Putins Gift - Gesine Dornblüth - E-Book

Putins Gift E-Book

Gesine Dornblüth

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Beschreibung

Weltweit tobt ein Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie. Moskau führt ihn erbittert. Die Mächtigen im Kreml versuchen immer aggressiver, die Staaten in ihrem ehemaligen Einflussgebiet zu unterwandern und schwache Demokratien zu zerstören. Das russische Gift zersetzt Gesellschaften, indem es vorhandene Schwachstellen nutzt und Gräben vertieft. Auch vor Deutschland und der EU macht die Destabilisierungskampagne Putins nicht halt. Die Bestseller-Autoren und Ortskenner Gesine Dornblüth und Thomas Franke zeigen, wie perfide Russland vorgeht: In Armenien, Georgien, der Ukraine, den baltischen Staaten und Zentralasien, aber auch in den USA und der EU. Sie schreiben über Angst, Unwissenheit, Sprachkurse und Religion, und zeichnen nach, wie sich russisches Gift bereits subtil in die Gesellschaften gefressen hat. Ein unverzichtbares Buch für alle, die die Bedrohung erkennen und bekämpfen möchten.

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Seitenzahl: 302

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Gesine Dornblüth und Thomas Franke

Putins Gift

Russlands Angriff auf Europas Freiheit

Unser Dank gilt Irakli Absandse, Nikolai Klimeniouk, Svetlana Nejelscaia, Mahabat Sadyrbek, Julia Smirnova und Nino von Gleich.

Editorische Anmerkung:

In Deutschland ist es immer noch sehr verbreitet, für einst sowjetisch besetzte Orte russische Namen zu benutzen. Wir halten das für einen Akt kolonialistischer Gewalt und verwenden die russischen Namen deshalb nur in Zitaten. Der besseren Lesbarkeit wegen haben wir Schreibweisen eingedeutscht.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © DIMUSE / GettyImages

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL, Timisoara

ISBN Print: 978-3-451-39918-3

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83388-5

Inhalt

Karte

Vorwort: Es ist Krieg

1. Tawisupleba: Georgiens Kampf für Freiheit

2. Putins Angst: Versuch einer Erklärung

3. Wer Demokratie sät, wird Krieg ernten: Russlands Kampf gegen Demokraten

4. Fürchtet euch! Die Angst vor Russland

5. Schuld und Lüge: Geschichte als Waffe

6. Propaganda mit Puschkin: Das Gift der Klassiker

7. Markt und Machtwechsel

8. Mit Gott gegen die Freiheit: Ultrareligiöse Rechte

9. Nichts gilt mehr: Desinformation

10. Und bist du nicht willig ...: Russen machen

11. Die Beleidigten: Lettland und die Nichtbürger

12. Verbrecher an die Macht: Der Kampf um die Republik Moldau

13. „Der russische Traum“: Georgien kämpft weiter

Gegengift: Das Nachwort

Über die Autoren

Vorwort: Es ist Krieg

Russland greift an. Wenn es nicht gestoppt wird, sieht es für die Zukunft der folgenden Generationen schlecht aus. Es geht um Freiheit. Freiheit ist etwas, das man schnell verliert, und mit ihr Unabhängigkeit, Gerechtigkeit und die Möglichkeit, sich einzumischen. Ist die Freiheit einmal weg, ist es äußerst mühsam, sie wieder zu erkämpfen. Wie mühsam, zeigt unter anderem der Blick nach Belarus, wo die Menschen seit Jahrzehnten erfolglos versuchen, sich von der Diktatur zu befreien, und immer tiefer in die Fänge der Mächtigen in Moskau gelangen. Russland greift uns an. Und es ist höchste Zeit zu verstehen, wie.

Die Nacht vom 22. auf den 23. Mai 2024 ist in Estland kühl. Am Ufer der Narwa singen Nachtigallen. Die klobigen grauen Mauern der Hermannsfeste sind mit sanftem orangefarbenen Licht angestrahlt, spiegeln sich im Wasser des Grenzflusses. Gegenüber unbeleuchtet die ebenso grauen Mauern der Festung Iwangorod, Symbol mittelalterlicher Macht Russlands. Zwischen ihnen markieren Bojen die Staatsgrenze. Im Morgengrauen steuert ein russisches Schiff eine Boje an, stoppt und holt sie aus dem Wasser, fährt ein Stück weiter, stoppt an der nächsten Boje und sammelt auch diese ein. So geht es fort. Als die Sonne aufgeht, ist die Grenze zwischen Russland und Estland in diesem Teil des Flusses nicht mehr sichtbar. Bereits seit Längerem möchte die russische Regierung auch die Grenzen vor der Küste „aktualisieren“. Die estnische Regierung bestellt den russischen Botschafter ein, Estlands Premierministerin Kaja Kallas erklärt, Russland wolle „Angst und Schrecken verbreiten“. Der Außenbeauftragte der Europäischen Union spricht von einer „Provokation“. Auch Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius ist besorgt. Wladimir Putin betreibe „Verunsicherung, Provokation, Rücknahme, Relativierung, den Spalt dazwischentreiben, Drohen – also immer das ganze Repertoire“. Pistorius sieht ein Muster „perfider hybrider Kriegsführung“.

Eine Woche später schreckt eine Nachricht aus Polen die europäische Öffentlichkeit auf: Die Regierung plane, 200 000 Reservisten einzuziehen und sie sofort in die Ukraine an die Front zu schicken. Im Absender steht zwar die seriöse polnische Nachrichtenagentur PAP, doch deren Journalisten wissen von nichts. Ein Regierungssprecher stellt umgehend klar: Polen plant keine Mobilmachung. Die Meldung ist frei erfunden. Die Nachrichtenagentur wurde gehackt, und die Hacker schicken die Meldung demonstrativ ein zweites Mal hinaus. Polen ist einer der wichtigsten Ukraine-Unterstützer und seit Monaten russischen Angriffen ausgesetzt. Solche Cyberangriffe sind nur ein Teil davon.

In Deutschland trifft es unter anderem die SPD-Parteizentrale. Im Dezember 2022 werden ihre E-Mail-Konten gehackt. Außerdem werden Netzwerke deutscher Rüstungs-, IT- und Luftfahrtunternehmen angegriffen. Nach wochenlangen Ermittlungen ist sich die Bundesregierung sicher: Hinter dem Angriff steckt der russische Militärgeheimdienst. Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser warnt: Bereits vor Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sei die Gefährdungslage „hoch“ gewesen, nun habe sie sich „weiter verschärft“. Im Juni 2024, kurz vor der Europawahl, folgt ein Hackerangriff auf die CDU.

Russland führt einen Vernichtungskrieg gegen die Ukrainer, und es führt einen Schattenkrieg gegen gefestigte Demokratien. Die Mächtigen in Moskau wollen Nachbarstaaten unterwerfen, sie wollen verhindern, dass junge Demokratien sich dem Griff Russlands entziehen. Sie wollen Gesellschaften unterwandern, zersetzen, zerstören, kolonialisieren.

Osteuropäer warnen seit Langem vor der russischen Aggression. Lennart Meri, der erste Präsident Estlands, machte bereits 1994 auf die Gefahr eines erneuten russischen Imperialismus aufmerksam. Die Warnungen der Balten, Polen, Ukrainer, Georgier und anderer wurden in Deutschland lange abgetan. Ebenso in Brüssel, bei der EU und der NATO. Nahezu berauscht davon, die Konfrontation im Kalten Krieg überwunden zu haben, wollten und wollen viele die Warnungen nicht hören, verweigern sich auch 2024 noch der Realität.

Die Osteuropäer haben Erfahrung mit der Besatzung durch Russland und die Sowjetunion, und das teils schon seit mehr als 200 Jahren. Sie wissen, wie die Mächtigen in Moskau nahezu immer Bestrebungen nach Unabhängigkeit unterdrückt haben – bereits unter den Zaren, später während der Sowjetzeit, jetzt unter Putin. Die Verbrechen, die Russen heute an Ukrainern begehen, haben sie oft selbst erlebt. Sie kennen die Methoden, mit denen Putins Geheimdienstmafia vorgeht. Sie wissen, wie deren Agenten Menschen kaufen, erpressbar machen, kriminelle Strukturen stärken, Gesellschaften unterwandern und am Ende zerstören. Die Menschen in Osteuropa wissen aus eigener Erfahrung, wie der Kreml wirtschaftlichen Druck ausübt, wie er Sowjetnostalgie schürt, wie er Propaganda verbreitet, wie er Erinnerung auslöscht und Geschichte umschreibt. Sie haben erlebt, wie die Mächtigen in Moskau anderen ihre Lebensweise, ihre Sprache und Kultur, ihre Pässe aufzwingen und dass sie diejenigen, die sich dagegen wehren, foltern, verschleppen oder töten lassen. Die Osteuropäer wissen, wie Russland Angst verbreitet. Sie haben gelernt, mit ihrer Angst umzugehen. In Deutschland erinnern sich immer weniger Menschen daran, wozu Mächtige in Moskau fähig sind.

Mit diesem Buch wollen wir diese Lücke füllen. Wir greifen dabei auf Recherchen aus dreißig Jahren zurück, in denen wir in Russland, im Südkaukasus, in der Ukraine, in der Republik Moldau, in den baltischen Staaten und in Zentralasien unterwegs waren. Wir erzählen von Menschen, die Demokratien aufbauen und ihre Länder von Moskau unabhängig machen wollen. Und wir schildern, wie Russland droht und sich einmischt. Uns geht es nicht darum, einen vollständigen Überblick über die immer neuen Cyberangriffe auf Deutschland oder die vielfältigen Enthüllungen über russische Zahlungen an dem Kreml genehme Politiker und Parteien in der Europäischen Union zu geben. Wir erklären vielmehr, wie Russland in unterschiedlichen Ländern vorgeht und welche Strategien es anwendet, um Zwietracht und Instabilität zu fördern. Eine Quintessenz des Buches lautet: Wer Demokratie sät, wer Korruption bekämpft und sich der EU annähert, den straft Russland mit Krieg. Mal mit einem großen wie in der Ukraine seit 2014, mal mit einem begrenzten wie in Georgien 2008. Den Armeniern musste Russland nur seinen militärischen Beistand gegen Aserbaidschan verweigern, um eine Reformregierung vor nahezu unlösbare Probleme zu stellen.

Das möglicherweise gefährlichste Gift, mit dem Russland auch gefestigte Demokratien zersetzt, ist Desinformation. Hannah Arendt schrieb 1951: „Der ideale Untertan totalitärer Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder engagierte Kommunist, sondern Menschen, für die der Unterschied zwischen Fakten und Fiktion, wahr und falsch, nicht länger existiert.“ Genau darauf setzt die russische Propaganda. Putins Handlanger sagen es ganz offen. Zum Beispiel Olga Skabejewa, Topmoderatorin des russischen Staatsfernsehens: „Es ist nicht wichtig, was geschieht, wichtig ist die Interpretation des Ereignisses.“ Das russische Regime zielt darauf, den Glauben an Fakten und das Vertrauen in Institutionen und Politik zu zerstören. Deutschland steht dabei besonders im Fokus. Wir erklären, wie die Lügen des Kreml ihren Weg in deutsche Talkshows finden. Und wir erläutern, wie die russische Propaganda die Schuldgefühle vieler Deutscher für ihre Zwecke missbraucht.

Uns geht es darum, Methoden und Zusammenhänge zu zeigen und Aufmerksamkeit zu schärfen. Russland nutzt Schwachstellen, verstärkt bestehende Konflikte und vertieft bereits existierende Gräben. Es nutzt sprachliche Ungenauigkeit in Nachrichten und streut Falschinformationen. Wer unsere Demokratie und unseren Wohlstand gegen Russland verteidigen möchte, muss diese Schwachstellen erkennen und die Mechanismen verstehen, deren Russland sich bedient. Viele Desinformationskampagnen, die aus Moskau kommen, ähneln einander. Das ist ein Vorteil. Es ist möglich, sich dagegen zu wappnen.

Wir wissen im Sommer 2024 nicht, ob Russland Georgien endgültig von seinem europäischen Weg abbringen wird. Wir wissen nicht, wie die Wahlen in der Republik Moldau im Herbst ausgehen werden, die Russland zu stören versucht. Auch wissen wir nicht, ob es der Ukraine gelingen wird, Russland aus den besetzten Gebieten zurückzudrängen. Eines aber ist klar: Dass die Ukraine sich gegen Russland behauptet, ist grundlegend für Europas Freiheit. Auch davon erzählen wir.

In Deutschland meinen immer noch viele, sich heraushalten zu können. Das ist gefährlich, und auch darauf setzt Putin. Im Asterix-Band Streit um Asterix von 1970 gibt es die Figur Tullius Destructivus. Destructivus schafft es mit gezielten Falschbehauptungen, Bestechung, Verleumdung und der Verdrehung von Tatsachen, das Vertrauen der Gallier in ihre Kraft und ihre Freunde zu untergraben und schließlich die Einheit im gallischen Dorf zu zerstören. Erst als der Druide mit dem Zaubertrank das Dorf verlässt und die zerstrittenen Gallier den eigentlich unterlegenen Römern schutzlos ausgeliefert scheinen, werden sie wach und verteidigen, durch die Bedrohung geeint, ihre Freiheit.

In der Realität gibt es keinen Zaubertrank, der die Unabhängigkeit sichert. Die Waffen der Demokratien sind Wissen, ein klarer Blick auf den, der die Demokratie zerstören möchte, und das aktive Einstehen für Werte und Wahrheit.

1. Tawisupleba: Georgiens Kampf für Freiheit

Den Tifliser Prachtboulevard Rustawelis Gamsiri zu betreten, ist lebensgefährlich. Der Verkehr auf der sechsspurigen Straße ist mörderisch. Dato Turaschwili ist hier fast gestorben, allerdings nicht bei einem Autounfall. „Für uns ist hier ein heiliger Ort. Hier singen wir, hier tanzen wir, hier sterben wir. Immer für die Freiheit. Und das seit 200 Jahren. Es ist die Hauptstraße in Tiflis und die Hauptstraße des Protests.“ Der Boulevard trägt den Namen des georgischen Nationaldichters Schota Rustaweli. „Hier ereignet sich fast alles, was in Georgien wichtig ist. Besonders, wenn uns etwas nicht gefällt.“ Hellbraun erhebt sich das Säulenportal des Parlamentsgebäudes vor Turaschwili. Ein paar alte Menschen stehen davor, demonstrieren. Einer ist in eine US-Flagge gehüllt. Sie kommen jeden Tag, mahnen das Land zur Freiheit und sich seiner europäischen Wurzeln zu besinnen. „Russland hat unsere Unabhängigkeit nie wirklich anerkannt“, sagt Turaschwili. In den vergangenen 200 Jahren war Georgien meist von Russland beziehungsweise der Sowjetunion besetzt. Selbstständig wurde Georgien zuletzt 1991, als die Sowjetunion auseinanderbrach. „Dieser Kampf, dieser Krieg hört niemals auf. Und wir werden niemals aufgeben!“ Dato Turaschwili spricht schnell, verhaspelt sich, redet weiter. Er sprüht vor Energie. Turaschwili, Jahrgang 1966, ist Schriftsteller und eine der wichtigsten Stimmen seiner Generation in Georgien. Freiheit ist ein zentraler Wert für die Georgier, denn sie wurde in den letzten Jahrhunderten meist von Mächtigen in Moskau unterdrückt. Die Nationalhymne heißt „Tawisupleba“, „Freiheit“. Der Text ist kurz, gerade mal 28 Wörter. Drei davon sind „Freiheit“: „Unsere heutige Freiheit – lobpreist unsere Zukunft“, heißt es da, „gepriesen sei die Freiheit, die Freiheit sei gepriesen.“ 2004 wurde die Hymne vom Parlament beschlossen, kurz nach der sogenannten Rosenrevolution unter der Führung von Micheil Saakaschwili. Der kam 2003 dank friedlicher Massenproteste auf dem Rustaweli-Boulevard an die Macht. Er wollte Georgien von russischem Einfluss befreien und warb aktiv um den Schutz der USA und der NATO vor Russland. Unter Saakaschwili machte Georgien große Schritte, sich vom übermächtigen Nachbarn im Norden zu emanzipieren.

Turaschwili zeigt den Boulevard hinunter zu einem ausladenden Kreisverkehr, dem Freiheitsplatz, Tawisuplebis Moedani. Während der Besetzung Georgiens durch die Sowjetunion war er nach Lenin benannt, kurzzeitig auch nach Lawrenti Beria, einem der grausamsten Massenmörder der Stalinzeit. Beria und Stalin waren Georgier. Selbstverständlich stand damals ein Lenindenkmal in der Mitte des Platzes. Heute erhebt sich dort eine Säule, darauf in Gold der Heilige Georg. Der Sage nach tötete er einen tyrannischen Drachen mit seiner Lanze und befreite das Land von dessen Herrschaft. Im Gegenzug mussten sich die Menschen taufen lassen. Für Turaschwili ist klar: Der Drache sitzt in Moskau. „Georgien war für die Mächtigen in Moskau immer gefährlich“, betont er.

Bereits Turaschwilis erste Erzählung handelte vom Widerstand gegen eine sowjetische Militärbasis in der Nähe des Höhlenklosters Dawit Garedscha. Die Anfänge des Klosters reichen bis ins 6. Jahrhundert zurück. Georgien hat bereits im 4. Jahrhundert das Christentum zur Staatsreligion erklärt. Nun waren religiöse Stätten nichts, was die Sowjetunion besonders achtete. Viel wichtiger war die Armee. Sie nutzte das Höhlenkloster 1987 als Unterkunft und Übungsgelände für den Krieg gegen Afghanistan. Die Existenz des Klosters war in Gefahr. Es ging um nichts Geringeres als die Wurzeln der georgischen Kultur. Heute ist die georgische Kirche eher ein Einfallstor für russische Machthaber. Russland gibt sich als Hüter der Orthodoxie. Damals aber wurde Religion von der Sowjetmacht unterdrückt, und ein Kloster zu schützen, hieß, für Georgiens Freiheit zu kämpfen. 1987 war die Zeit, in der Turaschwili in den Freiheitskampf seiner Vorfahren einstieg. Studenten gingen auf die Straße, und Turaschwili war einer ihrer Anführer. Die Militärführung gab zunächst nach und verlegte den Schießplatz, machte die Entscheidung aber ein Jahr später rückgängig. Etwa 10 000 Georgier nahmen daraufhin ihren Mut zusammen und protestierten erneut. Eine Gruppe Studenten trat in den Hungerstreik. Und tatsächlich, der Protest war erfolgreich, der Militärstützpunkt wurde verlegt.

Der Sowjetunion entglitt zu dem Zeitpunkt langsam die Kontrolle über die von ihr besetzten und kolonialisierten Länder. Georgier mit ihrem kompromisslosen Freiheitswillen spielten neben den Balten eine Schlüsselrolle für das Ende des Riesenreichs. Absetzbewegungen gab es nahezu überall. Die Staatsmacht heizte Konflikte an, um die Unabhängigkeitsbewegungen zu diskreditieren: Wer die Unabhängigkeit forderte, riskierte sein Leben. Doch der Freiheitswille war stärker, die Menschen überwanden ihre Angst.

Vor dem Parlament am Rustaweli-Boulevard unterbrechen rechteckige Markierungen das Pflaster. Turaschwili hält kurz inne. Am 9. April 1989 lagen hier zwanzig Tote, von sowjetischen Spezialkräften mit Giftgas ermordet. Siebzehn von ihnen waren Frauen, die jüngste gerade mal 16 Jahre alt, eine war schwanger. Sie hatten für die Unabhängigkeit Georgiens von der Sowjetunion demonstriert. „Einen weiteren haben sie am nächsten Tag getötet“, sagt er. Das war der Tag, an dem Turaschwili beinahe gestorben wäre.

Begonnen hatte es bereits am 12. November 1988. Tausende forderten damals in Tiflis Demonstrationsrecht. Moskau signalisierte, das sei möglich. Die Proteste lösten sich auf. Aber drei Monate später, am 25. Februar 1989, versammelten sich wieder Tausende. Sie erinnerten in einem Trauermarsch an die Besetzung Georgiens durch die Sowjetunion im Jahr 1921. Georgien hatte sich 1918, nach dem Sturz des Zaren in Russland, für unabhängig erklärt und eine Republik ausgerufen. Das Deutsche Reich war einer der ersten Staaten, die Georgien anerkannten. Unabhängigkeitserklärungen lagen auch damals durchaus im Trend der Zeit. Die Freiheit währte keine drei Jahre. Im Februar 1921 besetzte die Rote Armee die Demokratische Republik Georgien. Russland unterwarf Land und Leute erneut. Daran zu erinnern, war fortan tabu. Im Februar 1989 stoppte die Polizei den Marsch, 200 Menschen wurden festgenommen.

In dieser Zeit wurden in der georgischen Provinz Abchasien Stimmen laut, die eine Loslösung von der Sowjetrepublik Georgien forderten. Abchasien ist ein Küstenstreifen am Schwarzen Meer. Diese Forderung der Abchasen veranlasste die Menschen in Tiflis, Ende März erneut auf die Straße zu gehen. Sie demonstrierten zunächst gegen eine Abspaltung Abchasiens, natürlich vor dem Parlament in Tiflis auf dem Rustaweli-Boulevard. Die Staatsführung sollte die Abchasen in die Schranken weisen. Aber Moskau reagierte nur mit ein paar missbilligenden Worten. Daraufhin wurden es bald an die Hunderttausend auf den Straßen von Tiflis. Sie forderten nicht mehr nur, den abchasischen Separatismus zu unterbinden, sie wollten selbst unabhängig werden, und zwar von der ganzen Sowjetunion. Einige kündigten einen Hungerstreik an. „Als wir anfingen, für die Unabhängigkeit Georgiens zu demonstrieren, warnten mich meine Eltern“, erinnert sich Turaschwili. „Sei vorsichtig, dies ist das Russische Reich. Sie können dich töten.“ Am 7. April wurde es brenzlig. Die Machthaber in Georgien riefen die Zentralmacht zu Hilfe. Die ließ sich nicht lange bitten. Hilferufe waren für Moskau schon immer ein beliebter Vorwand, um in andere Länder einzumarschieren und die eigene Brutalität zu rechtfertigen. Die Sowjetunion praktizierte das unter anderem 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in Prag. Überall gab es Tote. Der Einmarsch der Sowjetunion nach Afghanistan 1979 wurde gleichfalls mit einem Hilferuf begründet. Das Land hat sich bis heute nicht davon erholt.

„Am 8. April so um 14 Uhr herum sahen wir plötzlich Panzer, die sehr schnell in unsere Richtung fuhren“, erinnert sich Turaschwili. „Doch das war nur Show: ‚Schaut her, wir sind sehr stark, wir sind grausam, und wir sind sehr aggressiv.‘ Es ging darum, uns Angst zu machen.“ Die Georgier stellten sich den Panzern entgegen, stoppten sie scheinbar mit bloßen Händen. „Als es dunkel wurde, begannen wir, zu singen und zu tanzen, weil wir uns nicht vorstellen konnten, dass sie friedliche Menschen töten. Wir schwärmten von Freiheit und Unabhängigkeit.“ In der Nacht trat Ilia II., das Oberhaupt der georgisch-orthodoxen Kirche, vor die Menge. Die Menschen knieten auf dem Boulevard nieder und beteten. „Ich lade euch ein, in die Kirche zum Beten zu kommen“, rief der Patriarch. Bis heute halten sich Gerüchte, dass Ilia etwas wusste. Die Kirchen in der Sowjetunion waren komplett vom Geheimdienst durchseucht. Dem Patriarchen in Moskau ist seine KGB-Vergangenheit nachgewiesen, Ilia II., der bis heute der Kirche in Georgien vorsteht, nicht.

Gegen vier Uhr morgens kamen die Panzer erneut. Die Menge wich zurück. Sondereinsatzkräfte marschierten auf, schlugen rhythmisch auf die Schutzschilde. Sie eskalierten die Lage, prügelten mit Klappspaten auf die Leute ein. Schüsse fielen. „Ich erinnere mich, dass ein Typ neben mir ein Geschoss aufhob. Das war seltsam, etwas, was wir noch nie gesehen hatten. Eine Kugel.“ Dann verlor Turaschwili das Bewusstsein. „Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich ein Stück die Straße hinunter neben der Oper. Meine Freunde erklärten mir, dass es gefährlich ist und wir wegmüssen.“ Turaschwili kann sich an den Geruch des Giftgases erinnern. „Ansonsten habe ich Gedächtnislücken, ich denke, das kommt auch vom Gas.“ Zu den Toten auf den Stufen des Parlaments kamen viele hundert Verletzte. Einige Quellen sprechen von mehr als zweitausend.

Ärzte und Wissenschaftler, die die Verletzten behandelten, wollten wissen, welches Gift die Spezialkräfte in die Menge geschossen hatten. Sie bekamen keine Antwort. Auch am Tag nach dem Massaker zeigte die Sowjetmacht kein Mitleid. Das Leben des Einzelnen zählte im Zweifelsfall nichts, und die Menschen wussten das. In Russland ist das bis heute so: Als Sondereinheiten 2002 das von Terroristen besetzte Musicaltheater Nord-Ost in Moskau stürmten und auch dabei Giftgas einsetzten, nahmen sie den Tod von höchstwahrscheinlich mehr als 125 Geiseln und viele Verletzte in Kauf. Sie verrieten den Ärzten gleichfalls nicht, was sie verwendet hatten. Georgien hat sich auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Massaker von 1989 für unabhängig erklärt.

„Es geht immer darum, den Leuten Angst zu machen“, sagt Turaschwili. Angst ist das effektivste Werkzeug von Kriminellen. Es beginnt bei Kleinkriminellen, die die Nachbarschaft erpressen, geht über die Mafia und ihre Killerkommandos und endet bei Diktatoren, Autokraten und ihren Geheimdiensten. Die DDR brach zusammen, als Zigtausende trotz ihrer Angst auf die Straßen gingen, sich ihnen immer mehr anschlossen und schließlich die Angst verloren.

Turaschwili blickt von den rechteckigen Markierungen zu seinen Füßen hinauf auf die georgische Fahne, die auf dem Dach des Parlaments weht. In dem Giebel darunter befand sich früher das Wappen der Sowjetunion: Hammer und Sichel im Ährenkranz. Das Gebäude wurde in der Stalinzeit als Sitz des Obersten Sowjets der Georgischen Sowjetrepublik errichtet. „An der Stelle stand mal ein Kloster“, erzählt Turaschwili, „und es gab einen Friedhof. Dort wurden die Menschen begraben, die 1921 gegen die Besetzung durch die Sowjetunion kämpften.“ Schon damals verhinderten die Mächtigen in Moskau bewusst die Erinnerung an von ihnen begangene Verbrechen. Sie löschten Orte, die für die Unabhängigkeit der von ihnen unterdrückten Völker stehen, gezielt aus. Das war in Georgien so, es war in der Ukraine so. Dort beging die Sowjetmacht eines ihrer größten Verbrechen, den Holodomor. In der Sowjetunion mussten Bauern beziehungsweise die landwirtschaftlichen Kollektive einen bestimmten Teil ihrer Ernte abgeben. In den Jahren 1932/33 erhöhte die Zentralmacht die Abgaben derart, dass den Bauern nichts zu essen und nicht einmal mehr Saatgut blieb. Wer noch Getreide hatte, machte sich verdächtig und wurde deportiert oder gleich umgebracht. Stalin wollte damit unter anderem die ukrainische Nationalbewegung brechen. Millionen Menschen starben. In der Sowjetunion durfte nicht daran erinnert werden. Der Holodomor war ein Genozid, ein organisierter Massenmord an den Menschen in der Ukraine. Er prägt die Identität der Ukrainer bis heute. Russland leugnet das Verbrechen. Im ukrainischen Mariupol ließ es, kaum hatte es 2022 die Hafenstadt besetzt, umgehend die Holodomor-Gedenkstätten abreißen. Ähnlich wie die Sowjetunion hat die russische Regierung Angst vor Wallfahrtsorten, sie hat Angst vor der Wahrheit und der Erinnerung. Sie sorgt bis heute dafür, dass Menschen zweifeln, ob es diese Verbrechen überhaupt gab.

Turaschwili nimmt eine Unterführung. An Kiosken gibt es Blätterteigteilchen, Ladegeräte für Smartphones, Schuhe, Schmuck. Auf einer abschüssigen Straße geht es an der Nationalgalerie entlang zu einem Park. Er ist nach dem 9. April 1989 benannt. Die Wege schlängeln sich hinunter in Richtung des Flusses Mtkwari, an dem Tiflis gebaut wurde. Bäume und Büsche, auf einer Bank knutscht ein Pärchen leidenschaftlich. Früher war der Park nach dem russischen Zaren Alexander III. benannt. Er herrschte von 1881 bis 1894 über das Russische Reich und damit auch über Georgien. Alexander III. war ein harter Knochen. Er hatte sich so etwas wie die nationale Wiedergeburt Russlands auf die Fahnen geschrieben. In den Provinzen trieb er deshalb die Russifizierung voran. Liberale Reformen seines Vaters hob er wieder auf. Er gründete eine brutale Geheimpolizei, die Opritschnina. Russische Nationalisten verehren Alexander III., Wladimir Putin nennt ihn einen „Fels“ und hat höchstpersönlich mehrere Denkmäler für ihn enthüllt.

Turaschwili zeigt hinunter zur Straße. Dort stand bis 1956 ein großes Stalindenkmal.

Stalin starb im März 1953. Drei Jahre später hielt sein Nachfolger Nikita Chruschtschow eine Rede, in der er mit den Verbrechen Stalins abrechnete. Der Text blieb allerdings vorerst geheim. Über Jahrzehnte hatte die Propaganda den Menschen eingebläut, dass Stalin genial sei. Er hatte die Sowjetunion gegen die Deutschen verteidigt, wurde als großartiger Stratege gepriesen. Stalin war gottgleich: grausam und allmächtig. Ihn zu kritisieren, war lebensgefährlich. Der Personenkult hatte mehreren Generationen das Hirn komplett vernebelt. „Nun hieß es plötzlich, Stalin sei eine gefährliche Type gewesen, ein Verbrecher“, erläutert Turaschwili. Nach Chruschtschows Rede begann die Sowjetführung, Stalin und die Denkmäler zu demontieren, ohne zu erklären, warum. Auch in Tiflis. „Die Menschen hier protestierten dagegen, weil sie vermuteten, Stalin werde nicht wegen seiner Verbrechen demontiert, sondern weil er Georgier war.“ Sie fühlten sich gedemütigt. Der Diktatur fiel der eigene Personenkult auf die Füße. Es kam zu massiven Ausschreitungen zwischen Georgiern und der Staatsmacht. „Für die sowjetische Regierung war es eigentlich nicht gefährlich, dass die Leute für Stalin demonstrierten. Aber am vierten oder fünften Protesttag sagte plötzlich jemand: Die Regierungschefs haben unterschiedliche Namen. Am Ende ist es immer die gleiche Regierung. Und sie unterdrückt uns. Lasst uns über Unabhängigkeit reden.“ Der Ruf nach Unabhängigkeit war ein Tabu. „Deshalb beschlossen sie, den Protest zu stoppen“, erzählt Turaschwili. „Es gab zwei Orte, an denen demonstriert wurde: oben vor dem Parlament und dort unten am Stalindenkmal.“ Wie später 1989 schickte die Sowjetregierung Soldaten, und diese eröffneten das Feuer. „Der Rustaweli-Boulevard war voller Menschen. Sie haben mit Maschinengewehren direkt auf sie geschossen. Könnt ihr euch das vorstellen? Absolut friedliche Menschen sind gestorben.“

Turaschwilis Vater war mit seinem Schwager da. „Natürlich hatten sie Angst.“ Die beiden sprangen in den Fluss. Der Mtkwari ist ein reißender graubrauner Strom. Aber auch auf der Brücke waren Soldaten. „Sie schossen ins Wasser, trafen aber nicht. Mein Onkel war ein guter Schwimmer, deshalb haben sie überlebt.“ Wieder versuchte die Zentralmacht anschließend, die Erinnerung an das Massaker auszulöschen. „Wir wissen nicht, wie viele ermordet wurden. Die Leichen verschwanden. Wir wissen auch nicht, wohin sie gebracht wurden. Es war von etwa hundert Toten die Rede, aber wir können es nicht überprüfen, weil es damals verboten war, so etwas überhaupt zu wissen. Es war verboten, Informationen zu haben.“

Das Auslöschen von Erinnerung ist ein erprobtes Machtmittel in totalitären Staaten, das noch nachfolgende Generationen traumatisieren und das Zusammenleben auf lange Zeit vergiften kann. Die Mächtigen in der Sowjetunion beherrschten solche Methoden aus dem Effeff. Das Regime von Putin setzt sie fort. Jede Art von Aufarbeitung der sowjetischen Verbrechen, ob in den baltischen Staaten oder auch in Georgien, wird als feindlicher Akt betrachtet und dient als Vorwand, sich einzumischen. Es geht dabei nicht allein darum, die Spuren der Verbrechen zu beseitigen. Es geht um die Manipulation des Gedächtnisses. Es ist eine Eigenheit des Menschen, dass er sich vor allem an das Positive erinnert. Viele alte Menschen denken gern an ihre Jugend, in der ihnen nichts wehtat, sie verliebt waren, sie keine Verantwortung hatten. In Russland und seinen Nachbarstaaten hat das zur Folge, dass sie die Sowjetunion dreißig Jahre nach ihrem Ende verklären – und mit ihr die Bindung an Moskau. Vor dieser Nostalgie sind auch die Georgier nicht gefeit.

Turaschwili stoppt vor einer Reihe junger Bäume. Vor jedem eine kleine Tafel mit einem Namen und einem Geburtsdatum. Auf allen steht dasselbe Sterbedatum: der 9. April 1989. „Das mit den Bäumen war eine gute Idee. Diese Menschen sind gestorben, weil wir wieder ein Teil Europas sein wollten. Es gibt so viele, die bereit sind, dafür zu sterben. Der Grund dafür ist unsere Geschichte.“ Der Satz, den 1956 ein Demonstrant der Menge zurief – dass die Regierungschefs nur unterschiedliche Namen hätten, am Ende aber immer die gleiche Regierung die Georgier bedrohe –, stimme immer noch, erklärt Turaschwili. Der Verantwortliche für das grausame Massaker im April 1989, am Ende der Sowjetunion, heißt Michail Gorbatschow. Auch er hat mit Gewalt versucht, das sowjetische Kolonialreich zu retten, obwohl nichts mehr zu retten war. „Für den Westen ist er ein guter Kerl, weil er anfing, über Demokratie zu sprechen. Aber für uns ist er einer der Sowjetführer. Er hat gemacht, was schon seine Vorgänger gemacht haben. Für uns ist egal, ob sie Breschnew, Gorbatschow oder Putin heißen. Es ist immer das Gleiche.“

Die Menschen, die Jahrhunderte von Moskau unterdrückt wurden, haben oft einen klaren Blick auf die Bedrohung, die von Russland ausgeht. Das liegt an ihren Erfahrungen und denen ihrer Vorfahren, und genau deshalb ist es für Moskau so wichtig, Erinnerung auszulöschen oder sie umzuschreiben. Besonders Putin ist das ein Anliegen, denn vor nichts hat er mehr Angst als vor freien Menschen. Und kein Jahr hat ihn so geprägt wie das Jahr 1989 und das, was dann folgte.

2. Putins Angst: Versuch einer Erklärung

Wladimir Putin hat Angst. Er ist durch und durch Tschekist, ein Geheimdienstler. Nicht Mitarbeiter eines Geheimdienstes, der demokratischer Kontrolle unterliegt, wie das in vielen anderen Ländern der Fall ist, sondern Mitarbeiter des Geheimdienstes, der streng in der Tradition seiner sowjetischen Vorgängerorganisationen steht, bis zurück zur 1917 gegründeten Geheimpolizei Tscheka. Wie alle Tschekisten hat Putin große Angst vor freien Menschen. Bereits als Jugendlicher wünschte er sich sehnlich, beim KGB zu arbeiten, wie der sowjetische Geheimdienst damals hieß. Das war Mitte der 60er Jahre, lange nach Stalins Tod. Er muss gewusst haben, dass es sich um eine Organisation von Räubern und Mördern handelte, muss von den Säuberungsmaßnahmen und dem großen Terror der Jahre 1936 bis 1938 gehört haben, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Sie wurden gleich liquidiert oder erst deportiert und verreckten später in Lagern. Menschen mit Gewissen können bei so einer Organisation nicht arbeiten.

Seit 1985 war Putin in der DDR stationiert, arbeitete in der KGB-Filiale in Dresden. Über seine Zeit dort ist nicht viel bekannt, und vieles lässt sich nicht überprüfen, denn es gibt keine zugänglichen sowjetischen Quellen. Anders als die Stasi in der DDR hat es der KGB erfolgreich vermocht, die meisten seiner Verbrechen geheim zu halten. Es gab in Russland nie ein Gesetz, das den Dienst verpflichtet hätte, seine Archive zu öffnen. Der heutige FSB konnte deshalb nahtlos an die mafiösen Praktiken des KGB anknüpfen. Und so kam nie raus, wer in der Sowjetzeit für den Geheimdienst gearbeitet und was er dort getan hatte.

Konzentrieren wir uns also auf das, was Putin selbst über seine Zeit in Dresden gesagt und wie er die Wende 1989 erlebt hat. Man muss dabei immer berücksichtigen, dass Tschekisten darauf getrimmt sind zu lügen. Es kann also alles immer auch anders gewesen sein. Ehemalige Nachbarn aus der Zeit haben bestätigt, dass Putin mit seiner Frau und den zwei kleinen Töchtern in einem Neubau wohnte, in dem auch Stasimitarbeiter lebten. Das Haus stand nicht weit entfernt von der KGB-Villa in der Angelikastraße 4. Putin hat seine Aufgaben rückblickend als „Routine“ bezeichnet. Er habe sich mit dem Anwerben von Informanten und dem Verarbeiten und Weiterleiten von Informationen beschäftigt, zum Beispiel von Informationen über westdeutsche Parteien und über die Pläne potenzieller Gegner, vor allem der NATO. Neuerdings verbreitet die Kremlpropaganda andere Versionen der Geschichte. Mal ist von Putin als Superagent die Rede, der die Terroristen der Rote Armee Fraktion in der DDR betreut habe. Mal wird seine Rolle komplett heruntergespielt. In dieser Variante scheint er ein durchschnittlicher Mitarbeiter gewesen zu sein, der unspektakuläre Dinge tat.

Im Frühling 1989 schauten alle Demokraten und Diktatoren gebannt nach China, wo Studenten begannen, friedlich für Reformen zu demonstrieren. Die einen voller Angst um die jungen Leute, die anderen voller Angst, dass so etwas auch in ihrem Machtbereich passieren könnte. Am Ende waren in China mehrere Zehntausend Studenten auf der Straße. Das Regime zog die Notbremse. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni ging es mit Panzern und Soldaten gegen die Demokraten vor. Wie viele Zivilisten am Ende tot waren, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Klar ist nur, dass die offizielle Zahl von 200 Toten um ein Vielfaches zu niedrig ist. Jede Art von Gedenken und Erinnerung an das Massaker wird auch 35 Jahre danach von Chinas Regierung mit Gewalt unterdrückt. Darin ähneln sich die Regime in Peking und in Moskau. Der damalige Machthaber, Deng Xiaoping, wird mit dem Satz zitiert: „Zweihundert Tote können China zwanzig Jahre Frieden bringen.“

Als im Spätsommer und Herbst desselben Jahres die Bevölkerung in der DDR auf die Straßen ging, machten sich Demokraten erneut Sorgen um die mutigen Menschen und befürchteten, dass die DDR-Führung eine „chinesische Lösung“ wählen würde. Anfänglich prügelten Stasi und Volkspolizei noch auf die Demonstranten ein, verhafteten, folterten, piesackten, wie sie es gelernt hatten. Ronald Jahn, von 2011 bis 2021 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und selbst ein Gegner des DDR-Regimes, hielt 2014 in seinen Aufzeichnungen fest: „Angst ist der Kitt der Diktatur.“

Doch bald entwickelte sich eine Dynamik, in der es kaum möglich war, alles zu kontrollieren oder gar zu stoppen, ohne zu schießen. Davor aber schreckte die DDR-Führung zurück. Auch weil die Sowjetunion klargemacht hatte, diesmal nicht mit Soldaten einzugreifen wie noch am 17. Juni 1953 in der DDR und später in Ungarn und in der Tschechoslowakei. Sehr zum Missfallen von eingefleischten Tschekisten hatten die Menschen in der DDR die Möglichkeit, ihre Angst zu überwinden. Und so brach das kriminelle Gefüge der DDR halbwegs friedlich in sich zusammen. Die Führung öffnete die Mauer, die DDR steuerte ihrem baldigen Ende entgegen. Und Putin in Dresden sah mit Sorge, auf welch dünnem Eis die Macht seiner Genossen stand. Dann geschah der Albtraum eines jeden Tschekisten: Die Menschen stürmten die Geheimdienstzentralen, sicherten Akten als Beweismittel. Sie wollten, dass die Methoden der Unterdrückung und Angstmache aufgedeckt und Spitzel und Peiniger zur Verantwortung gezogen würden. Der Geheimdienst war nicht mehr geheim.

Als Bürgerrechtler im Dezember 1989 die Stasi-Zentrale in Dresden besetzten, zogen einige von ihnen auch vor die KGB-Filiale in der Angelikastraße. Was dort passierte, schilderte Putin russischen Journalisten in einem langen Interview im Jahr 2000 so: „Die Leute versammelten sich auch um unser Gebäude. Die Bedrohung war ernst. Wir hatten dort Dokumente. Niemand rührte sich, um uns zu schützen. Die Leute waren aggressiv. Ich rief unsere Militäreinheit an und erklärte die Lage. Aber man sagte mir: ‚Ohne Anordnung aus Moskau können wir nichts machen. Und Moskau schweigt.‘ Dieses ‚Moskau schweigt‘ … Bei mir entstand damals das Empfinden, das Land existiere nicht mehr. Es wurde klar, dass die Sowjetunion krank ist. Es war die tödliche, unheilbare Krankheit namens Lähmung. Lähmung der Macht.“ Die Angst vor den Machthabern war weg und der Unterdrückungsapparat der DDR machtlos. Ganz normale Menschen standen vor der Tür des KGB und wollten hinein. Putin trat ihnen entgegen. Er habe gedroht, es werde geschossen, sollte jemand das Grundstück betreten, erinnern sich einige, die dabei waren. Daran, dass geschossen werden würde, zweifelte offensichtlich keiner von ihnen. Die Demonstranten zogen ab. Wenige Wochen später kehrte Putin nach Leningrad, das heute wieder Sankt Petersburg heißt, zurück.

Die Geschehnisse von 1989/90 müssen Putin zutiefst besorgt haben. Sein Weltbild beruht auf der Macht des Stärkeren. Ausgerechnet der Dienst, dem er sich angeschlossen hatte, scheinbar stark, mächtig, kriminell und skrupellos, fiel aus, verlor seine Macht, weil er den Menschen nicht genug Angst machte. Und es blieb nicht bei der DDR. Im Ostblock brach ein Regime nach dem anderen zusammen. Dann zerfiel die Sowjetunion, und auch dort feierten einige der Völker ihre wiedergewonnene Freiheit. Auch Russland. Jedoch nicht wirklich enthusiastisch und nur ganz kurz.

Der Zusammenbruch des sowjetischen Unterdrückungsapparats war ein epochaler Einschnitt. Er hat gewaltfreie Bewegungen in vielen Ländern inspiriert. „Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird ein Schrei nach dem Sturz der Regierung!“, schrieb Heiner Müller in Die Hamletmaschine. Der Abschnitt heißt „Pest in Buda“. Es ist dieser Ruf, der Wladimir Putin bis heute offensichtlich umtreibt. Er musste mit ansehen, wie sich Bevölkerungen gegen Regime auflehnten, die eher mit der Mafia als mit Regierungen vergleichbar waren, wie Menschen ihre Angst verloren, zu Hunderttausenden demonstrierten und diese Regime aus dem Amt fegten: 2000 in Serbien, 2003 in Georgien, 2004 und 2014 in der Ukraine. Nur dass Putin da nicht mehr irgendein KGB-Offizier in der Angelikastraße in Dresden war, er war nun der Präsident der Russischen Föderation. Und er tat alles, um das zu bleiben.

Putin begann, seine Macht und die des Geheimdienstes vor freiheitsliebenden Menschen zu schützen. Unter Putin haben die mafiösen Geheimdienstkreise der Sowjetunion den Schock des Zusammenbruchs ihrer Macht überwunden. Sie haben es geschafft, an alte Netzwerke anzuknüpfen und neue aufzubauen. Sie treten erneut an, Menschen so viel Angst zu machen, dass sie ihre Macht nicht infrage stellen. Dafür schüren sie Chaos, fördern Korruption, unterstützen Autokraten und Diktatoren. Sie machen Menschen abhängig von ihrer Gunst und Gesellschaften von ihrem Gas. Der Bevölkerung haben sie nichts anzubieten, weder Wohlstand noch Sicherheit. Ihre Macht währt, solange andere Angst haben.

3. Wer Demokratie sät, wird Krieg ernten: Russlands Kampf gegen Demokraten

Mit den Jahreszeiten ist es so eine Sache. In einem Teil der Welt ist Frühling, die Natur bricht auf, es wird warm, und ein Hauch von Leichtigkeit liegt in der Luft. Alles erwacht zu neuer Blüte. Gleichzeitig ziehen dunkle Wolken über andere Teile der Welt. So ist es auch mit den Menschen. Wenn sie sich vom Joch der Unterdrückung befreien, nennen sie es gern Frühling. Und das verfinstert die Mienen und Gemüter derer, die von der Unterdrückung von Menschen profitieren. Ein jüngeres Beispiel ist der „Arabische Frühling“ mit einer Serie von Protesten in mehreren Ländern. Prominent ist auch der „Prager Frühling“, der 1968 in der damaligen ČSSR für Hochgefühle sorgte und in der Kolonialmacht Sowjetunion für Angst. Sie schickte Panzer, es gab Tote und Verletzte, Festnahmen und Säuberungen. Erst zum Schluss konnte die Sowjetunion nicht mehr verhindern, dass sich Satellitenstaaten emanzipierten.

Damit so etwas nicht wieder passiert, sabotiert Russland unter Putin demokratische Aufbrüche weltweit, aber besonders in nächster Nähe. Als in Belarus die Menschen zum vorerst letzten Mal versuchten, sich von Diktator Lukaschenka zu befreien, stärkte Putin ihm den Rücken, unter anderem mit einem Milliardenkredit und mit Sicherheitskräften. Das war maßgeblich für das Scheitern der Proteste.

Es ist Putins Ziel, dass jede Demokratiebewegung in Russlands Umfeld, die halbwegs relevant wird, früher oder später misslingt. Der Sturz von Autokraten darf keinen Erfolg haben; nicht, dass am Ende junge Leute in Russland noch auf die Idee kommen, das Gleiche zu versuchen. Besonders aggressiv reagiert die Macht in Moskau, wenn sich Menschen in Ländern, die einst von der Sowjetunion besetzt waren, von mit den Eliten in Moskau vernetzten korrupten Herrschern befreien wollen. Sie ernten Krieg. Demokratie darf in diesen Ländern nicht funktionieren.

Der Rosenkrieg – Georgien

Die Hauptstadt Tiflis am Abend des 22. November 2003. Seit Tagen ist der Rustaweli-Boulevard voller Menschen aus allen Teilen des Landes. Sie schwenken Fahnen, skandieren „Sakartwelo“, was Georgien heißt, und fordern den Rücktritt von Präsident Eduard Schewardnadse. Schewardnadse war zuvor der letzte Außenminister der Sowjetunion, Mitglied des Obersten Sowjets der Kommunistischen Partei und deren Vorsitzender in Georgien. Ein Parteifunktionär mit besten Beziehungen nach Moskau.