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Klimakrise, Artensterben und Umweltverschmutzung stellen eine große Bedrohung dar - nicht nur für die körperliche, sondern auch für die seelische Gesundheit: Hitzewellen führen zu Depressionen. Überschwemmungen führen zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Und manche Menschen werden durch Umweltkrisen sogar zur Flucht gezwungen - mit all ihren psychischen Folgen. Es ist also höchste Zeit, dass sich die Psychiatrie mit diesen gravierenden Entwicklungen auseinandersetzt. Dieses Praxislehrbuch möchte handlungsorientiertes Wissen über Umweltkrisen vermitteln und als Referenzwerk für die klinische Praxis dienen. Es beleuchtet zunächst die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Umweltkrisen und ihre psychischen Folgen. Im Anschluss wird aufgezeigt, wie sich in den Bereichen Ernährung, Mobilität, Stadtplanung und Naturerleben positive Wirkungen sowohl für die psychische Gesundheit als auch für die Umwelt erzielen ließen. Daneben geht das Werk der Frage nach, was die Psychiatrie unternehmen kann, um die Umweltkrisen nicht selbst weiter zu verschärfen. Außerdem werden veränderte Anforderungen an die psychiatrische Versorgung diskutiert.
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Seitenzahl: 351
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Die Herausgeber
Dr. med. Sebastian Karl, Arzt in Weiterbildung an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI), Mannheim, Mitglied der Taskforce »Klima und Psyche« der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und Mitautor des Hauptgutachtens »Gesund leben auf einer gesunden Erde« des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU).
Prof. Dr. med. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) und Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Mannheim, Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg sowie Co-Sprecher und Standortkoordinator des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG).
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1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-044346-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-044347-1
epub: ISBN 978-3-17-044348-8
Vorwort
Teil I Naturwissenschaftliche Grundlagen
1 Klimawandel
Astrid Schulz
2 Biodiversitätsverlust
Adina Arth, Carsten Loose und Jonas Geschke
3 Umweltverschmutzung
Elisabeth Schmid und Markus Salomon
Teil II Auswirkungen der Umweltkrisen auf die psychische Gesundheit
4 Direkte Auswirkungen
Andreas Heinz und Lasse Brandt
5 Indirekte Auswirkungen
Sebastian Karl und Andreas Meyer-Lindenberg
Teil III Zentrale Handlungsfelder für die Bewältigung der Umweltkrisen und die Förderung der psychischen Gesundheit
6 Städte
Leonie Ascone und Simone Kühn
7 Naturerleben und Biodiversität
Frauke Nees, Sören Hese, Sebastian Siehl, Kerstin Schepanski und Gunter Schumann
8 Ernährung
Gerhard Gründer und Linda C. Kunz
9 Mobilität
Carmen Jochem und Lorenz Albrecht
Teil IV Vermeidung negativer Umweltfolgen der psychiatrischen Versorgung
10 Gesundheitsförderung und Prävention
Joachim Klosterkötter
11 Optimierung der Psychopharmakotherapie
Moritz Spangemacher und Gerhard Gründer
12 Social Prescribing
Wolfram J. Herrmann, Konrad Laker und Hendrik Napierala
Teil V Anpassung der psychiatrischen Versorgung an Umweltveränderungen
13 Hitze als Gesundheitsrisiko
Julia Sander und Annika Walinski
14 Veränderter Versorgungsbedarf
Sebastian Karl und Andreas Meyer-Lindenberg
15 Klimasensible Psychiatrie: Klimasprechstunde und andere spezifische Beratungsangebote
Hans Knoblauch und Monika Stöhr
16 Migration
Meryam Schouler-Ocak, Lasse Brandt und Andreas Heinz
Verzeichnisse
Autor:innenverzeichnis
Sachwortverzeichnis
Psychiatrie in Zeiten globaler Umweltkrisen: Dieser Titel ist aktuell, aber ist er auch anhaltend relevant? Wird diese Krise nicht bald überstanden sein? Leider ist das mitnichten der Fall. Zwar stößt Deutschland aktuell bereits etwa 46 % weniger Treibhausgase aus als noch 1990, doch pro Kopf sind die CO2-Emissionen in Deutschland noch immer fast doppelt so hoch wie im weltweiten Durchschnitt und viermal so hoch wie beispielsweise in Indien. Außerdem jagt ein Temperaturrekord den nächsten: So war 2023 in Deutschland das wärmste Jahr seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen und der Trend setzt sich 2024 fort. Europa ist der Kontinent, in dem sich die Durchschnittstemperaturen am stärksten erhöhen. Und auch die Durchschnittstemperatur der Ozeane nimmt nie dagewesene Dimensionen an.
Als wäre dies nicht schlimm genug, findet ein dramatischer Verlust an Biodiversität statt, der vom Ausmaß und insbesondere von der Geschwindigkeit her in der jüngeren Geschichte der Erde beispiellos ist. So sind weltweit etwa ein bis zwei Millionen Arten vom Aussterben bedroht. In Deutschland gilt ein Drittel aller Säugetier- und Pflanzenarten als gefährdet. Weil dadurch wichtige Ökosystemleistungen wie die Bestäubung von Pflanzen wegfallen, gefährdet dies nicht nur die Ernährungssicherung, sondern auch mehr als die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung.
Darüber hinaus befinden sich moderne Formen von Umweltverschmutzung auf dem Vormarsch. So gehen Schätzungen beispielsweise davon aus, dass bereits jetzt jährlich 19 Millionen Tonnen Plastik in die Umwelt gelangen und dass sich diese Menge bis 2060 verdoppeln wird.
Diese Umweltkrisen – vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) als »dreifache planetare Krise« bezeichnet – gefährden nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Gesundheit der Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht in Bezug auf die Klimakrise sogar von der größten Bedrohung für die menschliche Gesundheit in diesem Jahrhundert. Dazu kommt, dass die Umweltkrisen nicht nur direkte Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Vielmehr wirken sie als Risikomultiplikator, der Wirtschaftskrisen, Hungersnöte, bewaffnete Konflikte und andere Krisen mit all ihren Folgen für die psychische Gesundheit wahrscheinlicher macht und ihre Auswirkungen verstärkt.
Auch deshalb bezeichnet die Bundesregierung die Bewältigung der Umweltkrisen in ihrer Strategie zur Klimaaußenpolitik als »zentrale Menschheitsaufgabe«. Deren Bewältigung – so sie denn hoffentlich gelingt – wird tiefgreifende Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen mit sich bringen, die das Leben aller Menschen spürbar beeinflussen werden. Gerade weil die Veränderungen aber so tiefgreifend sein müssen, um die Krisen erfolgreich zu bewältigen, bietet sich auch eine Chance: Wir können die Gelegenheit nutzen, um bisherige Gewohnheiten auf den Prüfstand zu stellen und viele Weichen so zu stellen, dass die menschliche Gesundheit davon nicht nur indirekt über den Schutz der Umwelt profitiert, sondern dass die Gesundheit und das Wohlbefinden, insbesondere auch die psychische Gesundheit, im Vergleich zum Status quo auch direkt verbessert werden. Solche Möglichkeiten aufzuzeigen, ist eines der zentralen Anliegen dieses Buchs.
Wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche wird auch die Psychiatrie von Veränderungen betroffen sein. Einerseits wird das psychiatrische Versorgungssystem genau wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche seinen eigenen Beitrag zur Befeuerung der Umweltkrisen reduzieren müssen: Es geht also darum, CO2-intensive Prozesse, negative Effekte auf die Biodiversität und die Produktion von Abfällen möglichst zu vermeiden oder zu reduzieren. Andererseits wird sich das Versorgungssystem auf veränderte Umweltbedingungen wie vermehrte Hitzewellen, Naturkatastrophen und ein verändertes Krankheitsspektrum einstellen müssen. Nicht zuletzt sind psychiatrisch Tätige – aufgrund ihrer Rolle als medizinische Fachkräfte, die großes Vertrauen genießen und aufgrund ihrer spezifischen Fähigkeiten in Bezug auf menschliches Verhalten und Verhaltensänderungen – in einer guten Position, die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen unterstützend zu begleiten und zu befördern. Dafür möchte dieses Buch psychiatrisch Tätigen das notwendige Wissen vermitteln und Anstöße dafür geben, welche Konsequenzen aus diesem Wissen gezogen werden können.
In den ersten drei Buchkapiteln werden die wichtigsten Grundlagen und der aktuelle wissenschaftliche Stand zu Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Verschmutzung vermittelt (Teil I). Die zwei darauffolgenden Kapitel stellen die direkten und indirekten Auswirkungen dieser Umweltkrisen auf die psychische Gesundheit dar (Teil II).
Die weiteren Kapitel des Buches widmen sich möglichen Lösungsansätzen. Dabei werden zunächst Bereiche beleuchtet, die besonders geeignet dafür scheinen, gleichzeitig spürbare Verbesserungen in Bezug auf die Umweltkrisen und in Bezug auf die psychische Gesundheit zu erreichen (Teil III). Welche Rolle spielen Städte für die Entstehung und die Ausprägung psychischer Erkrankungen? Welchen Einfluss haben Städte auf die Umweltkrisen? Und wie können Städte so gestaltet werden, dass sie positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben und negative Auswirkungen auf die Umwelt minimieren? Ein weiteres Kapitel widmet sich der Bedeutung von Biodiversität und Naturerleben auf die psychische Gesundheit und zeigt auf, dass der Erhalt von Biodiversität und naturnahen Räumen nicht nur Umweltschutz ist, sondern einen direkten Einfluss auf unsere psychische Gesundheit haben kann. Dazu kommt der Bereich Ernährung: Was wir essen, hat nicht nur einen Einfluss auf unsere Gesundheit, sondern auch auf die Umwelt. Gegenwärtig weit verbreitete Ernährungsweisen schaden nicht nur der Gesundheit, sondern heizen die Klima-, Biodiversitäts- und Verschmutzungskrise weiter an. Dabei könnte unsere Ernährung so gestaltet werden, dass sowohl die Natur als auch die psychische Gesundheit davon profitieren. Und als weiterer Bereich mit einem großen Einfluss auf die Umweltkrisen wird die Art und Weise beleuchtet, wie sich Menschen heutzutage überwiegend fortbewegen. Für die Umwelt bieten sich die größten Potenziale vor allem durch weniger mit fossilen Brennstoffen betriebenen motorisierten Individualverkehr. Wird ein Teil der vormals mit dem Auto »passiv« zurückgelegten Stecken durch körperlich aktive Fortbewegung ersetzt, dient dies aber auch der Förderung der psychischen Gesundheit und der Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen.
Im Anschluss daran sollen Ansätze aufgezeigt werden, wie der Einfluss des psychiatrischen Versorgungssystems auf die Umweltkrisen verringert werden kann (Teil IV): Ein stärkerer Fokus auf die Förderung psychischer Gesundheit und die Prävention psychischer Erkrankungen kann dabei helfen, den psychiatrischen Behandlungsbedarf zu verringern. Durch die Verhinderung psychischer Erkrankungen kann dies nicht nur den mit psychiatrischen Behandlungen verbundenen Effekt auf die Umwelt verringern, sondern auch Druck aus dem schon jetzt mehr als ausgelasteten psychiatrischen Versorgungssystem nehmen. Patient:innen und Umwelt profitieren auch von einem leitliniengerechten Einsatz von Medikamenten, der Vermeidung von Polypharmazie sowie dem Absetzen von nicht mehr benötigten oder wirkungslosen Medikamenten. Nicht zuletzt könnte Social Prescribing in Zukunft einen weiteren Baustein für die Therapie liefern und möglicherweise dabei helfen, Medikamente einzusparen und die positiven Effekte von Naturerleben, körperlicher Aktivität oder gesunder Ernährung für die psychische Gesundheit zu nutzen.
Die abschließenden Kapitel widmen sich der Anpassung des psychiatrischen Versorgungssystems an neue Realitäten und zu erwartende Entwicklungen im Kontext der Umweltkrisen (Teil V). Dazu zählt die Anpassung aller Behandlungssettings an vermehrte und intensivere Hitzewellen, nicht zuletzt, weil Menschen mit psychischen Erkrankungen zu den besonders gefährdeten Gruppen zählen. Daneben ist durch veränderte Umweltbedingungen mit einer Veränderung des Versorgungsbedarfs zu rechnen – sei es durch die Entstehung neuer psychischer Syndrome, durch die Verschiebung der Prävalenzen psychischer Erkrankungen oder durch die Zunahme von Extremwetterereignissen und ihren psychischen Folgen. Eine Möglichkeit, auf einzelne Aspekte dieses veränderten Versorgungsbedarfs zu reagieren, könnte in der Einrichtung von Klimaambulanzen oder Klimasprechstunden bestehen, was in einem weiteren Kapitel beleuchtet werden soll. Zuletzt wird noch auf einen spezifischen Aspekt des sich verändernden Versorgungsbedarfs eingegangen. Die Umweltkrisen und weitere Krisen, die durch die Umweltkrisen wahrscheinlicher gemacht und befeuert werden, sorgen bereits jetzt für große Migrationsbewegungen, die in Zukunft mit hoher Wahrscheinlich zunehmen werden, da durch steigende Temperaturen, den steigenden Meeresspiegel und Extremwetterereignisse bisher bewohnte Regionen zunehmend unbewohnbar werden, sodass Menschen zur Migration gezwungen werden. Auch in Deutschland werden wir deshalb mehr kultursensible und auf den Umgang mit Umweltkrisen zugeschnittene Versorgungsangebote benötigen.
Dieses Buch versteht sich auch als Initiative, um Impulse für ein psychiatrisches Versorgungssystem zu setzen, das den Herausforderungen der Zukunft gewachsen ist. Die Umweltkrisen entwickeln sich dynamisch, leider in der Erfahrung der letzten Jahre häufig schneller als frühere Prognosen dies erwarten ließen. Genauso dynamisch entwickeln sich die globalen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Entsprechend wird sich auch dieses Buch weiterentwickeln müssen.
Wir hoffen, Ihnen mit unserem Buch einen guten Einstieg in die Thematik und hilfreiche Denkanstöße und Handlungsanregungen für Ihre eigene Praxis geben zu können. Danken möchten wir allen beteiligten Autor:innen für ihre Beiträge und die Bereitschaft, sich dieser inter- und transdisziplinären Aufgabe zu stellen.
Mannheim, im Herbst 2024
Sebastian Karl und Andreas Meyer-Lindenberg
Unsere natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter Druck: Neben dem Klimawandel, der in den letzten Jahren berechtigterweise viel mediale und politische Aufmerksamkeit erfahren hat, ist die Welt mit einem dramatischen Biodiversitätsverlust und mit weltweiter Verschmutzung konfrontiert. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) spricht in diesem Zusammenhang von einer dreifachen planetaren Krise (triple planetary crisis). Alle drei Krisen sind menschengemacht. Sie haben jeweils individuelle Ursachen, beeinflussen sich aber auch gegenseitig. Sie zu lösen, ist eine zentrale Menschheitsaufgabe, um langfristig ein gutes Leben auf diesem Planeten zu ermöglichen.
Die Hauptursache für den Klimawandel ist die Verbrennung fossiler Energieträger, die zu einem Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre führt. Eine zentrale Auswirkung des Klimawandels ist der Anstieg der mittleren globalen Oberflächentemperatur. Sie liegt aktuell bereits 1,1 °C über der vorindustriellen Zeit. Weil CO2 in der Atmosphäre sehr stabil ist, lässt sich dieser Temperaturanstieg nicht kurzfristig rückgängig machen. Damit einher geht auch eine Zunahme von Temperaturextremen. Auch andere Wetterextreme wie Starkregenereignisse oder Dürren werden häufiger. Dies führt zu Risiken für die Ernährungssicherheit und die Gesundheit. Zudem befeuert der Klimawandel zusätzlich den Biodiversitätsverlust.
Die Hauptursache für den Biodiversitätsverlust liegt aber in der Veränderung der Land- und Meeresnutzung durch den Menschen. So sind mittlerweile 75 % der Landoberfläche durch den Menschen maßgeblich verändert. Zudem tragen direkte Übernutzung, Verschmutzung und invasive Arten zum Biodiversitätsverlust bei. Dies hat zur Folge, dass weltweit ein bis zwei Millionen Arten vom Aussterben bedroht sind. Die Wissenschaft geht davon aus, dass das sechste Massensterben in der Geschichte der Erde begonnen hat. Genau wie der Klimawandel gefährdet auch der Biodiversitätsverlust die Ernährungssicherung, die weltweite Wirtschaft und die Gesundheit. Gleichzeitig verstärkt der Biodiversitätsverlust auch die Auswirkungen des Klimawandels.
Verschmutzung ist die dritte große menschengemachte Umweltkrise. Sie ist eine der Ursachen für den Klimawandel und den Biodiversitätsverlust, gefährdet die Gesundheit aber auch direkt. Während manche Formen der Verschmutzung glücklicherweise zurückgehen, sind andere weiterhin sehr präsent oder nehmen zu. Problematisch sind beispielsweise die Verschmutzung der Luft mit Feinstäuben und Stickstoffoxiden, die Verunreinigung von Trink- und Grundwasser mit Nitrat, die Kontaminierung der Ozeane mit Quecksilber und Plastik sowie die Belastung des Bodens mit Pflanzenschutzmitteln und Industriechemikalien. Schätzungen gehen davon aus, dass Umweltverschmutzung für 9 Millionen vorzeitige Todesfälle pro Jahr verantwortlich ist.
Die folgenden Kapitel geben einen Überblick über die wichtigsten Grundlagen der drei menschengemachten Umweltkrisen. Das Verständnis dieser grundlegenden Zusammenhänge ist für das Verständnis der Auswirkungen der Umweltkrisen und für das Verständnis der Strategien zum Umgang mit ihnen wichtig. Es kann aber auch im Kontakt mit Patient:innen oder Entscheidungsträger:innen hilfreich sein, diese Grundlagen zu kennen.
Der Mensch hat das Klimasystem eindeutig verändert, und die Auswirkungen lassen sich weltweit spüren: Die Atmosphäre und der Ozean haben sich erwärmt, die Menge an Schnee und Eis auf diesem Planeten hat abgenommen, der Meeresspiegel ist angestiegen und der Ozean ist saurer geworden. Die mittlere globale Oberflächentemperatur liegt heute etwa 1,1 °C über dem vorindustriellen Wert (IPCC, 2023). 2023 war das bisher wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen (WMO, 2023).
Der Grund dafür ist die geänderte Zusammensetzung der Atmosphäre: Seit Beginn der Industrialisierung hat sich der CO2-Gehalt der Atmosphäre um mehr als 50 % erhöht, der Anteil von Lachgas um 23 %, der von Methan sogar um 156 %. Die Konzentration von Methan und Lachgas in der Atmosphäre ist heute höher als in den letzten 800.000 Jahren, die Konzentration von CO2 sogar so hoch wie seit mindestens zwei Mio. Jahren nicht mehr. Dieser Anstieg ist durch menschliche Aktivitäten verursacht, allen voran die Verbrennung fossiler Energieträger, die 80–90 % des CO2-Anstiegs verursacht hat (Canadell et al., 2021, S. 676). Es lässt sich sogar zeigen, dass die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre wie erwartet durch diese massenhafte Verbrennung sinkt – dies ist für sich genommen allerdings nicht bedrohlich, weil die Gesamtmenge an Sauerstoff so groß ist.
CO2 reichert sich in der Atmosphäre an. Auch über einen Zeitraum von 1.000 Jahren wird ein erheblicher Anteil des CO2, das der Mensch in die Atmosphäre eingetragen hat, dort verbleiben. Stellt man die CO2-Emissionen komplett ein, bleibt die bis zu diesem Zeitpunkt erfolgte Erwärmung über einige Jahrhunderte erhalten. Ein erheblicher Teil des Klimawandels ist daher auf menschlichen Zeitskalen irreversibel, falls das CO2 der Atmosphäre nicht großmaßstäblich entzogen würde. Dies ist jedoch mit heute verfügbaren Technologien nur begrenzt möglich.
Die mittlere Temperatur der Erdoberfläche (genau genommen der erdnahen Atmosphäre) bestimmt sich im Wesentlichen aus einem Strahlungsgleichgewicht: Ein Teil der Erde (dort wo gerade Tag ist) wird von der Sonne beschienen – hier trifft überwiegend Strahlung im sichtbaren Bereich auf die Erde –, ein Teil wird reflektiert, der Rest erwärmt die Erdoberfläche. Gleichzeitig gibt die Erde selbst permanent in alle Richtungen Wärmestrahlung ab – dies ist Strahlung im infraroten Bereich. Treibhausgase interagieren nicht mit dem sichtbaren Licht, die Atmosphäre ist im Wesentlichen durchsichtig. Die Treibhausgase sind aber infrarotaktiv, d. h., sie absorbieren und emittieren Wärmestrahlung. Steigt ihre Konzentration in der Atmosphäre, wird die Abstrahlung der Wärme in den Weltraum erschwert – die Erde erwärmt sich, bis wieder ein Gleichgewicht hergestellt ist.
Haupttreiber des Klimawandels ist die Verbrennung fossiler Energieträger, d. h. Kohle, Erdgas und Erdöl. Sie bestehen zu einem erheblichen Teil aus Kohlenstoff, der bei der Verbrennung – in Kohle- und Gaskraftwerken, Automotoren, Ölheizungen usw. – zu CO2 umgewandelt wird. CO2 ist ein Gas, das sehr stabil ist und daher in der Atmosphäre nicht chemisch abgebaut wird. Es ist aber wasserlöslich und kann durch den Prozess der Photosynthese durch Pflanzen aufgespalten werden. Mehr als die Hälfte des vom Menschen in die Atmosphäre abgegebenen CO2 wird so unmittelbar von der Biosphäre (die 31 % aufnimmt) und vom Ozean (26 %) aufgenommen. Mittelfristig nimmt der Ozean noch weiteres CO2 auf, bis eine Sättigung eintritt. Etwa 20–30 % des CO2 verbleiben aber über viele Jahrhunderte in der Atmosphäre.
Die CO2-Aufnahme durch den Ozean ist übrigens keine sehr positive Angelegenheit: Der pH-Wert des Ozeans sinkt dadurch, er wird also saurer. Dazu unten mehr.
Eine weitere CO2-Quelle sind Landnutzungsänderungen, z. B. die Abholzung von Wäldern. Diese Emissionen sind in den letzten zwanzig Jahren etwas gesunken und liegen heute bei etwa 4 Mrd. Tonnen CO2 pro Jahr. Die CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Emissionen steigen hingegen (nach einem kurzen Einbruch während der COVID-19-Pandemie) unvermindert an und liegen derzeit bei 37,5 Mrd. Tonnen CO2 pro Jahr. Während im Jahr 1960 Landnutzungsänderungen für die Hälfte der anthropogenen CO2-Emissionen verantwortlich waren, machen sie heute gerade noch 12 % der Emissionen aus – vor allem aufgrund des starken Anstiegs der Nutzung fossiler Energieträger (Global Carbon Project, 2023).
Neben CO2 sind auch weitere Treibhausgase und klimawirksame Stoffe von Bedeutung für die Entwicklung des Klimas, die wichtigsten davon sind Lachgas (N2O) und Methan (CH4). Beide Gase sind stärkere Treibhausgase als CO2, haben allerdings eine kürzere Lebensdauer in der Atmosphäre: Lachgas etwa 116 Jahre und Methan sogar nur 9 Jahre (Canadell et al., 2021). Vor allem Methan reichert sich daher nicht wie CO2 in der Atmosphäre an, sondern wird permanent wieder abgebaut – bleiben die Methanemissionen konstant, stellt sich ein »steady state« ein, d. h., die Methankonzentration in der Atmosphäre bleibt auch konstant. Derzeit steigen aber die Emissionen und damit die Konzentration von Methan an. Steigende Methanemissionen stammen zum einen aus der Förderung und Nutzung fossiler Energieträger, zum anderen aus der Landwirtschaft (überwiegend aus der Viehhaltung). Auch Lachgas kann bei konstanten Emissionen einen steady state erreichen, allerdings aufgrund der längeren Lebensdauer erst nach über 100 Jahren. Aktuell steigen aber auch die Lachgasemissionen weiter an. Die jüngsten Anstiege der Emissionen von Lachgas sind überwiegend auf die Ausbringung von Düngemitteln in der Landwirtschaft zurückzuführen, aber auch die Nutzung fossiler Energieträger, Industrie, Verbrennung von Biomasse und Abwasser spielen eine Rolle.
Weitere kleinere Beiträge zur Klimaerwärmung stammen von industriellen Gasen, die sehr stark mit der Infrarotstrahlung wechselwirken, aber bisher nur in geringen Konzentrationen in der Atmosphäre vorkommen – allerdings steigt ihr Beitrag an.
Auch Aerosole, die durch den Menschen in die Atmosphäre eingetragen werden, beeinflussen das Klima, wobei einige (z. B. Ruß) erwärmend wirken, andere (z. B. Schwefelverbindungen) der Erwärmung entgegenwirken, indem sie das einfallende Sonnenlicht reflektieren.
Veränderungen sind bei allen Aspekten des Klimasystems zu beobachten. Im Folgenden werden einige der wichtigsten Veränderungen mit ihren Auswirkungen skizziert.
Offenkundige Auswirkung des Klimawandels ist die Temperaturerhöhung in der unteren Atmosphäre: Sie äußerst sich nicht nur darin, dass die mittleren bodennahen Lufttemperaturen weltweit steigen, sondern auch in einer Zunahme von Temperaturextremen. Hitzewellen werden in Städten noch durch den Hitzeinseleffekt verstärkt: Asphalt und Beton speichern Wärme, dichte Bebauung erschwert die Luftzirkulation, so dass ein Temperaturunterschied von mehreren °C zwischen Städten und ihrem Umland entstehen kann. Dieser ist nachts durch die fehlende Abkühlung besonders ausgeprägt. Hitzeextreme verschlimmern zudem die Auswirkungen von Luftverschmutzung, können Funktionen wichtiger Infrastrukturen einschränken und führen weltweit zu Todesfällen und Erkrankungen.
Auf beiden Erdhalbkugeln verschieben sich die Klimazonen in Richtung der Pole, was sich auch auf die Ökosysteme auswirkt: Etwa die Hälfte der untersuchten Arten sind polwärts oder in höhere Lagen gewandert; Strukturen und Funktionen von Ökosystemen verschlechtern sich, Verschiebungen in den jahreszeitlichen Abläufen werden beobachtet (IPCC, 2022a). Auch Verbreitungsgebiete von Vektoren und damit die Möglichkeiten der Übertragung von Krankheiten ändern sich. Auf der Nordhalbkugel hat sich die Vegetationsperiode durch die Erwärmung verlängert, was sich beispielsweise negativ auf Allergien auswirkt.
Nicht nur die Atmosphäre erwärmt sich, sondern auch der Ozean – zumindest in den oberen 700 m der Ozeane lässt sich eine durch den Menschen verursachte Erwärmung deutlich nachweisen. Der Ozean kann enorme Wärmemengen aufnehmen und befindet sich noch längst nicht im thermischen Gleichgewicht mit der Atmosphäre – er wirkt also derzeit noch kühlend auf die Atmosphäre. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Temperaturen über Land bereits deutlich stärker gestiegen sind als über den Ozeanen.
Der Klimawandel wirkt sich auch auf den globalen Wasserkreislauf aus: Je wärmer die Luft ist, desto mehr Wasser kann sie potenziell aufnehmen – pro 1 °C Erwärmung steigt die Aufnahmekapazität um 7 %. Damit sind mehr und stärkere Niederschläge möglich. Weltweit gemittelt hat der Niederschlag auch bereits zugenommen, genauso wie die Häufigkeit und Intensität von Starkregen. Weil gleichzeitig mit den steigenden Temperaturen auch die Verdunstung zunimmt, wird es aber trotzdem in vielen Regionen trockener. Der Klimawandel kann deshalb sowohl zu Sturzfluten als auch zu Dürren beitragen – er führt also insgesamt zu einer größeren Variabilität in der Wasserverfügbarkeit und zu mehr Extremen.
Im globalen Mittel befindet sich durch die Klimaerwärmung mehr Wasserdampf in der Atmosphäre – und da Wasserdampf auch mit der Infrarotstrahlung interagiert, verstärkt dies die Erwärmung weiter: Es wird geschätzt, dass diese Rückkopplung den Erwärmungseffekt von CO2 verdoppelt.
Weltweit haben sich die Gletscher zurückgezogen. Auch das jahreszeitlich schwankende arktische Meereis ist betroffen: Innerhalb von 30 Jahren hat sich seine typische Ausdehnung im September um 40 % verringert, jene im März um 10 %. Auch Grönland und die Antarktis verlieren Eis. Die Schneedecke im Frühjahr auf der Nordhalbkugel ist heute deutlich geringer als in den 1950er Jahren. Der arktische Permafrost taut auf. Schnee und Eis reflektieren das Sonnenlicht – schmelzen sie, erwärmt sich die darunterliegende Fläche um so schneller. Durch diesen Rückkopplungseffekt reagieren die von Schnee und Eis beherrschten Regionen der Erde extrem sensibel auf die Klimaerwärmung. Die Arktis erwärmt sich daher etwa doppelt so schnell wie der globale Durchschnitt.
Das Abschmelzen der Gletscher wirkt sich auf die Wasserverfügbarkeit für Landwirtschaft, Wasserkraft und menschliche Siedlungen aus und kann u. a. zu größeren Schwankungen in der jahreszeitlichen Verfügbarkeit von Wasser führen. Die genauen Auswirkungen unterscheiden sich regional und je nach Größe der Gletscher: Durch das Abschmelzen steigt die Wassermenge gletschergespeister Flüsse besonders im Sommer zunächst an. Dieser Trend dreht sich mit dem weiteren Schrumpfen der Gletscher aber um und die Abflussmenge nimmt ab – ganz besonders im Sommer, da mit dem Verschwinden der Gletscher auch ihre Funktion als »Zwischenspeicher« für Niederschlag verschwindet. Die großen Gletscher weltweit befinden sich noch in der Phase verstärkter Abflüsse, während einige kleinere schon die Trendumkehr erreicht haben. Veränderungen der kontinentalen Eismassen wirken sich direkt auf die Höhe des Meeresspiegels aus.
Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor 20.000 Jahren ist der Meeresspiegel um etwa 120 m gestiegen, wobei er sich vor 2.000 bis 3.000 Jahren stabilisierte und bis 1900 nahezu konstant blieb. In dieser Zeit des konstanten Meeresspiegels haben sich an den Küsten Siedlungen entwickelt, und sehr viele Großstädte sind dort entstanden. Zwischen 1901 und 2018 ist der globale mittlere Meeresspiegel um 20 cm angestiegen. Der Anstieg beschleunigt sich: Während der Meeresspiegel zwischen 1901 und 1971 um 1,3 cm pro Jahr stieg, waren es zwischen 2006 und 2018 schon 3,7 cm pro Jahr (IPCC, 2023, S. 5).
Der Meeresspiegel steigt aus verschiedenen Gründen: Zum einen führt bereits die thermische Ausdehnung des Meerwassers durch die Erwärmung zu einem Anstieg des Meeresspiegels – wärmeres Wasser nimmt mehr Raum ein als kälteres. Dieser Prozess ist derzeit für etwa die Hälfte des beobachteten Meeresspiegelanstiegs verantwortlich. Den anderen (steigenden) Anteil am Meeresspiegelanstieg haben abschmelzende Gletscher und die kontinentalen Eisschilde in Grönland und der Antarktis sowie eine abnehmende Speicherung von Wasser an Land, z. B. in Seen.
Bis zum Ende des Jahrhunderts könnte der Meeresspiegelanstieg bis zu 1 m erreichen, abhängig von den zukünftigen Emissionen. Nach Einschätzung des IPCC könnte mittelfristig etwa eine Milliarde Menschen durch küstenspezifische Klimagefahren bedroht sein werden, einschließlich auf kleinen Inseln (IPCC, 2022a). Für einige kleine Inseln und niedrig gelegene Küsten ist der Meeresspiegelanstieg eine existenzielle Bedrohung. Beispiele sind die Inseln von Kiribati, den Malediven oder Tuvalu (Kelman, 2015).
Etwa die Hälfte des durch die Menschen in die Atmosphäre abgegebenen CO2 wird am unteren Rand der Atmosphäre unmittelbar vom Ozean und der Biosphäre aufgenommen; mittelfristig nimmt der Ozean noch weiteres CO2 auf, bis eine Sättigung eintritt. Durch die Aufnahme von CO2 aus der Atmosphäre ändert sich das chemische Gleichgewicht des Meerwassers. Seit Beginn der industriellen Revolution ist der pH-Wert der Meere dadurch um 0,1 gesunken, d. h., der Ozean ist deutlich saurer geworden. Besonders Korallenriffe sind durch die Versauerung bedroht. Da sie gleichzeitig unter der Erwärmung des Meerwassers und dem Meerespiegelanstieg leiden, sind sie besonders gefährdet.
Hurrikans beziehen ihre Energie aus dem warmen Meerwasser. Es erstaunt daher nicht, dass der Anteil schwerer Hurrikans (Kategorie 3–5) zugenommen hat und dass auch ihr Verbreitungsgebiet sich ausgedehnt hat. Die Kombination schwerer Hurrikans mit einem steigenden Meeresspiegel kann zu immer höheren Gefährdungen in den betroffenen Regionen führen.
Der Klimawandel hat bereits in allen Weltregionen Wetter- und Klimaextreme beeinflusst (IPCC, 2023, S. 5), z. B. Hitzewellen, Starkregenereignisse, Dürren und tropische Zyklone (Hurrikans). Mittlerweile kann der menschliche Einfluss auf solche Ereignisse auch immer besser nachgewiesen werden.
Der Klimawandel wird zunehmend die Nahrungsmittelproduktion und den Zugang zu Nahrungsmitteln erschweren. Steigende Häufigkeit, Intensität und Schwere von Dürren, Überschwemmungen und Hitzewellen sowie der anhaltende Meeresspiegelanstieg werden die Risiken für die Ernährungssicherheit in verwundbaren Regionen deutlich ansteigen lassen, wenn keine ausreichende Anpassung stattfindet. Auch die Risiken durch über Lebensmittel, Wasser und Vektoren übertragene klimaabhängige Krankheiten steigen. Der IPCC rechnet zudem damit, dass psychische Gesundheitsprobleme, einschließlich Angst und Stress, bei weiterer globaler Erwärmung zunehmen, insbesondere bei Kindern, Jugendlichen, älteren Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen (IPCC, 2022a).
Der Klimawandel ist zudem ein zusätzlicher Stressor für die Biodiversität und verstärkt das Massenaussterben, das der Mensch ausgelöst hat – überwiegend durch die Zerstörung natürlicher Ökosysteme durch die Umwandlung von Flächen für die menschliche Nutzung (siehe Kap. 2).
Mit Fortschreiten des Klimawandels können außerdem Kipppunkte überschritten werden, jenseits derer deutliche Systemänderungen auftreten, die auch bei einer Absenkung der Temperatur nicht mehr reversibel wären – z. B. das Abschmelzen des grönländischen Eisschilds (Lenton et al., 2019). Jenseits eines solchen tipping points könnte das vollständige Abschmelzen der grönländischen Eismassen, das einen Anstieg des Meeresspiegels um 7 m nach sich ziehen würde, unausweichlich werden. Das Abschmelzen könnte sich über mehrere Jahrtausende erstrecken oder auch schneller passieren: Die Dynamik der Eisschmelze ist schlecht prognostizierbar. Auch für den Amazonas wird ein solcher tipping point angenommen: Die Kombination von zunehmender klimawandelbedingter Dürre mit zunehmender Abholzung könnte zu einem Zusammenbruch weiter Teile des Regenwaldes führen.
Abb. 1.1: Nachteilige Folgen des menschengemachten Klimawandels (IPCC, 2023, dort: Abbildung SPM.1, mit freundlicher Genehmigung)
Im Übereinkommen von Paris hat sich die internationale Staatengemeinschaft im Jahr 2015 darauf geeinigt, die Erderwärmung deutlich unterhalb von 2 °C verglichen mit dem vorindustriellen Niveau zu stoppen und Anstrengungen zu unternehmen, sie sogar auf 1,5 °C zu begrenzen.
Aus physikalischer Sicht sind die Implikationen aus dieser Einigung eindeutig: Um den Klimawandel aufzuhalten, ist es notwendig, die anthropogenen CO2-Emissionen netto auf Null zu bringen. Dabei wird das Ausmaß des Klimawandels weitgehend durch die Gesamtmenge des von den Menschen emittierten CO2 bestimmt. Häufig wird daher ein CO2-Budget benannt, d. h. eine Gesamtmenge an CO2-Emissionen, die nicht überschritten werden darf, wenn ein bestimmtes Temperaturziel eingehalten werden soll. Bei der gegenwärtigen Höhe der Emissionen wird das CO2-Budget, das noch zur Verfügung steht, wenn eine Erwärmung von 1,5 °C nicht überschritten werden soll, in wenigen Jahren aufgebraucht sein.
Auch die Emissionen der anderen Treibhausgase wie Methan und Lachgas müssen deutlich gesenkt werden: Sie entscheiden mit darüber, bei welcher Temperatur genau der Klimawandel aufgehalten werden kann. Minderungen der anderen Treibhausgase können aber den Stopp der CO2-Emissionen nicht ersetzen: Solange weiter netto CO2 in die Atmosphäre eingetragen wird, wird der Klimawandel fortschreiten und kann allenfalls verzögert werden.
Falls eines Tages die Emissionen langlebiger Treibhausgase gestoppt sind, bleibt die Temperaturerhöhung auf dem bis dahin erreichten Niveau etwa bestehen – und einige Prozesse (wie z. B. der Anstieg des Meeresspiegels) schreiten weiter voran. Es ist also eine erhebliche Herausforderung, den Klimawandel aufzuhalten – ihn rückgängig zu machen, würde noch einen weit höheren Aufwand bedeuten, nämlich die gezielte Entnahme großer Mengen von CO2 aus der Atmosphäre. Und einige Aspekte des Klimawandels können ggf. gar nicht rückgängig gemacht werden.
Wie sich die Begrenzung des Klimawandels auf 2 oder 1,5 °C konkret umsetzen lässt, ist eine sehr viel komplexere Frage, auf die es nicht nur eine Antwort gibt und die daher auch Raum für politische Aushandlungsprozesse lässt. Häufig werden sogenannte Integrated-Assessment-Modelle (IAM) verwendet, um Möglichkeiten der technischen Umsetzung zu erkunden. Solche Modellrechnungen zeigen, dass ein Stopp des Klimawandels tiefgreifende Änderungen in allen Sektoren erfordert.
Im Zentrum des Klimaschutzes steht die Notwendigkeit, die Verbrennung fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) so vollständig wie möglich einzustellen. Dies kann mit einem bedeutenden direkten Nutzen für die Gesundheit einhergehen, da ein erheblicher Teil der Luftverschmutzung weltweit auf fossile Energieträger zurückgeht. In den Modellen ist vorgesehen, die ggf. verbleibende Nutzung fossiler Energieträger so zu gestalten, dass die Freisetzung von CO2 in die Atmosphäre minimiert wird. Technologien, um CO2 aus Abgasen zu entfernen und sicher einzulagern (Carbon dioxide capture and storage, CCS) sind allerdings bisher nicht großmaßstäblich erprobt und werden kontrovers diskutiert, u. a. aufgrund hoher Kosten, hohem Energieaufwand und weil es nicht möglich ist, das CO2 vollständig aus einem Abgasstrom zu entfernen. Ob wirklich fossile Energieträger in nennenswertem Ausmaß weiter genutzt werden können, wenn der Klimawandel aufgehalten werden soll, ist also eher fraglich. Mit der Abkehr von den fossilen Energieträgern können auch die mit der Förderung und Nutzung verbundenen Methan- und Lachgasemissionen vermieden werden.
Die notwendige globale Energiewende erfordert einen erheblichen Ausbau erneuerbarer Energien (vor allem Wind- und Solarenergie) sowie Effizienzsteigerungen und weitere Maßnahmen, um die Energienachfrage in Grenzen zu halten. Damit auch im Verkehr und im Wärmesektor erneuerbare Energien genutzt werden können, wird hier in der Regel von einer verstärkten Elektrifizierung ausgegangen. Ermutigend ist, dass die Kosten entsprechender Technologien (Solar- und Windenergie, Batterien) seit 2010 massiv gefallen sind (IPCC, 2023, S. 54). Die Nutzung von Bioenergie, die ja auch eine Form erneuerbarer Energien ist, wird kontrovers diskutiert, insbesondere aufgrund ihres hohen Flächenbedarfs, Konkurrenzen mit der Nahrungsmittelproduktion und dem Ökosystemschutz sowie ineffizienter Energieumwandlung (WBGU, 2009, 2020).
Weitere wichtige Bereiche sind die Land- und Forstwirtschaft. Die wichtigsten Klimaschutzmaßnahmen sind hier die Verringerung von Entwaldung, nachhaltiges Forstmanagement, die Wiederherstellung von Ökosystemen, Aufforstung und Wiederaufforstung sowie die Nutzung landwirtschaftlicher Methoden, bei denen Kohlenstoff gespeichert wird (z. B. Humusaufbau). Auch die Methan- und Lachgasemissionen in der Landwirtschaft können gesenkt, wenn auch nicht völlig vermieden werden. Klimaschutz in der Land- und Forstwirtschaft kann vielfach so gestaltet werden, dass Synergien mit dem Schutz der Biodiversität erreicht werden, dies ist aber nicht automatisch der Fall. Ebenso sind Landnutzungskonkurrenzen und Zielkonflikte mit Ernährungssicherung oder Biodiversitätsschutz möglich.
Auf der Nachfrageseite können der Umstieg auf ausgewogene, nachhaltige gesunde Ernährung sowie die Verringerung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung Beiträge leisten.
Zunehmend ins Gespräch kommt die Notwendigkeit, der Atmosphäre aktiv CO2 zu entziehen. Die Möglichkeiten hierzu sind jedoch mit der gegenwärtigen Technologie begrenzt und die Methoden vielfach mit Risiken verbunden. Sie reichen von großskaliger Aufforstung über die Nutzung von Bioenergie kombiniert mit der Abscheidung und Einlagerung von CO2 bis hin zu technischen Methoden, das CO2 direkt aus der Luft zu entfernen.
Schließlich gibt es noch eine Diskussion über Ansätze zur Veränderung der Sonneneinstrahlung (solar radiation modification) mit dem Ziel, die Temperaturen senken. Solche Methoden bergen allerdings ein breites Spektrum an neuen Risiken für Menschen und Ökosysteme, die nicht gut verstanden sind. Eine Veränderung der Sonneneinstrahlung würde zudem bei fortgesetzten anthropogenen Emissionen weder den Anstieg der atmosphärischen CO2-Konzentrationen aufhalten noch die daraus resultierende Ozeanversauerung in Grenzen halten.
Selbst wenn es gelingt, den Klimawandel wie in Paris vereinbart zu begrenzen, werden die Auswirkungen des Klimawandels erheblich sein (Abb. 1.1). Über Land steigt die Temperatur schneller als über dem Ozean; hier ist bereits eine Erwärmung von mehr als 1,5 °C erreicht (IPCC, 2019, S. 5). Und nicht alle Aspekte des Klimawandels lassen sich überhaupt im Rahmen menschlicher Zeitskalen stoppen. Der Meeresspiegelanstieg ebenso wie die Erwärmung und Versauerung der Meere werden noch über Jahrtausende fortschreiten, auch wenn es gelingt, den Temperaturanstieg in der Atmosphäre zu stoppen (Arias et al., 2021, S. 106). Allerdings hängt auch hier das Ausmaß extrem davon ab, wie schnell und wie stark die Emissionen gesenkt werden.
Es sind daher in jedem Fall politische Maßnahmen und Strategien zur Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels notwendig.
Eine nachhaltige Zukunftsgestaltung muss deshalb die Eingrenzung des Klimawandels mit der Anpassung an seine Folgen kombinieren. Ein Beispiel ist die nachhaltige Stadtgestaltung: Zum einen ist es notwendig, durch Städte bedingte Emissionen zu senken – angefangen von der Wahl nachhaltiger Baustoffe über die Energienachfrage und die direkten Emissionen beim Betrieb von Gebäuden bis hin zum Verkehr. Zum anderen geht es darum, den städtischen Hitzeinseleffekt zu senken und sich auf die zunehmende Variabilität von Niederschlägen einzustellen. Hier kann es Synergien geben – z. B. können städtische Grün- und Blauflächen wie Parks, Wälder, Feuchtgebiete oder auch begrünte Dächer Überschwemmungsrisiken senken und den Hitzeinseleffekt verringern sowie gleichzeitig CO2 aus der Luft aufnehmen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Zielkonflikte: Eine höhere Besiedlungsdichte in Städten kann einen Beitrag zur Senkung der Verkehrsnachfrage leisten, erhöht aber ggf. die Verwundbarkeit gegenüber Hitzewellen und Überschwemmungen (IPCC, 2022b).
• Menschliche Aktivitäten haben eindeutig die globale Erwärmung verursacht, vor allem durch die Emission von Treibhausgasen.
• Die Auswirkungen des Klimawandels sind in allen Weltregionen spür- und messbar.
• Um den Temperaturanstieg aufzuhalten, ist es notwendig, die Verbrennung fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) so vollständig wie möglich einzustellen.
• Nicht alle Aspekte des Klimawandels lassen sich aufhalten – insbesondere der Meeresspiegelanstieg wird noch über Jahrtausende weiter voranschreiten.
• Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel sind in jedem Fall notwendig.
Arias, P. A., Bellouin N., Coppola E., et al. (2021). Technical Summary. In V. Masson-Delmotte, P. Zhai, A. Pirani, et al. (Eds.), Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (pp. 33–144). Cambridge University Press, Cambridge and New York. doi: 10.1017/9781009157896.002.
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IPCC (2022b). Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung. In P. R. Shukla, J. Skea, R. Slade, et al. (Hrsg.), Klimawandel 2022: Minderung des Klimawandels. Beitrag der Arbeitsgruppe III zum Sechsten Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen. Deutsche Übersetzung auf Basis der Version vom Juli 2022. Deutsche IPCC-Koordinierungsstelle, Bonn; Die Luxemburger Regierung, Luxemburg; Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie, Wien; Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT, ProClim, Bern; November 2022. doi: 10.48585/ncrb-8p46.
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WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2009). Welt im Wandel: Zukunftsfähige Bioenergie und nachhaltige Landnutzung. Hauptgutachten. Berlin, WBGU.
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Biodiversität, oder biologische Vielfalt, beschreibt die Fülle allen Lebens auf der Erde. Definiert ist sie als die Variabilität an Genen innerhalb einer Art, die Vielfalt der Arten sowie die Vielfalt an Ökosystemen (Abb. 2.1) (UN, 1992, Art. 2). Wie viele Arten es genau auf der Erde gibt, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Wissenschaftliche Schätzungen gehen von bis zu 10 Mio. Arten aus (Costello et al., 2013; Mora et al., 2011), vereinzelt sogar bis zu 100 Mio. (May, 2010). Bisher wurden rund 2,2 Mio. Arten wissenschaftlich beschrieben (IUCN, 2023). Das dynamische Beziehungsgefüge verschiedener Arten untereinander und mit den unbelebten Bestandteilen eines Lebensraumes, z. B. Boden, Wasser und Luft, wird als Ökosystem bezeichnet (UN, 1992, Art. 2). Beispiele sind das Wattenmeer in Deutschland, Moore in Indonesien oder Russland und tropische Regenwälder in Brasilien oder Zentralafrika.
Eine intakte Biodiversität ist neben einem stabilen Klima grundlegende Voraussetzung für ein gesundes Leben auf der Erde (IPBES, 2019; IPCC, 2022; WBGU, 2023). Auch trägt Biodiversität entscheidend zu nachhaltiger Entwicklung und menschlichem Wohlergehen bei (Blicharska et al., 2019; Marselle et al., 2021).
Um dies zu erläutern, beschreiben wir in diesem Kapitel zunächst den Zusammenhang von Biodiversität und Ökosystemleistungen sowie deren Bedeutung für den Menschen. Anschließend gehen wir auf den derzeitig stattfindenden massiven Biodiversitätsverlust ein und beleuchten dessen Treiber. Nach einem Überblick über die globalen Ziele für den Erhalt biologischer Vielfalt beleuchten wir abschließend die Bedeutung von Biodiversität für die planetare und menschliche Gesundheit.
Abb. 2.1: Biodiversität ist die Variabilität an Genen innerhalb einer Art, die Vielfalt der Arten sowie die Vielfalt an Ökosystemen. Funktionsfähige Ökosysteme stellen dem Menschen 18 unterschiedliche Ökosystemleistungen zur Verfügung. Diese sind zentrale Grundlage für das Leben auf der Erde. (eigene Darstellung; Icons aus IPBES, 2019, SPM Abb. 1, S. 23, mit freundlicher Genehmigung)
Biodiversität ist eine Lebensgrundlage des Menschen. Wir sind direkt und indirekt mit ihr verknüpft und von ihr abhängig (IPBES, 2019). Vielfältige und funktionsfähige Ökosysteme sind die Grundlage unserer Ernährung, regulieren das Klima, liefern sauberes Wasser und saubere Luft. Diese verschiedenen Vorteile, die der Mensch aus der Natur zieht, nennt man Ökosystemleistungen (Costanza et al., 1997; MEA, 2005). Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) bezeichnet Ökosystemleistungen auch als »Beiträge der Natur für den Menschen« (nature’s contributions to people, NCP) (Díaz et al., 2018; IPBES, 2019). Derzeit werden insgesamt 18 Ökosystemleistungen unterschieden und in regulierende, materielle und nicht-materielle Leistungen eingeteilt (Abb. 2.1) (IPBES, 2019).
Regulierende Ökosystemleistungen bestimmen die Umweltbedingungen für den Menschen und andere Tier- und Pflanzenarten. Sie bilden die Basis für die Zurverfügungstellung materieller und nicht-materieller Ökosystemleistungen. Dazu zählen unter anderem die Reinigung von Wasser, die Regulierung des Klimas und der Schutz vor Naturkatastrophen (IPBES, 2019). Letztes geschieht z. B. durch die Befestigung des Bodens durch Vegetation, was vor Erdrutschen schützt. Regulierende Ökosystemleistungen wirken häufig indirekt auf das menschliche Wohlergehen. Damit z. B. ein Apfel wachsen kann, sind eine Versorgung des Baumes mit Nährstoffen durch den Boden und eine Bestäubung der Blüte eines Apfelbaums durch Insekten notwendig. Der Apfel ist ein direkter materieller Beitrag der Natur für den Menschen, wohingegen Bodenprozesse und Bestäubung indirekt für den Menschen wirken.
Materielle Ökosystemleistungen stellen dem Menschen Güter und Ressourcen zur Verfügung. Dazu zählen z. B. Nahrung, Holz oder Bestandteile von Tieren und Pflanzen für medizinische Zwecke (IPBES, 2019).
Nicht-materielle Ökosystemleistungen beschreiben die Auswirkungen der Natur auf die körperliche oder psychische Lebensqualität des Menschen, sowohl individuell als auch kollektiv (IPBES, 2019). So bieten Wälder und Parks Möglichkeiten für Naturkontakt, der sich positiv auf die Psyche auswirkt (Kap. 2.6). Bestimmte Pflanzen, Tiere oder Orte in der Natur können die Grundlage für sozialen Zusammenhalt, Identitätsgefühl und spirituelle Erfahrungen darstellen. Darüber hinaus ist Natur Inspiration für Kunst, Kultur und technologisches Design (Díaz et al., 2018). So haben z. B. Vogelflügel die Entwicklung von Flugzeugen inspiriert, Kletten den Klettverschluss und Termitenbauten moderne Lüftungssysteme.
Beiträge der Natur für den Menschen können allerdings auch negative Wirkung haben (Díaz et al., 2018). Beispielsweise kann das menschliche Wohlergehen durch giftige Pflanzen, Pollen oder Tierhaare, die zu allergischen Reaktionen führen, beeinträchtigt werden.