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Joachim Küchenhoff

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Beschreibung

Psychotische Störungen greifen tief in den Lebensalltag der Betroffenen ein und belasten ihre Beziehung zu sich selbst und zu anderen. Für die Diagnostik und Therapie von Psychosen ist die Kenntnis ihrer Psychodynamik unverzichtbar. Der Sinn einer Psychose erschließt sich dem Therapeuten, wenn er ernst nimmt, was der psychotisch kranke Mensch zu sagen hat, und er sich von der Beziehung zu ihm berühren lässt. Dabei verweisen die aktuellen Beziehungsformen des Patienten auf biografisch wichtige Erfahrungen. In der vorliegenden Einführung werden die entscheidenden psychoanalytischen Psychosekonzepte vorgestellt, die psychodynamisch relevanten diagnostischen und therapeutischen Dimensionen in einem Mehrebenenmodell zusammengefasst und Konsequenzen für die therapeutische Haltung herausgearbeitet. Zahlreiche klinische Beispiele veranschaulichen und vertiefen die Konzepte.

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Seitenzahl: 201

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Joachim Küchenhoff

Psychose

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2012

© der Originalausgabe 2012 Psychosozial-Verlag

Walltorstr. 10, D-35390 Gießen

Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19

E-Mail: [email protected]

www.psychosozial-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung & Layout: Hanspeter Ludwig, Wetzlar

www.imaginary-world.de

Satz: Andrea Deines, Berlin

ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2110-6

ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-6514-8

ISBN E-Book-EPUB 978-3-8379-6556-8

Inhalt

Einleitung
Psychiatrie, Psychopathologie und Psychodynamik
Psychiatrische Klassifikationen und ihre Grenzen
Psychotische Störungen in der ICD-10
Verstehende Psychopathologie und die Person des psychotisch Erkrankten
Psychoanalytische Psychosetheorien
Die Psychose als Abwehrleistung und Umbau der Realität (mit Freud)
Pathologischer Narzissmus und Beziehungsgestaltung (nach Freud)
Bedingungen des psychotischen Erlebens: Ein psychodynamisches Faktorenmodell
Voraussetzungen
Bedingungsgefüge psychotischer Störungen
Schlussfolgerungen aus dem Modell
Psychotherapeutische Arbeit mit psychotischen Patienten
Vor dem drohenden Zusammenbruch der Realitätskontrolle
Psychotische Residualzustände als Beziehungsabwehr
Psychotische und nichtpsychotische Anteile der Persönlichkeit
Beziehungsdynamik und Psychopharmakologie
Engagement in der Psychotherapie – Schlussbemerkung
Literatur

Einleitung

Wenn ein 32-jähriger Mann im Jahre 2011, nach jahrelanger Vorarbeit, planvoll einen Massenmord verübt, weil er sich gemäß den eigenen Bekundungen gegen den Sozialismus, gegen den Islam, gegen die moderne Gesellschaft wendet und im vollen Wissen über das Unrecht den Mord dennoch durchführt, so wird rasch die Frage gestellt, ob ein so monströses, furchtbares Denken und Handeln noch mit normalpsychologischen Maßstäben zu messen ist. Wenn sich der Täter auch noch auf die Templerorden und andere längst vergangene Seil- und Bruderschaften abstützt und sich von einer Bewegung getragen fühlt, die es nicht mehr gibt, liegt es nahe zu überprüfen, ob sein Denken wahnhaft geworden ist. Die Suche nach einer psychotischen Motivierung des Grauens dient der Beruhigung. So wie das Rechtssystem vorsieht, dass der psychisch kranke Mensch unter bestimmten Umständen nicht schuldfähig ist, so entschärft für die meisten Menschen eine Diagnose das nicht einzuordnende Entsetzen, das bei den Berichten oder gar beim Erleben des Massenmords alle Denkmöglichkeiten überlagert. Die Diagnose einer psychotischen Störung beruhigt und stellt eine plötzlich vollständig infrage gestellte Ordnung wieder her. Mörderische Impulse sind dann »nur noch« die Angelegenheit eines kranken Gemüts.

Wenn ein Dichter wie Friedrich Hölderlin, der nicht nur konzeptionell revolutionär und radikal denkt, sondern auch im Umgang mit der Sprache an die Grenzen der Ausdrucksmöglichkeiten vorstößt, mit seinem Leben nicht mehr zurechtkommt und in Behandlung gehen oder Fürsorge in Anspruch nehmen muss, weil er psychisch so sehr leidet und dann ein psychotisches Leiden diagnostiziert wird, so stellt die Diagnose schnell den Dichter selbst infrage. Seine Ideen, sein Werk, seine Ausdruckskraft werden nun auf die geheimen Vorboten einer Krankheit untersucht. Für die Verehrer des Dichters stellt die psychiatrische Ebene eine Schande dar, so als würde der große Geist in den Schmutz gezogen; mit allen Mitteln wird versucht, sein Leiden nicht zu sehen, oder seine Eigenarten als einen Trick, als politische Klugheit etc. angesehen. Für die, die dem Dichter nie gewogen waren, die von den Gedichten beunruhigt waren, kann die Person nun endlich entlarvt werden, seine Poetik kann entschärft und als Gefasel eines Kranken abgetan werden (Gonther/Schlimme 2011).

Die beiden Beispiele zeigen, dass mit der Diagnose einer psychotischen Störung nicht nur medizinische, sondern zugleich viele weitere Faktoren in den Fokus rücken. Da ist der zwischenmenschliche Faktor, die Frage der Wertschätzung und Achtung, die so oder auch so durch die Diagnose beeinflusst werden kann: Im Fall des Massenmörders rettet die Diagnose die Wertschätzung, im Fall des Dichters kann sie diese untergraben. Da ist der soziale Faktor, der unter anderem die rechtliche Verantwortungsfähigkeit und damit Schuldfähigkeit betrifft, aber auch die soziale Achtung oder Ächtung einer Person. Psychiatrische Diagnosen können dazu führen, dass Personen ausgegrenzt, nicht mehr ernst genommen werden. Sie üben Macht aus, die auch gesellschaftliche Macht ist.

Der Umgang mit psychotisch kranken Menschen sagt viel aus über die Toleranz oder Intoleranz in einer Gesellschaft gegenüber Abweichungen, Besonderheiten, Exzentrizität und Ungewohntem. Psychiatrische Diagnosen transportieren immer noch ein Stigma, ganz besonders die psychotischen Störungen. Die meisten psychiatrischen Kliniken tragen Namen, die zwar längst nicht mehr die offiziellen Namen sind, die sich aber im Volksmund halten und mit der Geschichte von psychiatrischem Versorgungselend verbunden sind: die Friedmatt in Basel, der Hasenbühl in Liestal, das Wiesloch für die psychiatrische Klinik in Wiesloch, die Schlangengrube in Wien etc. Über psychotische Störungen lässt sich nicht reden, ohne das Verhältnis zwischen Wahnsinn und Gesellschaft (Foucault 1984) zu befragen.

Die beiden Beispiele zeigen ferner, dass die Diagnose einer psychotischen Störung schnell dazu verleitet, sie in Gegensatz zu anderen Fähigkeiten zu stellen, zur Verantwortung gegenüber dem eigenen Tun, aber auch zur dichterischen Befähigung. Offenbar wird die psychotische Störung als Störung der ganzen Person angesehen; der Krankeistpsychotisch, erhatnicht eine Psychose. Das hat auch ein »fundamentum in re«, einen Grund in der Sache selbst. Psychotische Störungen wurden einmal »Geisteskrankheiten« genannt, die Kranken galten umgangssprachlich als »verrückt«. Die – uns heute durchaus noch geläufige – Formulierung dafür war: Die Kranken haben den Verstand verloren. So falsch ist die Wortwahl ja nicht. Es hat sich im Erleben der Kranken etwas verschoben, nämlich der Wirklichkeitssinn, das Realitätsbewusstsein ist ver-rückt. Das alltägliche Verständnis von Selbst und Umwelt geht verloren, die eingespielten Fähigkeiten des Verstandes werden nicht mehr fraglos und ohne Weiteres eingesetzt.

Psychotische Störungen sind tatsächlich Ausdruck einer tief greifenden Veränderung des Denkens, Wahrnehmens, Empfindens und Handelns. Dabei gehen oft die selbstreflexiven Fähigkeiten verloren, die es ermöglichen, selbstkritisch und selbstdistanziert die veränderten Erlebnis- und Denkweisen wahrzunehmen und anzuerkennen – oder zu verwerfen. Die mangelnde Krankheitseinsicht macht jede Form von Therapie unter Umständen schwierig. Sie erschwert den Umweltbezug des Erkrankten und belastet nicht nur das Verhältnis zu den Therapeuten, sondern auch zu den Angehörigen. Sie kann dazu führen, dass in schwierigen Fällen eine Behandlung erzwungen werden muss; und damit wird der Kranke, der sich vielleicht schon längst Verfolgungen und Beeinträchtigungen ausgesetzt fühlt, sich nun vollends einem bösen Intrigennetz und undurchsichtigen Machtspielen ausgeliefert fühlen.

Weil psychotische Symptome aus tief greifenden Veränderungen und Belastungen des Denkens und des Fühlens resultieren, sind sie immer belastend, gleich, welche Ursache sie haben mögen. Und diese sind vielgestaltig. Psychotische Erfahrungen lassen sich nicht leicht »vergessen«, egal, woraus sie sich ableiten; sie sind zu einschneidend. Ein Alkoholentzugsdelir produziert besondere Halluzinationen, der damit verbundene biologische Prozess lässt sich erklären und beschreiben. Weil die Halluzinationen aber einen so unerschütterlichen Wirklichkeitscharakter haben, prägt sich die Erfahrung tief in das Gedächtnis ein. Dass der Alkohol bzw. sein Entzug diese psychotische Krise hervorruft, ist das eine; die Erfahrung der Halluzination ist das andere, und diese Erfahrungsseite lässt sich nicht einfach durch eine Erklärung beseitigen. Jede psychotische Erfahrung ist wie ein Riss im Wirklichkeitssinn und daher eine doch tief gehende Beunruhigung darüber, dass die »natürliche Selbstverständlichkeit« (Blankenburg 1971) verloren gegangen ist, die das Leben sonst ausmacht.

Das vorliegende Buch handelt also von Krankheiten, die subjektiv tief greifend den Lebensalltag infrage stellen, die das Verhältnis des Erkrankten zu sich selbst, aber auch zur Umwelt belasten, die soziale Auswirkungen haben und die schließlich nicht leicht behandelbar sind, gerade wenn die Einsicht in die Krankheit (»Compliance«) und die Behandlungsmotivation fehlen.

Ist damit, dass sich unter Umständen der Wirklichkeitssinn ver-rückt hat, auch das psychotische Erleben sinnlos? Lässt es sich verstehen, und wenn ja, in welcher Weise lässt es sich verstehen? Diese Frage überhaupt zu stellen, setzt mehrere Schritte voraus, die in der Geschichte der Psychiatrie bis heute alles andere als selbstverständlich gewesen sind.

Der erste Schritt führt von der Form psychotischer Produktion zum Inhalt und verbindet beide Aspekte. Nach dem Sinn in der Psychose zu fragen bedeutet, nicht nur eine Diagnose aus der ver-rückten Form des Erlebens zu extrahieren, sondern das, was der psychotisch kranke Mensch zu sagen hat, ernst zu nehmen, es an sich herankommen und sich davon berühren zu lassen.

Damit ist schon der zweite Schritt genannt. Er führt von der medizinisch-diagnostizierenden, objektivierenden Betrachtung zu einer interaktionalen oder intersubjektiven Sicht. Schon die Erhebung des psychopathologischen Befunds entspringt einer sozialen Situation; der Befund wird in einer Interaktion erhoben. Johann Glatzel hat die psychopathologische Diagnostik als Gelingen oder Misslingen einer »konsensuellen Situationsdefinition« (Glatzel 1978) beschrieben. Das interaktionale Moment ist aber nicht auf Einigungsprozesse beschränkt. Befunde werden nicht erhoben, sondern hergestellt, konstruiert. Die Haltung des Diagnostikers bestimmt das, was er sieht oder hört. Schon für die Diagnose, nicht erst für die psychotherapeutische Arbeit ist die interpersonale Begegnung entscheidend.

Der dritte Schritt geht in dieser Richtung noch weiter; er erweitert die intersubjektive Perspektive, indem er sie für ein Verständnis der psychotischen Symptome nutzt. Dann ist entscheidend zu überlegen, was der Kranke dem anderen zu sagen hat, wer dieser andere überhaupt ist: Wer aus der verinnerlichten Beziehungswelt des Kranken ist angesprochen? Welche Beziehungserfahrungen hat der Kranke im Verlaufe seines Lebens gemacht, sodass er sich dem anderen gegenüber in der aktuellen Begegnungssituation so und nicht anders verhält? Aus dem Befund wird eine Antwort: Das Symptom antwortet auf den anderen, der verletzt hat, der gefehlt hat, der intrusiv Grenzen verletzt hat – wie auch immer.

Es verlangt viel, sich auf diese Weise auf den Geisteskranken als Mitmensch (Benedetti 1983) einzulassen. Das vorliegende Buch stellt die Beiträge dar, die die psychoanalytischen Konzepte geleistet haben oder leisten, um dem psychotisch erkrankten Menschen gerecht zu werden und ihn ernst zu nehmen. Es bleibt aber nicht bei einer bloßen historischen Darstellung stehen, sondern fasst sie schließlich in doppelter Weise zusammen, einmal indem die Haltung beschrieben wird, die der Therapeut oder die Therapeutin in der Begegnung mit psychotisch kranken Menschen braucht, zum anderen indem die psychodynamisch relevanten diagnostischen und therapeutischen Dimensionen psychotischer Störungen in einem Faktorenmodell anschaulich zusammengefasst werden.

Dabei werden wahnhafte psychotische Störungen und schizophrene Störungen im Vordergrund stehen. Nicht berücksichtigt werden Psychosen im Rahmen einer schweren Depression; die Dynamik depressiver Störungen verdient wegen ihrer Komplexität eine gesonderte und eigene Analyse.

Mein Dank geht an den Psychosozial-Verlag und seinen Verleger, Professor Hans-Jürgen Wirth, für den vertrauensvollen Auftrag, das Thema »Psychose« zu behandeln, und an Christian Flierl vom Psychosozial-Verlag sowie meine Chefarztsekretärin Elke Anschütz für die umsichtige Arbeit am Manuskript. Besonders dankbar bin ich Cordula Olshausen Küchenhoff, die als kritische Erstleserin und unterstützende Partnerin wesentlich zum Gelingen des Buchs beigetragen hat.

Psychiatrie, Psychopathologie und Psychodynamik

Psychiatrische Klassifikationen und ihre Grenzen

Die »Psychose« als Oberbegriff ist weitgehend aus den psychiatrischen Klassifikationen verschwunden. Die ICD-10 ebenso wie das DSM-IV vermeiden die Kennzeichnung »psychotisch« zwar nicht, aber sie nutzen sie nicht mehr, um damit eine große Kategorie psychischer Leiden zu charakterisieren. Die ICD-11 und das DSM-V werden voraussichtlich die akuten psychotischen Störungen differenzierter ausarbeiten, aber ansonsten denselben Weg einschlagen. Die Verwendung von »Psychose« als Oberbegriff hatte historisch einen Sinn, weil es einen Gegenpart gab, und zwar den ebenfalls weitgehend verschwundenen Neurosebegriff.

Eine Neurose war dadurch definiert, dass sich Symptome charakterisieren lassen, die nicht die ganze Persönlichkeit beeinträchtigen, sondern neben gesunden Anteilen bestehen und zu mehr oder weniger großen Beeinträchtigungen führen. Die psychischen Belastungen, die zur Neurose führten, waren als langfristig wirksame, unter Umständen bis in die Kindheit zurückreichende Belastungen angesehen worden.

Psychosen hingegen betrafen die gesamte Person und das Verhältnis zur Außen- und Mitwelt, weil sie durch den Verlust der Realitätsprüfung gekennzeichnet waren. Zugleich waren mit der Nomenklatur Entstehungstheorien verbunden. Neurosen wurden als – belastendes, schwieriges – Produkt einer ungünstigen Lerngeschichte oder eines psychischen Konfliktes angesehen, eines Konfliktes, der abgewehrt werden musste, sodass er sich vielleicht nicht mehr im Bewusstsein, aber doch im Symptom auf verborgene Weise wieder bemerkbar machte. Neurosen waren also im Prinzip psychogene Leiden. Psychosen wurden demgegenüber entweder als organisch verursacht (»exogene Psychose«) oder als Folge eines unbekannten, letztlich biologischen Prozesses (»endogene Psychosen«) aufgefasst. Dabei war der Übergangsbereich, die sogenannte psychogene Psychose, umstritten. Dass auch psychotisches Leiden aus Konflikten entstanden sein könnte, wurde lange Zeit sehr kontrovers diskutiert; in diesen Übergangsbereich gehörten zum Beispiel die hysterischen Psychosen, die Freud noch »Psychose durch Übersteigerung« genannt hatte. Der hysterische Mechanismus dreht gleichsam so hoch, dass er sich schließlich verselbstständigt; die hysterische Theatralisierung wird zum Spiel, in dem der Kranke gefangen und an das er nun völlig hingegeben ist.

Ohne Frage ist auch in der Rückschau zutreffend, dass sich in dieser dichotomen Begriffswahl beschreibende und ätiologisch relevante Theorien ungut vermischten und in verschiedenen Richtungen Vorurteile produzierten. So verwundert es nicht, dass sich die Diagnostik erneuern musste. Die ICD-10 von 1991 (Dilling et al. 1991) verzichtete auf den Krankheitsbegriff und führte stattdessen den Störungsbegriff folgendermaßen ein: »Der Begriff ›Störung‹ (disorder) wird in der gesamten Klassifikation verwendet, um den problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie ›Krankheit‹ oder ›Erkrankung‹ weitgehend zu vermeiden« (S. 22). Der Grund schien auf der Hand zu liegen: Einer einseitigen Medizinalisierung der Psychiatrie sollte entgegengetreten werden.

Der Begriff »Störung« ist also zunächst »negativ« definiert. Er hat seinen Wert darin, andere Begriffe zu negieren. Durch die Wahl eines letztlich nichts sagenden Begriffs wurde ein Denken abgewiesen, das einseitig und vorschnell in nosologischen Konzepten befangen war, also etwa »Ursachen« im Rahmen von Krankheitslehren gleich mitlieferte. Der Störungsbegriff sollte öffnen und eingespielte Denkmuster hinterfragen. Dass er »kein exakter Begriff« ist, wurde sogleich eingeräumt. Er sollte dennoch dazu dienen, »einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensweisen an[zu]zeigen, die immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung verbunden sind, sich aber nicht auf der sozialen Ebene allein darstellen« (ebd.).

Der Störungsbegriff wollte nosologisch, im Rahmen einer Krankheitslehre also, neutral bleiben. Er ist diesem Ziel freilich nicht gerecht geworden. Oft genug unmerklich oder unreflektiert werden Störungen doch wieder als Krankheiten angesehen. Die Sprache ist, wie immer, verräterisch: Einer Wiederkehr des Verdrängten kommt es gleich, wenn dennoch ständig von »Komorbidität« gesprochen wird dort, wo das gemeinsame Auftreten unterschiedlicher Störungen gekennzeichnet werden soll. »Morbus« ist bekanntlich die Krankheit; im Begriff der Komorbidität widerlegt sich die Krankheitsnegation des Störungsbegriffes selbst.

Der zweite wichtige Anspruch der klassifizierenden Diagnostik ist ihre Theoriefreiheit. Die vorschnellen ätiologischen Konzepte sollen eben gerade vermieden werden. An die Stelle der theoretischen Voreingenommenheit soll die genaue Beschreibung der Phänomene treten. Sie impliziert eine phänomenologische Grundhaltung, die darin besteht, von den theoretischen Zugangsweisen, den konzeptuellen Vorurteilen zu abstrahieren, sie auszuklammern, um so zum Phänomen vorzustoßen, das dann je unterschiedlich interpretiert werden kann (und wahrscheinlich muss). Die Inventare haben sich einer radikalen Deskriptivität verpflichtet; nach den festgelegten Kriterien werden klinische Auffälligkeiten beschrieben. Verhaltensweisen und Erlebnisformen werden so in eine Vielzahl von psychiatrischen Diagnosen zerschnitten. So entsteht ein breiter horizontaler Teppich von Diagnosen, der unübersichtlich zu werden droht und den Kliniker ratlos zurücklassen kann.

Aber ist eine »theoriefreie« Vorgehensweise in einer Wissenschaft überhaupt möglich? Dieses Postulat widerspricht den Grundlagen jeder hermeneutischen Theorie, nämlich dass jede Wirklichkeitserfassung von einem Vor-Urteil (Gadamer 1960) ausgeht; nichts entsteht »ab ovo« ganz neu, sondern alles wird entfaltet aus einer bestimmten, schon vorbestehenden, soziokulturell geprägten Perspektive.

Wie geht die klassifizierende Diagnostik vor? Die Beschreibung des psychischen Befunds zielt darauf ab, ein Denken in Zusammenhängen aufzulösen und Syndrome nebeneinanderzustellen, ohne sie hierarchisch zu ordnen oder sie aufeinander zu beziehen. Die voraussetzungslose, »atheoretische«, nur an Algorithmen ihrer Operationalisierung gebundene Diagnostik verdankt sich – schon das ist eine theoretische Grundposition! – einer Elementenpsychologie. Sie beginnt bei der Befunderhebung. Schon Karl Jaspers hat in seiner Allgemeinen Psychopathologie (1913) das Seelenleben in Grundelemente zergliedert; diese Analyse von seelischen Einzeltatbeständen hat sich auch einhundert Jahre später erhalten.

Im deutschsprachigen Raum hat sich das System der AMDP (= Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie) etabliert. Es hilft vor allem dem jungen Psychiater in der Weiterbildung, darauf zu achten, ob eine Halluzination vorliegt, ob das Denken gestört ist, ob das Ich-Erleben kohärent geblieben ist, ob die Affekte parathym oder synthym erscheinen etc. Aus diesen Einzeltatbeständen als Kriterien können unter Umständen Diagnosen abgeleitet werden. Bleiben wir bei den Denkstörungen: Eine Ideenflüchtigkeit verweist auf eine Manie; schizophrenes Denken erscheint demgegenüber als inkohärent oder zerfahren. Kein Einzelmerkmal reicht aus, um eine Diagnose zu stellen. Aber der Einzeltatbestand ist doch ein wesentlicher Baustein in dem Puzzle, das zu ihr führt (dazu auch Scharfetter 2002). Völlig verloren geht dabei der Blick auf den Zusammenhang, in dem zum Beispiel eine Denkstörung auftritt: beiwelchenThemen etwa oder im Gespräch mitwelchenMenschen.

Aufbauend auf dem elementaristischen Befund werden Störungsbilder nach operationalisierten Kriterien definiert. »Operationalisierung« heißt, beobachtbare Kriterien zu finden, die im Sinne eines bestimmten Algorithmus zu einer Definition zusammentreten. Diese Definitionen sind notwendig reduktiv und konventionell, sie müssen Beobachtungen reduzieren und in eine Form bringen. Der kriteriengeleitete klinische Blick wählt aus der klinischen Vielfalt und blendet andere mögliche Zusammenhänge aus. Diese Auswahl der Kriterien selbst aber kann nicht frei von Interpretation sein.

Die Annahme einer atheoretischen Vorgehensweise ist fatal, weil sie erstens etwas verspricht, was grundsätzlich nicht zu halten ist, und weil sie zweitens Voraussetzungen verdeckt, die gleichwohl die Sicht auf die gesamte Klinik bestimmen. Wissenschaftstheoretisch notwendig ist es deshalb vielmehr, die gewählten Kriterien als Vor-Urteile, als theoretische Voraussetzungen ernst zu nehmen und transparent zu machen. Nur dann lassen sie sich auch auf zugrunde liegende »biases«, Theoriefilter, hin befragen. Dies geschieht leider selten; der Anspruch auf theoriefreie Diagnostik verstellt den Blick auf die – immer kritisch zu hinterfragenden – Theorievoraussetzungen.

Die Klassifikationssysteme schaffen ihrerseits Konventionen, die neue Wirklichkeiten vorgeben. Sie schaffen neue Fachsprachen, die so selbstverständlich werden, dass die Sprache mit der Wirklichkeit verwechselt wird. Sie ermöglichen vieles, aber grenzen auch viele alternative Sichtweisen aus. Deshalb muss die wissenschaftstheoretische Analyse am Anfang stehen. Sie öffnet den Blick wieder für die Möglichkeiten der nicht im Klassifikationssystem von DSM und ICD aufgehenden Perspektiven, und dazu gehört die psychoanalytische Vorgehensweise.

Psychotische Störungen in der ICD-10

Bei aller berechtigten Kritik bleibt es unmöglich, sich den Klassifikationssystemen, die die geltende Fachsprache definieren, zu entziehen. Das vorliegende Buch konzentriert sich auf die Psychodynamik der Psychose, nicht auf die deskriptive Diagnostik. Dennoch ist es wichtig, die Krankheitsbilder, die mit dem Begriff »Psychose« verbunden sind, zu kennen. Deshalb folgt nun eine kurze Übersicht zu den psychotischen Störungen in der ICD-10.

Da sind zunächst die Schizophrenien sowie die schizotypen und wahnhaften Störungen, die unter F 20 bis F 29 erscheinen.

Die paranoide Schizophrenie (F 20.0) ist durch beständige, häufig paranoide Wahnvorstellungen gekennzeichnet, meist begleitet von akustischen Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen.

Die hebephrene Schizophrenie (F 20.1) ist eine Form der Schizophrenie vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, bei der die affektiven Veränderungen im Vordergrund stehen, Wahnvorstellungen und Halluzinationen flüchtig und bruchstückhaft auftreten, das Verhalten verantwortungslos und unvorhersehbar ist und Manierismen häufig sind. Die Stimmung ist flach und unangemessen. Das Denken ist desorganisiert, die Sprache zerfahren. Der Erkrankte neigt dazu, sich sozial zu isolieren.

Die katatone Schizophrenie (F 20.2) ist gekennzeichnet von den im Vordergrund stehenden psychomotorischen Störungen, die zwischen Extremen wie Erregung und Stupor sowie Befehlsautomatismus und Negativismus alternieren können.

Von undifferenzierter Schizophrenie (F 20.3) spricht die ICD-10, wenn die allgemeinen diagnostischen Kriterien der Schizophrenie (F 20) zwar erfüllt sind, ohne aber genau zu einer Unterform zu passen.

Nach der hier nur zu erwähnenden Rubrik der postschizophrenen Depression (F 20.4) folgt das schizophrene Residuum (F 20.5); es ist als chronisches Stadium in der Entwicklung einer schizophrenen Krankheit beschrieben, das durch lang andauernde, jedoch nicht unbedingt irreversible »negative« Symptome charakterisiert ist. Zu ihnen zählen psychomotorische Verlangsamung, verminderte Aktivität, Affektverflachung, Passivität und Initiativemangel, qualitative und quantitative Sprachverarmung, geringe nonverbale Kommunikation durch Gesichtsausdruck, Blickkontakt, Modulation der Stimme und Körperhaltung, Vernachlässigung der Körperpflege und nachlassende soziale Leistungsfähigkeit.

Die Schizophrenia simplex (F 20.6) verläuft schleichend, aber kontinuierlich (»progredient«) und geht einher mit merkwürdigem Verhalten, mit einer Einschränkung, gesellschaftliche und soziale Anforderungen zu erfüllen, und mit Verschlechterung der allgemeinen Leistungsfähigkeit. Die charakteristische Negativsymptomatik des schizophrenen Residuums (Affektverflachung und Antriebsminderung) entwickelt sich ohne vorhergehende sogenannte produktive psychotische Symptome (Angst, Wahn, Halluzinationen etc.).

Unter F 20.8 fallen weitere Formen der Schizophrenie, unter F 20.9 nicht näher bezeichnete Schizophrenien. Schizotype Störungen (F 21) werden diagnostiziert, wenn die Denk- und Verhaltensauffälligkeiten Schizophrenie-ähnlich wirken, aber die Kriterien für die Diagnose einer bestimmten Schizophrenieform nicht erfüllt sind. In der DSM-IV werden sie den Persönlichkeitsstörungen zugeordnet.

Wenn wir von den Psychosen sprechen, müssen wir auch an die rein wahnhaften Erlebnisweisen denken, die andere Merkmale einer schizophrenen Störung vermissen lassen, vielmehr ganz durch den Wahn charakterisiert sind. Ein Wahn ist eine »Beziehungssetzung ohne Anlass« (Gruhle 1953).In der Regel bezieht der wahnhaft Erlebende ein Umweltereignis auf sich, oft in einer bedrohlichen Weise, wenn er zum Beispiel davon überzeugt ist, dass der Nachrichtensprecher im Fernsehen ihm unmittelbar Zeichen gibt und ihn anklagt.

F 22 beschreibt die anhaltende wahnhafte Störung, bei der ein lang andauernder Wahn das einzige oder das am meisten ins Auge fallende klinische Charakteristikum darstellt und die nicht als organisch, schizophren oder affektiv klassifiziert werden kann.

Die wahnhafte Störung (F 22.0) ist demnach charakterisiert durch die Entwicklung eines einzelnen Wahns oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte, die im Allgemeinen lange, manchmal lebenslang, andauern. Der Inhalt des Wahns oder des Wahnsystems ist sehr unterschiedlich. Gelegentliche akustische Halluzinationen schließen besonders bei älteren Patienten die Diagnose jedoch nicht aus.

Unter die sonstigen anhaltenden wahnhaften Störungen (F 22.8) fallen Beeinträchtigungen, die zwar das eine oder andere Merkmal einer schizophrenen Störung aufweisen können, ohne dass aber die Diagnose erfüllt ist.

Nicht jedes wahnhafte Erleben, das akut und heftig auftritt, weist auf eine schizophrene Störung hin. Der Wahn kann eine kurz dauernde Reaktionsform sein, auch ohne dass er toxisch oder durch eine organisch fassbare Krankheit bedingt ist.

Die Kategorie F 23, akute vorübergehende psychotische Störung, ist schon durch die kurze Dauer definiert. Sie zeichnet sich durch den akuten Beginn (innerhalb von zwei Wochen) der psychotischen Symptome – wie Wahnvorstellungen, Halluzinationen und andere Wahrnehmungsstörungen – und durch eine schwere Störung des normalen Verhaltens aus. Eine vollständige Besserung erfolgt in der Regel innerhalb weniger Monate, oft bereits nach wenigen Wochen oder nur Tagen. Die Störung kann im Zusammenhang mit einer akuten Belastung stehen, definiert als belastendes Ereignis ein oder zwei Wochen vor Beginn der Störung.

Zu dieser Gruppe gehört auch die akute polymorphe psychotische Störung ohne Symptome einer Schizophrenie (F 23.0). Damit ist eine akute Störung beschrieben, bei der Halluzinationen, Wahnphänomene und Wahrnehmungsstörungen vorhanden, aber sehr unterschiedlich ausgeprägt sind und von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde wechseln. Häufig findet sich auch emotionales Aufgewühltsein mit intensiven vorübergehenden Glücksgefühlen und Ekstase oder Angst und Reizbarkeit. Die Vielgestaltigkeit und Unbeständigkeit sind für das gesamte klinische Bild charakteristisch; die psychotischen Merkmale erfüllen nicht die Kriterien für Schizophrenie. Die akute polymorphe psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie (F 23.1) ist eine Störung mit vielgestaltigem und unbeständigem klinischem Bild; trotz dieser Unbeständigkeit aber sind in der überwiegenden Zeit auch einige für die Schizophrenie typische Symptome vorhanden.

Die akute schizophreniforme psychotische Störung (F 23.2) ist eine Erkrankung, bei der die psychotischen Symptome vergleichsweise stabil sind und die Kriterien für eine Schizophrenie erfüllen, aber weniger als einen Monat bestanden haben. Die sonstige akute, vorwiegend wahnhafte psychotische Störung (F 23.3) ist eine akute Störung, bei der verhältnismäßig stabile Wahnphänomene oder Halluzinationen die hauptsächlichen klinischen Merkmale darstellen, aber nicht die Kriterien für eine Schizophrenie erfüllen.

Auch depressive Krankheitsbilder können tief greifende Veränderungen des Erlebens mit sich bringen. Die ICD-10 berücksichtigt die psychotischen Erlebnisse in einer besonderen Kategorie. Die schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F 32.3) ist eine Episode, bei der Halluzinationen, Wahnideen, psychomotorische Hemmung oder ein Stupor so schwer ausgeprägt sind, dass alltägliche soziale Aktivitäten unmöglich werden und eine Lebensgefahr durch Suizid und mangelhafte Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme bestehen kann. Halluzinationen und Wahn können, müssen aber nicht synthym sein. Das Gleiche gilt für die Manie, die auch mit wahnhaften oder halluzinatorischen Erlebnissen verbunden sein kann. Die Manie mit psychotischen Symptomen (F 30.2) geht einher mit einem Wahn (zumeist Größenwahn) oder mit Halluzinationen (zumeist Stimmen, die unmittelbar zum Betroffenen sprechen).

Psychotische Erlebnisweisen können durch psychotrope Substanzen induziert sein. Die halluzinogenen Drogen sind die bekanntesten Beispiele dafür. Die ICD-10 subsumiert sie unter F 10 bis F 19, den psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen.