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Das unbestrittene Hauptwerk Pasolinis, mit dem Italiens großer Schriftsteller und Ketzer den Verlorenen und Geächteten aus den Elendsquartieren der römischen Vorstädte ein unvergängliches Denkmal setzt – zur anhaltenden Wut bigotter Reaktionäre von rechts und links. Dies ist der Roman von Ricetto und seinen Freunden, die, von Eltern, Gott und der Welt verlassen, durch die Eingeweide des römischen Großstadtuniversums streunen.
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Seitenzahl: 425
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Aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Moshe Kahn
Die Originalausgabe erschien 1955 bei Garzanti Editore in Mailand, die deutsche Erstausgabe 1990 im Verlag Klaus Wagenbach.
E-Book-Ausgabe 2022
© 1955, 1988, 1996 Garzanti Editore s.p.a.
© 1999, 2000, 2005, 2009, Garzanti Libri S.r.l., Milano
Gruppo editoriale Mauri Spagnol
© 1990, 2000, 2009, 2022 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung nach einem Konzept von Julie August. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 978-3-8031-4332-7
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2614 6
www.wagenbach.de
Und unterm Denkmal von Mazzini
Volkstümliches Lied
Es war ein sehr heißer Tag im Juli. Riccetto der Lockenkopf sollte mit zur Ersten Heiligen Kommunion und zur Firmung gehen und war schon um fünf aufgestanden, doch als er in seiner langen grauen Hose und dem weißen Hemd die Via Donna Olimpia runterging, sah er nicht gerade wie ein Erstkommunikant oder ein Soldat Jesu aus, sondern eher wie eins von den Jüngelchen, die aufgedonnert am Lungotevere rumschlendern und aufs Abschleppen aus sind. Mit anderen gleichaltrigen Jungs, alle in Weiß, ging er runter zur Kirche der Divina Provvidenza, wo Don Pizzuto ihm um neun die Kommunion verabreichte und der Bischof ihn um elf firmte. Riccetto aber hatte es eilig und wollte abhauen: von Monteverde bis runter zum Bahnhof von Trastevere war nichts anderes zu hören als ständiger, monotoner Autolärm. An den Steigungen und in den Kurven hörte man Hupen und das Aufheulen von Motoren, was den schon am frühen Morgen von der Sonne ausgebrannten Vorort mit ohrenbetäubendem Dröhnen erfüllte. Kaum hatte der Bischof seine kurze Predigt beendet, führten Don Pizzuto und zwei, drei junge Diakone die Knaben für die Erinnerungsfotos in den Innenhof des Jugendheims: der Bischof schritt zwischen ihnen her und segnete ihre Angehörigen, die niederknieten, als er vorbeiging. Riccetto spürte, wie er, mitten unter all den anderen, auf heißen Kohlen saß, und beschloß, sie einfach im Stich zu lassen. Er ging durch die leere Kirche, stieß aber an der Türe auf seinen Firmpaten, der ihn anredete: »He du, wo gehst’n hin?« – »Nach Haus«, sagte Riccetto, »hab Hunger.« – »Dann komm doch mit zu mir, oder? Alter Hurenbolzen«, rief der Firmpate ihm nach, »das Mittagessen is fertig.« Doch Riccetto scherte sich nicht um ihn und rannte über den Asphalt davon, der unter der Sonne brodelte. Ganz Rom war ein einziges Gedröhne, nur oberhalb, da herrschte Stille, aber die war geladen wie eine Mine. Riccetto ging sich umziehen.
Der Weg von Monteverde Vecchio bis zur Kaserne der Grenadiere war kurz, man mußte nur über die Wiese gehen und dann die Abkürzung zwischen den Häusern nehmen, an denen in der Umgebung vom Viale dei Quattro Venti gebaut wurde: Lawinen von Unrat und Abfällen, Häuser, die, noch nicht einmal fertig, schon wie Ruinen aussahen, riesige Schlammlöcher, Müllhalden. Die Via Abate Ugone war zwei Schritt weit entfernt. Die aus den ruhigen, kleinen, asphaltierten Straßen von Monteverde Vecchio kommende Menschenmenge strömte auf die Hochhäuser zu: schon konnte man die Lastwagen sehen, endlose Schlangen, Kleinlaster darunter, Motorräder und gepanzerte Fahrzeuge. Riccetto mischte sich unter die Menge und stürzte mit ihr auf die Lagerschuppen zu.
Der Ferrobedò war wie ein riesiger Hof, eingezäuntes Weideland in einer Senke, und hatte die Größe eines Platzes oder eines Viehmarkts. In der Abzäunung öffneten sich Tore: auf der einen Seite standen kleine, ganz gleich aussehende Holzbarakken, auf der anderen die Lagerschuppen. Riccetto durchquerte, von der Menschenmenge umtost, den ganzen Ferrobedò und kam zu einer dieser Baracken. Aber da standen vier Deutsche, die keinen durchließen. Neben der Türe lag ein kleiner umgestürzter Tisch: Riccetto hievte ihn sich auf die Schultern und lief wieder zum Ausgang. Kaum war er draußen, stieß er auf einen älteren Jungen, der ihn fragte: »Was machste’n da?« – »Ich bring ihn nach Haus bring ich ihn«, antwortete Riccetto. – »Komm doch mit mir, du Blödmann, schnappenwer uns bessern Kram.«
»Bin gleich da«, sagte Riccetto und warf den Tisch weg, den sich ein anderer im Vorübergehen schnappte.
Mit dem Älteren ging er wieder zurück in den Ferrobedò und drängte sich in die Lagerschuppen: dort rafften sie Unmengen Schnur zusammen. Dann sagte der Ältere: »Komm jetz und schaff die Nägel weg.« – So machte Riccetto, mal mit Schnur, mal mit Nägeln, mal mit anderem Kram, insgesamt fünf Touren in die Via Donna Olimpia. Obwohl die Sonne gleich nach der Mittagszeit die Steine fast platzen ließ, war der Ferrobedò noch immer brechend voll von Menschen, die um die Wette mit den Lastwagen, die runter nach Trastevere, zur Porta Portese, zum Schlachthof und nach San Paolo fuhren, die glühendheiße Luft zum Dröhnen brachten. Als die beiden zum fünften Mal zurückkamen, sahen sie am Zaun zwischen zwei Baracken ein Pferd samt Karren. Sie schlichen sich heran, um zu sehen, ob sich was machen ließ. Riccetto nämlich hatte inzwischen in einer der Baracken ein Waffenlager entdeckt, sich ein Maschinengewehr übergehängt und zwei Pistolen in den Gürtel gesteckt. So bis an die Zähne bewaffnet, schwang er sich auf den Rücken des Pferdes.
Aber dann kam ein Deutscher und jagte sie davon.
Während Riccetto mit Säcken voller Schnur zwischen der Via Donna Olimpia und den Lagerschuppen hin und her trabte, hing Marcello mit den anderen Jungs im Pfarrheim des ›Buon Pastore‹ rum. Im Wasserbecken planschte, grölend und kreischend, eine Unmenge von Kindern. Andere spielten Ball auf den verdreckten Wiesen ringsum.
»Wo is’n Riccetto?« fragte Agnolo.
»Der is mit zur Kommunion gegang’ isser«, rief Marcello.
»Seelenwichser!« sagte Agnolo.
»Jetzt isser sicher bei seim Firmpaten zum Mittagessen«, sagte Marcello.
Oben am Planschbecken beim ›Buon Pastore‹ hatte man noch keine Ahnung. Die Sonne knallte auf die Vororte von Madonna del Riposo, Casaletto und, weit hinten, Primavalle. Als sie vom Schwimmen zurückkamen, gingen sie über die Wiese, wo ein Lager mit Deutschen war.
Sie schlichen näher, um es zu beobachten, aber ein Motorrad mit Beiwagen kam heran, und der Deutsche im Beiwagen brüllte zu den Jungs rüber: »Raus da, Seuchengebiet!« – Gleich daneben lag das Militär-Krankenhaus. »Sollnwer uns deshalb etwa ein’ runterwichsen?« rief Marcello. Inzwischen hatte das Motorrad seine Geschwindigkeit verringert, der Deutsche sprang aus dem Beiwagen und scheuerte ihm so ein Ding, daß Marcello auf die andere Seite flog. Mit dick angeschwollenen Lippen schoß er herum wie eine Schlange, und während er, immer noch maulend, mit seinen Freunden die Böschung runtersprang, machte er mit dem Mund einen Furz hinter dem Deutschen her: dann ergriffen sie schreiend und lachend rasch die Flucht, bis sie direkt bei der großen Kaserne ankamen. Dort trafen sie noch ein paar andere Freunde. – »Was macht’n ihr hier?« fragten die, völlig verdreckt und heruntergekommen.
»Wieso?« gab Agnolo zurück, »was solln wir’n tun?« – »Geht mal zum Ferrobedò, wenner was sehn wollt.« – Die Jungs flitzten gleich hin und steuerten, kaum angekommen, durch das Gedränge direkt auf die Autowerkstatt los. »Baunwer doch den Motor aus«, rief Agnolo. Aber Marcello ging aus der Werkstatt raus und stand mitten in dem Tumult allein, direkt vor dem Teerloch. Er war drauf und dran, hineinzufallen und unterzugehen wie’n Indianer im Treibsand, als er von einem Schrei zurückgehalten wurde: »Eh, Marcè, paß auf, eh Marcè!« Das war dieser Hurenarsch von Riccetto, mit’n paar Freunden. Und so zog er mit ihnen los. Sie drangen in einen Lagerschuppen und sackten ein, was sie an Staucherfettbüchsen, an Keilriemen und Eisenzeug fanden. Marcello schleppte einen Zentner von dem Kram nach Hause und warf es in einen kleinen Hof, wo es seine Mutter nicht sofort entdecken konnte. Seit früh morgens war er nicht mehr zu Hause gewesen: seine Mutter empfing ihn mit Prügeln. »Wo warst du, du gemeiner Lump?« schrie sie, während sie auf ihn eindrosch. – »Ich bin baden gegang’ bin ich«, sagte Marcello, während er versuchte, die Schläge abzuwehren. Er war leicht gekrümmt und dürr wie eine Heuschrecke. Dann aber kam der ältere Bruder nach Haus und sah im kleinen Hof den abgestellten Krempel. »Du Blödarsch«, schrie er Marcello an, »klaut einfach das Zeug da, dieser Wichser.« – Also ging Marcello mit seinem Bruder wieder runter zum Ferrobedò, aber diesmal schleppten sie von einem Waggon Autoplanen weg. Es ging schon auf Abend zu, und die Sonne wurde noch heißer. Der Ferrobedò war längst voller als ein Markt, und bewegen konnte man sich überhaupt nicht mehr. Hin und wieder rief einer: »Haut ab, die Deutschen kommen«, damit die anderen verschwanden und er alles alleine klauen konnte.
Tags drauf gingen Riccetto und Marcello, auf den Geschmack gekommen, zur Caciara runter, wo der Großmarkt war. Aber der war zu. Überall liefen unzählig viele Leute rum und Deutsche, die hin und her gingen und in die Luft schossen. Doch mehr noch als die Deutschen gingen einem die Polizisten vom Italienischen Afrika-Korps, die Apais, auf den Sack. Die Menschenmenge wurde immer größer, stemmte sich gegen die Gittertore, lärmte, brüllte und fluchte auf teufelkommraus. Der Angriff ging los, und selbst die Stinklappen von Italienern ließen die Sache einfach laufen. Die Straßen um den Großmarkt herum waren schwarz von Menschen, der Markt selbst verlassen wie ein Friedhof, unter einer Sonne, die ihn zerbröselte: kaum wurden die Tore geöffnet, füllte er sich im Handumdrehen.
Auf dem Großmarkt gab es gar nichts, nicht mal’n Kohlstrunk. Die Menschenmenge begann, die Magazine abzuklappern, unter den Schutzdächern und um die Verkaufstände rumzugehen, weil sie sich einfach nicht damit abfinden wollte, mit leeren Händen dazustehen. Schließlich entdeckte eine Gruppe von älteren Jungs einen Keller, der aussah, als wäre er vollgestapelt: durch die Gitter an den Fenstern konnte man einen Haufen Verdecke, kleine Rohre, Wachsplanen, Zeltbahnen und, in den Regalen, Käse erkennen. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile: fünf-, sechshundert Leute drängten den vorderen in den Rücken. Die Türe wurde eingedrückt, und alle, wie sie da waren, stürzten hinein und quetschten sich gegenseitig. Riccetto und Marcello mittendrin. Vom Sog der Menge wurden sie, fast ohne den Boden zu berühren, durch die Türe getragen. Man mußte eine Wendeltreppe runtersteigen: die Masse drängelte von hinten nach, und Frauen schrien halb erstickt. Die Wendeltreppe quoll über von Menschen. Ein dünnes Eisengeländer gab nach, brach, eine Frau stürzte schreiend runter und schlug mit dem Kopf auf eine Stufe. Die draußen drückten weiter. »Sie ist tot«, rief ein Mann von hinten aus dem Keller. »Sie ist tot«, fingen die Frauen entsetzt an zu schreien, doch sie konnten weder vor noch zurück. Marcello ging die Stufen weiter runter. Unten machte er einen Satz über die Leiche, hechtete in den Kellerraum und stopfte die Einkaufstasche mit Abdeckplanen voll, genau wie die anderen Jungs, die zusammenrafften, was sie kriegen konnten. Riccetto war verschwunden, vielleicht war er wieder rausgegangen. Die Menschenmenge hatte sich aufgelöst. Wieder kletterte Marcello über die tote Frau und rannte nach Hause.
Am Ponte Bianco stand die Miliz. Marcello wurde angehalten, und sie nahmen ihm das Zeug weg. Er aber ging nicht weg und blieb vollkommen niedergeschlagen mit seiner leeren Tasche ein Stückchen weiter sitzen. Kurz darauf kam auch Riccetto von der Caciara zum Ponte Bianco rauf. – »Na?« sagte er fragend. »Hatte mir Planen geholt, und jetz hamse se eingesackt«, antwortete Marcello, grau vor Wut. – »Was verdammtnochmal kümmert’n das diese Arschlöcher, warum kümmernse sich nich um ihre eignen Eier!« rief Riccetto.
Auf der anderen Seite vom Ponte Bianco standen keine Häuser, sondern ein riesiges Bauareal, hinter dem sich, gleich in der Nähe des Grabens am Viale dei Quattro Venti, der tief wie ein Wildbach war, Monteverde kalkweiß ausdehnte. Riccetto und Marcello setzten sich in der Nähe auf eine dunkle, plattgetretene Wiese in die Sonne, um die Apais zu beobachten, wie sie die Leute beschissen. Kurze Zeit später jedoch kam die Gruppe von Älteren mit Säcken voll Käse zur Brücke. Die Apais wollten sie anhalten. Sie aber packten die Polizisten an der Brust und fingen mit brutalen Mienen eine derart wüste Streiterei an, daß die Apais es für besser hielten, die Dinge laufen zu lassen: sie ließen den Kerlen die Sachen und gaben auch Marcello und allen anderen, die sich drohend um sie rumstellten, wieder, was sie ihnen vorher weggenommen hatten. Riccetto und Marcello sprangen begeistert in die Luft, rechneten sich aus, wieviel sie daran verdienen würden, und gingen in die Via Donna Olimpia. Auch die anderen liefen in alle Richtungen auseinander. Bei den Apais am Ponte Bianco blieb nur der Gestank der von der Sonne aufgeheizten Schweinerei zurück.
Auf dem Ascheplatz unterhalb des Monte di Splendore, eines Erdbuckels von zwei, drei Meter Höhe, der Monteverde, den Ferrobedò und, am Horizont, den Meeresstreifen aus dem Blickfeld verschwinden ließ, stellten sich eines Samstags, als die kleinen Jungs keine Lust mehr zum Spielen hatten, ein paar ältere mit einem Ball zwischen den Füßen im Tor auf. Sie formten einen Kreis und spielten sich den Ball zu, wobei sie ihn mit trockenen Spannschüssen weitergaben, so daß er wie an der Schnur gezogen dicht über den Boden flog. Kurze Zeit später waren alle schweißgebadet, wollten aber auf keinen Fall ihren Festtagsstaat oder ihre schwarz beziehungsweise gelb gestreiften blauen Wollpullover ausziehen, denn sie hatten sich ja einfach so, locker zusammengefunden und zu spielen begonnen. Weil aber die um sie herumstehenden kleinen Jungs hätten denken können, das wären Fanatiker, die da, so angezogen, in der glühenden Sonne spielten, lachten sie und nahmen sich in einer Weise auf die Schippe, die den anderen jede Lust nahm, Witze über sie zu reißen.
Zwischen Flanken und Stops warfen sie sich ein paar Worte zu. »Heiliger Strohsack, Alvà, heut biste aber schlapp!« rief einer, der sich Brillantine ins schwarze Haar gegossen hatte, und dann: »Ehja, Frauen«, und zog den Ball überkopf. »Leck mich doch«, antwortete Alvaro, dessen knochiges Gesicht ganz verbeult aussah. Sein Kopf war so groß, daß ein Floh beim Versuch, einmal die Runde zu machen, an Alterschwäche gestorben wäre. Er versuchte etwas ganz Raffiniertes, indem er den Ball mit der Hacke schoß, aber das ging daneben, und der Ball rollte bis weit zu Riccetto und den anderen rüber, die auf dem schmutzigen Gras lagen.
Der rothaarige Agnolo stand auf und schoß den Ball ganz gemütlich wieder zu den Älteren zurück. »Schließlich willer sich ja nich verausgam«, rief Rocco und meinte damit Alvaro, »heut abend musser nämlich zentnerweise schleppen.«
»Die machen in Wasserrohrleitungen«, sagte Agnolo zu den anderen. In diesem Augenblick heulten am Ferrobedò und in den anderen Fabriken unten am Testaccio, am Hafen und bei San Paolo die Dreiuhrsirenen los. Riccetto und Marcello standen auf und gingen, ohne den anderen auch nur ein Wort zu sagen, die Via Ozanam runter. Völlig ausgelaugt latschten sie unter der glühenden Sonne zum Ponte Bianco, wo sie sich an die 13 oder die 28 hängten. Angefangen hatten sie mit dem Ferrobedò, dann waren die Amerikaner dran, und jetzt machten sie in Zigarettenkippen. Schon wahr, daß Riccetto für kurze Zeit auch gearbeitet hatte: er wurde als Hilfsjunge für Lieferwagen von irgendeinem in Monteverde Nuovo beschäftigt. Aber dann hatte er seinem Brötchengeber ’nen halben Riesen geklaut, und der hatte ihn an die Luft gesetzt. Deshalb verbrachten sie die Nachmittage mit Nichtstun in der Via Donna Olimpia oder auf dem Monte di Casadio mit den anderen Jungs, die auf dem Platz der kleinen, von der Sonne ausgeblichenen Mulde rumfußballerten, und später dann mit den Frauen, die ihre Wäschestücke auf dem versengten Gras ausbreiteten. Oder sie gingen auf den Platz zwischen den Hochhäusern und dem Monte di Splendore Fußball spielen, unter Hunderten von anderen Jungs, die in den sonnenbeschienenen Innenhöfen oder auf verdörrten Wiesen, in der Via Ozanam oder in der Via Donna Olimpia, vor der mit Evakuierten und Ausquartierten vollgestopften Giorgio-Franceschi-Volksschule rumkickten.
Als Riccetto und Marcello am Ponte Garibaldi ankamen und von den Puffern der Straßenbahn sprangen, lag die Brücke vollkommen menschenleer unter der afrikanischen Sonnenglut: doch unten an ihren Pfeilern, im Flußstrandbad Ciriola, wimmelte es nur so von Menschen. Riccetto und Marcello waren allein auf der ganzen Brücke, sie legten ihr Kinn auf das glühende Brückengeländer und sahen den Badenden eine Weile zu, die in der Sonne auf dem Floßhaus lagen, Karten spielten oder sich da, wo ein Lüftchen ging, breitgemacht hatten. Nachdem die beiden sich dann kurz gekabbelt hatten, was sie als nächstes machen sollten, hängten sie sich wieder an die alte, halbleere Straßenbahn, die ratternd und quietschend nach San Paolo fuhr. Am Bahnhof Ostiense sprangen sie ab und gingen wie Hammel mit herunterhängendem Kopf zwischen den Tischen einer Café-Bar und den Geländern der Fahrkartenschalter hin und her, am Zeitungskiosk und an den Verkaufsständen vorbei, um ein paar Zigarettenkippen aufzusammeln. Davon hatten sie die Nase allerdings bald voll. Vor Hitze konnte man kaum atmen, und es wäre nicht auszuhalten gewesen, hätte vom Meer her nicht eine Brise geweht. »Du, Riccè«, sagte Marcello, »wieso gehnwer eigentlich nich auch schwimm’?« – »Na, dann gehnwer doch«, sagte Riccetto, verzog seinen Mund und zuckte die Achseln.
Hinter dem Parco Paolino und der goldenen Fassade von San Paolo floß auf der anderen Seite eines hohen, dicht beschilderten Deichs der Tiber: und dort war es leer, keine Strandbäder, keine Boote, keine Badenden, und rechts davon war alles mit Kränen, Antennen und Schornsteinen bespickt, mit dem gigantischen Gasometer vor dem Himmel und dem gesamten Wohnviertel von Monteverde am Horizont, oberhalb der stinkenden, versengten Böschungen und seinen alten Villen, die wie kleine, sich im Licht auflösende Schachteln aussahen. Genau da unten standen die Pfeiler einer nicht fertig gebauten Brücke, um die herum schmutziges Wasser strudelte. Das Ufer von San Paolo war dicht mit Schilf und Gestrüpp bewachsen. Dazwischen rannten Riccetto und Marcello hinunter und gelangten unter dem ersten Brückenpfeiler ans Wasser. Aber hinein gingen sie erst einen halben Kilometer weiter flußabwärts, wo der Tiber eine lange Biegung machte.
Riccetto lag nackt im Gras, die Hände unter dem Nacken verschränkt, und starrte in die Luft.
»Schon mal’n Ostia gewesen?« fragte er Marcello völlig unerwartet. – »Du bist vielleicht gut«, antwortete Marcello, »weißde’n nich, daß ich da geboren bin?« – »Mann, du Wichser«, sagte Riccetto, verzog sein Gesicht und musterte ihn scharf, »haste mir ja nie erzählt!« – »Na und wenn schon?« sagte Marcello. »Biste schon mal mit ’nem Schiff auf ’m Meer draußen gewesen?« fragte Riccetto neugierig. – »Wieso’n nich«, sagte Marcello in anbiederndem Ton. – »Bis wohin’n?« fing Riccetto wieder an. – »Heiliger Strohsack, Riccè«, sagte Marcello mit tiefer Befriedigung, »was du alles wissen willst! Wer soll sich’n daran erinnern? Ich war ja nich mal drei war ich!« – »Ich glaub, du bist genau so auf ’nem Schiff gewesen wie ich, du Blödmann!« sagte Riccetto verächtlich. »Jetz hör sich einer den Wichser an«, gab Marcello zurück, »jeden Tag binnich mit’m Segelboot von meim Onkel rausgefahren!« – »Leck mich doch, du!« sagte Riccetto schnalzend. – »Sieh mal, der Holzkram da«, sagte er dann und blickte aufs Wasser, »so viel Holzkram!« Auf dem Wasser trieben ein paar Wrackteile, eine verfaulte Kiste und ein Nachttopf. Riccetto und Marcello gingen zum Uferrand, wo der Fluß schwarz war von Öl. – »Wie gern würd ich mal Boot fahren!« sagte Riccetto melancholisch und sah auf die Kiste, die inmitten von Unrat schaukelnd ihrem Schicksal entgegentrieb. – »Weißte’n nich? Am Ciriola kann man Boote mieten«, sagte Marcello. – »Schön, und wer gibt uns die Kohle dafür?« fragte Riccetto finster. – »Mann, du Trottel, machenwer doch auch in Rohrleitungen, was soll’s«, sagte Marcello und war ganz begeistert von seiner Idee, »Agnoletto hat’s Stemmeisen schon beschafft.« – »Bin dabei!« sagte Riccetto.
Sie blieben bis spät an dieser Stelle liegen, ausgestreckt, mit dem Kopf auf ihren kurzen Hosen, die von Staub und Schweiß schmutzig geworden waren: schließlich zwang sie keiner, sich aufzuraffen und zu gehen. Ringsum war alles voller Gestrüpp und verdorrtem Schilf, aber im Wasser lagen auch Kiesel und Steine. Sie machten sich einen Spaß daraus, Steine über das Wasser schnellen zu lassen, und als sie sich endlich durchgerungen hatten zu gehen, warfen sie sie, halbangezogen, weiter in die Luft oder ans andere Ufer oder zielten auf Schwalben, die über das Wasser schossen.
Schreiend und tobend warfen sie schließlich ganze Händevoll um sich: die Steinchen fielen ringsum ins Gestrüpp. Doch da hörten sie plötzlich einen Schrei, als ob sie jemand gerufen hätte. Sie drehten sich um und sahen in der schon dämmrigen Luft nicht weit entfernt einen Schwarzen im Gras knien. Riccetto und Marcello erkannten die Situation sofort und nahmen reißaus, doch sobald sie in sicherer Entfernung waren, nahmen sie noch eine Handvoll Kiesel und warfen sie wieder auf die Büsche hinten.
Da stand, mit halb heraushängenden Titten und vor Wut schäumend, die Nutte auf und brüllte sie an.
»Halt doch die Klappe«, rief Riccetto hämisch mit trichterförmig um den Mund gehaltenen Händen, »du schnatterst ja wie’ne Ente, du altes Schwein!« – Doch in diesem Augenblick schoß der Schwarze hoch wie ein wildes Tier, und während er sich mit einer Hand die Hose festhielt und mit der anderen ein Messer schwang, kam er hinter ihnen hergerannt. Riccetto und Marcello flüchteten hilfeschreiend durch das Gestrüpp auf den Deich zu und den Steilhang rauf, und erst als sie oben waren, hatten sie die Kraft, sich noch einmal einen Augenblick lang umzudrehen und sahen den Schwarzen unten, der mit dem Messer in der Luft herumfuchtelte und brüllte. Riccetto und Marcello liefen schnell weg, und als sie sich ansahen, krümmten sie sich vor Lachen. Riccetto wälzte sich sogar auf der Erde im Dreck, sah Marcello grinsend an und rief: »Jesses, Marcè, hat dich etwa der Schlag getroffen?«
Auf ihrer Flucht kamen sie zu dem Stück vom Lungotevere, wo die Fassade von San Paolo ist, die noch schwach in der Sonne schimmerte. Sie gingen rüber zum Parco Paolino, wo es am anderen Ende unter den jungen Bäumen von Arbeitern und Soldaten wimmelte, die Ausgang hatten und von der Kaserne in Cecchignola kamen. Sie gingen an der Basilika entlang, auf einem Stück Straße, das leer und schlecht beleuchtet war. Ein Blinder, der an der Mauer lehnte und seine Beine auf dem Bürgersteig von sich gestreckt hatte, bat um Almosen.
Riccetto und Marcello setzten sich in seiner Nähe auf die Bordsteinkante, um wieder zu Atem zu kommen, und da der Alte Leute in seiner Nähe hörte, fing er gleich mit seinem Gejammere an. Er hatte seine Beine auseinandergespreizt, und zwischen ihnen hielt er seine Mütze voller Geld. Riccetto stieß Marcello mit dem Ellbogen an und deutete auf die Mütze. »Mann du, ganz vorsichtig«, brummte Marcello. Als sein Atem sich wieder etwas beruhigt hatte, stieß Riccetto ihn verärgert nochmal an und gab ihm ein Zeichen mit der Hand, als wollte er sagen: ›Na, was is nun?‹ Marcello zuckte mit den Schultern und gab ihm zu verstehen, er solle sehen, wie er klarkäme. Riccetto warf ihm einen mitleidigen Blick zu und wurde rot vor Wut. Dann sagte er leise: »Wart da hinten auf mich.« Marcello stand auf und ging auf die andere Straßenseite, wo er unter den Bäumen auf Riccetto wartete. Als Marcello weit genug entfernt war, wartete Riccetto den Augenblick ab, wo niemand vorbeikam, stellte sich neben den Blinden, schnappte sich eine Handvoll Geld aus der Mütze und zischte ab. Sobald sie in Sicherheit waren, begannen sie, unter einer Laterne das Geld zu zählen: es war fast’n halber Riese.
Am nächsten Morgen hatten das Nonnenkloster und andere Häuser in der Via Garibaldi kein Wasser mehr.
Riccetto und Marcello hatten Agnolo in der Via Donna Olimpia vor der Giorgio-Franceschi-Schule getroffen, der mit anderen Jungs ein bißchen rumfußballerte, mit keiner anderen Beleuchtung als dem Mondlicht. Sie sagten ihm, er solle das Stemmeisen holen gehen, und das ließ sich Agnolo nicht zweimal sagen. Dann gingen die drei gemeinsam, vorbei an der Kirche von San Pancrazio, nach Trastevere auf der Suche nach einer ruhigen Stelle. Die fanden sie in der Via Manara, die zu dieser Stunde völlig ausgestorben war, und sie konnten sich mit einem Kanaldeckel beschäftigen, ohne daß ihnen einer in die Quere kam. Sie ließen sich nicht einmal aus der Ruhe bringen, als sich plötzlich eine Balkontüre öffnete und eine halbverschlafene, aufgetakelte Alte zu ihnen runter rief: »Was macht ihr’n da unten?« – Riccetto hob den Kopf und sagte dann: »Ach, Signò, is nichts weiter, ’s Abflußrohr is bloß wieder mal verstopft, weiß der Teufel wie!« – Und dann waren sie auch schon fertig, nahmen sich den Kanaldeckel und die darunter liegende Wanne, die sich Agnolo und Riccetto auf die Schultern packten, und gingen dann zu einem verfallenen Gebäude unterhalb des Gianicolo, einer alten, heruntergekommenen Turnhalle. Es war dunkel, aber Agnolo kannte sich aus und fand in einer Ecke des großen Raums den Schlaghammer, und mit dem zertrümmerten sie den Kanaldeckel.
Jetzt mußte ein Käufer gefunden werden. Darum kümmerte sich wieder Agnolo. Sie gingen durch den Vicolo dei Cinque, der, abgesehen von einem Besoffenen, völlig ausgestorben war. Unter den Fenstern des Schrotthändlers legte Agnolo seine Hände wie einen Trichter an den Mund und fing an zu rufen: »Eh, Antò!« Der Schrotthändler zeigte sich am Fenster, dann kam er runter und ließ sie in sein Lager, wo er das Gußeisen wog und ihnen zweitausendsiebenhundert Lire für die siebzig Kilo gab. Und einmal richtig in Fahrt gekommen, wollten sie gleich mit Volldampf weitermachen. Agnolo lief in die Turnhalle zurück, um das Beil zu holen, und dann gingen sie in Richtung Gianicolo-Treppen. Dort hoben sie einen Kanaldeckel ab und stiegen hinunter. Mit dem Stiel des Beils drückten sie das Bleirohr zusammen, um den Wasserfluß einzudämmen, und dann trennten sie es ab, fünf, sechs Meter. In der Turnhalle traten sie es platt, zerlegten es in viele kleine Stücke, steckten es in einen Sack und brachten es zum Schrotthändler, der ihnen hundertfünfzig Lire pro Kilo zahlte. Mit der Knete in der Tasche zogen sie gegen Mitternacht tiefbefriedigt zu den Hochhäusern. Dort spielten Rocco und die anderen am hinteren Treppenaufgang Karten, still auf dem Treppenabsatz des Erdgeschosses hingefläzt, wo Rocco wohnte und von wo aus man in einen der vielen Innenhöfe gelangte. Um nach Hause zu kommen, mußte Agnolo dort vorbei, und Riccetto und Marcello begleiteten ihn. So blieben sie stehen und spielten mit den Älteren Zecchinetta.1 Knapp eine halbe Stunde später hatten sie ihre gesamte Kohle verspielt. Zum Glück blieb Riccetto wenigstens noch der halbe Riese, den er dem Blinden gefilzt und in seinen Schuhen versteckt hatte. So konnten sie sich mit einem Boot vom Ciriola doch noch ein paar schöne Stunden machen.
»Da kommen ja die Hosenpisser!« sagte ein junger Kerl auf dem Floß, als er sie den glühendheißen Uferweg entlangkommen sah. Riccetto konnte der Versuchung nicht widerstehen, sofort ein bißchen auf die Schaukel zu gehen, sprang aber wieder runter, um die anderen schnell einzuholen, die bereits den kleinen Steg überquert hatten und Orazios Frau in der auf dem Tiber schwimmenden Flußbadeanstalt fünfzig Lire zahlten. Giggetto empfing sie mies gelaunt. »Hier lang«, sagte er, »und dann geb ich euch dreien nur ’nen einzigen Spind.« – Sie waren unschlüssig. »Worauf wartet ihr’n noch?« ranzte Giggetto sie an und streckte einen Arm mit geöffneter Hand nach ihnen aus, womit er ihnen klarmachen wollte, wie dämlich sie sich aufführten. – »Wie? Muß ich jetz auch noch komm’ und euch ausziehn oder was?«
»Der verdammte Wichser«, knurrte Agnolo und zog sich sein Hemd über den Kopf, ohne länger zu warten. Inzwischen redete Giggetto weiter: »Die Bolzen die, gehn eim doch nur auf die Eier … Abmurksen sollte man euch alle, euch und wer euch herschickt …« – Mutlos zogen sich die drei aus und standen rum, nackt, ihre Sachen in der Hand. – »Na?« brüllte der Bademeister und kam hinter dem kleinen Tresen hervor, »und jetz?« – Sie wußten nicht, was sie jetzt weiter tun mußten. Giggetto riß ihnen die Sachen aus den Händen, schmiß sie in den Spind und schloß ihn ab. Sein kleiner Sohn sah die drei grinsend an. Die anderen Jungs, die, zum Teil nackt, zum Teil in lockerhängenden Badehosen dort herumlungerten, einige sich vor dem kleinen Spiegel kämmend, andere singend, sahen sie aus ihren Augenwinkeln an, als wollten sie sagen: ›Teufelnochmal, sind die schneidig.‹ – Sobald sie sich die Badehosen, die ihnen etwas zu groß waren, über den Hüften verknotet hatten, schossen sie aus der Umkleidekabine raus und trafen sich an der Eisenbrüstung des Floßes. Auf der Stelle wurden sie von dort verjagt. Orazio, mit seinem steifen Bein und seinem rotfleckigen Gesicht, kam höchstpersönlich aus dem Mitteltrakt, in dem sich die Bar befand. »Ihr verdammten Wichser ihr«, brüllte er, »wie oft muß ich’n noch sagen, daß man da nich stehn darf, weil sonst das Gitter runterkracht?« – Sie dampften ab, vorbei an der Duschkabine, verfolgt von Orazios Gebrüll, der noch zehn Minuten lang von seinem Bambusstuhl aus weitermaulte. Drinnen spielten junge Kerle Karten, andere hatten ihre Füße auf wackelige kleine Tische gelegt und rauchten. Am Ende des kleinen Stegs, der das Floßhaus mit dem Ufer verband, erwartete sie Agnolos Hündchen, freudig und mit heraushängender Zunge. Das tröstete die drei Gauner, die jetzt, gefolgt vom Hund, die Ufermauer entlangliefen. Am Sprungbrett blieben sie einen Augenblick stehen, dann liefen sie weiter Richtung Ponte Sisto. Es war noch ziemlich früh, nicht mal halb zwei, und in Rom gab es nichts als Sonne.
Von der Peterskuppel hinter dem Ponte Sisto bis zur Tiberinsel hinter dem Ponte Garibaldi war die Luft gespannt wie die Haut eines Tamburins. In dieser Stille floß der Tiber zwischen den Ufermauern, die in der Sonnenglut wie Pissoirs stanken, gelb dahin, als würde er von den Abfällen geschoben, mit denen er vollgeladen herunterkam. Die ersten, die eintrafen, nachdem gegen zwei Uhr die sechs, sieben Beamten gegangen waren, die die ganze Zeit reglos auf dem Floß verbracht hatten, waren die Lockenköpfe von der Piazza Giudia. Danach kamen die Trasteveriner in langen Reihen, halbnackt, vom Ponte Sisto her, lärmend und lachend und immer in Stimmung, jemanden zu verdreschen. Das Ciriola füllte sich draußen, auf dem verschmutzten Sandufer, und drinnen, in den Umkleideräumen, in der Café-Bar, im Floßhaus. Ein wildes Getümmel. Zwei Dutzend Jungs standen um das Sprungbrett. Sie fingen an, die ersten Kopfsprünge, Fußsprünge und Überschläge zu machen. Das Sprungbrett war nur etwa ein Meter fünfzig hoch, und deshalb konnten sogar die Sechsjährigen drauf rumspringen. Ein paar Leute, die über den Ponte Sisto gingen, blieben stehen und sahen sich das an. Auch oben auf der Ufermauer saßen ein paar Jungs, die keinen Zaster für den Eintritt bei sich hatten, rittlings auf den Mauersteinen, über die die Platanen herunterhingen, und sahen zu. Die meisten lagen auf dem Sand oder auf dem bißchen rostbraunen Gras, das unterhalb der Mauer noch wuchs.
»Der Letzte zuerst!« rief ein schwarzhaariger Kurzer mit starker Behaarung zu denen rüber, die es sich im Liegen bequem gemacht hatten, und stand auf: doch nur Nicchiola kam seiner Aufforderung nach, der sich krumm und verdreht mit offenen Armen und Beinen ins gelbe Wasser fallen ließ und mit dem Hintern aufklatschte. Die anderen schnalzten verächtlich und sagten zu dem Schwarzhaarigen: »Verpiß dich doch!« – Dann, nach einer Weile, standen sie auf, vor Mattigkeit torkelnd, und gingen wie eine Schafherde zum Sandplatz unterhalb der Schaukel vor dem Floßhaus rüber, um Monnezza dem Stinker zuzuschauen, der, mit den Füßen auf dem glühenden Sand und krebsrot vor Anstrengung unter den beiden Gewichtskugeln, die Last von fünfzig Kilo inmitten eines Regiments kleiner Bengel hochstemmte. Am Sprungbrett waren nur noch Riccetto, Marcello, Agnolo und ein paar andere, auch der Hund, der jüngste von allen. – »Na?« sagte Agnolo mit drohendem Ausdruck zu den beiden anderen. – »Mann, du alter Wichser«, sagte Riccetto, »biste etwa ’n Eile?« – »Der Wichser bist du doch, Mann«, sagte Agnolo, »wozu sindwer überhaupt hergekomm’?« – »Jetz gehnwer ins Wasser«, sagte Riccetto, ging zum anderen Ende des Sprungbretts und sah aufs Wasser.
Der kleine Hund lief hinter ihm her. Riccetto drehte sich um: »Kommste auch mit?« sagte er liebevoll und fröhlich zum Hund, »willste mitkomm’?« – Der Hund blickte ihn an und wedelte mit dem Schwanz.
»Willste etwa’n Köpper machen, wie?« sagte Riccetto. Er packte ihn am Fell und stellte ihn an den Rand, doch der Hund sträubte sich. – »Wohl Angst, was?« sagte Riccetto, »naja, ich werd dich schon kein’ Köpper machen lassen!« – Der Hund sah ihn auch jetzt noch zitternd an. »Nu sag schon, wasde von mir willst, du oller Zottelköter, du«, sagte Riccetto in beschützendem Ton und beugte sich runter. Er streichelte ihn, kraulte ihn am Hals, steckte die Hand zwischen seine Zähne und zerrte an ihm. – »Du Mistköter, du Mistköter!« schrie er ihn zärtlich an. Als der Hund aber merkte, daß er gezerrt wurde, sprang er zurück.
»Neenee«, sagte daraufhin Riccetto zu ihm, »ich werf dich schon nich ins Wasser!« – »Machste nun’n Köpper oder nich, Riccè?« rief Agnolo ironisch. – »Erst muß ich mal pissen«, antwortete Riccetto und rannte zum Pinkeln an die Mauer: der Hund lief hinter ihm her und sah ihm mit glänzenden Augen und unruhig wedelnd zu.
Da nahm Agnolo einen Anlauf und sprang hinein. »Du alter Wichser!« rief Marcello, als Agnolo in voller Fahrt auf den Bauch klatschte. »Ich beiß mir in Arsch«, rief Agnolo, als er mitten im Fluß wieder auftauchte, »war das ’ne Bauchlandung!« – »Jetz zeig ich euch, wie man’n richtigen Köpper macht!« rief Riccetto und sprang ins Wasser. – »Na, wie war das?« rief er Marcello fragend zu, als er auftauchte. – »Gespreizte Beine«, sagte Marcello. – »Ich probiers nochmal«, sagte Riccetto und kletterte aus dem Wasser.
In diesem Augenblick kamen die, die so viel Wirbel um Monnezza, der Gewichte stemmte, gemacht hatten, scharenweise zum Sprungbrett rüber. Sie grinsten überlegen und höhnisch und spuckten aus, während die Kleinen um sie rumsprangen oder sich mit den Armen umklammerten und sich auf dem Gehweg wälzten. Mehr als fünfzig waren es, die sich auf den kleinen schmutzigen Grasplatz drängelten, der das Sprungbrett umgab. Als erster sprang Monnezza, strohblond und voll roter Pickel, und schlug einen astreinen Salto. Ihm folgten Remo, Spudorato der Schamlose, Pecetto der Hansaplastische, Ciccione der Dicke und Pallante das Riesenschwingei, aber auch die Kleineren, die überhaupt kein Hosenflattern hatten, im Gegenteil, Ercoletto vom Vicolo dei Cinque war vielleicht der beste von allen: Er lief auf Zehenspitzen und mit ausgebreiteten Armen über das Sprungbrett, leicht und behende, als ob er tanzte, und sprang dann rein. Riccetto und die anderen zogen sich mit einer Flappe zurück, setzten sich auf das versengte Gras und sahen schweigend zu. Sie waren wie in einen Ameisenhaufen geworfene Brotstücke und ärgerten sich die Krätze an den Leib, daß sie das Getobe nur aus der Ecke verfolgen durften. Alle waren in Bewegung, mit schlammverschmierten Beinen, Badehosen, die auf der Haut klebten, und sarkastischen Gesichtern, mit denen sie sich ansahen und sich gegenseitig »Wichser!« zuriefen. Ciccione der Dicke, mit bissigem Gesicht und Eierkopp, sprang, indem er vom Rand des Sprungbretts herunterglitt und im Fallen wild lachend brüllte: »Die alten Wichser!« – und Remo, der kopfschüttelnd am Ufer stand, brummelte fröhlich: »Mann, du Wichser, du bist vielleicht ’ne Wucht!« – Auch Bassotto der Kleine, der neben ihm auf dem Gehweg stand, grinste, aber in diesem Augenblick klatschte eine Ladung Schlamm auf seinen Lockenkopf. – »Ihr alten Wichser ihr!« brüllte er und schoß herum, konnte aber nicht sagen, wer es gewesen war, weil alle lachend aufs Wasser starrten. Kurz danach landete eine zweite Ladung auf seinem Kopf. – »Ihr gottverdammten Wichser ihr«, brüllte er. Er packte sich Remo. – »Was willste denn von mir«, sagte der mit beleidigter Miene, »du ausgelaugter Wichser, du und dein Großvater!« – Doch kurz darauf flogen Hunderte von Schlammbrocken mit Karacho durch die Luft: einer, der bis zu den Knien im Schlamm steckte, warf von unten ganze Händevoll nach oben an den Uferrand und ließ auf breiter Front einen Schlammregen niederspritzen; andere saßen abseits und taten unbeteiligt, warfen ihre Schlammladungen aber aus dem Hinterhalt, und die kamen wie Peitschenschläge herunter. – »Ihr gottverdammten Wichser!« brüllte Remo mitten im Gewühl und hielt sich voller Wut ein Auge zu. Dann rannte er und warf sich ins Wasser, um sich den Schlamm aus den Wimpern zu waschen. Als Monnezza der Stinker sah, daß Remo reingesprungen war, tat er das gleiche, und diesmal war er’s, der schrie: »Der Letzte zuerst!«, und warf sich ins Wasser, wobei er sich in der Luft zusammenknäulte und drehte und unter großem Knallen mit dem Rücken, den Knien und den Ellbogen auf das Wasser klatschte. – »Der alte Wichser!« sagte Spudorato lachend und runzelte die Stirn. Dann sprang er und machte eine Landung wie Remo. – »Pallante, du Schwingei! Los!« schrie er. »Warum soll ich«, sagte Pallante. »Los, du Memme«, schrien Spudorato und Monnezza aus dem Wasser.
»Seht euch bloß diese Wichser an«, brummte währenddessen Riccetto für sich. – »Also, was machenwer jetz?« sagte Agnolo bestimmt. Der einzige unter den dreien, der rudern konnte, war Marcello: der mußte den Anfang machen. Sie setzten sich auf den Haufen alter, kaputter Auslegerboote. – »Eh, Marcè«, sagte Agnolo, »wir warten auf dich, mach schon.« – Marcello stand auf und scharwenzelte um Guaione den Stunkmacher rum, der halb besoffen am hinteren Ende des Floßhauses mit dem Taschenmesser über irgendeiner Arbeit saß. – »Was kostet ’n Boot?« fragte er ihn dann unvermittelt. – »Anderthalb Hunderter«, antwortete Guaione, ohne aufzublicken. – »Krieg ich dann eins?« sagte Marcello. »Wenn’s zurückkommt. Jetz isses draußen.« – »Dauert’s lang, eh Guaiò?« fragte Marcello nach einer Weile. – »Du verdammter Wichser«, sagte Guaione und blickte ihn aus seinen hellen Säuferaugen an, »was zum Teufel weiß denn ich, wann’s zurückkommt.« – Dann sah er auf den Fluß in Richtung Ponte Sisto. »Da isses«, sagte er. – »Wird vorher bezahlt oder nachher?« – »Vorher, is besser so.« – »Ich geh eben das Geld holen«, rief Marcello. Doch hatte er die Rechnung ohne Giggetto gemacht. Der war als Bademeister zwar freundlich zu den Erwachsenen, aber bei Kindern, da hätte er noch seine Unterschrift druntergesetzt, wenn man sie alle hätte ersäufen dürfen. Marcello blieb eine ganz Weile bei ihm und versuchte, ihn zu überzeugen. Aber der hörte ihm überhaupt nicht zu. Völlig durcheinander kam Marcello wieder zu dem Haufen der Ausleger zurück. – »Wie zum Teufel soll man an das Geld rankomm’?« sagte er. – » Geh doch zum Bademeister, du Arschloch!« – »War ich ja schon«, erklärte Marcello, »aber der läßt mich nich an unsere Sachen läßter mich nich!« – »Was bist du bloß für’n Arschloch«, schoß Agnolo wütend hoch. – »Jetz seht euch den an«, antwortete ihm Marcello zitternd und streckte seine offene Hand nach ihm aus, wie Giggetto es kurz vorher bei ihnen gemacht hatte, »warum gehst’n du nich?« – »Jetz kommt gleich die Prügelei«, philosophierte Riccetto. – »Dem würd ich gern eine scheuern, dem Arschloch da!« sagte Agnolo. – »Ich hab dir ja schon gesagt, warum gehst’n nich du hin und probierst’s, du Hurenarsch!« – Agnolo ging zu Giggetto und kam gleich darauf mit den hundertfünzig Lire und einer brennenden Nazionale im Mund wieder zurück. Sie gingen zum Geländer rüber und warteten auf das Boot. Sobald es angelegt hatte und die anderen Jungs ausgestiegen waren, fuhren die drei los. Es war das erste Mal, daß Riccetto und Agnolo auf dem Wasser fuhren.
Das Boot rührte sich zunächst nicht vom Fleck. Je mehr Marcello ruderte, um so unbeweglicher blieb es. Danach löste es sich allmählich vom Floßhaus, trieb aber wie besoffen mal in die, mal in die Richtung. – »Du Scheißkerl du«, schrie Agnolo so laut er konnte, »verstehste überhaupt was vom Rudern?« Das Boot spielte völlig verrückt und ging ganz beliebig mal rauf und mal runter, ein bißchen Richtung Ponte Sisto und ein bißchen Richtung Ponte Garibaldi. Doch die Strömung trieb es nach links, auf den Ponte Garibaldi zu, auch wenn sich der Bug zufällig mal in die andere Richtung drehte, und Guaione, der an der Gitterbrüstung des Floßhauses auftauchte, fing an, irgendetwas aus voller Kehle rüberzubrüllen, und zwar so angestrengt, daß er zu platzen drohte. – »Dieses Arschloch«, schrie Agnolo Marcello wieder an, »jetz könnse uns sicher in Fiumicino wieder an Land ziehn!« – »Hör bloß auf, mir auf ’m Sack rumzutrommeln«, sagte Marcello, der sich bis zum Umfallen mit den Rudern abrackerte, die entweder auf das Wasser schlugen oder bis zum Griff eintauchten, »probier du’s doch, los!« – »Schließlich bin ja nich ich von Ostia!« brüllte Agnolo. Inzwischen war das Ciriola schon ziemlich weit entfernt und schaukelte über dem Heck auf und ab. Unter dem Grün der Platanen begann die Ufermauer sich in ihrer ganzen Länge vom Ponte Sisto bis zum Ponte Garibaldi auszudehnen, und die Jungs, die über das ganze Ufer verstreut waren, manche an der Schaukel, andere am Sprungbrett, wieder andere auf dem Floß, wurden immer kleiner, und ihre Stimmen konnte man nicht mehr unterscheiden.
Der Tiber zog das Boot in Richtung Ponte Garibaldi wie eine der Holzkisten oder eines der Wrackteile, die an der Oberfläche trieben. Und unter dem Ponte Garibaldi konnte man sehen, wie das Wasser zwischen den Untiefen und den gewaltigen Gesteinsbrocken der Tiberinsel schäumte und strudelte. Guaione hatte das beobachtet und brüllte weiter mit seiner verrosteten Stimme vom Floß aus: das Boot war inzwischen auf der Höhe des ›Hühnerstalls‹ angekommen, wo, innerhalb des mit Pfählen abgegrenzten Gebiets, die Jungs planschten, die nicht schwimmen konnten. Von Guaiones Gebrüll aufgeschreckt, kamen aus dem mittleren Holzbau Orazio und ein paar weitere, von der Hitze völlig erledigte Kerle raus und sahen sich das Schauspiel an. Jetzt fing auch Orazio an zu fuchteln, und die Kerls lachten. Riccetto sah Marcello mit hochgezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen an. – »Willste uns vielleicht bis auf die Knochen blamieren?« fragte er. Aber Marcello war wieder zu Kräften gekommen. Das Boot zielte nun ziemlich gleichmäßig auf das andere Ufer, und die Ruder bekamen die Strömung unter Kontrolle. – »Fahrnwer da rüber«, sagte Agnolo jetzt. – »Und was soll ich da?« kam es angewidert von Marcello zurück, der wie ein Springbrunnen aus allen Poren schwitzte.
Obwohl die Sonne voll auf das Ufer des Ciriola runterknallte, war es von einem grauen, müden Schatten überzogen: auf den kleinen dunklen Felsen, die von einer fingerdicken Fettschicht überzogen waren, wuchs niedriges Gestrüpp und kleines dorniges Grünzeug, und von den Mengen von Abfall, die sich kaum bewegten, stockte das Wasser an manchen Stellen. Das Boot mit den dreien polterte hier durch und streifte um Haaresbreite an den Steinblöcken vorbei. Und weil dort kaum Strömung war, gelang es Marcello, das Boot flußaufwärts Richtung Ponte Sisto zu drücken. Doch das linke Ruder schlug dabei gegen die Steine, und er hatte alle Hände voll zu tun, daß es nicht zersplitterte oder ihm ins Wasser entglitt und davonschwamm. – »Rudernwer doch in die Mitte, was soll’s«, wiederholte Riccetto, ohne sich um Marcellos Kraftakte zu kümmern. Ihm gefiel es, in der Mitte des Flusses zu treiben, so mitten auf dem Wasser, weg vom Ufer, und als er den Blick kurz hob, packte ihn die Wut, als er zwei Schritte vor sich den grauen Ponte Sisto gegen die blendende Wasserfläche und den Gianicolo und die riesige, wolkenweiße Peterskuppel erblickte. Ganz langsam kamen sie bis unter den Ponte Sisto: dort, unter dem rechten Brückenpfeiler, wurde der Fluß breiter und staute sich tief, grün und voller Dreck. Da an dieser Stelle keine Gefahr bestand, von der Strömung weggetragen zu werden, wollte Agnolo ein Manöver probieren. Aber vonwegen! Nicht die Bohne brachte er zustande: entweder schlugen die Ruder durch die Luft oder klatschten spritzend auf, so daß sich das ganze Boot mit Wasser füllte. »Arschloch!« brüllte Riccetto beleidigt, während Marcello sich todmüde der Länge nach in dem zwei Finger hohen Wasser auf dem Boden ausstreckte. Als zwei kleine Jungs die Treppe auf der Seite des Fontanone mit einer Angelrute runterkamen und sahen, wie Agnolo sich wegen nichts und wieder nichts abrackerte, fingen sie an, laut lachend Witze über ihn zu reißen. Völlig außer Atem schrie Agnolo zu ihnen rüber: »Paßt euch was nich?« – Die beiden waren einen Moment lang still, doch dann:
»Bei wem haste’n rudern gelernt? Siehste’n nich, daß de sogar de Mauern zum Lachen bringst?«
»Wer mir das Rudern gelernt hat?« sagte Agnolo, »dieser Wichsbalken hier!«
»Dann steck ihn dir doch in Arsch!« konterten die Jungs schlagfertig.
»In euren!« brüllte Agnolo rot wie ein Krebs.
»Alter Scheißer!« riefen die Jungs.
»Bolzen von ’ner Schwanzbläserjule!« rief Agnolo.
Unterdessen mühte Agnolo sich weiter ab mit den Rudern, ohne daß das Boot auch nur einen Zentimeter vorwärtskam. Am linken Brückenpfeiler waren noch mehr Hurenbolzen. Sie lagen wie die Eidechsen in den Auskehlungen der Pfeilersteine und waren in der Sonne halb eingeschlafen. Die Schreie der kleinen Jungs hatten sie aufgeweckt. Vollgestaubt standen sie auf und versammelten sich am Rand des Brückenpfeilers, dem Boot gegenüber. – »He, ihr Barkenschiffer«, rief einer, »wartet auf uns!« – »Was will’n der jetz?« sagte Riccetto voller Argwohn. Ein zweiter kletterte an den Ringen bis zur halben Höhe des Pfeilers rauf und, mit einem Schrei, machte er einen Kopfsprung. Die anderen sprangen, wo sie grade standen, und alle begannen, den Fluß mit angewinkelten Armen zu durchschwimmen. Nach ein paar Minuten waren sie da, ihre Haare klebten auf den Augen ihrer Drecksvisagen, und sie hielten sich mit den Händen am Bootsrand fest. – »Was wollter denn?« fragte Marcello. – »Ins Boot«, sagten sie, »oder willste uns etwa nich?« – Sie waren alle älter, und die drei mußten sich in acht nehmen. Die anderen kletterten rein, und ohne weiter Zeit zu verlieren, sagte einer zu Agnolo: »Gib schon« und nahm ihm die Ruder aus der Hand. – »Fahrnwer bis hinter de Brücke da«, fügte er hinzu und sah Agnolo dabei fest in die Augen, als wollte er sagen: ›Einverstanden?‹ – »Fahrnwer also bis hinter die Brücke«, sagte Agnolo. Sofort begann der andere mit aller Kraft zu rudern: doch unter dem Brückenbogen war die Strömung stark, und das Boot war voll. Für die paar Meter brauchten sie über eine Viertelstunde.
Borgo antico
dai tetti grigi sotto il cielo opaco
io t’invoco …
(Mein altes Viertel
mit grauen Dächern unter fahlem Himmel,
dich will ich besingen …)2
sangen die vier aus dem Vicolo del Bologna, lässig ins Boot gelümmelt und aus vollem Hals, damit die, die über den Ponte Sisto und am Lungotevere vorbeigingen, sie auch hören konnten. Das völlig überladene Boot glitt vorwärts, sank aber bis zum Rand ins Wasser.
Riccetto blieb mit langem Gesicht auf dem Boden im Wasser liegen, den Kopf kaum über den Bootsrand heraushebend, und beachtete die Neuen überhaupt nicht. Er tat auch weiterhin so, als wäre er auf hoher See, außer Sichtweite des Festlands. – »Piraten voraus!« rief einer der Trasteveriner an der Spitze des Boots und hielt die Hände wie einen Trichter an seine Gaunerfresse. Die anderen sangen wild weiter. Plötzlich stützte sich Riccetto auf einen Ellbogen, um irgendetwas genauer zu beobachten, das seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und in Ufernähe, fast noch unter den Brückenbögen des Ponte Sisto, auf dem Wasser schwamm. Er konnte nicht genau erkennen, was es war. Das Wasser wellte sich an dieser Stelle in lauter kleinen Ringen, so, als hätte jemand seine Hand eingetaucht: und in der Mitte konnte man wirklich etwas erkennen, das wie ein kleines schwarzes Stück Lumpen aussah.
»Was is das da?« fragte Riccetto schließlich, als er aufstand. Alle sahen zu der Stelle auf der fast unbeweglichen Wasserfläche unter dem letzten Brückenbogen rüber. – »’Ne Schwalbe, du Arschloch«, sagte Marcello. Es gab viele Schwalben dort, die ganz dicht an den Mauern unter der Brücke oder über das Wasser dahinschossen und es fast mit dem Bauch berührten. Die Strömung hatte das Boot etwas zurückgetrieben, und so konnte man sehen, daß es wirklich eine ertrinkende Schwalbe war. Sie flatterte und hopste. Riccetto hatte sich auf den Bootsrand gekniet und weit hinaus gebeugt. – »He, du Scheißkerl! Siehste nich, daßwer beinah umkippen?« sagte Agnolo zu ihm. – »Siehste’n nich, dasse am Ertrinken is!« schrie Riccetto. Der Trasteveriner, der das Boot ruderte, hielt die Ruder über dem Wasser, und die Strömung trieb das Boot langsam zurück an die Stelle, wo die Schwalbe rumflatterte. Doch nach einer Weile verlor er die Geduld und fing wieder an zu rudern. »He, du Mohr«, brüllte Riccetto ihn an und schlug ihn mit der Hand, »wer hat dir’n gesagt, daßde rudern sollst?« – Der Trasteveriner schnalzte verächtlich, und der größte unter ihnen sagte: »Schließlich brauchste dir deshalb ja kein’ abwichsen!« – Riccetto sah zur Schwalbe, die, in Abständen, immer noch aufgeregt flatterte und dabei ganz plötzlich mit den Flügeln schwirrte. Dann warf er sich wortlos ins Wasser und schwamm auf sie zu. Die anderen schrien hinter ihm her und fingen an zu lachen: doch der an den Rudern ruderte weiter gegen die Strömung, in die entgegengesetzte Richtung. Riccetto entfernte sich, von der starken Strömung getrieben, immer weiter weg: sie sahen, wie er kleiner wurde, mit kräftigen Armschlägen bei der Schwalbe auf der stockenden Wasserfläche ankam und versuchte, sie zu packen. »Eh, Riccettooo«, rief Marcello so laut er nur konnte, »warum packste se’n nich?« – Riccetto mußte das gehört haben, denn man konnte gerade noch so seine Stimme hören, als er brüllte: »Se pickt mich!« – »Alter Wichser«, rief Marcello zurück und lachte. Riccetto versuchte, die Schwalbe zu fassen, aber sie entkam ihm flügelschlagend. Inzwischen wurden alle beide jedoch von der Strömung dem Pfeiler zugetrieben, die da unten stärker wurde und voller Strudel war. »Eh, Riccetto«, brüllten die Freunde vom Boot, »lasse doch sausen!« – Doch in diesem Augenblick hatte Riccetto sie entschlossen gepackt und schwamm mit nur einer Hand ans Ufer. – »Kehrnwer um, mach schon«, sagte Marcello zu dem, der ruderte. Sie wendeten. Riccetto saß im verdreckten Ufergras und wartete auf sie, die Schwalbe in den Händen. – »Wozu haste se’n bloß gerettet«, sagte Marcello, »war doch schön zu sehn, ob se abkratzt!« – Riccetto antwortete ihm nicht gleich. – » Se is naß bis auf die Haut«, sagte er nach einer Weile, »wartenwer, bis se trocken is!« – Es dauerte nicht lange, da war sie trocken: fünf Minuten später flog sie schon wieder mit den anderen über den Tiber, und Riccetto konnte sie nicht mehr unterscheiden.
Sommer 1946. An der Ecke der Via delle Zoccolette sah Riccetto im Regen ein paar Leute stehen und stellte sich sachte und unauffällig dazu. Mitten in der Gruppe von dreizehn, vierzehn Leuten mit glänzenden Regenschirmen war noch ein anderer Schirm aufgespannt, der besonders groß war, schwarz und mit drei nebeneinanderliegenden Spielkarten obendrauf: Herz-As, Pik-As und eine Sechs. Ein Neapolitaner schob sie hin und her, und die Leute setzten fünfhundert, tausend und sogar zweitausend Lire auf die Karten. Riccetto sah dem Spiel ungefähr eine halbe Stunde lang zu. Ein Mann spielte ganz verbissen und verlor bei jeder Runde, während andere, auch sie Neapolitaner, mal verloren, mal gewannen. Als sich die erste Spielrunde auflöste, war es schon spät. Riccetto ging auf den Neapolitaner zu, der die Karten neu mischte, und sagte zu ihm:
»Eh du, kann ich mal mit dir reden?«
»Ja«, antwortete der und schob sein Kinn vor.
»Biste aus Neapel?«
»Ja.«
»Und das Spiel hier, spielt ihr das in Neapel?«
»Ja.«
»Und wie wird das gespielt?«
»Naja … schwer zu sagen, aber man kann’s in kurzer Zeit lernen.«
»Lernste’s mir auch?«
»Ja«, sagte der Neapolitaner, »aber …«
Er fing an zu lachen wie jemand, der ein Geschäft abschließt und denkt: ›Eh du, machenwer doch zusamm’ aus, was ich dir sagen soll!‹ Er trocknete sich den Regen in seinem jungen, von Falten durchzogenen Gesicht, in dem seine dicken Lippen wie’n Hühnerarsch runterhingen, und blickte Riccetto in die Augen.