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Zeit kann RASEN oder KRIECHEN. Kann leer oder kostbar sein, ersehnt oder erduldet, gewonnen oder verloren. Noch nie haben diese EXTREME das Leben so stark geprägt wie in unserer beschleunigten Gesellschaft: Auf der einen Seite leiden immer mehr Menschen unter zu knapper Zeit, auf der anderen unter LANGEWEILE und ÜBERDRUSS. Wie viel Tempo verträgt der Mensch? Was ist erfüllte Lebenszeit? Die großen Themen der Zeit sind manchmal kompliziert. Aber oft genügt schon eine ausführliche und gut recherchierte GEO-Reportage, um sich wieder auf die Höhe der Diskussion zu bringen. Für die Reihe der GEO eBook-Singles hat die Redaktion solche Einzeltexte als pure Lesestücke ausgewählt. Sie waren vormals Titelgeschichten oder große Reportagen in GEO.
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Seitenzahl: 35
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Herausgeber:
GEODie Welt mit anderen Augen sehenGruner + Jahr AG & Co KG, Druck- und Verlagshaus,Am Baumwall 11, 20459 Hamburgwww.geo.de/ebooks
Die Diktatur der Uhr
Zusatzinfos – kurz & knapp
»Was, schon wieder ein Jahr vorbei?«
Andere Länder, andere Rhythmen
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Zeit kann RASEN oder KRIECHEN. Kann leer oder kostbar sein, ersehnt oder erduldet, gewonnen oder verloren. Noch nie haben diese EXTREME das Leben so stark geprägt wie in unserer beschleunigten Gesellschaft: Auf der einen Seite leiden immer mehr Menschen unter zu knapper Zeit, auf der anderen unter LANGEWEILE und ÜBERDRUSS. Wie viel Tempo verträgt der Mensch? Was ist erfüllte Lebenszeit?
Von Ines Possemeyer
Niemand hielt den Mann, der an das Rednerpult trat, für einen Träumer. Im Gegenteil. Er hatte einen ausgezeichneten Ruf als Realist, über Europa hinaus. Gespannt erwarteten seine Zuhörer, was einer wie er über die „ökonomischen Aussichten für unsere Enkel“ zu sagen hatte. Man schrieb das Jahr 1930, und die Gedanken des Mannes eilten um 100 Jahre voraus: Erstmals in der Menschheitsgeschichte werde im Jahr 2030 der Kampf um das Überleben beendet sein. In den alten Industrienationen werde ein Zeitalter von „Freizeit und Überfluss“ anbrechen, in dem Habgier und Wucher ausgedient haben würden. Die meisten Menschen strebten nicht länger danach, die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern, sondern jene ihrer Nachbarn. Maschinen hätten ihnen fast alle Arbeiten abgenommen, der Rest werde möglichst breit auf alle verteilt – zur langsamen Entwöhnung: „Drei-Stunden-Schichten oder eine 15-Stunden-Woche müssten genügen.“ Den Menschen stünde nun eine neue Herausforderung bevor: „Die Ausfüllung der freien Zeit, die Wissenschaft und Zinseszins für sie gewonnen hätten, um weise, angenehm und gut zu leben.“
Es war eine Epoche der Muße, die der Redner nach Jahrtausenden der Mühsal nahen sah: ein Zeitparadies.
Seinen ausgezeichneten Ruf hat sich der Mann bis heute bewahrt. Der Engländer John Maynard Keynes gilt als einer der bedeutendsten Nationalökonomen der Geschichte, und sein Einfluss reicht bis in den derzeitigen bundesdeutschen Sachverständigenrat („Die Fünf Weisen“).
Vieles, was der Vordenker Keynes 1930 prophezeit hat, ist hierzulande Realität geworden: die Vervielfachung des Einkommens, die Sicherung der Grundbedürfnisse, der Rückgang der Arbeit durch ihre zunehmende Technologisierung. Und würde man, wie er vorschlug, die bezahlte Arbeit tatsächlich unter allen Erwerbsfähigen aufteilen, käme man auf einen 4,5-Stunden-Tag.
Wir haben also viel freie Zeit gewonnen. In Keynes’ Zeitparadies sind wir dennoch nicht angekommen. Im Gegenteil: In Deutschland häufen sich die Symptome einer Zeit-Krise. Jeder zweite Erwerbstätige klagt über „wachsende Zeitnot“. Die Zahl jener, die mehr als 45 Stunden pro Woche arbeiten, steigt wieder. 40 Prozent der Bundesbürger wünschen sich einen Tag, der 30 Stunden hat.
Zugleich aber beobachten Soziologen, dass andererseits mehr und mehr Menschen unter Langeweile leiden – unter „leerer Zeit“, die es zu vertreiben gilt. Ein Gefühl, das nicht nur viele Arbeitslose und Ruheständler quält, sondern auch jene tempogewohnten Menschen, die einen ruhigen Sonntagmorgen nicht ertragen.
Die einen also wissen nicht, was sie zuerst tun sollen, und finden keine Zeit mehr für sich. Die anderen wissen nichts mit sich anzufangen und „schlagen die Zeit tot“. Das paradoxe Leid an zu wenig oder an zu viel Zeit ist Symptom einer Gesellschaft, die sich immer mehr beschleunigt und dabei in getrennte Zeitkulturen zerfällt: in parallele Lebenswelten, die nach höchst unterschiedlichen Rhythmen „ticken“.
Wer auf der Höhe der Zeit bleiben will, muss mit ihr Schritt halten. Informationen gehen in „Echtzeit“ um die Welt. Nachrichten, Märkte, Angebote – alles gilt es, zugleich im Auge zu behalten, um mitreden, vorausdenken, im richtigen Moment schlagfertig sein zu können. Ob an der Börse oder bei Ebay: Der Zeitspielraum schrumpft auf den Augenblick, es geht um das perfekte „Timing“. Was eben noch up to date war, ist morgen schon veraltet: Die Kollektion der Modekette H & M wird innerhalb weniger Tage neuen Trends angepasst, die Rechenleistung von Mikrochips verdoppelt sich alle 18 Monate, das Weltwissen alle fünf bis zehn Jahre. Und genau wie unsere Technik müssen auch wir uns selbst ständig „updaten“, um kompatibel zu bleiben.