Rechenschwäche oder Rechenschwierigkeiten? – Probleme bei der Eingrenzung und Bestimmung
des Gegenstands
Schwierigkeiten beim Erlernen von Mathematik gelten im Unterschied zum Erlernen der
Schriftsprache als gesellschaftsfähig. Ohne einen Verlust des Ansehens befürchten
zu müssen, kann man Probleme im Mathematikunterricht und schlechte Zeugnisnoten in
diesem Fach zugeben. Trotz dieser eher geringschätzigen Haltung gegenüber der Mathematik
werden die schwachen mathematischen Leistungen deutscher Schüler und Schülerinnen
in den internationalen Vergleichsstudien aber mit Erschrecken zur Kenntnis genommen:
49,9 % der 15-jährigen Hauptschüler und 23,4 % der Gesamtschüler der gleichen Altersstufe
verfügen nicht über die elementarsten Grundkenntnisse in Mathematik (Pisa-Konsortium
2004). Bedeutet dieses Ergebnis, dass alle diese Schülerinnen und Schüler eine Rechenschwäche
oder Rechenstörung haben, oder sind ihre geringen Leistungen lediglich auf ein mangelndes
Interesse am Fach Mathematik zurückzuführen?
Da Angaben zu Häufigkeiten immer davon abhängen, welche Kriterien zur Bestimmung dieser
Häufigkeiten herangezogen werden, soll es zunächst um die Frage gehen, wie „Rechenschwächen“
oder „Rechenstörungen“ definiert werden, um im Anschluss daran zu überlegen, wie die
große Zahl von Schülern mit massiven Rechenschwierigkeiten einzuordnen ist.
Definition „Rechenschwäche“
Um Krankheiten und Störungsbilder weltweit einheitlich zu diagnostizieren, wurde von
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die „Internationale statistische Klassifikation
der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD-10, Dilling et al. 1993)
erstellt und im
Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit ins Deutsche übertragen. In der ICD-10-Klassifikation
wird eine Rechenschwäche unter der Kategorie „umschriebene Entwicklungsstörung schulischer
Fertigkeiten“ als „umschriebene Entwicklungsstörung des Rechnens“ bezeichnet. Der
Begriff „umschrieben“ bedeutet hier, dass sich die Problematik ausschließlich auf
den Bereich des Rechnens, insbesondere auf grundlegende Rechenfertigkeiten wie Addition,
Subtraktion, Multiplikation und Division bezieht.
Definition
Analog zur Diagnose der umschriebenen Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens
(Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Legasthenie) wird eine Rechenschwäche dann diagnostiziert,
wenn die Leistungen des Kindes in einem standardisierten und normierten Rechentest
weit unter dem Wert liegen, der aufgrund des Alters und der Intelligenz zu erwarten
wäre. Das zentrale Kriterium für die Diagnose ist die Diskrepanz zwischen den Leistungen
im Intelligenztest und den Leistungen im Rechentest.
Begründet wird das Diskrepanzkriterium damit, dass von Kindern mit einer durchschnittlichen Intelligenz zu erwarten ist,
dass sie angemessen vom Unterricht profitieren und im gleichen Tempo wie ihre Klassenkameraden
lernen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Kinder weder durch Krankheiten
lange Fehlzeiten in der Schule hatten noch durch Sinnesbehinderungen in ihrem Lernen
eingeschränkt sind.
Die Diskrepanz zwischen den Testergebnissen muss deutlich sein, gefordert wird ein
Unterschied von 1½-2 Standardabweichungen. Bei einer sehr schwachen Rechenleistung
(PR ≤ 15 in einem Rechentest) soll die Leistung im Intelligenztest ungefähr im Durchschnittsbereich
liegen (IQ > 85 oder 70). Außerdem müssen die Schwierigkeiten von Anfang an bestehen
und die schulische Entwicklung behindern.
Diese Definition ist nicht unumstritten, insbesondere das Diskrepanzkriterium ist
vielfach problematisiert und kritisiert worden (Fritz/Ricken 2005; Lorenz 2003; Schipper
2003). Bei Klassifikationen von Lernstörungen stellt sich immer die Frage, wie zuverlässig
und stabil solche „Diagnosen“ getroffen werden können (Mazzocco / Myers 2003). Dies
insbesondere dann, wenn erst die Erfüllung dieser Kriterien zur Förderung berechtigt
bzw. erst unter diesen Bedingungen personelle und finanzielle Ressourcen bereit gestellt
werden (z. B. Finanzierungen außerschulischer Förderungen in einigen Bundesländern).
Es müssen dafür die „richtigen Kinder“ erkannt und Kinder, die nur vorübergehend und
in einzelnen Bereichen Schwierigkeiten im Rechnen haben, von Kindern mit umfassenderen
Rechenstörungen unterschieden werden.
Die Einhaltung des Diskrepanzkriteriums bei der Diagnose bedeutet aber auch, dass
bei einigen Kindern die Schwierigkeiten nicht erkannt werden, weil die Differenzen
zu klein sind. In der Folge wären diese Kinder aus der spezifischen Förderung ausgeschlossen
(Schipper 2003). Hinzu kommt, dass Intelligenztests in der Regel Aufgaben (z. B. Klassenbildungen,
Reihenfortsetzungen, Vergleichen von Mustern) beinhalten, die auch für die Entwicklung
mathematischer Kompetenzen als relevant gelten (Lorenz 2005). Bearbeiten rechenschwache
Kinder nun solche Aufgaben, wird unter Umständen ihr Intelligenzwert so weit nach
unten gedrückt, dass sie keinen durchschnittlichen Intelligenzwert mehr erreichen.
Damit würden sie das Diskrepanzkriterium nicht erfüllen und wären von einer gezielten
Förderung ausgegrenzt (Schipper 2003).
Neben diesen Kindern würden auch jene keine spezielle Förderung erhalten, deren Intelligenzwerte
im unterdurchschnittlichen Bereich liegen, obwohl sie für den mathematischen Bereich
eine spezifische Unterstützung benötigen. Die für diese Kinder üblicherweise realisierte
behindertenpädagogische Förderung schließt jedoch eine spezifische mathematische Förderung
nicht automatisch ein.
Die Frage, ob rechenschwache Kinder mit durchschnittlicher Intelligenz von rechenschwachen
Kindern mit unterdurchschnittlicher Intelligenz in Bezug auf ihre Rechenleistung qualitativ
zu unterscheiden sind, wurde bislang kaum untersucht. Jiménez González und García
Espinel (2002) z.B. publizierten eine Studie mit Kindern im Alter von 7 bis 9 Jahren,
die in drei Gruppen eingeteilt waren: Rechenschwache Kinder mit einer Diskrepanz zwischen
Intelligenz- und Rechenleistungen, rechenschwache Kinder ohne Diskrepanz sowie Kinder
mit durchschnittlichen Intelligenz- und Rechenleistungen. Zu lösen waren einfache
Sachaufgaben im Zahlenraum bis 20 mit verschiedenen gesuchten Mengen (Ausgangsmenge,
Teilmenge, Endmenge). Wie erwartet, war die Lösungswahrscheinlichkeit bei den im Rechnen
unauffälligen Kindern höher als in den anderen beiden Gruppen. Die beiden Gruppen
der rechenschwachen Kinder unterschieden sich aber weder in der Lösungshäufigkeit
noch in den Lösungsstrategien voneinander.