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Wenn du wüsstest, dass du dafür sorgst, dass jemand einen Fehler begeht, würdest du es dann trotzdem tun? Die Winterferien hätten für Joshua perfekt sein können: skifahren, sich entspannen und zocken. Doch als ausgerechnet Olaf mit im Reisebus nach Österreich sitzt, droht der langersehnte Skiurlaub zu einem Fiasko zu werden. Denn während er Olaf seit einem Vorfall in der Vergangenheit nicht mehr aus dem Kopf bekommt und ihm heimlich bei Instagram folgt, hat dieser in der Zeit eine große Fangemeinde aufgebaut und dazu noch eine umwerfende Freundin gefunden. Zwischen Schneeballschlachten und Whirlpoolbesuchen erkennt Joshua, dass der schöne Schein aus Fotos, Storys und Kooperationen trügt, und er muss sich entscheiden, ob er bereit ist, auf sein Herz zu hören.
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Matti Laaksonen
REGEN ZU SCHNEE
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
Matti Laaksonen | [email protected] | www.mattilaaksonen.de
© 2023 Matti Laaksonen
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
Korrektur: Vanessa Balassa & Kerstin Neubauer-Krause
Covergestaltung und Innendesign unter Verwendung folgender Materialien:
ma_i_vi auf creativemarket.com
Muse Art auf creativemarket.com
Soft Brushes auf brusheezy.com
Letterflow Studio auf creativefabrica.com
Für Nea2 & Meg, die mich (meistens) rechtzeitig vom Haken holen.
Kapitel 1 – 24. Dezember
Regen. Inzwischen den dreiundzwanzigsten Tag in Folge. Joshua zählte mit, denn er hatte die Hoffnung, dass es in diesem Jahr doch noch schneien würde, den gesamten Dezember über nicht aufgegeben. Langsam schwand die jedoch unter Regenwolken und Matschlöchern.
Die einzige Entschädigung war die Aussicht auf den diesjährigen Winterurlaub. Das erste Mal überhaupt, dass sie in der Zeit etwas unternahmen. Seine Eltern fuhren am liebsten im Sommer weg – und Joshua wollte eigentlich gar nicht mehr mitfahren, schließlich wurde er in nicht ganz zwei Wochen achtzehn, da machte man andere Dinge: an den See mit Kumpels, auf Partys gehen, lange Zockerwochenenden. Doch die Chance auf einen richtigen Winter in Österreich wollte und konnte er sich nicht entgehen lassen, dafür nahm er auch in Kauf, dass es sich bei diesem Urlaub um den alle zwei Jahre stattfindenden Betriebsurlaub der Firma, in der seine Mutter arbeitete, handelte.
Vor zwei Jahren war er zuletzt dabei gewesen. Und vor vier Jahren … Joshua seufzte. Vor vier Jahren hatte er sein Herz verloren und bis heute nicht wiedergefunden, obwohl er es gesucht hatte, zwischen all den Dingen, die sein Leben bot. Es war unwiderruflich weg. Zwischen grünen Augen und blonden Locken, vorbei an Grübchenlächeln und Sixpack.
Der Regen prasselte gegen die Scheibe seines Fensters, hinterließ graue Schlieren und verschleierte die Sicht in den ebenso tristen Garten; Grün auf Braun in Pfützen und Schlamm.
Joshua stopfte einen weiteren Pulli in seinen Rucksack, faltete eine Hose zusammen und legte sie hinein, danach folgten der Laptop und das Ladekabel – beides dürfte er auf keinen Fall vergessen. Weihnachtszeit war Bonuszeit bei Steam und in diversen Spielen. Gerade in Dead by Daylight musste er die abgreifen, da er seinen Michael Myers hochleveln wollte. Und sollte sich wider Erwarten doch herausstellen, dass er nach zwei Tagen skifahren keine Lust mehr hatte, hätte er wenigstens etwas zu tun, damit er sich nicht an die ausgeklügelten wie langweiligen Pläne seines Vaters halten musste.
So ein Blödsinn!
Seit der siebten Klasse – in der sie eine Skifreizeit unternommen hatten – träumte er von einem richtigen Winterurlaub und hing seinen Eltern jährlich in den Ohren damit, doch hatte das nie geklappt zwischen knappem Budget und Traditionen, die gepflegt werden wollten. Die Skihalle in Neuss war zwar eine Alternative, aber nach spätestens drei Abfahrten hatte Joshua die gerade Piste dann auch wieder satt. Und hinter all dem Weiß war es eben doch nur eine kühle Halle am Rhein, die über die Tatsache hinwegzutäuschen versuchte, dass es seit Jahren immer wärmer wurde und der Schnee nur ein seltener Gast geworden war.
In diesem Jahr war der Chef seiner Mutter auf die glorreiche Idee gekommen, im Winter wegzufahren. Es hatte also Tradition gegen Tradition gekämpft und schlussendlich die halbe Verpflichtung gewonnen.
Joshuas Smartphone leuchtete auf, eine Benachrichtigung von Instagram war eingetroffen. Die Meldung über einen neuen Post. Sein Herz klopfte etwas schneller, allein schon beim Namen, und er musste sich zusammenreißen, damit er den Beitrag nicht sofort anklickte. Er war schließlich kein Stalker und wollte auch nicht den Eindruck erwecken, aber seine Likes und Kommentare der letzten Monate sprachen für sich. Und wenn er genauer darüber nachdachte, dann war er nur einer von Zehntausenden, kaum auffällig genug, um irgendetwas zu erwecken. Aber jetzt waren Ferien, und die wollte er nicht mit Instagram verschwenden, sondern einfach mal ein paar Tage nicht nachschauen.
Es klopfte gegen seine Zimmertür. »Wie weit bist du?«, fragte seine Mutter hindurch.
Joshua legte das Smartphone beiseite und zog den Reißverschluss des Rucksacks zu. »Bin gleich fertig.«
»Hast du auch genug frische Unterwäsche?« Seine Mutter schaute durch einen schmalen Spalt und hatte ein gemeines Grinsen im Gesicht.
Joshua verdrehte die Augen. Es war bisher nur einmal vorgekommen, dass er zu wenig dabeigehabt hatte. Das kam nun mal von der »möglichst selbstständigen« Erziehung. Seine Eltern konnten eben damit rechnen, dass er etwas vergaß und sein Vater mit ihm einen Waschsalon in Kroatien suchen musste, weil niemand das Vier-Quadranten-System verstand. »Ja«, sagte er gedehnt und ging im Kopf doch noch einmal durch, ob es wirklich reichte. Denn auch das war sicher, er vergaß gern und viel und Kontrolle war da besser, als Zeit auf der Piste einzubüßen, weil er seine Unterwäsche im Waschbecken durchdrücken musste.
»Und hast du auch an die langen Männer gedacht?«, hörte er seinen Vater aus dem Hintergrund. Er räumte in der Küche herum, schon den ganzen Tag. Viel zitierte Traditionen, die dort drin entstanden.
»Natürlich«, gab er zurück und machte sich eine geistige Notiz. Skiunterwäsche einpacken.
»Deine Großeltern kommen gleich, sie haben schon angerufen, dass sie auf dem Weg sind.« Damit schloss seine Mutter die Tür wieder und Joshua griff in seine Kommode, aus der er die neue Skiunterwäsche hervorkramte und in seinen Rucksack steckte. Wäre schön blöd gewesen, wenn er die vergessen hätte, aber auch typisch für ihn. Lieber hätte er sich die Eier abgefroren, statt gestehen zu müssen, dass er nicht daran gedacht hatte.
***
Dieses Weihnachten war alles ein bisschen anders, bedingt durch den Urlaub. Normalerweise feierten sie Heiligabend unter sich und fuhren erst an den beiden Weihnachtsfeiertagen zu den Großeltern. Doch dieses Jahr würden sie zu ihnen kommen, weil sie übermorgen bereits im Bus Richtung Österreich säßen, mitten in der Nacht, weshalb sie den ersten Feiertag vermutlich schon nachmittags ins Bett gingen, er kannte seine Eltern. Immer gut vorbereitet und durchorganisiert, vor allem sein Vater. Er hatte sogar eine Liste mit Fütterungszeiten und exakten Grammangaben des Futters für seine Fische hinterlegt, an die sich seine Großeltern zu halten hatten. Vor zwei Jahren war es nämlich zu einem angeblichen Fütterungsexzess gekommen, bei der ihm drei seiner kostbaren Fische gestorben waren. Und die waren das Heiligtum seines Vaters. Joshua konnte zwar nicht verstehen, was er an ihnen fand, doch eigentlich war es auch ganz schön zu sehen, dass sein Vater sich für etwas begeistern konnte – und es war allemal besser als die Modelleisenbahn seiner Mutter. Die brauchte aber immerhin keine Urlaubspflege. Und eigentlich war es egal, denn mit seinem Hobby konnten die beiden ebenfalls kaum etwas anfangen und scherzten darüber, dass er irgendwann in einer fiktiven Welt verschwinden würde. Gefangen zwischen Skyrim und Kaer Morhen, mit einer Okarina und Mithril-Säbel im Gepäck.
Der Regen trommelte weiterhin gegen die Scheibe, als Joshua den Rucksack von seinem Bett hievte und an den Schreibtisch lehnte. Er war fertig gepackt und Joshua glaubte nicht, dass er noch etwas Essentielles vergessen hatte. Während er trotzdem im Geiste die Liste durchging, zog er sich um, denn bisher trug er eine Jogginghose und ein Shirt, aber wenn seine Großeltern kamen, sollte er wenigstens eine Jeans anziehen, damit er keine blöden Sprüche erntete. »Wenn ich so an Heiligabend ausgesehen hätte …!« und dergleichen, die seine Großeltern kaum böse meinten, die ihn dennoch nervten.
Allein bei dem Gedanken daran schüttelte Joshua schon den Kopf. Zum Glück sahen seine Eltern das wesentlich lockerer, da musste er nur zu den Firmenfeiern und zu den gemeinsamen Abenden im Hotel ein Hemd anziehen, für die Außenwirkung.
Wieder leuchtete sein Smartphone auf. Eine Nachricht im Gruppenchat.
Hendrik:
Jo, schöne Weihnachten euch allen!
Deborah:
Schöne Weihnachten und reichlich Geschenke!
Kadir:
Ja, ja. Esst nicht so viel.
Joshua:
Frohe Weihnachten!
Die Benachrichtigung von Instagram ignorierte er mit schwerem Herzen, doch wenn er jetzt nachschaute, dann würde er wieder für einige Minuten durch den Feed scrollen, neueste Ankündigungen von Streamern lesen, das ein oder andere Reel anschauen und schon wären zwei Stunden verstrichen. Aber nur einen kurzen Blick riskieren? Nur dieses eine Profil … Es war wie eine Sucht, wohin auch sonst mit einem Herzen, das eigentlich gar nicht mehr in der eigenen Brust schlug, sondern dort lag, wo es unerreichbar schien.
Es klingelte. »Joshua!«, rief seine Mutter von unten.
In einer fließenden Bewegung steckte er das Smartphone in seine Hosentasche zurück und flitzte die Treppe nach unten, wo seine Großeltern die Mäntel an die Garderobe hängten.
»Frohe Weihnachten!«, wünschte seine Großmutter sofort und drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange.
Joshua löste sich und wischte sich über die Stelle.
***
»Frohe Weihnachten.« Wenigstens das blieb immer gleich.
Das diesjährige Büfett war allerdings nicht so opulent wie all die Jahre zuvor. Normalerweise hätten sie Reste für die nächsten fünf Tage, da sie aber so lange nicht mehr hier sein würden, hatte sich sein Vater auf Kartoffelsalat mit Würstchen beschränkt. Zumindest diese Tradition wolle gepflegt werden, hatte er gesagt. Und Joshua wusste, dass es ihm schwergefallen war, auf die anderen Salate und das Drumherum zu verzichten.
Unter dem Weihnachtsbaum – der in diesem Jahr ebenfalls nur aus einem einzelnen Tannenzweig mit drei verloren wirkenden Kugeln bestand – stapelten sich kleine Geschenktürme. Allesamt von seinen Großeltern, denn seine Eltern hatten ihm die Reise bezahlt, und Winterurlaub mit Skipass und -verleih war verdammt teuer. Trotzdem hoffte er, dass er das neue Headset und vielleicht auch die Maus bekam, die er sich so sehnlichst wünschte.
Im Radio liefen Weihnachtslieder in Dauerschleife: Wham!, Mariah Carey, Frankie goes to Hollywood und wie sie nicht alle hießen. Dazu die Unterhaltung seiner Eltern mit den Großeltern, sein Vater, der bestimmt zum hundertsten Mal erklärte, wo sich die Futterliste befand und dass sie sich daran zu halten hatten. Und obwohl dieses Jahr der Heiligabend so anders war, lag doch diese besinnliche Stimmung in der Luft, spätestens als das Essen vom Tisch geräumt worden war und sie mit Glühwein und Punsch auf der Couch saßen und die Geschenke verteilten. Natürlich bekamen seine Großeltern etwas geschenkt, wie jedes Jahr ein Foto von Joshua und seinen Eltern im peinlichen Familienlook, eine weitere Tradition, die gepflegt wurde. Es würde sich zu den anderen auf dem Regal gesellen.
Joshua zog an dem Papier, das knisterte und zu Boden fiel, sobald er entdeckte, dass sich darin wirklich Headset und Maus befanden.
»Danke schön!«, sagte er und schaute sich direkt die Verpackung an. Am liebsten hätte er sie sofort aufgerissen und getestet, doch sein Laptop war ja schon eingepackt und außerdem konnten es seine Großeltern nicht leiden, wenn er direkt aufsprang und mit den Geschenken spielte. Das war schon immer so gewesen und würde auch immer so bleiben. Und so stellte er die Kartons wieder zurück und umarmte seine Großeltern zum Dank.
Die Kerzen flackerten und hüllten den Raum in angenehmes, warmes Licht, die Musik dudelte weiterhin im Hintergrund und wechselte von Pop zu den traditionelleren Liedern. Es duftete nach Gewürzen und Tannenzweig, nach Kakao mit Zimt und Joshua konnte es kaum mehr erwarten, dass es endlich nach Österreich ging. Denn auch wenn das alles hier schön und besinnlich war, so wollte er doch nur eins: skifahren!
T -2 Tage.
Kapitel 2 – 26. Dezember
Endlich war es so weit! Auch wenn er dafür schon um drei Uhr morgens aufstehen musste, da der Bus um kurz nach fünf Uhr losfahren würde und sein Vater einen großzügigen Puffer eingerechnet hatte. Trotzdem war Joshua so munter und aufgeweckt wie sonst nur nach einem ausgedehnten Zehn-Stunden-Schlaf.
Sein Herz flatterte und er lief zwischen seinem Zimmer, dem Flur und der Küche hin und her, weil er nichts mit sich anzufangen wusste. Sein Vater wuselte nicht minder aufgeregt durch das Haus und checkte noch einmal alles ab: die Zeitschaltuhren an den Aquarien, die an den Jalousien, er schaute, ob überall die Lichter aus waren und ob sie keine verderblichen Reste mehr im Kühlschrank hatten. Er arbeitete dabei genau nach Plan, wie jedes Mal, wenn sie in den Urlaub fuhren. Ein ausgeklügeltes System, das weder Joshua noch seine Mutter durchblickten.
Pünktlich um Viertel vor vier klingelte Onkel Jochen. Er holte sie ab, um sie nach Düsseldorf zu fahren. Der Bus wartete vor der Agentur und sammelte alle ein, und weil es am zweiten Feiertag keinen Busverkehr von seiner Heimatstadt in die Rheinmetropole gab, mussten sie eben gefahren werden.
»Na, alles gepackt?«, fragte Onkel Jochen und sah mit dem zerzausten Haar, den dunklen Augenringen, die unter dem Brillengestell hervorquollen, und der ausgebeulten Jogginghose nicht im Geringsten ausgeschlafen aus.
»Alles gepackt«, bestätigte sein Vater und klatschte sich mit seinem Bruder ab. Die beiden waren so unterschiedlich, wie es Geschwister wohl nur sein konnten. Sein Vater hatte hellblonde Haare und war der organisierteste Mensch, den Joshua kannte, während sein Onkel dunkles Haar hatte, eine Brille trug und die Spontanität in Person war. Joshua kam wohl eher nach diesem Teil der Familie, der sich ohne Plan in ein Auto setzte und losfuhr.
»Gut, dann Abmarsch«, sagte sein Onkel und deutete mit dem Daumen nach draußen.
Es nieselte. Joshua hatte nichts anderes erwartet nach fünfundzwanzig Tagen Dauerregen.
»Ich schau eben noch mal nach den Lichtern.«
Natürlich tat sein Vater das. Und wie jedes Mal, kurz bevor sie überhaupt wegfahren konnten, lief der ins Haus zurück. Das Licht ging im Flur an und wieder aus, kurz darauf im Gästebad, dann in der Küche und wenige Augenblicke später im Schlafzimmer und im Bad oben. Und auch wenn es Joshua von seiner Position aus nicht sehen konnte, wusste er, dass nun noch sein Zimmer, das Arbeitszimmer und der Dachboden folgten. Am Schluss der Keller. Dann war sein Vater fertig und kam wieder zurück zum Auto mit erhobenem Daumen und einem Lächeln auf den Lippen.
Das Gepäck hatten sie inzwischen in den Kofferraum verfrachtet, Joshua fror und der feine Nieselregen setzte sich zwischen die Nähte seines Pullovers.
»Alles klar, kann losgehen«, sagte sein Vater und nickte zufrieden auf die gepackten Koffer im Auto.
»Prima.« Sein Onkel gähnte und zwängte sich hinter das Lenkrad seines Kombis.
***
Je näher sie Düsseldorf kamen, desto heller wurde es um sie herum. Die nassen Straßen glitzerten im Schein der Straßenlaternen und angeleuchteten Häuser. Hinter den Fenstern strahlte die Weihnachtsdeko: Sterne, bunte Lichterketten und Schwibbögen. Doch bei Temperaturen von fast zehn Grad und dem tagelangen Regenwetter war dies das Einzige, das winterlich anmutete. Es hätte genauso gut eine verregnete Mainacht sein können.
Joshua freute sich schon darauf, dieses Jahr endlich wieder Schnee zu sehen. Auf dem Berg sollte der laut seiner Wetter-App immerhin fast einen Meter hoch liegen. Im Tal selbst nicht, aber es wäre kühl und vielleicht hatten sie in den neun Tagen Glück, dass es auch unten schneite.
Im Autoradio lief eine Playlist mit leiseren Liedern und Joshua konnte sich kaum vorstellen, dass es klug war, in der Nacht ruhige Musik abzuspielen. Sollte sie nicht eher wachhalten und nicht einschlummern lassen? Aber was wäre die Alternative? Hektische Technobeats und harte Gitarrenriffs? Sein Onkel trommelte jedoch im Takt aufs Lenkrad und wippte hier und da mit dem Kopf. Es schien zu wirken, was auch immer da passierte. Sein Vater sprach leise mit sich selbst und hatte die Unterlagen des Hotels in der Hand. Fein säuberlich in einer Klarsichtfolie, damit auch nichts verloren ging. Wahrscheinlich las er sich noch einmal die Details durch, die Route, die sie nahmen, und die bereits vorab gebuchten Aktivitäten wie die Skischule.
Vor dem gläsernen Bürogebäude tummelten sich schon einige Leute und Grüppchen, auch der Reisebus parkte bereit davor. Er war gelb und mit großen, roten Buchstaben stand Schrödingers Reisen darauf. Das war hoffentlich kein Omen für ihre Reise: »Der Zustand der Fahrgäste kann gleichzeitig tot wie auch lebendig angesehen werden. Überprüft werden kann das erst am Urlaubsort, sobald sich die Türen öffnen und die Fahrgäste aussteigen – oder auch nicht.«
Die Broschüre dazu konnte sich Joshua bildlich vorstellen.
»Da wären wir.« Sein Onkel parkte in einer Haltebucht und als sie die Koffer aus dem Auto bugsiert hatten, verabschiedeten sie sich alle voneinander. »Und passt mir auf, dass ihr euch keine Knochen brecht«, beschwor er sie noch einmal.
»Natürlich«, antwortete sein Vater und klopfte ihm auf den Rücken.
Joshua schulterte seinen Rucksack und hielt auf den Busfahrer zu, der ein wahres Koffer-Tetris praktizierte und offensichtlich grandiose Skills darin besaß, so voll wie der Laderaum schon war.
»Passt das noch?«, fragte seine Mutter und rollte den Koffer neben ihn.
»Aber na klar doch!«, sagte der Busfahrer und suchte eine passgenaue Lücke, in die er den Koffer schob. So verfuhr er mit allen übrigen Gepäckstücken, bis er stolz die Arme vor der Brust verschränkte und sein Werk begutachtete.
Joshua nickte ihm anerkennend zu und ging dann am Bus vorbei. Seine Eltern hatten sich zu einer Gruppe Kollegen und Kolleginnen gestellt und unterhielten sich. Doch dafür war Joshua nun zu müde, dank leisem Kuschelrock und dem beständigen Brummen des Motors im Auto seines Onkels. Seine Augen fielen ihm immer wieder zu und ihm war kalt geworden, obwohl er für diese Temperaturen viel zu dick angezogen war. Doch die Müdigkeit sorgte dafür, dass er seinen Pullover fröstelnd enger um sich zog.
Deshalb begab er sich in den Bus; ein Plätzchen suchen und schlafen wäre wahrscheinlich das Beste, was er tun könnte. Und mit ein bisschen Glück würde er dann morgen schon in Österreich aufwachen, wenn er es schaffte, die zehn Stunden Busfahrt durchzuschlafen.
Schlurfend nahm er die Treppe und visierte bereits die hinterste Reihe an, dort saß man am bequemsten und coolsten.
»Hey Joshi.«
Er hielt abrupt inne. Diese Stimme und dieser Spitzname: Das konnte er beides nur einer einzigen Person zuordnen. Und das führte dazu, dass Bilder seinen Kopf fluteten. Sonne, Strand, Meer und …
Sein Herzschlag verdreifachte die Geschwindigkeit und seine Knie zitterten, weshalb er sich direkt auf den Zweier fallen ließ, neben dem er stand, und in die wohl grünsten Augen starrte, die er je gesehen hatte. »Olaf«, flüsterte er und war nun plötzlich doch wieder hellwach.
»Na, auch wieder dabei?«, fragte Olaf grinsend. In seiner Hand hielt er das Handy umklammert, das ihn von unten beleuchtete und seine Grübchen betonte. Die halblangen Haare steckten in einer Beanie und quollen am Saum heraus.
Joshua schluckte und sammelte ein paar Wörter, die er irgendwie aus seinem Mund bewegen wollte, doch es schien, als würden sie sich im Hals festklammern. Er räusperte sich. »Ich, ähm, ja«, brachte er mühsam zwischen den Herzschlägen hervor.
Olaf. Ausgerechnet er. Er hatte sich kaum verändert, seit er ihn das letzte Mal in echt gesehen hatte, war nur ein bisschen älter geworden, trug nun einen Vollbart und die Haare etwas länger. Aber genau so kannte Joshua ihn ja – von Instagram.
Da fiel es Joshua wieder ein. Er hatte es tatsächlich geschafft, die letzten Benachrichtigungen zu ignorieren und das Profil nicht zu stalken. Hauptsächlich aus dem Grund, weil er keine Bilder von Olaf und seiner Freundin unter einem Weihnachtsbaum hatte sehen wollen. Zusammengekuschelt im Partnerlook mit einer Tasse heißer Schokolade in der Hand. Weil sein Herz das kaum ertragen hätte. Doch jetzt?
Joshuas Puls sackte ab. Was, wenn vegan_becky auch dabei war und er nicht mehr nur die Bilder sehen, sondern alles live erdulden musste? Waren Fotos schon schlimm, so wollte er sich gar nicht erst vorstellen, was das mit seinem Herz machen würde, wenn er die beiden so erleben würde, ohne die Chance zu haben, die App zu schließen und sich zu einem Decken-Burrito zusammenzurollen.
Er blickte sich verstohlen um, doch er konnte nirgends die rotblonden Haare entdecken, die auf den Fotos immer so schön schimmerten und weich über die Schulter fielen oder in einem Flechtzopf zusammengebunden waren.
»Und du?«, fragte er dann zaghaft und hasste sich dafür, dass seine Stimme so zittrig und klein klang. So wie er sich fühlte, wenn er nur daran dachte, dass er neben diesen beiden wirkte wie ein Versager, der nichts für sich und die Umwelt tat, obwohl er zweimal bei Fridays for Future mitgelaufen war. Das konnte er immerhin, große Töne spucken.
Olaf lenkte seinen Blick vom Display zu Joshua. »Ja, Winterurlaub klang ziemlich gut. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich war auch schon lange nicht mehr mit Mama weg. Und hab aktuell ein bisschen Zeit dafür.«
»Ja«, sagte Joshua nur, doch lagen ihm so viele Fragen auf der Zunge. Ist deine Freundin auch dabei? Macht ihr ein Insta-Urlaubs-Ding draus? Muss ich euch dann ständig fotografieren und sehen, wie ihr euch küsst?
Ein kleiner Funke Wut mischte sich unter die anderen Gefühle in Joshuas Magen, wenn er nur daran dachte. Denn es sollte doch ein schöner Urlaub werden, der Beste der letzten Jahre.
Mit zittrigen Fingern fummelte er das Smartphone aus seiner Hosentasche und öffnete den Chat mit Hendrik. Immerhin wusste sein bester Freund, dass er Olaf auf Insta irgendwie hinterherspionierte und dass er seit über vier Jahren heimlich in ihn verknallt war. Seit dieser Sache in Frankreich.
Joshua:
Alter, ALTER!
Joshua:
Rate, was passiert ist! Rate!
Gerade als er die Nachricht abgeschickt hatte, wurde ihm bewusst, wie blödsinnig das war. Hendrik würde sicher erst gegen zwölf aufstehen und bis er auf sein Handy geschaut hatte, wären noch einmal zwei Stunden vergangen.
Joshua:
Olaf ist dabei. Er sitzt hier direkt neben mir und ist … ist einfach Olaf.
Wieder warf er einen vorsichtigen Seitenblick zu Olaf. Der setzte sich gerade seine Kopfhörer auf und tippte auf seinem Display herum. Und Joshua konnte sein Herz schlagen hören, nicht jedoch in seiner Brust. Es war da, bei Olaf und himmelte ihn heimlich an.
Damit hatte sich das Omen der Schrödingers Reise bewahrheitet, wenn auch anders. Dieser Winterurlaub konnte entweder der beste oder der allerschlimmste für Joshua werden und das würde er erst in etwas mehr als zehn Stunden oder in ein paar Tagen herausfinden.
T -11 Stunden.
Kapitel 3 – 26. Dezember
Obwohl Joshua vorhin beinahe noch im Stehen eingeschlafen wäre, war er nun hellwach und hielt sein Smartphone fest umklammert. Sein Herz pumpte und er konnte gar nicht verhindern, dass sein Blick immer wieder wie automatisch zu Olaf schwenkte, der sich gegen einen Fensterrahmen gelehnt hatte und die Augen geschlossen hielt.
Inzwischen saßen auch alle anderen im Bus, der Chef hatte sie begrüßt und kurz die Route mit Zwischenstopps erklärt. Das anfängliche Gemurmel und die vielen Gespräche waren nach und nach abgeklungen und nur das Rauschen der Heizung und das beständige Klappern des Motors hallten durch den Innenraum, der dank der blauen LED-Lichtbänder im Fußraum leicht schummrig wirkte. Auch die Gesichter waren in diesem Licht fahl und irgendwie gespenstisch.
Joshua seufzte. Immerhin war Becky nicht mehr aufgetaucht, obwohl er nicht verstand wieso. Und nun überlegte er, was er tun sollte. Sollte er seine selbstauferlegte Insta-Pause unterbrechen und doch ein bisschen spionieren? Vielleicht hatte Olaf etwas dazu geschrieben. Aber was wäre, wenn Olaf ihn erwischen würde, wie er seine Storys ansah?
Wieder schaute er rüber. Er schlief eindeutig. Joshua konnte einen Blick riskieren. Die Neugier und die Hoffnung auf eine Erklärung siegten über die Furcht.
Mit klopfendem Herzen durchwühlte er die ganzen Benachrichtigungen, er hatte eingestellt, dass er die neusten Beiträge von Olaf und Becky angezeigt bekam, sobald diese hochgeladen wurden. Und die kamen täglich. Bei zwei so angesagten Influencern war das wohl irgendwie ein Muss. Becky hatte immerhin fast dreißigtausend Follower, die sie mit veganen Speisen, Kosmetik und Tierschutz begeisterte. Seit sie mit Olaf zusammen war, kamen dazu noch Fitnesstrends und nachhaltige Fitnessprodukte aller Art. Die beiden griffen aktuell so ziemlich jede Kooperation ab, die es zu geben schien. Zuletzt hatten sie Werbung für einen Fitnesstracker gemacht, der ein Armband aus Holz hatte und einen gewissen Anteil der Einnahmen an einen guten Zweck spendete.
Joshua scrollte durch die letzten Beiträge. Veganes Weihnachtsessen, Tipps, um Reste zu verwerten, leichte Übungen für den schweren Magen. Allerdings nur getrennte Beiträge, keine Partnerlooks, keine Schokolade, kein Workout.
Und dann kam Olafs aktuellster Post. »Pause« lautete die Überschrift mit einem Bild von ihm vorm Weihnachtsbaum. Den Blick nachdenklich in die Ferne gerichtet. »Hallo zusammen, die Feiertage sind da und ich wollte sie dieses Jahr ganz ohne Instagram nutzen. Einfach wieder runterkommen im Kreise der Familie.« Darunter folgten eine Menge Hashtags und viele Kommentare seiner zehntausend Follower.
Eine Pause. Hieß das vielleicht, dass er und Becky sich getrennt hatten? Sie hatte bisher noch nichts über eine Pause geschrieben, auch sonst kein Statement zu irgendetwas. Und wie Joshua erkannte, war er nicht der Einzige, der sich das fragte, immer wieder las er Kommentare, die sich nach Becky und ihm erkundigten. Olaf hatte jedoch keinen davon beantwortet. Und auf Beckys Seite das Gleiche.
Joshuas Herz stolperte einige Takte lang, in denen er nur das Bild anstarrte. Hoffnung flimmerte tief in seinem Magen auf. Olaf und Becky waren ein eingespieltes Team. Sie passten perfekt zusammen. Jedenfalls die Versionen der beiden, die sie in Social Media präsentierten. Mehr als einmal hatte sich Joshua gewünscht wie Becky zu sein, denn alles an ihr schien so verdammt perfekt, auch wenn er das durch die vielen Filter und den Schein der Internetwelt natürlich kaum richtig beurteilen konnte. Aber sie hatte diese vielen Kooperationen, die Follower, sie war ehrenamtlich tätig und setzte sich für Tiere in Not ein. Neben ihr war Joshua nur ein Kind, das nichts mit seiner Freizeit anzufangen wusste, außer gegen andere Menschen im Internet zu spielen und sie virtuell aufzuhängen. Alles an ihm schrie, dass er niemals so gut wie Becky sein würde. Und das hatte er insgeheim immer gewusst. Sich zu ändern, die eigenen Privilegien zu hinterfragen und sich zu engagieren, war jedoch nicht leicht in der Umsetzung, vor allem dann nicht, wenn Joshua selbst nicht wusste, was er tun und wo er anfangen sollte.
Ein Tippen an der Schulter riss ihn aus den Gedanken und vor Schreck hätte er beinahe sein Handy fallengelassen. »Na, noch wach?«, fragte Olaf und setzte sich in diesem Augenblick schon auf den freien Platz neben Joshua.
»Ich … ja«, murmelte er und spürte die Hitze in seinen Wangen. Hatte Olaf mitbekommen, dass er auf seinem Profil gewesen war? Sein Herz raste und Joshua malte sich schon aus, wie Olaf ihn verarschen würde, dass er noch immer für ihn schwärmte. Nach all der Zeit. Aber vielleicht konnte er sich auch gar nicht mehr daran erinnern, dass sie sich in Frankreich geküsst hatten. Weil es so schlecht gewesen war, dass man sich daran lieber nicht erinnern wollte. Doch tat Joshua genau das. Denn egal wie schlecht es auch gewesen war, er hatte damals sein Herz verloren. Zwischen Sonnencreme, Strandlaken und Wellenrauschen.
»Und was gibt es so Neues in deinem Leben?«, flüsterte Olaf ihm von der Seite her zu, gerade noch so laut, dass Joshua ihn über das Rauschen des Blutes in seinen Ohren verstehen konnte.
»Nichts.« Ja, er war ein langweiliger Nerd. Aber es gab ja auch absolut nichts, was erwähnenswert, interessant genug oder anders wäre, als man es von einem Jungen von siebzehn Jahren erwarten würde, der schon damals lieber Pokémon auf dem Gameboy gespielt hatte, statt ins Mittelmeer zu springen oder auf Wanderschaft zu gehen.