6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €
München im Jahre 1955. Der Zufall führt in der Silvesternacht zwei Menschen zusammen: Regina, die aus Dresden in den Westen geflohen ist, und der ehemalige Kriegsgefangene Martin, der nach zehn Jahren wieder nach Hause zurückkehrt. Beide haben sie von diesem Moment geträumt, aber für beide bricht nach der Konfrontation mit der Realität eine Welt zusammen. Martins Frau lebt inzwischen mit einem anderen Mann zusammen, und Regina ist bei ihren Westverwandten nicht willkommen. Ihre Einsamkeit bringt Regina und Martin zusammen, doch Regina macht als Model Karriere, und bald müssen sie sich wieder voneinander trennen. Aber Regina merkt schnell, dass sie die Welt der Modenschauen, Partys und Flirts nicht glücklich machen kann; das vermag nur ganz bestimmter Mensch: Martin.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 825
Utta Danella
Roman
Sie saß nun schon lange so, reglos, vor sich hin starrend, die Unterlippe trotzig vorgeschoben, kalt und abweisend der Blick. Trotz des finsteren Ausdrucks glich sie einem verirrten, ratlosen Kind, das anfangen möchte zu weinen. Eigentlich hätte sie längst gehen können, der Teller war leer, das Glas war leer. Aber wohin sollte sie gehen? Draußen war es kalt und dunkel, und sie würde wieder so einsam sein. Und gerade heute Abend …
Auf ihrem planlosen Weg durch die große Stadt war sie zu dem kleinen Gasthof gekommen, hatte gegessen und ein Glas Wein getrunken, mit winzigen Schlucken, um den Genuss möglichst lange zu haben. Es war Leichtsinn, was sie tat, denn sie hatte nur noch wenig Geld. Aber irgendeine Freude musste man doch haben an diesem Abend.
Nun saß sie da und wartete, dass die Zeit vergehen sollte. Einmal würde auch diese Nacht ein Ende haben. Zuerst hatte sie versucht, sich mit Erinnerungen zu trösten, wie es früher gewesen war an Silvesterabenden, als sie noch Kind war, behütet und sorglos. Besuch war gekommen, Onkel Heinz und Freunde der Eltern, alle waren immer sehr fröhlich gewesen. Ja, und dann wurde Blei gegossen und der Vater hatte die geheimnisvollen Bröckchen gedeutet. Und was noch? Angestrengt zog sie die Brauen zusammen. Es war lange her. Nicht nur die Zeit, eine Welt trennte sie von diesen glücklichen Erinnerungen. Wie auf einem anderen Stern lag das Damals.
Und jetzt war sie allein, so allein, als sei sie der einzige Mensch auf der Welt, als lebe sie ganz verlassen in der großen, lichterglänzenden Stadt, die kalt und feindlich zu ihr war und ihr nicht Heimat sein mochte, arm und hilflos, wie sie war. Wenn man hübscher wäre und schöne Kleider hätte, dann könnte die Stadt vielleicht freundlicher zu einem sein. Aber so – wer sah sie denn schon an?
Sie strich das glatte Haar lieblos zurück und der Zug von Trotz um ihre Lippen verstärkte sich.
Der Mann, der zwei Tische entfernt saß, sah das. Er war genauso einsam, genauso verlassen. Erst hatte er geistesabwesend über das Mädchen hinweggestarrt, mit seiner eigenen Verzweiflung beschäftigt. Doch nun sah er sie schon eine ganze Weile an – nicht wie ein Mann eine Frau ansieht, nur wie ein Mensch, der plötzlich einen anderen Menschen erblickt, in einer Wüste, wo er es am wenigsten erwartet hätte.
Warum saß sie da so trübselig und allein? Warum hatte sie den finsteren, trostlosen Zug im Gesicht, jung und ganz hübsch wie sie doch war? Er fand sie recht hübsch mit den hellen Augen und dem schmalen, feinen Gesicht. Was mochte sie für einen törichten Mädchenkummer haben? Vielleicht hatte der Freund sie verlassen, vielleicht war es nur ein Streit, der vorübergehen würde, und sie ärgerte sich nun, dass sie am Silvesterabend allein war? Was konnte sie schon wissen, in dieser satten, zufriedenen Welt hier, von Leid und Einsamkeit und Elend?
Sie spürte den Blick und hob den Kopf. Ihre Augen trafen sich.
Die Uhr an der Wand schlug mit hellen, eiligen Schlägen zehnmal.
Der Mann versuchte ein Lächeln und sagte: »In zwei Stunden beginnt ein neues Jahr.«
Er sagte ein neues Jahr, nicht das neue Jahr, als gelte ihm eins wie das andere.
»Ja«, erwiderte sie kurz. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Zwei Stunden, das ist noch sehr lange.«
»Sehr lange«, bestätigte er.
Dann war es wieder still. Sie lauschten beide auf das Ticken der Uhr. Aus dem Nebenzimmer klangen fröhliche Stimmen, dort feierte der Wirt mit seiner Familie und mit Freunden den Silvesterabend. Er hatte die beiden letzten hartnäckigen Gäste allein gelassen, er konnte sie nicht gut auf die Straße setzen. Sollten sie selbst sehen, was aus ihnen wurde. Zweimal hatte er seitdem den Kopf hereingesteckt. Ob etwas gewünscht werde? Auf das ablehnende Kopfschütteln hin hatte er sich schulterzuckend zurückgezogen. Zwei merkwürdige Vögel! Arme Teufel wohl, alle beide. Das dachte er nicht mitleidig, eher verächtlich. Konnte nicht viel los sein mit jemand, der ein armer Teufel war in diesen Zeiten des Wohlstands.
Eine gute Weile später sagte das Mädchen: »Es dauert überhaupt alles so lange, jeder Tag, jede Nacht, das ganze Leben. Als ob es nie ein Ende nehmen würde.«
Der Mann horchte auf. Sie hatte ihn nicht angesehen und an ihm vorbei ins Leere gesprochen. Ihre Stimme war leise, die Sprache ohne Dialekt und gepflegt.
Langsam stand er auf, trat an ihren Tisch und sah sie verwundert an. Wieder fiel ihm auf, wie schmal und regelmäßig ihr Gesicht war, rührend und zart, die Linie der Wangen wie von Künstlerhand geformt.
Erschreckt blickte sie zu ihm auf. Ihre Augen waren graugrün, ja wirklich, fast grün, der Ring um die Iris wirkte schwarz dagegen. Seltsame Augen hat dieses Mädchen, dachte er, Nixenaugen, Undinenaugen. Er wusste selbst nicht, wieso ihm dieser Name einfiel: Undine, das Fabelwesen aus dem Reich der Wassergeister, das keine Seele besaß. Aber der Zug von Trotz und Härte passte nicht dazu, er gehörte nicht in das junge Gesicht.
»Geht es Ihnen auch so?«, fragte er und setzte sich einfach ihr gegenüber, ohne um Erlaubnis zu fragen. »Dass alles so langsam geht, meine ich?«
Sie gab keine Antwort, sah ihn nur erstaunt an mit diesen hellen, verwirrenden Augen.
»Früher ging alles viel zu schnell«, fuhr er fort, »man hatte Angst, das Leben wäre zu bald vorüber, es wäre zu kurz. Aber nun besteht es nur noch aus endlosen Stunden. Ich dachte, das wäre nur bei uns so, die wir von draußen kommen – aus dem Krieg, wissen Sie«, setzte er erläuternd hinzu, als spräche er von einem unbekannten, lange vergangenen Ding.
»Da kommen wir alle her«, sagte sie gleichgültig.
Er lachte bitter auf. »Davon merkt man nichts. Die Leute hier leben, als sei der Krieg schon hundert Jahre vorbei. Wenn man sie ansieht, die hier und ihr Leben, könnte man meinen, es habe gar keinen Krieg gegeben. Seit ich hier bin, denke ich manchmal, ich habe alles nur geträumt.«
»Geträumt?«, wiederholte sie fragend.
»Ja, alles geträumt, den Krieg, die Gefangenschaft, das ganze Elend. Sogar das Heimweh ist auf einmal nicht mehr wahr. Es muss ein Irrtum gewesen sein. Oder eben ein Traum. Ich weiß heute nicht mehr, wonach ich Heimweh hatte. Hier ist alles ganz anders, danach kann man kein Heimweh haben.«
Als sie ihn fragend ansah, sprach er weiter, hastig, mit scheinbarer Lässigkeit und doch gierig darauf, sich mitzuteilen. »Ich bin nämlich noch nicht lange hier, wissen Sie. Ich bin erst vor vier Monaten aus Russland gekommen. Gefangenschaft, mehr als zehn Jahre; wissen Sie, was das heißt?« Seine Stimme brach ab.
»Zehn Jahre«, wiederholte sie leise. »Das ist furchtbar.«
Er lachte voll Verachtung. »Was wisst ihr denn hier davon! Ihr habt uns längst vergessen. Sprechen wir nicht mehr davon. Es wird Sie nicht interessieren.«
Die Uhr an der Wand tickte, nebenan hämmerte ein Klavier, eine helle Frauenstimme überschlug sich im Gelächter.
»Haben Sie denn keine Angehörigen?«, fragte sie, nur um etwas zu sagen. Es interessierte sie wirklich nicht.
»Nein«, erwiderte er kurz. Doch dann fügte er hinzu: »Meine Frau lebt hier. Deswegen kam ich her.«
»Aber dann …«
»Sie hat natürlich einen anderen, schon lange. Sie wollte mich nicht einmal sehen. Es graust ihr wohl vor mir. Und es geht ihr gut. Der Mann hat Geld, er hat ein großes Auto. Na ja, was soll sie auch mit mir? Sagen Sie selbst, was soll sie mit mir?«
Sie senkte die Augen vor seinem eindringlichen starren Blick. Sicher, es war schlimm. Aber sie verstand auch die andere Frau. Sie hatte ja selbst Verlangen nach Wärme und Geborgenheit. Und wenn man schon nach einem Mann Verlangen haben konnte, dann nur nach einem, der nicht arm und elend war, sondern der helfen und schützen konnte.
Es klang härter als beabsichtigt, als sie sagte: »Das Leben ist nun einmal so, ungerecht, die einen verlieren und die anderen gewinnen. Manche müssen bezahlen und andere bekommen noch etwas heraus.«
»Natürlich. Das Leben ist nun einmal so. Ich weiß es schon. Sie sind ja auch eine Frau, berechnend wie alle. Frauen wissen immer, auf welche Seite sie gehören.«
Sie hob gleichgültig die Schultern, das Gespräch erstarb. Aus dem Päckchen, das vor ihr auf dem Tisch lag, nahm sie eine Zigarette und bot ihm auch eine an.
»Danke, ich habe selber welche«, sagte er störrisch und zog seine eigene Packung aus der Tasche. Eine Weile rauchten sie schweigend.
»Ich gehöre nicht zu denen hier«, sagte das Mädchen dann. »Ich bin noch nicht einmal so lange hier wie Sie. Erst ein paar Wochen. Und ich kenne keinen Menschen hier.« Sie lächelte kühl, ein wenig spöttisch. »So wie die Dinge liegen, wird es mir kaum gelingen, einen reichen Mann mit einem großen Auto aufzutreiben, wenn ich auch berechnend bin wie alle Frauen. So wie ich aussehe … Was ich anhabe, ist so ziemlich alles, was ich besitze.« Mit der Hand, die die Zigarette hielt, deutete sie in einem flüchtigen Kreis über ihren einfachen grauen Pullover hin. »Übrigens liegt mir auch gar nichts daran, nicht das Geringste.«
Er wurde ein wenig verlegen. »Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht kränken.«
»Bitte, bitte. Es macht nichts.«
»Und wo – ich meine, wo kommen Sie her?«
»Aus der Ostzone. Ich bin das, was man hier mit dem hübschen Ausdruck ›Zonenflüchtling‹ bezeichnet.«
»Ach so.«
»Ich komme auch aus einer Art Gefangenschaft. Wir haben im Krieg alles verloren. Früher wohnten wir in Königsberg. Mein Vater ist gefallen. Meine Mutter und ich waren dann bei Verwandten. Sie konnten uns nicht leiden. Und ich«, ihre Augen wurden noch grüner, »ich hasse sie. Aber meine Mutter war krank, ich konnte sie nicht im Stich lassen. Vor einem Vierteljahr ist sie gestorben.«
»So«, sagte der Mann hilflos.
»Ich bin dort heimlich weggelaufen. Ich wollte in den Westen, weil ich dachte, hier ist alles anders, alles besser.«
»Nun, das ist es doch sicher auch.«
»Nicht für mich. Oder denken Sie, ich könnte hier etwas anfangen, so wie ich hier vor Ihnen sitze?«
»Sie müssen Geduld haben. Mit der Zeit wird es schon werden.«
»Ja, ja, mit der Zeit. Ich weiß schon. Aber wir waren uns ja vorhin darüber einig, dass die Zeit jetzt sehr langsam vergeht für Leute wie Sie und mich.« Und dann hatte sie gedacht, in eine Wunderwelt zu kommen, in der alles mit einem Schlage besser wurde, wie im Märchen. Aber der Westen war keine Märchenwelt, er war auch nur Wirklichkeit und eine harte Wirklichkeit dazu.
»Man muss abwarten«, versuchte er sie zu trösten.
»Schön«, sagte sie, »da wissen wir ja beide, womit wir uns zu beschäftigen haben: mit Warten. Aber es wird nicht viel nützen, fürchte ich. Wir holen den Vorsprung nicht mehr ein. Und sie sind alle so hart hier, so selbstsüchtig.«
Er hätte ihr gern ein wenig Mut zugesprochen. Aber er wusste nicht wie. Er hatte ja selber keinen. Ihr Gesicht war jetzt auch wieder ganz verschlossen.
Plötzlich stand sie auf.
»Ich muss überhaupt gehen. Ich glaube, ich bin hier sehr weit weg von der Gegend, in der ich wohne.«
Sie zog ihren Mantel an, ehe er ihr helfen konnte. Er war etwas aus der Fassung gebracht durch diesen überraschenden Aufbruch.
Sie zögerte noch einen Moment, als wollte sie etwas sagen, ein paar freundliche Worte vielleicht zum Abschied. Doch dann sagte sie nur kurz »guten Abend«, wandte sich zur Tür und ging.
Er war so verwundert, dass er nicht einmal den Gruß zurückgab. Aber schon als er ihr nachsah, die all ihren Worten zum Trotz einen gespannten, federnden Gang hatte, war es ihm, als dürfe er sie um keinen Preis der Welt hinausgehen lassen. Sie sollte bleiben. Er wollte noch weiter mit ihr sprechen. Zusammen mit ihr wollte er dieses unheimliche neue Jahr beginnen, dieses erste Jahr in einer neuen Welt, in einem neuen Leben. Sie hatten beide Angst davor und sie fanden sich nicht zurecht. Sie musste bleiben. Aber er brachte kein Wort über die Lippen. Dann klappte die Tür und sie war fort.
Er hätte ihr nachlaufen können. Doch er saß unbeweglich am Tisch und starrte auf die Tür. War es nicht Schicksal, dass sie einander begegnet waren, gerade heute?
Reglos blieb er sitzen und blickte vor sich hin. Langsam, ganz langsam vertröpfelte das müde alte Jahr.
Auf einmal wurde die Tür heftig aufgerissen, sie kam herein. Die Wangen gerötet von der Winterluft und vom raschen Lauf.
Sie blieb an der Tür stehen und lachte verlegen. »So was Dummes«, sagte sie, »ich habe ganz vergessen, mein Abendbrot zu bezahlen.« Sie kam näher. »Ja, und dann, es tut mir leid, dass ich so plötzlich weggelaufen bin. Das war sehr unhöflich. Es tut mir leid.«
Er stand auf und trat dicht vor sie hin. »Ich … bin sehr froh, dass Sie zurückgekommen sind.«
In ihren Blick kam ein fragendes Staunen. »Ja?«, fragte sie leise.
Auf einmal waren sie nicht mehr allein, sie waren zwei. Es war für sie beide ein Trost. Das Mädchen lächelte ein wenig ratlos. Ihr Gesicht war jetzt rührend jung, der Mund ganz weich.
»Ja, da werde ich mal zahlen«, sagte sie unschlüssig.
»Gehen wir von hier fort«, sagte er entschieden. »Hier ist es eigentlich nicht sehr hübsch.« Zum ersten Mal an diesem Abend sah er sich mit Bewusstsein in der kahlen Stube der Vorstadtkneipe um. »Nicht das Richtige zum Silvesterfeiern.«
»Feiern!« Sie lachte. »Wir sind die richtige Silvestergesellschaft, wir zwei!«
»Nun«, er reckte sich zu seiner vollen Größe auf, »ich hoffe, ja, ich hoffe«, überdeutlich betonte er die beiden Silben, »den nächsten Silvesterabend werden wir in hübscherer Umgebung verbringen.«
Sie sah ihn von unten herauf spöttisch an. »Wir?«
Empfindlich zog er sich zurück. »Nun ja, ich meine Sie und ich. Vielleicht jeder für sich. Vielleicht aber auch …«, er sprach nicht weiter, er hatte es verlernt, mit einem Mädchen zu sprechen. Früher hatte er es gut gekonnt, jetzt war es sehr schwer.
Die Tür zum Nebenraum öffnete sich, ein Schwall von Worten, Lachen, Musik; Wein- und Tabakdunst strömten herein. Der Wirt, mit gerötetem Gesicht, etwas angeheitert, kam auf sie zu.
»Steht etwas zu Diensten?«, fragte er. »Es ist bald zwölf.«
»Ich möchte zahlen«, sagte das Mädchen.
»Können Sie mir eine Flasche Wein verkaufen, zum Mitnehmen?«, fragte der Mann.
»Aber natürlich«, der Wirt strahlte freundlich. »Wollen S’ daheim noch feiern?« Der Mann sah das Mädchen an. »Die trinken wir zusammen«, sagte er bestimmt.
Sie erwiderte nichts darauf. Während er mit dem Wirt verhandelte, stand sie abgewendet, ganz allein mit sich, und hatte auf einmal Angst. Warum sollte sie mit diesem fremden Mann Wein trinken? Und wo? Nun, wohl in seiner Wohnung, falls er eine besaß; was das bedeutete, war klar genug.
Sie schob die Unterlippe wieder vor. Wie kam sie dazu, einen einsamen Mann zu trösten, der sie mangels besserer Gesellschaft mitnahm? Sie brauchte selber Trost, aber nicht so einen. Nein. So einen schon gar nicht. Er konnte ja nicht wissen, dass sie Männer hasste, hasste und verabscheute. Seit damals. Fünfzehn Jahre alt war sie gewesen, als die Russen kamen, ein Kind, zart und verträumt, unschuldig und ahnungslos.
Aber das konnte man niemandem erzählen, auch diesem Mann hier nicht. Gewiss, er hatte es nicht leicht gehabt: die vielen Jahre Gefangenschaft – und vorher der Krieg. Aber er war ein Mann, man konnte ihm vieles antun, aber niemals so etwas wie ihr. Ihre Jugend war ausgelöscht, sie war hart und scheu und ängstlich geworden; nicht vom Kind zum Mädchen, vom Mädchen zur Frau war sie gereift, niemals, in all den Jahren nicht. Sie war geschlechtslos geworden, unfähig, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen. Sie verspürte wieder den rasenden Schmerz von damals, den Ekel, das schreiende Entsetzen. Auch das war zehn Jahre her, mehr als zehn Jahre. Aber es war, als sei es gestern gewesen.
Gehetzt blickte sie zur Tür. Warum war sie nur zurückgekommen? Was wäre schon gewesen, wenn sie den dicken Wirt um die kleine Zeche geprellt hätte?
Sie musste fort von hier. Gleich.
Sie ging auf die Tür zu. Da war der Mann an ihrer Seite. Er lachte, im Arm trug er eine Flasche. »Kommen Sie«, sagte er und legte seine Hand um ihren Arm. Sie zog hastig den Arm zurück, als habe sie sich verbrannt, und schaute nicht auf.
»Na also«, hörte sie die gemütliche Stimme des Wirtes hinter sich. »Schönen Abend, die Herrschaften, und ein gutes neues Jahr!«
»Danke«, sagte der Mann neben ihr, »gleichfalls.«
Dann waren sie auf der Straße.
Der Mann merkte nichts von ihrer Verwirrung. Er ging ruhig neben ihr her, größer als sie, sein Schritt war fest und sicher, obwohl die Straße von gefrorenem Schnee bedeckt und glatt war. Sie rutschte in ihren dünnen Schuhen. Die Kälte drang eisig durch die Sohlen. Es wäre gut gewesen, sich bei ihm einzuhängen. Doch er war ihr Feind und sie fürchtete sich vor ihm.
»Wenn es Ihnen recht ist«, sagte er nach einer Weile, unsicher durch ihr Schweigen, »trinken wir den Wein bei mir. Ich wohne ganz in der Nähe.«
Entschlossen blieb sie stehen und sah ihn an. »Ich fürchte, das wird nicht gehen. Das ist … das ist ein Missverständnis.«
Er sah ihr kaltes, abweisendes Gesicht im Licht einer Lampe. »So ist es nicht gemeint. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Ich bin nicht … ich meine, so ist es wirklich nicht gemeint. Ich dachte nur, wir wollten doch beide nicht allein sein. Sie haben von mir nichts zu befürchten.«
Er lächelte ihr zu. Sie erwiderte sein Lächeln nicht, aber die Angst wich. Er war fremd, aber er war nicht böse.
In diesem Augenblick begannen die Glocken zu läuten. Zugleich wurde es auf den Straßen laut. Fenster wurden geöffnet, Menschen kamen aus den Häusern, Rufe und Gelächter waren zu hören, in der Nähe warf jemand Feuerwerkskörper, es blitzte und krachte.
Der Mann zog die Stirn in Falten. »Verdammte Knallerei. Dass sie davon nicht genug haben.«
Sie hörte nur die Glocken; hier am Rande der Stadt hörte man sie weit. Ganz in der Nähe war eine helle, heitere, die fröhlich und eilig das neue Jahr begrüßte. Von der Ferne hörte man große dunkle Glocken tönen. Ihre Erstarrung wich, sie seufzte.
»Die Glocken. Es klingt wunderschön, nicht?«
»Ja«, sagte er. »Also dann: Ein glückliches neues Jahr wünsche ich Ihnen.« Er bot ihr die Hand und sie legte ihre schmale, kalte Hand hinein.
»Ich wünsche Ihnen auch alles Gute«, sagte sie und lächelte zu ihm auf. Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Dass jemand da war, der ihr Glück wünschte in dieser Silvesternacht! Es war wie ein unerwartetes Geschenk.
Er empfand das Gleiche – und noch mehr: Zärtlichkeit für das fremde Mädchen, den Wunsch, gut zu ihm zu sein. Er hielt ihre Hand fest. »Alles, was Sie sich wünschen, soll in Erfüllung gehen. Und – ich danke Ihnen.«
»Wofür?«
»Dass Sie jetzt hier bei mir sind. Dass ich nicht allein hier stehe.«
Sie sagte nichts darauf, aber sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Er schob seinen Arm unter ihren. »Also gehen wir. Sonst bekommen Sie noch kalte Füße. Es ist nicht mehr weit.«
Das Haus, in dem er wohnte, war eines der kleinen Häuser, die hier am Stadtrand eine Siedlung bildeten. Unten war ein Laden, eine Bäckerei, wie sie erkennen konnte.
Er schloss auf, machte Licht und sagte ein wenig verlegen: »Bitte herein, mein Fräulein.«
Er stieg vor ihr die Treppe hinauf. Im ersten Stock war es still, im zweiten Stock hörte man hinter der Wohnungstür Lärm und Musik.
Es ging noch höher, die Treppe wurde schmaler. Oben waren ein kleiner Vorplatz und eine niedrige Tür. Der Mann schloss auf.
»Das Haus gehört dem Bäcker«, erläuterte er. »Der Sohn war mit mir zusammen in Gefangenschaft. Er ist tot. Sie lassen mich hier wohnen, weil ich ja nicht weiß, wohin.« Er stieß die Tür auf. »Es sind sehr nette Leute.«
Die Beleuchtung bestand nur aus einer nackten Birne, die an der Decke hing. Der Raum war klein, eine Kammer mit einem schiefen Dach und einem kleinen Fenster, eine Dachkammer. Ein Bett stand darin, eine Kommode, ein Tisch, ein Stuhl, ein alter Sessel, eine Kiste, auf der Bücher lagen, ein schmaler Schrank. Der Mann sah es, als käme er zum ersten Mal hierher. Wie armselig es war, wie dürftig! Er musste verrückt gewesen sein, sich Besuch einzuladen.
»Es ist natürlich einfach«, sagte er verlegen. »Lange werde ich sowieso nicht mehr hierbleiben. Ja. Sehen wir mal … das Feuer wird ausgegangen sein, aber das haben wir gleich. Ich bin Experte im Feuermachen. Und dann wollen wir es uns recht gemütlich machen.« Er sprach hastig und unsicher, ganz überrascht von seinem eigenen Mut, ein fremdes Mädchen hierher mitzubringen. Ein Mädchen, das er nicht kannte und dessen Gegenwart er im Moment eher als störend empfand. Was sollte er eigentlich mit ihr anfangen? Eine Liebesgeschichte etwa? Gott behüte! Er wollte allein sein. Ja, jetzt auf einmal dachte er: Ich möchte allein sein. Was soll ich mit ihr? Ich kenne sie nicht.
Das Mädchen stand noch an der Tür und wünschte sich ebenfalls weit fort. Aus den Augenwinkeln spähte sie nach dem altmodischen hölzernen Bett, die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Was sollte sie bei dem wildfremden Mann? Wenn er mich anrührt, schreie ich, dachte sie.
Er kniete jetzt vor dem Ofen. »Es ist noch ein bisschen Glut drin. Das haben wir gleich. Aber ziehen Sie doch den Mantel aus und setzen Sie sich. Es wird gleich warm.«
Sie rührte sich nicht. Immer noch im Kampf, ob sie bleiben oder davonlaufen sollte.
Komisches Ding, dachte der Mann irritiert. Ob sie Angst vor mir hat? Lieber Himmel, sie ist doch kein Kind mehr. Aber wahrscheinlich graut ihr vor mir, genau wie es Gaby vor mir graut. Sie wollen alle einen satten, fetten Spießer, einen mit Bankkonto oder Pensionsberechtigung, einen mit gepolstertem Hintern und einem richtigen Ehebett. Vermutlich ekeln sie sich vor Männern, wie ich einer bin, sie denken, wir haben noch Läuse und Flöhe, sie denken, wir sind krank und riechen schlecht. Und vor allem denken sie, wir werden mit dem Leben nicht fertig. Und verdammt noch mal, da haben sie recht. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll und was aus mir wird; es ist mir gleichgültig. Anstatt darüber nachzudenken, bringe ich mir ein fremdes Mädchen hierher. Was soll ich eigentlich mit ihr anfangen? Komisch, vorhin hatte ich das Gefühl … Ja, ein merkwürdiges Gefühl hatte ich da. So als ob sie zu mir gehöre. Als sei es Schicksal, dass ich ihr begegnet bin. Was man manchmal für einen Unsinn zusammendenkt! Das kommt von der Gefangenschaft, von dem vielen Grübeln, von dem vielen Hunger. Kein Wunder, dass man nicht mehr ganz normal ist.
Er kauerte noch immer vor dem Ofen und schürte abwesend in der Glut, schichtete Holz hinein, steckte Papier dazwischen. Hinter seinem Rücken war es still. Sie stand noch immer auf dem gleichen Fleck und rührte sich nicht.
Das Holz begann leise zu knistern.
Er richtete sich auf.
»Übrigens, falls Sie das interessiert, ich heiße Scholz, Martin Scholz.«
»Aha«, sagte sie gedankenlos. Er wartete eine Weile, doch als nichts kam, trat er zu ihr und sagte barsch: »Nun setzen Sie sich endlich! Geben Sie mir doch Ihren Mantel! Es wird schon wärmer, merken Sie’s?«
Er hängte den Mantel auf einen Haken neben die Tür. Mein Gott, wie leicht und dünn er war, sie musste doch frieren in dem Fähnchen!
»Warten Sie«, sagte er eifrig, »setzen Sie sich hierher, da wird Ihnen gleich warm werden.« Er schob einen altersschwachen Sessel um den Tisch herum bis dicht an den Ofen. »So, ich glaube, einen Schnaps habe ich auch noch.«
»Danke«, sagte sie leise. Sie saß zierlich und schmal in dem alten Sessel und sah kindlich zu ihm auf. »Es tut gut, wieder mal ein bisschen umsorgt zu werden. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie das ist.«
Sie hätte nichts sagen können, was ihm mehr ans Herz gegangen wäre, an dieses verhungerte, einsame Herz. Zu denken, dass er es war, der jemand umsorgen konnte, dass er noch dazu imstande war! Es machte ihn maßlos verlegen, dass sie es sagte. Er brummte irgendetwas vor sich hin, brachte aus dem Hintergrund eine Flasche Schnaps, in der etwa noch ein Drittel drin war, beugte sich wieder zum Ofen, schob eine große Schaufel Kohlen hinein. Dann ging er auf die Suche nach Gläsern. Natürlich fand er nur eines.
»Ich kann ja aus der Tasse trinken«, meinte er und goss den Schnaps ein. »Prost!«
Das Mädchen, gar nicht zimperlich, leerte das Glas mit einem Schluck.
»Tut gut, nicht?«
»Ja.«
»Sie müssen entschuldigen, wenn ich mich komisch benehme«, sagte er hastig. »Aber ich bin ein richtiger Stoffel geworden, ich bin den Umgang mit Frauen nicht mehr gewohnt.«
Trocken erwiderte sie: »Nun, dann ist es ja ganz gut, wenn Sie bei mir ein bisschen üben. Ich bin nicht verwöhnt. Aber die Frauen hier – die stellen allerhand Ansprüche.«
Das war nicht geschickt gesagt.
Und noch weniger gewandt erwiderte er: »Ja, da hätte ich natürlich keine Chancen.« Als es heraus war, erschrak er über seine Dummheit und fügte eilig hinzu: »Ich meine natürlich, da würde ich mich gar nicht trauen, nein, ich wollte sagen …«
Aber da lachte sie. Sie lachte laut und herzlich, mit hübschen weißen Zähnen und fröhlichen Augen. Jung und unbeschwert sah sie aus, wenn sie so lachte. Martin lachte erleichtert mit.
»Lassen Sie nur«, sagte sie, »ich weiß schon, was Sie meinen. Wir sind wirklich ein komisches Paar, wir beide, zerzaust und ungut und voller Komplexe. Ausgerechnet uns beide übereinander stolpern zu lassen, das ist schon sehr boshaft vom Schicksal. Aber wir wollen es für heute mit Humor ertragen.«
»Oh«, sagte er angenehm berührt, »haben Sie welchen? Das ist viel wert.«
»Natürlich habe ich welchen«, rief sie. »Sehe ich so dumm aus?«
»Dumm? Wieso dumm?«
»Völlig humorlos zu sein, ist stets ein Zeichen von Dummheit, von angeborener Dummheit. Das sagte jedenfalls mein Vater immer.«
»Da hat er sicher recht gehabt. Trinken wir noch einen Schnaps?« Den Wein schien er völlig vergessen zu haben.
»Schön«, sagte sie, bemüht, die Übereinstimmung und die kleine Heiterkeit festzuhalten. »Trinken wir noch einen!«
Es war jetzt schön warm im Zimmer. Der kleine Ofen strahlte eine wunderbare Hitze aus. Sie schlüpfte aus den nassen Schuhen und streckte die Füße dem Feuer entgegen.
»Eigentlich«, sagte sie, »wollten wir ja mit einem Glas Wein auf das neue Jahr anstoßen.«
»Ach ja, natürlich«, er sah sich suchend nach der Flasche um; sie war auf dem Bett gelandet. »Da sehen Sie, ich bin vollkommen vertrottelt. Verdammt!«
»Was ist denn?«
»Ein Korkenzieher. Ich hab’ keinen Korkenzieher. Wir hätten die Flasche aufmachen lassen sollen.«
»Wie bekommen Sie sonst die Flaschen auf?«
»Ich mach sie unten auf, bei Mosers. Das sind die Bäckersleute.«
»Und die sind heute nicht da?«
»Sie sind bei ihrer Tochter eingeladen. Zu dumm. Jetzt können wir den Wein nicht trinken.«
Wie leicht er kapituliert, dachte sie. »Da unten war doch Betrieb, im zweiten Stock. Klingeln Sie eben mal dort und leihen Sie sich einen Korkenzieher!«
»Aber ich kenne die Leute gar nicht.«
»Wenn schon.«
Scheu und Abwehr kamen wieder in seine Miene. »Ach, ich weiß nicht. Das ist mir unangenehm. Ich könnte ja schnell in die Wirtschaft zurücklaufen, das dauert nicht lange …«
»Was für ein Unsinn«, rief sie, »seien Sie nicht so menschenscheu! Gehen Sie hinunter, klingeln Sie, machen Sie einen netten Diener und bitten Sie um den Korkenzieher. Da ist doch nichts dabei.«
»Ja, aber …«
»Na los, gehen Sie schon! Die werden Sie schon nicht fressen.«
Zögernd ging er zur Tür.
»Die Flasche«, rief sie ihm nach. »Nehmen Sie die Flasche gleich mit, sonst müssen Sie noch mal hinunter.«
Wortlos klemmte er die Flasche unter den Arm und ging.
Sie sah ihm nach und lachte vor sich hin. Es befriedigte sie, die Klügere und Mutigere gewesen zu sein. Das musste man gesehen haben, das große Mannsbild, das sich vor allen Leuten fürchtete.
Aber wusste man denn, was der Arme alles erlebt hatte? Erst der Krieg, dann die Gefangenschaft. Jahre und Jahre. Kein Wunder, wenn einer da seltsam wurde, unbeholfen und scheu.
Wie mochte er überhaupt leben? Und wovon? Hatte er eigentlich einen Beruf? Das interessierte sie jetzt doch alles ein wenig. Und wie alt mochte er sein? Es war schwer zu schätzen, sicher sah er älter aus, als er war, hager und faltig und blass wie er war, verbiestert und unglücklich. Aber unsympathisch sah er trotzdem nicht aus. Nein, gar nicht. Ende Dreißig mochte er sein, möglicherweise auch jünger.
»Er braucht jemanden, der ihm Mut macht, der ihn wieder an das Leben gewöhnt«, sagte sie laut vor sich hin. Sie erschrak. Nun, ich nicht, dachte sie. Ich habe mit mir selbst genug zu tun. Ich brauche selber jemanden, der mir hilft.
Wo er nur blieb? Martin, Martin Scholz. Sicher wartete er darauf, dass sie ihm auch ihren Namen sagte. Wozu? Heute Abend nur, dann würden sie sich sowieso nie wiedersehen.
Er blieb lange. Ob der Feigling wirklich in die Wirtschaft zurückgelaufen war? Sie zog eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. Es war die drittletzte.
Ich werde mir keine mehr kaufen können. Ich habe noch neun Mark zwanzig. Wenn die zu Ende sind … Ich hätte mir die Bluse nicht kaufen sollen. Aber man will doch auch einmal etwas Hübsches haben. Wenn ich sie wenigstens heute Abend angezogen hätte!
Sie blickte sich in der Kammer um. Besonders angestrengt hatten sich die Bäckersleute nicht. Sicher hatten sie unten eine gut eingerichtete Wohnung. Na ja, ihre eigene Behausung war ja noch schlimmer.
Die Füße waren jetzt warm und trocken. Ein herrliches Gefühl! Sie zog sie herauf auf den Sessel und schloss schläfrig die Augen. Schön warm war es im Zimmer. Wenn er nicht bald kommt, schlafe ich ein.
Aber jetzt, laute Stimmen im Treppenhaus, Gelächter. Er war also doch im zweiten Stock. Und wie es sich anhörte, schien alles gut abgelaufen zu sein. Sie lächelte vor sich hin. Er brauchte eben jemanden, der ihm Mut machte.
Stolz und zufrieden kam er herein. »Hat lange gedauert, nicht? Entschuldigen Sie bitte. Die wollten mich gar nicht weglassen unten. Ich musste ein Glas mit ihnen trinken. Die haben nicht schlecht einen sitzen.«
»Und gebissen hat Sie keiner?«
»Sie haben ganz recht, sich über mich lustig zu machen. Wird schon wieder werden. Früher, also früher war ich ganz anders.«
Er goss den Wein ein und sie stießen an. »Ja, also dann, mit Mut und Humor ins neue Jahr.«
Der Wein war gut, voll und blumig, nicht zu süß und nicht zu herb. Wenn ich Geld hätte, dachte sie, würde ich oft Wein trinken, drüben haben wir nie welchen gehabt.
»Haben Sie Hunger?«, fragte er unvermutet.
»Hunger? Nein, eigentlich nicht.«
»Aber ich. Wie wär’s mit einem Stück Kuchen? Frau Moser hat mir Kuchen dagelassen, so Sachen, die ein bisschen missglückt sind. Sie können aber auch ein Brötchen haben.«
In einem Fach unter dem Fenster bewahrte er seine Vorräte auf. Er brachte alles herbei, Brötchen, Butter, Wurst und den Kuchen, und stellte es auf den Tisch.
»Hm«, meinte sie, »wenn ich das alles so sehe, dann glaube ich doch, dass ich Hunger habe. Ich habe meist Hunger. Drüben sind wir eben noch nicht so satt wie die hier.«
Sie aßen beide mit gutem Appetit, erst die Brötchen, dann den Kuchen, dazu tranken sie den Wein.
Es war nichts Wichtiges, was sie miteinander sprachen. Im Grunde hatten sie sich nicht viel zu sagen, sie waren sich ja noch so fremd – aber irgendwie auch schon ein wenig vertraut. Sie ersehnten beide ein wenig Wärme und Liebe, und wo sollten sie die herbekommen, wenn nicht einer vom anderen? Doch sie waren beide zu ungeschickt, sie verstanden es so schlecht, das alte, immer neue Spiel.
Das neue Jahr war schon drei Stunden alt, da wussten sie auch noch nicht viel mehr voneinander. Aber sie kannten einander schon ganz gut. Er kannte die wechselnde Farbe ihrer Augen, das matte Blond ihres Haares, die Art, wie sie es achtlos zurückstrich und wie sie manchmal die Hand seitwärts an den Hals legte und den Kopf schief darauf neigte. Kindlich verspielt sah es aus. Und ihre Art zu lächeln, so ein kleines, verwehtes Lächeln war es, es rührte ihn, es wirkte so hilflos. Er hatte die schmale feine Form ihrer Hände bemerkt und das hübsche, straffe Profil ihrer Brust unter dem derben Pullover.
Sie kannte die Linien seines Gesichts, den widerspenstigen Wirbel in seinem Haar, die Art, wie er eine Zigarette anzündete. Sie hatte gesehen, wie dieser scheue verletzte Zug manchmal in sein Gesicht kam, wie es dann wechselte zu Finsterkeit und Abwehr und wie ganz anders er aussah, wenn er lächelte, viel jünger und geradezu liebenswert.
Sie fürchtete sich auch nicht mehr vor ihm, als das neue Jahr drei Stunden alt war. Sie war satt und fror endlich einmal nicht, überdies war sie beduselt von dem ungewohnten Alkohol und sehr müde.
Von Liebe war keine Rede. Wer hätte auch davon anfangen sollen? Aber jeder fand ein wenig Trost im Da-Sein des anderen. Wenn man bedachte, dass sie noch vor wenigen Stunden zwei einsame Kreaturen gewesen waren, dann schien das schon sehr viel.
»Ich muss nach Hause gehen«, sagte sie.
»Wo wohnen Sie denn?«
»Ach, weit von hier, ziemlich weit, glaub’ ich. Ich weiß gar nicht, wie ich heute hier herausgekommen bin.«
»Sie werden noch bleiben müssen«, meinte Martin. »Jetzt fährt sicher keine Straßenbahn. Legen Sie sich doch ein bisschen hin!«
»Nein, o nein«, wehrte sie ab. »Ich werde schon irgendwie weiterkommen.«
»Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie keine Angst vor mir haben sollen?«
»Was würden die Leute im Hause sagen, wenn ich noch bliebe!«
»Na, auf ein paar Stunden mehr oder weniger kommt es jetzt nicht mehr an. Außerdem ist es mir egal, was die Leute sagen. Wissen Sie, solche Fragen, die sind nach allem, was ich erlebt habe, einfach lächerlich für mich.«
»Sie werden es wieder lernen müssen, dass hier ganz andere Fragen wichtig sind als das, was für Sie in Russland wichtig war.«
»Das mag sein.«
Er hob die Flasche und hielt sie gegen das Licht. »Leer. Nichts zu machen. Wollen Sie noch eine Zigarette?«
Unten fuhr ein Wagen vor, das Garagentor quietschte.
»Mosers kommen nach Hause«, sagte Martin.
»O je, ich hätte vorher gehen sollen.«
»Warten wir halt noch ein bisschen. Sie werden sicher bald schlafen. Sonst gehen sie immer zeitig ins Bett.«
Sie schwiegen eine Weile. Ihre Augenlider sanken herab. Müde und kindlich war ihr Gesicht. Sie ist noch sehr jung, dachte Martin. Eine jähe Zärtlichkeit erwärmte sein Herz. Armes kleines Ding, dachte er.
Dann war sie auf einmal eingeschlafen. Ihr Kopf sank an die Lehne.
Martin nahm ihr behutsam die Zigarette aus der Hand. Eine Weile betrachtete er die Schlafende. Eine merkwürdige Situation. Sein erstes Tête-à-Tête mit einer Frau hatte er sich auch anders vorgestellt. Dass ausgerechnet sie beide aneinandergeraten mussten, zwei verirrte, heimatlose Außenseiter! Es sei boshaft vom Schicksal, hatte sie vorhin gesagt. Oder war es klug vom Schicksal?
Wenn ich schon ein wenig weiter wäre, dachte er, wenn ich nicht die vergangenen Monate alles hätte laufen lassen, wie es lief, wenn ich Geld verdiente, dann könnte ich vielleicht … Was? Ein Verhältnis mit ihr anfangen? Aber genaugenommen brauchte er keine Frau. Wer im Elend lebt, soll besser allein leben.
Ja, wenn er hätte zu Gaby zurückkehren können, wenn sie auf ihn gewartet hätte, das wäre eine andere Sache gewesen. Dann hätte er gewusst, wohin er gehörte.
Gaby! Gaby war hübscher als die hier. Sie war immer fröhlich gewesen und so verliebt in ihn – damals. Er hatte alles gut behalten: ihr Lächeln, die kecke Locke, die sie sich immer aus der Stirn pustete, ihren warmen, schlanken Körper in seinem Arm. Ihre Ehe hatte nicht lange gedauert, eigentlich nur das halbe Jahr, das er Studienurlaub hatte. Aber sie waren sehr glücklich gewesen und beide blutjung. Eine Verrücktheit, so jung zu heiraten! Man sah ja, was dabei herauskam. Aber er hatte immer an sie gedacht in den vergangenen Jahren. Wie es sein würde, wenn er sie wiedersähe. Sie würde beide Arme um seinen Hals werfen und ihn küssen, mit diesen spitzen, kleinen, atemlosen Küssen, mit denen sie ihn immer empfangen hatte. Und nachts würde er sie im Arm haben und würde alles vergessen, all die furchtbaren, endlosen Jahre. Ein neues Leben würde beginnen.
Die Wahrheit sah anders aus. Gaby hatte ihn längst vergessen, sie hatte einen anderen Mann, sogar ein Kind. Für sie hatte das neue Leben bereits begonnen. Und in diesem Leben war kein Platz für ihn. Wahrscheinlich hatte sie im Stillen gehofft, er würde gar nicht wiederkommen.
Aber dass sie so feige war! Sie ging ihm aus dem Weg, wollte ihn nicht sehen.
»Ich möchte ihr jeden Kummer ersparen«, hatte der Mann gesagt, mit dem sie jetzt lebte. »Sie müssen das begreifen, Herr Scholz. Sie war so jung damals. Und sie hat so viel durchgemacht. Wirklich, sie hat es schwer gehabt. Ganz allein in dieser furchtbaren Zeit, ohne Schutz und Hilfe.«
Ja, es schien das Los der Frauen heute zu sein. Allein zu sein, ohne Schutz und ohne Hilfe. Soweit hatte man es gebracht.
Der andere Mann war übrigens ein feiner, anständiger Kerl. »Bitte sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann, Herr Scholz. Ich fühle mich tief in Ihrer Schuld.«
Martin hatte schroff abgelehnt und war gegangen. Vielleicht war es ungerecht von ihm. Man musste die anderen auch verstehen. Für sie war das Leben weitergegangen. Man hatte sich eben bloß das Heimkommen ganz anders vorgestellt, hatte gedacht, dass jemand da wäre, der auf einen gewartet hatte. Aber wer wartete schon zehn Jahre lang! Nein, dreizehn Jahre waren es im Ganzen. In den beiden letzten Kriegsjahren hatte er keinen Urlaub gehabt. Wer wartet so lange? Es war dumm, so etwas zu verlangen.
Das Mädchen seufzte im Schlaf, ihr Kopf neigte sich ein wenig. Furchtbar unbequem, wie sie da kauerte.
Martin stand auf, beugte sich über sie und hob sie vorsichtig aus dem Sessel. Sie war so leicht, ihr Kopf lag an seiner Schulter, sie bewegte ein wenig die Lippen, aber sie erwachte nicht.
Behutsam legte er sie aufs Bett und deckte sie zu. Jetzt schlief sie also doch bei ihm!
Er setzte sich in den Sessel, griff nach den Zigaretten. Doch dann ließ er sie liegen. Es war genug Rauch im Zimmer. Man sollte besser etwas lüften. Er stand wieder auf und öffnete leise das Fenster. Kalte Luft strömte herein. Der Nachthimmel war hoch und klar, voll von Sternen. Dieselben Sterne wie im alten Jahr. Warum denkt man nur, es sei etwas Besonderes los mit so einem neuen Jahr? Es war doch immer wieder dasselbe.
Nach einer Weile setzte er sich wieder. Im Zimmer war es jetzt kühl, der Ofen war ausgegangen. Besonders bequem war es nicht für ihn. Warum sollte er sich nicht einfach neben sie legen? Schließlich war es doch sein Bett.
Vorsichtig legte er sich nieder. Sie atmete ruhig und bewegte sich nicht. Sie schlief fest wie ein Kind.
Es ist angenehm, neben ihr zu liegen, dachte Martin, sie ist zart und schlank, sie riecht gut. Eigentlich ist es doch ganz schön, dass sie hier ist.
Er schob sich noch etwas näher zu ihr hin. Morgen muss ich sie fragen, wie sie eigentlich heißt. Und ob sie wieder einmal zu mir kommen wird.
Und dann schlief er ein.
Regina erwachte. Die erste Empfindung, noch im Aufdämmern, war angenehm. Es war warm und weich, sie machte Anstalten, sich noch mal auf die andere Seite zu drehen. Da spürte sie den fremden Körper neben sich, fühlte den Atem, der sie streifte. Einen Augenblick lang lag sie in starrem Entsetzen, ihr vom Schlaf entspannter Körper wurde steif, zog sich zusammen. Vorsichtig öffnete sie die Augen einen Spalt.
Der Mann lag ihr zugekehrt, sein Gesicht war ganz nahe, es war ernst und sorgenvoll, die Mundwinkel herabgezogen. Er schlief nicht leicht und entspannt, sein Schlaf war angestrengt und schien von Kummer begleitet.
Regina betrachtete ihn mit Abneigung, während sie versuchte, sich an die Geschehnisse der Nacht zu erinnern. Was war geschehen? Wieso lag sie hier im Bett? Sie hatte offenbar hier geschlafen. Aber zuletzt hatte sie doch im Sessel gesessen. Wie war sie nur ins Bett gekommen? Und was war geschehen?
Er konnte ihr nicht zu nahe gekommen sein, das hätte sie schließlich gemerkt. Immerhin lagen sie in einem Bett und hatten zusammen geschlafen.
Merkwürdig, dass sie das konnte, in einem Bett zusammen mit einem fremden Mann schlafen! Es hatte sie immer etwas Entsetzliches gedünkt. Seit damals war sie jedem Manne ausgewichen in krankhafter Scheu, von Widerwillen erfüllt, wenn sie nur eine Männerhand spürte.
Sie wagte nicht, sich zu rühren, nur ihre Augen wanderten umher. Wie gelangte sie nur unbemerkt aus dem Bett und aus dem Zimmer? Ob er fest genug schlief und es nicht merkte, wenn sie leise aufstand? Es würde furchtbar sein, wenn er erwachte und sie hier neben ihm lag. Wäre sie doch bloß gestern nicht in den Gasthof zurückgekehrt. Warum hatte sie das getan? Der Zeche wegen, ja. Aber auch seinetwegen, das war das Komische. Er hatte sich gefreut, dass sie zurückgekommen war. Und sie hatte sich auch gefreut.
Er bewegte sich im Schlaf, sein Kopf rutschte noch näher, sodass er fast ihre Wange berührte. Sie lag mit angehaltenem Atem. Seltsam zu denken, dass alle Frauen so mit einem Mann schliefen und glücklich dabei waren. Ob es ihr auch so ergangen wäre, wenn das damals mit den Russen nicht passiert wäre? Ob sie sich dann auch eines Tages glücklich und verliebt in die Arme eines Mannes gelegt hätte?
Aber immer wieder, immer wieder sah sie das dunkle, wüste Gesicht über sich, den fletschenden Mund, der keine Liebesworte sprach, nur gierig klaffte, die rohen Hände, die nicht zärtlich streichelten, nur schmerzhaft zugriffen. Konnte sie das denn nie und nie vergessen?
Vielleicht, wenn sie nicht so jung gewesen wäre, wenn schon ein anderer Mann sie zuvor besessen hätte, einer, der sie liebte. Wenn sie um die Liebe gewusst hätte, um das Glück des Beieinanderseins, und das andere nur als grauenvolles Zwischenspiel erlebt hätte. Aber so hatte es ihr jede Fähigkeit genommen zu lieben.
Ich möchte vergessen, dachte sie angestrengt. Lieber Gott, lass mich vergessen! Mach, dass ich einen Mann lieben kann! Meinetwegen diesen hier, oder einen anderen, aber lass mich so werden wie andere Frauen.
Trotzdem dachte sie: Ich muss fort, ich muss fort sein, ehe er aufwacht. Ich schäme mich. Aber wie hinauskommen? Sie lag an der Wand, sie musste über ihn hinwegsteigen. Und wie sollte sie aus dem Haus kommen? Man würde sie sehen, unten, doch das war schon egal jetzt.
Vorsichtig schob sie sich ein wenig zur Seite; sofort rührte er sich, seine Hand hob sich im Schlaf und legte sich auf ihre Brust.
Regina blieb steif und reglos liegen. Es war unmöglich, unbemerkt aufzustehen.
Im Hause hörte man jetzt verschiedene Geräusche. Jemand ging auf der Treppe, eine Tür fiel zu, eine Frauenstimme rief etwas, ein Radio spielte. Draußen bellte ein Hund und ein Auto fuhr vorbei.
Und dies, die Geräusche der Außenwelt, gaben ihr auf einmal ein Gefühl der Geborgenheit. Draußen die Welt war feindlich, war böse, bot weder Heim noch Hilfe. Hier war es warm und still, und hier war ein Mensch, der vielleicht gut zu ihr sein würde.
In diesem Augenblick erwachte Martin. Er erwachte rasch und war sofort ganz da. Er blickte in die ängstlichen Augen des Mädchens. Dann spürte er ihre Brust unter seiner Hand. Es war ein schönes Gefühl und er zog die Hand nicht zurück.
»Guten Morgen«, sagte er. »Nun? Wie geht es? Gut geschlafen?«
Regina wandte den Kopf zur Seite und errötete. Behutsam zog er seine Hand zurück.
»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Regina verwirrt. »Ich weiß gar nicht, was mit mir los war. Bin ich denn einfach eingeschlafen?«
»Ja, ganz plötzlich. Und ich hab’ das Kind ins Bett gelegt. Erst blieb ich im Sessel sitzen, aber dann war es mir zu kalt.«
»Aha. Es … es tut mir leid.«
»Warum? Mir hat’s gefallen.«
»Es … es ist unmöglich.«
»Kein Grund zur Besorgnis. Harmloser als wir heute Nacht haben noch nie zwei Leute in einem Bett geschlafen.«
Sie vermied seinen Blick. Leise sagte sie: »Was werden die Leute sagen!«
»Was für Leute? Mich geht keiner was an. Außerdem ist es mir sch… ich meine, es ist mir egal.«
»Ihre Frau Bäckerin wird Sie an die Luft setzen.«
»Wäre auch noch nicht das Schlimmste. Ewig kann ich hier sowieso nicht bleiben. Aber – wie wär’s denn, wollen wir nicht wenigstens du zueinander sagen, wenn wir schon zusammen geschlafen haben, hm?«
»Oh«, sagte Regina unsicher, »wenn Sie wollen …«
»Wenn du willst. Sag’s mal.«
Er neigte sich über sie. Befangen sah Regina zu ihm auf und flüsterte: »Wenn du willst …«
Ohne dass es ihm bewusst wurde, kehrte seine Hand zurück und legte sich sanft wieder auf ihre Brust. Regina zuckte zusammen, helle Angst kam in ihren Blick.
»Und wie heißt du?«, fragte er.
»Ich … oh, ich … Regina.«
»Regina. Die Königin, ein schöner Name.« Seine Hand schloss sich fester um ihre Brust, sein Körper drängte heran.
»Oh, nicht, nicht«, rief sie beschwörend, »bitte, ich … ich will aufstehen.«
»Bleib doch«, flüsterte er. »Bitte, bleib doch!«
Sie spürte seinen Körper, der immer näher kam, immer drängender wurden seine Hände. Mit einem erstickten Aufschrei stieß sie ihn zurück. »Nein, nein, lassen Sie mich. Ich kann nicht. Ich kann nicht.«
»Warum? Warum, Regina? Du hast neben mir geschlafen. Bin ich dir so zuwider?«
»Ich kann nicht. Ich kann wirklich nicht.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, das Entsetzen in ihrem Gesicht ernüchterte ihn.
Er ließ sie los und rückte ein Stück von ihr ab. »Ich weiß, ich habe es dir versprochen. Aber ich dachte, jetzt … Wahrscheinlich bin ich in meinem derzeitigen Zustand für ein junges Mädchen ein Graus.« Nun kamen wieder die harten Linien in sein Gesicht.
»Bitte, das dürfen Sie nicht denken«, sagte Regina verzweifelt. »Das ist es nicht … es ist nur … Ach!« Plötzlich warf sie sich auf die Seite und begann zu weinen.
Martin war bestürzt, er war den Umgang mit Frauen nicht mehr gewohnt. Was ihm gefehlt hätte, wäre eine unkomplizierte Begegnung gewesen. Und nun ausgerechnet dies!
»Bitte, Regina, weine nicht«, bat er, »ich wollte dich nicht kränken, ich … Sicher benehme ich mich unmöglich.«
»Nein«, schluchzte Regina, »ich, ich bin unmöglich, ich weiß es.«
»Hör auf zu weinen«, sagte er rau, »es ist ja schon gut.« Er strich ihr ungeschickt übers Haar und zog ihren Kopf an seine Brust.
Schweigend blieben sie so liegen. Regina hörte sein Herz schlagen. Das war es, was ihre Furcht vergehen ließ. Ein Herz, ein Menschenherz schlug an ihrem Ohr, eine Hand streichelte sie. Nein, es war nicht furchtbar, es war nicht hässlich. Es tat gut. Sie wollte nicht mehr feig sein. Sie wollte, sie musste ein neues Leben beginnen.
»Ich bin so dumm«, flüsterte sie an seiner Brust, »ich weiß es. Du kannst das nicht verstehen. Aber ich habe Angst vor Männern. Ich habe immer Angst gehabt.«
»Warum?«, fragte er.
Sie schwieg.
»Hast du noch nie etwas mit einem Mann gehabt?«
»Nein«, sagte sie leise.
Das war ihm mehr unangenehm als erfreulich zu hören. So jung konnte sie doch gar nicht mehr sein. Und da hörte man immer tolle Geschichten, wie schnell bereits heutzutage die Mädchen mit der Liebe seien, wie früh sie damit anfingen.
»So«, sagte er, »ja dann …«
Nach einer Weile blickte er auf sie herab und lächelte. »Ein kleines Mädchen also«, sagte er, es klang zärtlich. »Ein ganz kleines Mädchen. Das muss mir passieren!« Er lachte ein wenig vor sich hin. »Aber einen Kuss darf ich dir doch wenigstens geben?«
In diesem Moment kamen Schritte die Treppe herauf. Tap, Tap, langsam und bedächtig kamen sie näher. Die beiden fuhren auseinander, lagen steif und lauschten. Verdammt, dachte Martin, ich hab’ nicht abgeschlossen.
Die Schritte verhielten vor der Tür, es klopfte.
Martin streifte Regina mit einem Blick, ehe er antwortete. Mit angstvoll geweiteten Augen sah sie zu ihm auf.
»Ich liege noch im Bett«, rief er. »Wer ist denn da?«
»Ich. Könnten Sie wohl, einen Gang erledigen, Martin? Gerbers haben einen Kuchen bestellt, er müsste hingebracht werden.«
»Ja, ich komme gleich.«
»Sie können bei uns zu Mittag essen, Martin.«
»Danke, Frau Moser.«
Die Schritte gingen wieder abwärts.
Beide atmeten auf. »Ich hatte nämlich nicht abgeschlossen«, sagte er.
»Au weia«, sagte Regina kindlich. »Wenn sie hereingekommen wäre!«
»Sie hätte ein dummes Gesicht gemacht.«
Und nun? Er wollte ihr einen Kuss geben, richtig. Aber die Stimmung war zerstört. Er wusste nicht, wie wieder beginnen.
»Stehen wir lieber auf«, meinte Regina, im Grunde ganz froh über Frau Mosers Erscheinen, »sonst kommt wirklich noch jemand.«
»Ja. Stehen wir auf.«
Schweigend stieg Martin aus dem Bett. Alles war so verfahren und vertrackt. Früher war das Leben doch auch nicht so kompliziert gewesen. Man hatte einfach verlernt, natürlich zu sein, das war es. Und dass auch Frau Moser gerade kommen musste! Und dass Regina hören musste, wie man ihn herumschickte wie einen Botenjungen! Bisher hatte er nichts dabei gefunden, für die Mosers mal einen Gang zu machen, das Auto zu putzen und Holz zu hacken. Warum denn nicht? Er hatte ja Zeit und es war ihm sowieso egal, was er tat. Aber heute ärgerte es ihn. Auch, dass Frau Moser ihn zum Essen eingeladen hatte. War er ein Bettler? Ein Almosenempfänger?
Mit verbissenem Gesicht hantierte er über seiner Waschschüssel, schnitt sich zweimal beim Rasieren, weil er es kaum über sich brachte, sein Gesicht im Spiegel zu sehen.
Das war also aus ihm geworden, ein Nichts, ein Niemand, ein armseliger Hungerleider in der Dachkammer, der von Almosen lebte. Die Pest über die Welt und die gesamte Menschheit. War es seine Schuld, dass er heute so dastand? Aber danach fragte niemand. Man fragte nur danach, was einer besaß, wie viel Geld er hatte. Das schien das Einzige zu sein, was noch zählte in dieser Welt. So einer wie er war nicht geachtet und angesehen, im Gegenteil. Keiner fragte danach, warum es ihm dreckig ging. Es ging ihm eben dreckig, und damit basta. Kein Recht mehr zum Leben. Recht hatten die anderen. Er und seinesgleichen hatten unrecht. Es war zum Lachen. Und zu alldem fingen sie schon wieder mit einer neuen Wehrmacht an. Geld genug hatten sie ja. Und die Dummen, die man da hineinstopfen konnte, die fand man schon wieder.
Er hasste sie alle. Dieses ganze Land hier, diese Menschen, die nur satt und vollgefressen waren und dabei so dumm. Sie wurden nicht klüger. Und er und seinesgleichen, die es ihnen hätten sagen können, sie wurden nicht gefragt. Armselige Kreaturen, zu nichts mehr nutze. Keine Steuerzahler. Almosenempfänger. Ein bisschen was vom Staat für die Heimkehrer, ein bisschen was von den Mosers.
So arm war er gar nicht, wie es von außen schien. Er hatte fast das ganze Geld noch da, das er bekommen hatte. Was sollte er auch damit anfangen? Eine Existenz gründen? Wozu sollte das gut sein? Einen Anzug hatte er sich gekauft, kurz vor Weihnachten, einen hübschen grauen Anzug. Frau Moser hatte ihn dazu verleitet. Ein paar Hemden und was man eben noch so brauchte im zivilen Leben. Einmal hatte er ihn bisher angehabt, am Heiligen Abend, unten bei Mosers, als er mit grimmiger Miene neben dem Christbaum gesessen und krampfhaft in eine andere Richtung geblickt hatte. Es war ja auch eine Zumutung, ihn einzuladen, ausgerechnet ihn, an solch einem Abend. Bei fremden Leuten vor brennenden Kerzen sitzen, nachdem einen die eigene Frau nicht mehr kennen wollte. Und überhaupt, so etwas konnte man nicht mehr sehen, einen Christbaum, eine Familie, die darunter saß und sich liebhatte. Und ein Kind, das glücklich plapperte, das Kind von Mosers Tochter.
Und dann hatte Frau Moser auch noch angefangen zu weinen, weil sie an ihren Sohn dachte, und er sollte von ihm erzählen.
Da hatte er es nicht mehr ausgehalten. Mit einer kurzen Entschuldigung war er gegangen.
Seitdem hing der neue Anzug unberührt im Schrank. Am wohlsten fühlte er sich noch immer in den alten Klamotten. Da gehörten solche wie er hinein. Man bekam sowieso nur, was übrigblieb. Und es blieb gar nicht zu viel übrig. Die ordentlichen Berufe, die Wohnungen, die Frauen, das war alles für die anderen da. Nun gut, es machte ihm nichts aus. Er hasste sie, alle, die Mosers, seine Frau und die da in seinem Bett, die angefangen hatte zu weinen, als er ihr nahe gekommen war. Es war typisch. Zum Teufel mit ihr, zum Teufel mit allen. Er wollte niemanden mehr sehen.
Als er sich umwandte, saß Regina auf dem Bettrand. Unsicher blickte sie zu ihm auf. »Wie werde ich aus dem Haus kommen?«
»Ganz einfach«, sagte er grob und rieb sich heftig Gesicht und Hals mit dem Handtuch, »die Treppen hinunter und durch die Haustür.« Doch dann tat sie ihm wieder leid, als er sie da sitzen sah wie ein Häufchen Unglück. »Das werden wir schon sehen. Und im Übrigen kann es uns gleich sein.«
Regina hob die Schultern. »Mir bestimmt. Mich kennt ja keiner.«
Wider Willen fragte er: »Wirst du nicht wiederkommen?«
»Soll ich denn?« Es klang zaghaft.
»Du wirst kaum Lust dazu haben. Ich fürchte, ich bin keine sehr angenehme Gesellschaft.« Das klang nicht eben einladend. Auf diese Weise würde es nie etwas mit ihnen werden. Eigentlich wusste er auch nicht genau, ob er wollte, dass sie wiederkäme.
»Ja, dann könnte ich jetzt gehen?«, meine Regina, als er nichts mehr sagte.
»Ja«, sagte er und setzte sich neben sie auf den Bettrand. Schweigsam saßen sie so eine ganze Weile beieinander. Dann seufzte Martin und sagte: »Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen. Geh fort, Regina. Geh und komm nicht wieder. Mit mir ist nichts los.«
»Das denkst du nur«, sagte sie sanft. »Ich finde dich sehr nett. Ich verstehe zwar nicht viel von Männern, aber ich finde dich nett. Und ich glaube, du könntest ganz anders sein. Du bist eben noch gar nicht richtig da, das ist es. Wie warst du denn früher?«
»Du hast es eben gesagt: ganz anders.« Die wenigen lieben Worte hatten ihm gutgetan. Auf einmal brachte er es fertig, den Arm um ihre Schulter zu legen. »Ich möchte gern wieder ein normaler Mensch werden«, sagte er leise, gar nicht mehr trotzig, nur noch unglücklich. »So wie die anderen sind. Seit ich zurück bin, habe ich noch nichts Vernünftiges getan. Ich bin wie gelähmt, weißt du. Und ich kann mich selber nicht ausstehen. Wie soll mich da jemand anders leiden können? Du zum Beispiel?«
»Aber ich mag dich ja leiden.«
»Wirklich?«
Er näherte ihr vorsichtig sein Gesicht, darauf gefasst, dass sie zurückweichen würde. Aber sie saß ganz still. Da küsste er sie ganz zart auf die Wange. Wie weich und samten ihre Haut war! Dass es so etwas gab! Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund, wieder nur ganz zart, ganz leicht.
Regina rührte sich nicht. Ihr Herz klopfte lauter, aber sie hatte keine Angst. Ein seltsames Gefühl, süß und bitter zugleich, gemischt aus Bangnis, Sehnsucht, ein wenig Trauer und ein wenig Glück. So wie einem manchmal zumute war im Frühling, an den ersten milden Tagen, wenn die Erde aufbrach. Sie wusste nicht, was es war, ahnte kaum, dass es die Liebe war, die sich zum ersten Mal ihrem Herzen genähert hatte, die zum ersten Mal, seit sie mit Martin hier war, in dieses Zimmer geblickt hatte.
Während Martin hinunterging, um Näheres über seinen Auftrag zu hören, erfrischte sich Regina ein wenig. Sie kämmte ihr Haar und zupfte an ihrem zerdrückten Rock. Aufmerksam betrachtete sie sich in dem kleinen, fleckigen Spiegel. Besonders reizvoll sah sie nicht aus. Sie war blass, das Haar fiel ihr lang und glatt auf die Schultern. Nicht einmal einen Lippenstift hatte sie eingesteckt.
Da muss einer schon aus Russland kommen, damit er mich überhaupt bemerkt, dachte sie nicht ohne Galgenhumor. Aber das wird anders. Sobald ich Arbeit habe und Geld verdiene, kaufe ich nur Sachen, die mich hübsch machen. Nichts sonst. Ich will auch so aussehen wie andere Frauen, ich will einfach.
»Es geht ganz leicht«, sagte Martin, als er zurückkam. »Frau Moser ist in der Küche. Er liegt auf der Couch und liest Zeitung. Ich gehe laut hinunter und du kommst leise nach. Wenn niemand aus dem Fenster schaut, sieht auch niemand, wie du aus dem Hause kommst.«
»Und die anderen Leute im Haus?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht schlafen sie noch. Bei denen war es gestern sehr spät.«
»Na ja, ‘raus muss ich schließlich, nicht?«
»Ich hab’ mir auch schon überlegt, wie wir es weitermachen. Heute beim Essen werde ich Mosers erzählen, dass ich eine Bekannte getroffen habe, ein junges Mädchen, das ich von früher kenne. Wo hast du denn gewohnt?«
»Früher in Königsberg und zuletzt in Cosslitz, das ist so eine Kleinstadt, gleich hinter der Neißelinie.«
»Königsberg ist prima, da war ich Soldat. Dort haben wir uns kennengelernt. Ich habe dich und deine Eltern oft besucht.«
»Mein Vater war Studienrat am Gymnasium, Lateinprofessor, während des Krieges war er Oberleutnant.«
»Noch besser. Wir waren also Kameraden, dein Vater und ich. Das macht sich gut. Sonst denken die, du warst meine Freundin.«
»Ich war ja damals noch ein Kind.«
»Ach so, ja. Natürlich. Na, dann habe ich eben mit dir ›Mühle‹ gespielt und ›Mensch ärgere dich nicht‹.«
»Warum nicht gleich ›Hoppe, hoppe Reiter‹?«
»Und gestern habe ich dich zufällig getroffen und wir waren ein bisschen bummeln. Das ist für Mosers ganz plausibel und in Ordnung, und du kannst mich besuchen, wann du willst.«
Sie flüsterten wie zwei Verschwörer, lachend, ganz entzückt von dem schönen Spiel.
»Hoffentlich sieht uns niemand aus dem Haus kommen«, kicherte Regina, »sonst ist die ganze schöne Geschichte ins Wasser gefallen.«
»Die Geschichte bleibt, wie sie ist. Sie werden dann eben merken, dass du heute kein Kind mehr bist. Umso besser, dann gewöhnen sie sich gleich dran.«
Doch keiner begegnete ihnen bei dem Abzug aus dem Haus. Und wenn niemand hinter der Gardine stand, sah auch keiner Regina das Haus verlassen.
Sie schlenderte die Straße entlang, eine sonntagsstille Vorstadtstraße, schneebedeckt und friedlich.
Der 1. Januar. In den sauberen kleinen Häuschen bereiteten die Frauen den Neujahrsbraten, die Männer lasen die Zeitung oder genossen ihren Frühschoppen. Eine geruhsame, friedliche Welt, lauter glückliche Menschen, die eine Heimat hatten.
Regina verzog das Gesicht. Nun ja, das wusste man nicht. Es war unruhig und friedlos überall, wo Menschenherzen schlugen.
Sie lächelte im Gehen vor sich hin und berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen. Er hatte sie geküsst. Eigentlich war es schön, geküsst zu werden.
Martin holte sie ein. Er trug den Karton mit dem Kuchen und schien ein wenig geniert deswegen. Jedenfalls sprach er gleich davon.
»Das hört jetzt auf. Ich muss eine vernünftige Arbeit haben. Sonst werde ich nie wieder normal.«
»Und was willst du arbeiten?«
Ja, das war es eben. Was sollte er arbeiten? »Ich weiß noch nicht«, sagte er.
Er brachte sie bis zur Straßenbahn und sie vereinbarten, sich an einem Nachmittag in dieser Woche in der Stadt zu treffen.
Martin sah der Straßenbahn nach, solange sie noch zu sehen war. Ja, es musste etwas geschehen. Er musste handeln. Von selber änderte sich nichts. »So jedenfalls kann es nicht weitergehen«, murmelte er vor sich hin. Dann ging er mit seinem Kuchenpaket davon.
Natürlich, wieder kein Parkplatz. Janos fuhr langsam um den Platz herum, einmal, zweimal. Er war sowieso schon viel zu spät dran. Linda würde ärgerlich sein. Aber Dodo war schuld, das kleine Biest. Sie hatte ihn absichtlich so lange aufgehalten. Aufreizend langsam hatte sie sich angezogen. Und dann saß sie im Hemdhöschen auf der Sessellehne, wippte mit den Beinen und erzählte ihm irgendeine lange Geschichte.
»Willst du wirklich gehen?«, hatte sie zwischendrein ganz harmlos gefragt.
»Kind, sei doch nicht albern«, hatte er halb ärgerlich, halb amüsiert geantwortet. »Linda würde es mir furchtbar übelnehmen, wenn ich nicht käme.«
»Du mit deiner Linda«, sagte Dodo gereizt. »Es ist doch lange aus zwischen euch. Oder?«
»Natürlich. Aber wir sind gute Freunde. Und das werden wir auch bleiben.«
»Gute Freunde! Dass ich nicht lache. Sie liebt dich immer noch.«
Janos lächelte. »Willst du es ihr verbieten?«
Dodo versuchte ihn festzuhalten, sie legte ihre Arme um seine schmale Taille und bat:
»Es war so nett heute. Bleib doch da.«
Er schüttelte den Kopf. »Es wird morgen wieder so nett sein. Heute muss ich wirklich gehen.«