstractly […] be defined as the idea of an agent’s action as response to an action upon him in accordance with his interpretation of the latter action and with his expectation of response to his response; and all of this is in a continuing community of agents.« (The Responsible Self, 65)
Die Einflüsse von Pragmatismus und symbolischem Interaktionismus, aber auch von Martin Bubers Dialogismus sind deutlich erkennbar. Die Pointe besteht darin, dass Handeln und Interpretieren gerade nicht in einem zeitlichen Nacheinander zu stehen kommen, sondern wechselseitig verschränkt und symbolisch imprägniert sind. Jede menschliche Handlung lässt sich in ihrer – auch ethischen – Bedeutung nur verstehen, wenn die ihr inhärente Interpretation als Antwort (response) auf die wahrgenommene und zur Stellungnahme nötigende Wirklichkeit begriffen wird. Theologisch wird dieser verantwortungsethische Entwurf dadurch, dass für den Christenmenschen gilt, dass keine Handlungssituation unabhängig vom Bewusstsein der geschichtlichen Präsenz Gottes interpretiert werden kann. So gesehen, gibt es für Niebuhr keine Ethik ohne (latente) Geschichtstheologie. Allerdings lässt sich Gottes Anwesenheit nicht einfach den empirischen Fakten entnehmen, stellt sie doch als geglaubte selbst das Resultat einer spezifischen Interpretation dar. In christlicher Hinsicht wird sie angeleitet durch die »Story Jesu Christi« als zentrales, symbolisches Deuteschema, in dem Tod und Auferstehung für die auch ethisch relevante Spannung zwischen göttlicher Macht und göttlicher Güte in der Welt stehen. Die (metaethische) Handlungsmaxime lautet von daher: »God is acting in all actions upon you. So respond to all actions upon you as to respond to his action.« (ebd.,126) So erlangt das menschliche Selbst als ein dergestalt in Zeit und Geschichte in Verantwortung Stehendes seine Identität unter der dreifachen Wahrnehmung seiner Situation in radikaler Abhängigkeit von seinem Schöpfer, in seiner ob aller Sünde nötigen Erhaltungsbedürftigkeit sowie in seiner Erlösungsgewissheit trotz allen Scheiterns. Dabei wird der Mensch nicht primär als ein Gott gegenüberstehendes einzelnes Individuum verstanden. Stattdessen zeichnet er als Person in dieser vom Bundesgedanken (covenant-structure) geprägten Ethik als Mitmensch in der Gesellschaft und gegenüber Natur und Geschichte verantwortlich: »The responsible self is driven as it were by the movement of the social process to respond and be accountable in nothing less than a universal community.« (ebd., 88)
Niebuhr wollte seine Verantwortungsethik sozialethisch konkret ausbuchstabieren. Dazu ist es (leider) nicht mehr gekommen. Ihre Stärke liegt nicht zuletzt darin, dass sie als moralisches Gütekriterium die Passgenauigkeit (fitting) menschlicher Handlungen als Reaktionen auf die jeweilige, stets interpretationsbedürftige Situation ausweist. Darin ist sie sowohl reinen Norm- als auch bloßen Situationsethiken weit überlegen. Dank ihrer hermeneutischen Ausrichtung gelingt es ihr, die geschichtliche Kontingenz von Wertidealen mit einem theozentrisch ausgerichteten, moralischen Universalismus zu verknüpfen. Weil sie die darin zutage tretenden Spannungen nicht leugnet, sondern sie stets vorläufigen Lösungen zuzuführen versucht, gehört zu ihrem Wesen beides: Kompromiss und Kritik; vor allem aber eine durch Realismus getränkte Glaubensperspektive.
Niebuhr, H. Richard: The Social Sources of Denominationalism (1929), 12. Aufl., Cleveland/New York 1968.
Ders.: The Kingdom of God in America (1937). With a New Introduction by Martin E. Marty, Middletown (CT) 1988. – Dt. Ausgabe: Das Gottesreich in Amerika, New York 1948.
Ders.: Faith on Earth. An Inquiry into the Structure of Human Faith, ed. by Richard R. Niebuhr, New Haven/London 1989.
Ders.: Radical Monotheism and Western Culture. With Supplementary Essays (1960). Foreword by James M. Gustafson, Louisville 1993.
Ders.: The Responsbile Self. An Essay in Christian Moral Philosophy (1963). Introduction by J. M. Gustafson. Foreword by W. Schweiker, Lousville (KT) 1999.
Ders.: Christ and Culture (1951). New Foreword by Martin E. Marty. New Preface by James F. Gustafson and with an Introductory Essay by the Author, New York 2001.
Crouter, Richard: Reinhold Niebuhr (1892–1971) und H. Richard Niebuhr (1894–1962), in: Graf, F. W. (Hg.), Klassiker der Theologie, Bd. 2: Von Richard Simon bis Karl Rahner, München2005, 258–288.
Daniel, Joshua: Transforming Faith. Individual and Community in H. Richard Niebuhr, Eugene/Oregon 2015.
Diefenthaler, Jon: H. Richard Niebuhr. A Lifetime of Reflections on the Church and the World, Macon 1986.
Fowler, James F.: To See the Kingdom. The Theological Vision of H. Richard Niebuhr, New York/London 1974.
Grant, C. David: God – The Center of Value. Value Theory in the Theology of H. Richard Niebuhr, Fort Worth/Texas 1984.
Joas, Hans: Re-lecture: H. Richard Niebuhr, The Meaning of Revelation, in: Lebendige Seelsorge. Zeitschrift für praktisch-theologisches Handeln 70 (2019), 368–369.
Thiemann, Ronald F. (Ed.): The Legacy of H. Richard Niebuhr, Minneapolis 1991.
Georg Wünsch ist der erste Theologe in Deutschland, der im Jahr 1931 an der Theologischen Fakultät der Universität Marburg auf einen explizit sozialethischen Lehrstuhl berufen wurde, nachdem er dort bereits seit 1923 als Privatdozent und seit 1927 als außerordentlicher Professor gewirkt hatte. Als theoretischer Kopf des 1926 nach diversen Vorläuferorganisationen gegründeten »Bundes der religiösen Sozialisten in Deutschland« war er, aktives Mitglied der SPD, in sozial- und wirtschaftsethischen Fragen profiliert ausgewiesen, aufgrund seiner kirchen- und gesellschaftspolitischen Aktivitäten zugleich höchst umstritten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer weitgehenden Rezeption marxistischer Gesellschafts- und Wirtschaftsanalysen. Zeitlich verzögert gelang es dem sozialdemokratischen preußischen Kultusminister und ebenfalls religiös-sozialistisch orientierten Adolf Grimme, Wünsch nach einigen Querelen auf die neu geschaffene Professur für Systematische Theologie und Sozialethik zu berufen. Obwohl Wünsch zuvor ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus war, näherte er sich diesem nach 1933 in problematischer Weise an. In Publikationen adaptierte er zeitweilig NS-Gedankengut und versuchte, den »linken Flügel« des Nationalsozialismus im Sinn einer Überordnung des Sozialen gegenüber dem Nationalen zu stärken. Diese Positionierung führte nach 1945 zu einem Entnazifizierungsverfahren und der zeitweiligen Suspendierung seiner Professur bis zum Jahr 1947. Nach der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit engagierte er sich in den 1950er-Jahren in der DGB-nahen »Akademie der Arbeit« in Frankfurt a. M. und war mehrere Jahre Präsident des »Bundes für freies Christentum«.
Wünsch, aus einfachen Verhältnissen stammend, studierte evangelische Theologie in Erlangen, Berlin und Heidelberg. Er verortete sich stets in der Tradition des Luthertums, obwohl er den Sozialauffassungen des Luthertums speziell seit dem 19. Jahrhundert ein grundlegendes Versagen im Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart attestierte. Dies wird, nachdem er 1919 in Erlangen mit einer Studie über die Bergpredigt bei Luther promoviert worden war, besonders deutlich in seiner Schrift des Jahres 1921 Der Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung, indem er diesem eine überholte, autoritär-patriarchalische Sozialauffassung ohne nennenswerte Beiträge zur Bemeisterung der modernen sozialen und wirtschaftlichen Konstellationen attestierte. Während Wünsch sich in der Frühphase seiner theologisch-ethischen Entwicklung stark an der Bergpredigt orientierte und aus dieser Perspektive unmittelbar sozialethische Forderungen der Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung (Der Zusammenbruch, 21 f.) zu entwickeln versuchte, konnte er in der Folgezeit seine Sozial- und Wirtschaftsethik deutlich profilieren. Dabei spielten der Dialog mit marxistischen Wirtschaftsanalysen einerseits sowie die Auseinandersetzung mit der unter dem Eindruck von Max Scheler und Nikolai Hartmann seinerzeit weite Beachtung findenden Wertethik andererseits eine zentrale Rolle.
Wünsch gelang es, eine tragfähige konzeptionelle Basis der Wirtschaftsethik zu entwerfen, indem er diese schöpfungstheologisch begründete. In deutlicher Anlehnung an die Tradition Luthers stellte er heraus, »dass Gott die Welt und ihre Ordnungen geschaffen habe [und] […] dass der Mensch nur durch wirtschaftliche Tätigkeit […] existieren kann.« (Art. Wirtschaftsethik, 1966) Wünsch versuchte in dieser Perspektive, den Willen Gottes und den Sinn des Wirtschaftens im Gesamtzusammenhang der Schöpfung aufeinander zu beziehen. Den Schöpferwillen identifizierte er mit Hilfe der Kategorie der göttlichen Güte, welche die Schöpfung durchwaltet. Dementsprechend zielt der allmächtige Schöpferwille nach Wünsch auf die »positive(n) Verwirklichung des in der Schöpfung als Ansatz Vorhandenen« (Evangelische Wirtschaftsethik, 202). Gegen ein statisches Schöpfungsverständnis, wie es in der Tradition der lutherischen Ordnungstheologie dominant war, interpretierte Wünsch die Orientierung an den mit der Schöpfung gesetzten Ordnungen als historisch zu realisierende Aufgabe menschlichen Handelns. In diesem Sinn identifizierte er die Güte Gottes als Orientierungsmaß zur Beurteilung der historischen Entwicklungen, wobei in der jeweiligen historischen Situation insbesondere die Vermeidung von Leid sowie positiv die mit der Schöpfung gesetzten »innersten Bedürfnisse« oder »Wertsehnsüchte« (ebd., 201) anzustreben wären.
Zur Näherbestimmung der inhaltlichen Entfaltung der mit der Schöpfung gesetzten »Wertsehnsüchte« bezog sich Wünsch auf eine stark im Sinn Schelers interpretierte Konzeption der Wertethik, indem durch die Ermittlung von objektiven Werttafeln jeweils hierarchisch geordnete Werte des Vergnügens im Sinn von Bedürfnishierarchien sowie Werte der Unlust als Impuls zur Leidvermeidung identifiziert wurden. Menschliches Handeln hat in der Perspektive Wünschs als Antwort auf die göttliche Güte an der Realisierung der positiven bzw. Vermeidung der negativen Werte mitzuwirken. Dementsprechend dient die Wirtschaft dazu, »die Schöpfung zu bauen« (ebd., 710), um die in ihr angelegten »Wertsehnsüchte« zur Entfaltung kommen zu lassen. Die Aufgabe der Wirtschaft ist es in diesem Horizont, die stofflich-materielle Grundlage des menschlichen Lebens insbesondere zur Deckung der elementaren Bedürfnisse des Menschseins zu sichern. Wirtschaftswerte sind daher nach Wünsch stets »dienende Werte«, die »ihre Geltung durch Rückbezug von der Werthaftigkeit des Zieles« (Art. Wirtschaftsethik, 1967) her erhalten.
Ausgehend von dieser Grundlegung der Wirtschaftsethik ging es Wünsch im Blick auf wirtschaftsethische Zielsetzungen in einem weiteren Schritt darum, zu zeigen, dass und wie »zuerst die elementaren Bedürfnisse für alle Angehörigen der Gesellschaft befriedigt werden müssen« (ebd.). Um diese Perspektive zu realisieren, sah er daher »die Lage der untersten Klasse […] richtungsgebend für die Verteilung der Wirtschaftsgüter auf elementare oder kulturelle Bedürfnisse« (ebd.) an. In diesen Überlegungen Wünschs lässt sich eine Vorform der im Kontext der Befreiungstheologien seit dem Ende der 1960er-Jahre entwickelten vorrangigen Option für die Armen, wie sie vielfach in der ökumenischen Wirtschaftsethik vertreten wird, identifizieren. Wünschs Wirtschaftsethik zielte letztlich auf eine Bedarfsdeckungswirtschaft zur Befriedigung der elementaren menschlichen Bedürfnisse, um auf dieser Grundlage die Verwirklichung kultureller Ansprüche und nicht zuletzt die Möglichkeiten der Freiheit des Menschen zum Dienst für Gott eröffnen zu können.
Diese schöpfungstheologisch und wertethisch fundierte Grundlegung der Wirtschaftsethik verband Wünsch im Sinn des von ihm dynamisch interpretierten Verständnisses der Ordnungen der Schöpfung – pointiert: »die Schöpfung Gottes ist Geschichte« (Die Aufgabe des Marxismus, 168) – mit detaillierten historischen Analysen. Da sich alle Ordnungen historisch entwickeln und in diesem Sinn relativ sind, müssen diese, sofern sie sich überlebt hatten und den Forderungen der Güte Gottes zu widerstreiten drohten, umgestaltet werden. Wünsch wollte dementsprechend die »Geschichte als Forderung des Augenblicks« (Art. Wertethik, 1874) verstehen, was zu einer tendenziell dezisionistischen Urteilsbildung seiner materialethischen Überlegungen führte. Zur Klärung der historisch bestimmten Situationsanalyse mit den jeweiligen Herausforderungen und möglichen Lösungsperspektiven für wirtschaftliches Handeln griff er auf eine traditionell marxistisch begründete Geschichts- und Gesellschaftsanalyse zurück. Im Marxismus, wie er bis in der Mitte der 1950er-Jahre in der Sozialdemokratie dominierte, sah Wünsch das angemessenste Werkzeug zur Identifizierung und Bearbeitung der konkreten materialethischen Herausforderungen, die er im Horizont der von ihm schöpfungstheologisch und wertethisch konzipierten Grundperspektive beschrieb.
Vor diesem Hintergrund gelangte Wünsch, in Aufnahme klassisch-marxistischer Geschichtsdeutung, zu einer positiven Würdigung der historischen Leistungen des Kapitalismus, wobei er dessen historische Mission angesichts der sich zuspitzenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, von ihm im Sinn der Klassenkampfkonzeption interpretiert, jedoch als überholt ansah. Dementsprechend begründete er eine wirtschaftsethische Option für sozialistische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle. Theologisch versuchte Wünsch diese Option durch eingehende Analysen der Institution des Privateigentums und der Bedeutung der menschlichen Arbeit zu plausibilisieren. Dabei konnte er in Aufnahme theologiegeschichtlicher Traditionen die Institution des Privateigentums positiv bewerten, sah allerdings in dessen Funktion als Kapital eine Verfehlung der mit dem Eigentum gesetzten Ordnungsvorstellungen. Demgegenüber betonte er im Einklang mit der lutherischen Berufsauffassung die zentrale Bedeutung der Arbeit für das Menschsein. Ausgehend von diesen Analysen kritisierte Wünsch die Kapitalherrschaft als einseitige und anonym-abstrakte Herrschaft toten Sachkapitals über die lebendige Arbeit, welche sich insbesondere in der von Abhängigkeit und Ausbeutung gekennzeichneten Situation des Industrieproletariats niederschlug. Auf der Grundlage dieser Überlegungen optierte er für eine Wirtschaftsordnung, welche der von ihm theologisch-anthropologisch aufgewiesenen Priorität der Arbeit sowie dem grundsätzlichen Ziel wirtschaftlichen Handelns, der Deckung elementarer Bedürfnisse, Rechnung zu tragen vermochte. Diese Perspektive ließ sich nach Wünsch, wie er in enger Anlehnung an die damals dominante sozialdemokratische Wirtschaftspolitik argumentierte, nur in der Überwindung der »privatkapitalistischen Monopolwirtschaft« durch eine »sozialistische Weltplanwirtschaft« (Wirtschaftsethik, 704) realisieren. Insbesondere eine allgemeine Bedarfsdeckung war allein durch eine staatliche Planwirtschaft, die angesichts des weltweit durch die Finanzmärkte und den Welthandel integrierten Kapitalismus nach Wünschs Auffassung erfolgreich nur im Weltmaßstab realisiert werden konnte, zu erreichen. Dementsprechend befürwortete er zur schrittweisen Annäherung an dieses Ziel Mechanismen einer staatlichen Reglementierung der Wirtschaft. In diesem Zusammenhang ging er bereits in seiner Wirtschaftsethik von 1927 so weit, dass er als religiöser Sozialist entsprechende Maßnahmen des faschistischen Staates in Italien positiv würdigen konnte (vgl. ebd., 674f). Demokratische Mitwirkungsformen in Staat und Gesellschaft oder speziell in der Wirtschaft, wie es etwa das damalige gewerkschaftliche Konzept der Wirtschaftsdemokratie favorisierte, spielten bei ihm demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Vor dem Hintergrund dieser Positionierungen ist die zeitweilige Annäherung von Wünsch an den Nationalsozialismus nachvollziehbar, da er offenkundig – ähnlich wie im Blick auf das faschistische Italien – meinte, auch in dieser Bewegung sozialistische Gehalte identifizieren und möglicherweise stärken zu können.
Auch wenn sich Wünsch recht bald von der NS-Programmatik distanzierte, fand er kein konstruktives Verhältnis zur Bekennenden Kirche sowie speziell zu dem recht starken BK-Flügel in der Marburger Theologischen Fakultät, was nach 1945 nicht zuletzt im Kontext seines Entnazifizierungsverfahrens dazu führte, dass er seither deutlich ein Außenseiter in dieser Fakultät blieb. Ungeachtet seiner weitgehenden Isolation im unmittelbaren Kollegenkreis konnte Wünsch in den 1950er-Jahren durchaus relevante Resonanzen auf seine wirtschafts- und sozialethischen Arbeiten finden. Neben der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit an der Marburger Fakultät spielte er als Lehrbeauftragter für evangelische Sozialethik an der vom Deutschen Gewerkschaftsbund getragenen »Akademie der Arbeit« in Frankfurt a. M. eine wichtige Rolle und trug auf diese Weise zu einer Überwindung der Spannungen und Fremdheit zwischen der gewerkschaftlichen Programmatik und der evangelischen Sozialethik bei. Wünsch modifizierte in diesem Kontext seine wirtschaftsethischen Überlegungen aus der Weimarer Zeit, wobei er einerseits die pauschale Option für planwirtschaftliche Elemente zurücknahm und sich andererseits stärker auf Fragen der gewerkschaftlichen Mitbestimmung und der Humanisierung der Arbeit konzentrierte. In seiner Konzeption einer Neubestimmung des evangelischen Arbeitsethos forderte er Christenmenschen im Beruf dazu auf, dass »der Einzelne sich solidarisch zu seiner Gruppe bekennt und ihren Kampf ideell und materiell mitträgt.« (Art. Arbeitsethos, 562) In diesem Sinn war für ihn die gewerkschaftliche Organisation und Mitwirkung ein wesentliches Element des evangelischen Arbeitsethos unter den Bedingungen industrialisierter Gesellschaften. Diese Überlegung bezog sich angesichts der Konflikte um eine mögliche Neugründung christlicher Gewerkschaften insbesondere darauf, dass er evangelische Christen für eine aktive Mitarbeit im DGB zur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen gewinnen wollte. Diese Forderung, die ebenfalls im Umfeld des Bruderrates innerhalb der EKD aufgestellt wurde, lag auf einer Linie mit einer Stellungnahme des Rates der EKD aus dem Jahr 1955. Im Rahmen seiner arbeitsethischen Studien war Wünsch in den 1950er-Jahren darum bemüht, evangelische Theologen für ein konstruktives Verhältnis zur Welt der Industriearbeit zu gewinnen. Aus diesem Grund führte er regelmäßige Exkursionen von Marburg wie von Frankfurt aus ins Ruhrgebiet durch, wo er in Zusammenarbeit mit dem Theologen Hans Lutz, der in den 1950er-Jahren als Dozent an der Sozialakademie in Dortmund tätig war, in einem regelmäßigen Kontakt stand und zur Vertiefung solcher Erfahrungen u. a. Industriepraktika vermittelte. In diesem Sinn gehörte Wünsch in der frühen Bundesrepublik zu den wenigen Theologen, deren ethische Arbeit sich auf die Herausforderungen der Entwicklungen der Industriegesellschaft einließ und zudem über gute Kontakte zum DGB verfügten. Ferner engagierte er sich als Sozialdemokrat in der Stadtverordnetenversammlung in Marburg. Diese Erfahrungen ließ Wünsch in seine letzten beiden Werke einfließen. Hier erörterte er erneut die Bedeutung der Theologie und Ethik Luthers für moderne Gesellschaften, indem er im Unterschied zu früheren Arbeiten deutlicher die Freiheitsperspektive evangelischen Glaubens betonte (vgl. Luther und die Gegenwart), und er stellte sich der Frage nach der bleibenden Relevanz des Marxismus angesichts zeitgenössischer Kritiken (vgl. Zwischen allen Fronten).
Wünsch versuchte in seinen ethischen Arbeiten, der Wirklichkeit der modernen Gesellschaft gerecht zu werden, weshalb er im Blick auf die theologisch-ethische Tradition kritisch argumentierte. Seine Hinwendung zur Wirklichkeit im Horizont eines schöpfungstheologisch begründeten Geschichtsverständnisses war wesentlich durch eine Rezeption marxistischer Studien geprägt, was sich im Blick auf die Wahrnehmung von Problemlagen der Industriegesellschaft sowie einer Erweiterung des Themenspektrums evangelischer Ethik als produktiv erwies. Zugleich war seine Marxismus-Rezeption gesellschafts- und wirtschaftstheoretisch wenig originell. Er entwickelte diesbezüglich keine Distanz und keine eigenständigen Perspektiven. Sein Versuch, der jeweiligen Wirklichkeit gerecht zu werden, ließ ihn, da er die freiheitssichernde Dimension der Demokratie unterschätzte und nur bedingt kriterial argumentierte, zeitweilig in eine Nähe zum Nationalsozialismus treten. Auch wenn er in der jungen Bundesrepublik mehr noch als in der Weimarer Republik ein Außenseiter blieb, gebührt ihm das Verdienst, wesentliche Anliegen evangelischer Sozialethik im Blick auf ein modernes Arbeitsethos entwickelt und diese in konstruktiven Gesprächen mit der Gewerkschaftsbewegung eingebracht zu haben.
Wünsch, Georg: Der Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung, Tübingen 1921.
Ders.: Evangelische Wirtschaftsethik, Tübingen 1927.
Ders.: Artikel »Wertethik«, in: RGG, 2. Aufl., Bd. 6, Tübingen 1931a, Sp. 1870–1874.
Ders.: Artikel »Wirtschaftsethik«, in: RGG, 2. Aufl., Bd. 6, Tübingen 1931b, Sp. 1964–1971.
Ders.: Die Aufgabe des Marxismus in der Bewegung des Reiches Gottes (1932), in: Wolfgang Deresch (Hg.), Der Glaube der religiösen Sozialisten. Ausgewählte Texte, Hamburg 1972.
Ders.: Artikel »Arbeitsethos«, in: RGG, 3. Aufl., Bd. 1, Tübingen1957, Sp. 560–563.
Ders.: Luther und die Gegenwart, Stuttgart 1961.
Ders.: Zwischen allen Fronten. Der Marxismus in soziologischer und christlicher Kritik, Stuttgart 1962.
Ziesche, Frank: Evangelische Wirtschaftsethik. Eine Untersuchung zu Georg Wünschs wirtschaftsethischem Werk, Frankfurt a. M. u. a. 1996.
Paul Tillich war einer der anregendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Er hat die Krisen seiner Zeit dramatisch durchlebt; den Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs erfuhr er als Abgrund tiefster Sinnlosigkeit, der sich nie wieder ganz schließen ließ. Diese Erfahrung hat ihn experimentierend nach neuen Wegen suchen lassen, in der Theologie und in der Politik, in der Kultur wie im privaten Leben. Tillichs Arbeiten zielen – in der Nachfolge Ernst Troeltschs – auf die Entwicklung einer neuen Theologie der Kultur, welche die Präsenz religiöser Themen gerade auch außerhalb der Kirche aufzuweisen versucht hat.