Prof. Dr. Annemarie Fritz lehrt Pädagogische Psychologie an der Universität Duisburg-Essen Dr. Gabi Ricken lehrt Sonderpädagogische Psychologie an der Universität Hamburg
Lektorat / Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlages: Ulrike Auras, München
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UTB-ISBN 978-3-8252-3017-3 (Print), 978-3-8385-3017-8 (E-Book) ISBN 978-3-497-01976-2
ISBN 978-3-838-53017-8 (E-Book)
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Einleitung
Im Zuge der Teilnahme Deutschlands an den internationalen Bildungsgangstudien verständigte
sich die erziehungswissenschaftliche, psychologische und fachdidaktische Diskussion
auf ein neues Paradigma: den Begriff der Kompetenz. Als Kompetenzen bezeichnet man
die Leistungsfähigkeiten einer Person in einem bestimmten Gegenstandsbereich (Domäne).
Sie werden definiert als die spezifischen kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten,
die erforderlich sind, um Probleme in dem jeweiligen Gegenstandsbereich erfolgreich
zu lösen. Damit geht der Kompetenzbegriff weit über das abprüfbare curriculare Wissen
hinaus, da er vor allem die Anwendung des Gelernten auf „lebensweltliche“ Bezüge bzw.
auf nicht im Unterricht behandelte neue Situationen impliziert. Das bedeutet, Kompetenzen
zeigen sich darin, dass spezifische Kenntnisse zur Bewältigung unterschiedlicher Anforderungen
und in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden können.
Um den Umfang, in dem jemand über spezifische Kompetenzen (z. B. im Bereich Mathematik)
verfügt, einzuschätzen, werden die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit einer
Skala (bisher meist nur mit einer) nach Kompetenzstufen oder -niveaus unterschieden.
Eine hohe Kompetenz steht für umfassende Kenntnisse im jeweiligen Wissensbereich,
entsprechend bedeutet eine geringe Kompetenz, dass nur grundlegende „erste“ Kenntnisse
vorhanden sind, um Anforderungen des Gegenstandsbereichs zu bewältigen.
Auf diese Weise kann einerseits die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems abgebildet
und ein konzeptueller Rahmen für Bildungsstandards geschaffen werden. Andererseits
ermöglicht die Einteilung von Leistungen in Kompetenzniveaus auch eine Abbildung individueller
Unterschiede zwischen Kindern nach qualitativen Aspekten. Damit lassen sich auch rechenschwache
Kinder hinsichtlich ihrer Fähigkeiten in ein Kompetenzraster einordnen, sodass auf
das Niveau ihrer aktuellen Kompetenzentwicklung geschlossen werden kann. Da Kompetenzniveaus
zugleich auch als Entwicklungsniveaus zu interpretieren sind, ist sodann der aktuelle
Kenntnisstand mit der Zone der nächsten Entwicklung in Beziehung zu setzen. Damit
steht ein individueller Bezugsrahmen für die Bewertung der Entwicklung, die Begründung
von Förderzielen und die Bewertung von Veränderungen zur Verfügung.
Die Kompetenzperspektive ist im vorliegenden Buch für die Einordnung und Interpretation
von „Rechenschwächen“ leitend und soll Rechenschwächen als unterschiedlich stark ausgeprägte
Entwicklungsrückstände verstehbar machen: Rechenschwache Kinder bleiben im Prozess
der Entwicklung von Konzepten und Kompetenzen auf bestimmten Niveaustufen „stehen“.
Ausgehend von frühen Kompetenzen steht die Frage im Mittelpunkt, wie diese aufeinander
aufbauen, welche Niveaus sich unterscheiden lassen und ob „Nadelöhre“ oder „Meilensteine“
auszumachen sind, die eine besondere Bedeutung für die Entwicklung von Rechenkompetenzen
bzw. Rechenschwächen haben. Wir verstehen Rechenstörungen also aus einer entwicklungsorientierten
Perspektive heraus. Unter dieser Perspektive werden schließlich diagnostische Ansätze
systematisiert und hinsichtlich ihrer Aussagen bewertet sowie Fragen der Entwicklung
von Förderkonzepten diskutiert.
Dafür werden zunächst Ansätze, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Erkennung
von Rechenschwierigkeiten bzw. mit der Förderung rechenschwacher Kinder befassen,
ausgewertet. Über eine rein additive Darstellung der unterschiedlichen Perspektiven
hinaus wird dann in diesem Buch der Versuch unternommen, ein einheitliches Konzept
zu entwickeln, mit dem ein Bogen von den wesentlichen Meilensteinen der Entwicklung
zu diagnostisch brauchbaren Aufgaben geschlagen wird, deren Auswertung zugleich Ansatzpunkte
für die Konzipierung der Förderung liefert. Diagnostik und Förderung werden in einen
gemeinsamen entwicklungstheoretischen Bezugsrahmen gesetzt.
Diese theoretische Orientierung soll Lehrerinnen und Lehrern einen Zugang bieten,
eigene Beobachtungen und Kenntnisse einzuordnen und als Basis für das eigene pädagogische
Handeln zu nutzen.
1
Rechenschwäche oder Rechenschwierigkeiten? – Probleme bei der Eingrenzung und Bestimmung
des Gegenstands
Schwierigkeiten beim Erlernen von Mathematik gelten im Unterschied zum Erlernen der
Schriftsprache als gesellschaftsfähig. Ohne einen Verlust des Ansehens befürchten
zu müssen, kann man Probleme im Mathematikunterricht und schlechte Zeugnisnoten in
diesem Fach zugeben. Trotz dieser eher geringschätzigen Haltung gegenüber der Mathematik
werden die schwachen mathematischen Leistungen deutscher Schüler und Schülerinnen
in den internationalen Vergleichsstudien aber mit Erschrecken zur Kenntnis genommen:
49,9 % der 15-jährigen Hauptschüler und 23,4 % der Gesamtschüler der gleichen Altersstufe
verfügen nicht über die elementarsten Grundkenntnisse in Mathematik (Pisa-Konsortium
2004). Bedeutet dieses Ergebnis, dass alle diese Schülerinnen und Schüler eine Rechenschwäche
oder Rechenstörung haben, oder sind ihre geringen Leistungen lediglich auf ein mangelndes
Interesse am Fach Mathematik zurückzuführen?
Da Angaben zu Häufigkeiten immer davon abhängen, welche Kriterien zur Bestimmung dieser
Häufigkeiten herangezogen werden, soll es zunächst um die Frage gehen, wie „Rechenschwächen“
oder „Rechenstörungen“ definiert werden, um im Anschluss daran zu überlegen, wie die
große Zahl von Schülern mit massiven Rechenschwierigkeiten einzuordnen ist.
Definition „Rechenschwäche“
Um Krankheiten und Störungsbilder weltweit einheitlich zu diagnostizieren, wurde von
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die „Internationale statistische Klassifikation
der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD-10, Dilling et al. 1993)
erstellt und im
Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit ins Deutsche übertragen. In der ICD-10-Klassifikation
wird eine Rechenschwäche unter der Kategorie „umschriebene Entwicklungsstörung schulischer
Fertigkeiten“ als „umschriebene Entwicklungsstörung des Rechnens“ bezeichnet. Der
Begriff „umschrieben“ bedeutet hier, dass sich die Problematik ausschließlich auf
den Bereich des Rechnens, insbesondere auf grundlegende Rechenfertigkeiten wie Addition,
Subtraktion, Multiplikation und Division bezieht.
Definition
Analog zur Diagnose der umschriebenen Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens
(Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Legasthenie) wird eine Rechenschwäche dann diagnostiziert,
wenn die Leistungen des Kindes in einem standardisierten und normierten Rechentest
weit unter dem Wert liegen, der aufgrund des Alters und der Intelligenz zu erwarten
wäre. Das zentrale Kriterium für die Diagnose ist die Diskrepanz zwischen den Leistungen
im Intelligenztest und den Leistungen im Rechentest.
Begründet wird das Diskrepanzkriterium damit, dass von Kindern mit einer durchschnittlichen Intelligenz zu erwarten ist,
dass sie angemessen vom Unterricht profitieren und im gleichen Tempo wie ihre Klassenkameraden
lernen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Kinder weder durch Krankheiten
lange Fehlzeiten in der Schule hatten noch durch Sinnesbehinderungen in ihrem Lernen
eingeschränkt sind.
Die Diskrepanz zwischen den Testergebnissen muss deutlich sein, gefordert wird ein
Unterschied von 1½-2 Standardabweichungen. Bei einer sehr schwachen Rechenleistung
(PR ≤ 15 in einem Rechentest) soll die Leistung im Intelligenztest ungefähr im Durchschnittsbereich
liegen (IQ > 85 oder 70). Außerdem müssen die Schwierigkeiten von Anfang an bestehen
und die schulische Entwicklung behindern.
Diese Definition ist nicht unumstritten, insbesondere das Diskrepanzkriterium ist
vielfach problematisiert und kritisiert worden (Fritz/Ricken 2005; Lorenz 2003; Schipper
2003). Bei Klassifikationen von Lernstörungen stellt sich immer die Frage, wie zuverlässig
und stabil solche „Diagnosen“ getroffen werden können (Mazzocco / Myers 2003). Dies
insbesondere dann, wenn erst die Erfüllung dieser Kriterien zur Förderung berechtigt
bzw. erst unter diesen Bedingungen personelle und finanzielle Ressourcen bereit gestellt
werden (z. B. Finanzierungen außerschulischer Förderungen in einigen Bundesländern).
Es müssen dafür die „richtigen Kinder“ erkannt und Kinder, die nur vorübergehend und
in einzelnen Bereichen Schwierigkeiten im Rechnen haben, von Kindern mit umfassenderen
Rechenstörungen unterschieden werden.
Die Einhaltung des Diskrepanzkriteriums bei der Diagnose bedeutet aber auch, dass
bei einigen Kindern die Schwierigkeiten nicht erkannt werden, weil die Differenzen
zu klein sind. In der Folge wären diese Kinder aus der spezifischen Förderung ausgeschlossen
(Schipper 2003). Hinzu kommt, dass Intelligenztests in der Regel Aufgaben (z. B. Klassenbildungen,
Reihenfortsetzungen, Vergleichen von Mustern) beinhalten, die auch für die Entwicklung
mathematischer Kompetenzen als relevant gelten (Lorenz 2005). Bearbeiten rechenschwache
Kinder nun solche Aufgaben, wird unter Umständen ihr Intelligenzwert so weit nach
unten gedrückt, dass sie keinen durchschnittlichen Intelligenzwert mehr erreichen.
Damit würden sie das Diskrepanzkriterium nicht erfüllen und wären von einer gezielten
Förderung ausgegrenzt (Schipper 2003).
Neben diesen Kindern würden auch jene keine spezielle Förderung erhalten, deren Intelligenzwerte
im unterdurchschnittlichen Bereich liegen, obwohl sie für den mathematischen Bereich
eine spezifische Unterstützung benötigen. Die für diese Kinder üblicherweise realisierte
behindertenpädagogische Förderung schließt jedoch eine spezifische mathematische Förderung
nicht automatisch ein.
Die Frage, ob rechenschwache Kinder mit durchschnittlicher Intelligenz von rechenschwachen
Kindern mit unterdurchschnittlicher Intelligenz in Bezug auf ihre Rechenleistung qualitativ
zu unterscheiden sind, wurde bislang kaum untersucht. Jiménez González und García
Espinel (2002) z.B. publizierten eine Studie mit Kindern im Alter von 7 bis 9 Jahren,
die in drei Gruppen eingeteilt waren: Rechenschwache Kinder mit einer Diskrepanz zwischen
Intelligenz- und Rechenleistungen, rechenschwache Kinder ohne Diskrepanz sowie Kinder
mit durchschnittlichen Intelligenz- und Rechenleistungen. Zu lösen waren einfache
Sachaufgaben im Zahlenraum bis 20 mit verschiedenen gesuchten Mengen (Ausgangsmenge,
Teilmenge, Endmenge). Wie erwartet, war die Lösungswahrscheinlichkeit bei den im Rechnen
unauffälligen Kindern höher als in den anderen beiden Gruppen. Die beiden Gruppen
der rechenschwachen Kinder unterschieden sich aber weder in der Lösungshäufigkeit
noch in den Lösungsstrategien voneinander.
Auch die Annahme, dass Rechenschwächen „umschriebene Entwicklungsstörungen“ sind und
sich ausschließlich auf den Bereich des Rechnens beziehen, wurde durch Untersuchungen
in jüngerer Zeit infrage
gestellt. Schwenck und Schneider (2003) konnten belegen, dass sich Rechenstörungen
durchaus in Verbindung mit Lese-Rechtschreib-Schwächen bei durchschnittlicher Intelligenz
entwickeln können.
Dies spricht dafür, in künftigen Untersuchungen eher nach Gemeinsamkeiten in der Entwicklung
rechenschwacher Kinder zu suchen, als durch weitere Kriterien weitere Differenzierungen
vorzunehmen (Stanovich 1999; Grube 2008). Insofern bedürfen alle Kinder mit Schwierigkeiten
im Rechenerwerbsprozess einer gezielten Unterstützung, damit sich nicht Schwierigkeiten
beim Erwerb des Basiswissens zu massiven mathematischen Problemen ausweiten (Schipper
2003).
Neben diesen kritisch zu sehenden Aspekten enthält die ICD-10-Definition einen sehr
wesentlichen Gedanken: Probleme im Rechnen sollen „von Anfang an“ bestehen. Neuere
Untersuchungen sprechen für die Bedeutung dieses Kriteriums: Bereits im Kindergartenalter
können Prädiktoren bestimmt werden, aus denen die Entwicklung von Rechenstörungen
vorherzusagen ist. Was „von Anfang an“ bedeutet und um welche Prädiktoren es sich
handelt, wird weiter unten in diesem Kapitel und in Kapitel 2 noch genauer ausgeführt.
Prävalenz der Rechenschwäche
Nach den ICD-10-Kriterien kommen Rechenstörungen etwa gleich häufig vor wie Lese-Rechtschreib-Schwächen,
nämlich bei 4,5 % bis 6% der Kinder (Hein et al. 2000). Je nach der Strenge der verwendeten
Kriterien schwanken die Angaben zwischen den Studien, die in verschiedenen Ländern
durchgeführt wurden (Jacobs/Petermann 2007). Neben den reinen Rechenstörungen werden
auch Kombinationen mit anderen Problemen beschrieben. So entwickeln 2,3 % bis 2,7
% aller Kinder eine Rechenschwäche und eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (Gross-Tsur
et al. 1996).
Nach den eingangs zitierten PISA-Befunden wird der Anteil von Schülerinnen und Schülern
mit förderungsbedürftigen Rechenschwierigkeiten weit höher beziffert, nämlich mit
15 % (Schipper 2003, Lorenz 2003). Auch in der IGLU-Studie (Walther et al. 2003, Bos
et al. 2003), in der Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der 4. Grundschulklasse
in den Fächern Mathematik, Lesen und Sachunterricht untersucht wurden, zeigten sich
ähnlich hohe Anzahlen von Schülern, deren mathematische Fähigkeiten als außerordentlich
problematisch zu beurteilen sind. Die Kenntnisse der Kinder werden in dieser Studie
Kompetenzstufen zugeordnet (vgl. Tabelle 1). Kompetenzstufenmodelle basieren auf der Annahme, dass bessere Kenntnisse und Fertigkeiten
mit höheren Kompetenzen einhergehen. Kinder mit höheren Kompetenzen sind demzufolge
in der Lage, schwierigere Aufgaben zu bewältigen als Kinder mit geringeren Kompetenzen.
Für den Bereich Mathematik wurden fünf Kompetenzstufen unterschieden:
Tabelle 1: Mathematische Kompetenzstufen nach IGLU (Walther et al. 2003, 202)
KompetenzstufenInhalteIRudimentäres schulisches AnfangswissenIIGrundfertigkeiten im Zehnersystem, der ebenenGeometrie und bei GrößenvergleichenIIIVerfügbarkeit der Grundfertigkeiten und Arbeit mit einfachen ModellenIVBeherrschung Grundrechenaufgaben, Beherr schung von Aufgaben der räumlichen Geometrie
und begrifflicher Modellentwicklung
VProblemlösen bei Aufgaben mit verschiedenen mathematischen Kontexten
42 % der Viertklässler gehören zur Gruppe der guten und sehr guten Schüler in Mathematik
und verfügen damit über ein solides Fundament für den Ausbau ihrer Kenntnisse an weiterführenden
Schulen. Dagegen erreichten fast 20 % der Schülerinnen und Schüler im Rechnen nur
Kompetenzstufe I oder II, was bedeutet, dass sie am Ende des vierten Grundschuljahres
höchstens über die Kenntnisse von Zweitklässlern verfügen (Walther et al. 2003). Diese
Kinder müssen als Risikokinder in dem Sinne betrachtet werden, dass die Entwicklung
ihrer Fertigkeiten bereits gestört ist und auch gestört bleiben wird, wenn nicht gezielt
Fördermaßnahmen erfolgen.
Die Hoffnung, dass die Leistungsschwächen der Schüler in der Sekundarstufe, nach der
Einteilung in leistungshomogene Gruppen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) ausgeglichen
werden, erfüllt sich offensichtlich nicht. Die Ergebnisse der IGLU-Studie lassen sich
folgendermaßen zusammenfassen: „Was auf der Ebene der Grundschule nicht gelingt, lässt
sich offenbar – dies zeigen die PISA-Befunde – auf
der Ebene der Sekundarstufe I nicht mehr kompensieren. Vielmehr ist nach den PISA-Befunden
davon auszugehen, dass sich die auf der Ebene der Grundschule nicht befriedigend gelösten
Probleme auf der Ebene der Sekundarstufe weiter verschärfen“ (Schwippert et al. 2003,
300). Für die betroffenen Kinder bedeutet dies, dass sich ihre Entwicklungsprobleme
in der Sekundarstufe verstärken und mit einer Kompensation nicht zu rechnen ist.
Was ist das Fazit dieser Definitions- und Häufigkeitsbetrachtung? Bestimmt man einen Förderbedarf lediglich für diejenigen Schülerinnen und Schüler,
für die die ICD-10-Kriterien der Rechenstörung zutreffen, würden die Probleme vieler
Schüler übersehen. Fragen wie –Wie viele Kinder sind rechenschwach? Anhand welcher
Kriterien ist dies festzustellen? Welche Kriterien taugen? – sind wenig zielführend.
Fragen der Klassifikation von Rechenstörungen sollten daher überwunden und ersetzt
werden durch Fragen danach, ob ein Kind Schwierigkeiten beim Rechnenlernen und damit
einen Bedarf an individueller Unterstützung und Förderung hat. In diesem Sinne wird
im Folgenden auch nur noch der Terminus Rechenschwierigkeiten verwendet. Er schließt alle Kinder ein, bei denen sich Probleme beim Rechnenlernen
bereits von Beginn der ersten Klasse an zeigen.
Ursachen von Rechenschwierigkeiten
Die Frage nach den Ursachen für das Zustandekommen von Rechenschwächen oder Rechenschwierigkeiten
ist letztlich nicht eindeutig zu beantworten. Aus unterschiedlichen theoretischen
Perspektiven wurde versucht, Aufschluss über die Problematik zu gewinnen. Aus neuropsychologischer
Perspektive wurde nach funktionalen Besonderheiten während der Bearbeitung von Aufgaben
gesucht. Mathematikdidaktik, Psychologie und Sonderpädagogik haben nach spezifischen
Leistungsbeeinträchtigungen geforscht. Es wurden unspezifische (Wahrnehmung, Arbeitsgedächtnis)
und spezifische Fähigkeiten (Zahlwortkenntnis, Mengenverständnis) in ihrer Bedeutung
für das Rechnenlernen untersucht. Es wird sicher zu Recht vermutet, dass motivationale
und emotionale Prozesse eine große Rolle spielen und Unterrichtsbedingungen an der
Entwicklung von Schwierigkeiten beteiligt sind, auch wenn empirische Studien dazu
fehlen.
Überblick
Die meisten Autoren gehen davon aus, dass Rechenschwierigkeiten multifaktoriell bedingt
sind, zumindest die Ausprägung der Schwierigkeiten von einer Vielzahl von Faktoren
abhängt, die sich wechselseitig beeinflussen.