Reise in den Innerkosmos - Julian Wangler - E-Book

Reise in den Innerkosmos E-Book

Julian Wangler

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Beschreibung

Der Film Blade Runner ist eine lange Reise durch die Nacht. Er führt uns durch die Straßen eines von Atomkrieg und Smog verdunkelten Los Angeles, in dem alles ungewiss geworden ist. Als der Polizist Rick Deckard sich auf die Jagd nach einer Gruppe flüchtiger Replikanten begibt, ahnt er nicht, dass ihn dieser Auftrag verändern wird. Dieses Buch taucht ab in den Innerkosmos von Blade Runner - in die Welt hinter dem Schleier, die in so vielen Rätseln zu uns spricht. Analysiert wird der gesamte Stoff, einschließlich des Settings und der Figuren mit ihren Motiven, Gefühlen und Abgründen. Es ist der Versuch, eine Schneise der Deutung zu schlagen.

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„Wir wollen nicht vergessen: Es gab und gibt auf vielen Planeten Kreaturen, die anderen gehorchen müssen.

Die machen die schmutzige Arbeit; die Arbeit, die sonst niemand machen will, weil sie zu schwierig oder zu gefährlich ist.

Man braucht nicht darüber nachzudenken, wie es ihnen geht oder was sie empfinden.

Eine Generation von Geschöpfen, die man einfach nach Gebrauch wegwerfen kann.“

- Guinan zu Jean-Luc Picard in Wem gehört Data?, Star Trek: The Next Generation

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Aus dem Wörterbuch

Auftakt – Kein Entrinnen

Existenzielle Unsicherheiten – Die ganz andere Romanvorlage

Intermezzo1

„Ich kann Dich sehen!“ – Augensymbolik in

Blade Runner

Intermezzo2

„If you’re not cop you’re little people!“ – Dehumanisierung als Motiv in

Blade Runner

Intermezzo3

Bloßer Zufall oder volle Absicht?– Das Tiermotiv in

Blade Runner

und seine (mögliche) Bedeutung

Intermezzo4

Keine Verbindung – Das versprengte Individuum in

Blade Runner

Intermezzo5

Die Zukunft ist die Vergangenheit – Lebens-, Architektur- und Modestile in

Blade Runner

als Ausdruck von zivilisatorischer Stagnation?

Intermezzo6

Was ist wahre Menschlichkeit?– Die große Frage

Intermezzo7

Was ist Wahrheit? – Über das Brüchig-werden von objektiver Realität in

Blade Runner

Intermezzo8

Die Sache mit den Emotionen – ein Blick ins Innenleben der Replikanten

Intermezzo9

„What do I need help for?“ – Die Frage von Verantwortung am Beispiel Rick Deckards

Intermezzo 10

Träumen

Blade Runner

von elektrischen Einhörnern?– Die Frage nach Deckards Identität

Intermezzo 11

Ein einziges großes Experiment?– Deckard als Replikant

Intermezzo 12

Eldon Tyrell – Eine Figur voller Ambivalenzen

Intermezzo 13

Warum rettet Roy Deckard?– Die Frage nach dem Sinneswandel

Intermezzo 14

Komplexe (Re-)Inkarnationen– Virtuelle

Blade Runner

-Erlebnisse

Das Ende der Welt– Ein neuer Anfang

What Lies Beyond…

Anhang I: Personae dramatis

Anhang II: Literatur

Vorwort

Die Totale von Los Angeles in der Zukunft. Der Himmel ist nach dem Atomkrieg ewig verdunkelt, allenthalben regnet es, Kraftwerksschlote speien Qualm und Feuer, Blitze entladen sich. Es ist keine Stadt mehr, die man sieht, sondern der Albtraum eines urgewaltigen Molochs. So fremdartig bereits das erste Bild von Blade Runner ist, so irritierend und verstörend geht der ikonische Film weiter. Sicherlich ist Blade Runner kein Science-Fiction-Vertreter, der es einem als Zuschauer allzu leicht und bequem macht. Nein, im Gegenteil: Er fordert einen – und das bis zur letzten Minute.

War das die ursprüngliche Intention gewesen? Hatte seinerzeit ein Mastermind ausgeheckt, einen so bedrückenden, verworrenen und schwer durchschaubaren Film auf das nichtsahnende Publikum loszulassen? Das kann durchaus angezweifelt werden. Der Film war das Ergebnis eines regelrecht chaotischen und eigendynamischen Prozesses. Und ganz ähnlich verlief seine Rezeption beim Publikum. Blade Runner hat eine filmische Karriere hingelegt wie nur wenige andere Kinoproduktionen in der Geschichte. Von den Kritikern nach seiner Premiere im Science-Fiction-Jahr 1982 allzu rasch als eher durchschnittliche und unausgegorene Melange aus düsterer Zukunftsdarstellung und Film noir abgetan, avancierte Ridley Scotts eigenständige Inkarnation von Philip K. Dicks Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (Do Androids Dream of Electric Sheep?, 1968) schon bald zu einem der meistinterpretierten Filme seiner Zeit, der heute nicht nur aufgrund seines Status als Kultklassiker besondere Erwähnung verdient.

Im Unterschied zu vielen anderen Genre-Entwürfen ist Blade Runner über die Dekaden gereift wie ein guter Wein und besitzt heute mehr Aktualität und Relevanz denn je. In Zeiten von Klimawandel und Umweltzerstörung, schrankenlosem Kapitalismus, global wirkmächtigen Digitalkonzernen, autoritären und überwachungsstaatlichen Regimen sowie scharfer gesellschaftlicher Polarisierung kann Blade Runner rückwärtig als Pionier einer Entwicklung angesehen werden, auf die viele aktuelle Science-Fiction-Produktionen geradezu selbstverständlich einschwenken. Die Welt von Blade Runner ist der Urtyp des dystopischen Cyberpunks. Auf einer sterbenden Erde, beherrscht von wenigen Mächtigen, Smog und immerwährendem Regen, wird die fundamentale Frage gestellt, was einen Menschen zum Menschen macht.

Die größte Besonderheit des Films ist zweifellos die Art und Weise seiner Darbietung und Erzählung, die einen mit einer wilden Mischung aus Urgewalt und Hässlichkeit, Faszination, sanfter Melancholie und Romantik zu verschlingen weiß. Im Zuge dessen eröffnet Blade Runner hinter seiner genreüblichen Oberfläche bei genauer Betrachtung vielschichtige Bedeutungsebenen, ständige Ambivalenzen und oftmals im Detail steckende Entdeckungen, die das Gesamtverständnis des Films erheblich verändern können. Ein Markenzeichen von Ridley Scotts Film, durch das er gewiss zu einer der meist diskutierten Produktionen des 20. Jahrhunderts wurde, liegt nicht nur in seinen Stärken, sondern auch diversen Schwächen und Inkonsistenzen.

In Verbindung mit seiner bildgewaltigen Erzählung, den wortkargen Dialogen und der Abstraktheit der Darstellung ergeben Ungereimtheiten bei Drehbuch und Umsetzung ganz neue Implikationen auf der Bedeutungsebene. Hinzu kommt, dass die verschiedenen Versionen des Films, die seit seiner erstmaligen Ausstrahlung erschienen sind (u.a. 1992: Director’s Cut, 2007: Final Cut), durch gezieltes Hinzufügen bzw. Entfernen von Szenen einen abweichenden Blick auf das Geschehen von Blade Runner nahelegen.

Durch die visuell dominierte Narration und die vielen Verfremdungen und Irritationen, die der Film im Laufe seiner dystopisch angehauchten Handlung präsentiert, wird der Zuschauer zum Nachdenken und ständigen Interpretieren angehalten. Es ist kaum möglich, Blade Runner ‚einfach nur so‘ zu schauen. Oder um es in Anlehnung an Andrej Tarkowskij auszudrücken: Man kann diesen Film nicht schauen, sondern man muss ihn sehen. Bezeichnenderweise ist in ihm ständig vom Sehen die Rede.

Im Laufe der Zeit, in der ich mich mit Blade Runner beschäftige, sind verschiedene Essays entstanden, die ich im Rahmen dieses kleinen Buches aufbereitet habe. Zweifellos ist es nur eine Art, den Film zu interpretieren – meine ganz persönliche Deutung der Dinge. Reich und vielgestaltig wie Blade Runner aber ist, gibt es verschiedene Standpunkte, die man in Bezug auf seine Akteure, Geschehnisse und Bilder einnehmen kann. Das Gute ist, dass jede Interpretation ihre eigene Berechtigung hat und das Gesamtensemble der individuellen Ausdeutungen bereichert. Subjektivität ist für das Betrachten dieses Werks geradezu eine Voraussetzung.

Für mich ist das vorliegende Buch eine Reise in den Innerkosmos von Blade Runner – hinein in die inneren Gedanken-, Motiv- und Gefühlswelten der Figuren, die uns im Film oft verborgen bleiben oder rätselnd zurücklassen; in das, was wahr und was falsch ist und was überhaupt Realität genannt werden kann; in die Implikationen der präsentierten Zivilisation (sprich was die Menschheit in der Zukunft geworden ist); in die Vermutungen und Spekulationen, die man in Bezug auf den gesamten Stoff entwickeln kann. Sicherlich ist es nur eine Auswahl der unerschöpflich großen Zahl an Themen, die Blade Runner anreißt, und doch ist es der Versuch, eine Schneise der Deutung zu schlagen.

Ich bin sehr dankbar, dass es diesen einzigartigen Film gibt, denn er hat meine Sicht auf Science-Fiction, Filmästhetik, zivilisatorischen und technologischen Fortschritt entscheidend mitgeprägt. Das Schöne ist, dass Blade Runner Warnung und Hoffnung zugleich anbietet.

In diesem Buch spielt der im Jahr 2017 erschienene Nachfolgefilm Blade Runner 2049 – mit Ausnahme des Kapitels zu den Videospiel-Inkarnationen – keine Rolle; ich beschränke mich bewusst auf den Originalfilm. Allerdings halte ich es für gut denkbar, in Zukunft auch den neuen Film unter die Lupe zu nehmen oder eine breite Betrachtung des inzwischen merklich gewachsenen Blade Runner-Franchise vorzunehmen.

Anmerkung zur 2. Auflage:

In der zweiten Auflage dieses Buches habe ich sämtliche Kapitel sorgsam überarbeitet und neue hinzugefügt. Dazu zählt u.a. der Abriss zur Romanvorlage bzw. zur Differenz zwischen Buch und Filmadaption. Die Essays werden nun flankiert durch eine Reihe fiktiver Szenen, die versatzstückhaft die Vorgeschichte und Handlung des Filmes ergänzen sollen (Intermezzi). Dadurch soll beim Lesen des Buches eine dichtere Atmosphäre entstehen, die hoffentlich noch stärker zum Nachdenken anregt.

Anmerkung: Dieses Buch ist nicht im Auftrag oder durch Unterstützung bzw. Veranlassung von Produzenten der Blade Runner-Filme oder mit den Filmen zusammenhängenden Merchandise-Artikeln entstanden. Es handelt sich ausschließlich um Gedanken und Interpretationen des Autors.

„Wenn Du mit Deinen Augen sehen könntest, was ich gesehen habe mit Deinen Augen.“

- Roy Batty

Aus dem Wörterbuch

>> Replikant.

„Schmerzhaft, in Furcht zu leben, nicht wahr? […] Nichts ist schlimmer, als eine juckende Stelle zu haben, die man nicht kratzen kann.“ (Leon Kowalski)

Künstlich geschaffene, unfruchtbare humanoide Kreatur, die vorwiegend zur Erforschung und Kolonisierung fremder Welten, zur Arbeit in industriellen Hochgefahrenzonen sowie für militärische Zwecke eingesetzt wird; inzwischen gibt es auch Unterhaltungsmodelle. Die ‚Evolution‘ der Replikanten verlief in drei Etappen: Waren die ersten Modelle noch robotisch, wurde später mit der raschen Entwicklung der künstlichen Intelligenz das Stadium des Androiden mit einem positronischen Gehirn erreicht. Schließlich stellte die Tyrell Corporation mit dem Nexus-6-Modell den ersten vollständig biosynthetischen, also genetisch konstruierten Replikanten mit Knochen, Haut und Organen vor, der sich nicht mehr ohne weiteres von realen menschlichen Wesen unterscheiden lässt. Diese Modelle sind stärker, schneller, agiler und mindestens ebenso intelligent wie die meisten Menschen. Binnen weniger Jahre haben sich die Nexus-6er im gesamten Sonnensystem verbreitet und bilden inzwischen das Rückgrat der Industrie und der interstellaren Wirtschaft.

Eine unbeabsichtigte Konsequenz der großen Menschenähnlichkeit und der sich schnell entwickelnden Autarkie ist das Entstehen eigener Emotionen und einer werdenden Persönlichkeit, was jedoch in verschiedenen Fällen aufgrund der zermürbenden Arbeit und des selbstlosen Lebens von Replikanten zu „psychosenartigen Fehlfunktionen“ führte. Da eine Reihe von Biosyntheten in der Vergangenheit aufgrund besagter Fehlfunktionen und emotionaler Unreife für blutige Meutereien verantwortlich waren, sind sie auf der Erde per Gesetz verboten worden. Einzige Ausnahme ist der Industriekomplex der Tyrell Corporation, wo sie erschaffen und – zum Beispiel im Hinblick auf ihre Einsatztauglichkeit in anderen planetaren Umgebungen – getestet werden. Das Gesetz betrachtet Replikanten nicht als Menschen, weshalb sie weder nennenswerte Rechte noch irgendeinen Schutz genießen.

Um die neuen, menschengleichen Replikanten besser kontrollieren zu können und die unerfreulichen Zwischenfälle der Vergangenheit künftig zu vermeiden, hat die Tyrell Corporation ihren Nexus-6-Modellen als Rückversicherung ein Fail-Safe-System eingebaut, das ihre Lebensdauer auf vier Jahre beschränkt. Zudem hat man begonnen, mit Erinnerungsimplantationen zu experimentieren, die emotionale Unberechenbarkeit und plötzliche Gefühlsausbrüche verhindern sollen.

„Die Replikanten stehen für den Endpunkt einer ökonomischen Verfügbarmachung, die den Menschen selbst eingeholt hat. Wie der Name sagt, sind sie Replikate, das heißt Kopien oder Verdoppelungen des Menschen, jedoch als kommerzielles Produkt, erschaffen für die Zwecke ihrer Schöpfer. Dadurch ergibt sich eine Kontinuität zum bisherigen Menschen und zugleich ein Bruch. Obwohl biologisch mit Menschen weitgehend identisch, sind sie nicht mehr der natürlichen Evolution unterworfen, auch treffen aufklärerische Ideale autonomer Subjektivität nicht mehr auf sie zu, und in religiöser Hinsicht, so wird suggeriert, stehen sie außerhalb einer göttlichen Heilsgeschichte. Durch diesen Kunstgriff repräsentieren sie den Menschen in einer Situation radikaler Fraglichkeit. Die Replikanten sind wie ein verzerrtes Spiegelbild des Menschen und die Frage nach ihrer Menschlichkeit wird zur Frage nach dem Menschsein überhaupt – unter spätkapitalistischen Vorzeichen.“ (Karsten Schmidt, S. 10/11)

>> Blade Runner.

„Replikanten sind wie jede andere Maschine. Sie können ein Nutzen oder eine Gefahr sein. Wenn sie ein Nutzen sind, ist das nicht mein Problem.“ (Rick Deckard)

Offiziell Rep-Detect genannt. Spezielle Polizeieinheiten, deren vordringliche Aufgabe darin besteht, jeden gesetzeswidrig auf die Erde gelangten Replikanten aufzuspüren und zu eliminieren (im Jargon: ‚aus dem Verkehr ziehen‘).

Hierzu werden Blade Runner in der Benutzung der Voight-Kampff-Maschine geschult. Deren Zweck besteht darin, Replikanten anhand eines intensiven Empathietests und, damit einhergehend, bestimmten reaktiven physischen Parametern (Pupillenfluktuation, unfreiwillige Irisvergrößerung, Errötungsreaktion) zu identifizieren. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Replikanten aufgrund ihrer geringen emotionalen Reife bzw. Erfahrung merkliche Verzögerungen bei bestimmten Körperreaktionen zeigen sowie eine Unsicherheit, in sozialen Situationen adäquat zu (re-)agieren.

Die Maschine wurde notwendig, weil flüchtige Replikanten oftmals ihr Erscheinungsbild verändern und/oder versuchen, alle Aufzeichnungen über ihre wahre Identität zu vernichten.

Blade Runnern wird bei der Jagd nach Replikanten vom Gesetz ein enormer Handlungsspielraum eingeräumt. Dieser reicht mitunter so weit, dass sie auch gedeckt sind, sollten sie bei der Replikantenjagd fälschlicherweise einen Menschen aus dem Verkehr ziehen. Die Rep-Detect-Departments legen allerdings Wert darauf, dass ihnen so gut wie nie ein Fehler bei der korrekten Aufspürung unterläuft.

Isidore sah ein undeutliches, düster-flüchtiges Bild vor sich: Jemand Gnadenlosen, mit einer Kiste und einer Pistole, der maschinengleich seinen öden, bürokratischen Mörderberuf ausübte. Jemand ohne Gefühle, ja ohne Gesicht. Sollte er umgebracht werden, würde er augenblicklich durch einen anderen ersetzt, der wieder gleich aussah. Und dies würde fortdauern, bis alle Lebenden erschossen waren. (Philip K. Dick, Träumen Androiden von elektrischen Schafen?)

>> Terminus.

Der tödliche Staub, der den größten Teil des Globus verseucht hatte, kam aus dem Niemandsland, und keiner, nicht mal der Kriegsfeind, hatte mit ihm gerechnet. […] Die Hinterlassenschaft des letzten Weltkriegs war heute nicht mehr so gefährlich wie es einmal der Fall gewesen war. Diejenigen, die dem Staub nicht gewachsen gewesen waren, waren schon vor Jahren ausgelöscht worden. Und der Staub – schwächer geworden und mit den resistenteren Überlebenden konfrontiert – schädigte nun nur noch Verstand und Erbgut. (Philip K. Dick, Träumen Androiden von elektrischen Schafen?)

Der Dritte Weltkrieg, Terminus (Endstation) genannt, war eine Stunde Null für die Erde – eine Stunde Null, von der sie sich nie wieder erholte. Viele Informationen über die Zeit vor jenen apokalyptischen Jahren am Ende des 21. Jahrhunderts sind unwiederbringlich verloren gegangen – auch darüber, warum der Krieg eigentlich ausgebrochen war oder wer – falls überhaupt – ihn gewonnen hat. Was man weiß, ist, dass der endgültige Aufstieg der Tyrell Corporation zur mit Abstand wichtigsten Firma der Welt mit dem Untergang der Welt, wie man sie kannte, unmittelbar zusammenfiel. Große Armeen von Robotern sowie Androiden der Nexus-3- und -4-Serie waren von den Kriegsparteien gegeneinander ins Feld geschickt worden, was den Krieg beträchtlich in die Länge zog. Die nukleare Entfesselung war jedoch von den Menschen geplant und ins Werk gesetzt worden – mit allen entsprechenden Konsequenzen.

Als der Krieg endete, war nichts mehr wie früher. Zurück blieb ein verwüsteter, verdunkelter und in weiten Teilen radioaktiv verstrahlter Globus, auf dem binnen kurzer Zeit mehr als 85 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten ausstarben, angefangen mit den Eulen. Giftiger Regen und Smog verhindern, dass man vom Boden die Sonne sieht. Der Großteil der um mehrere Milliarden dezimierten Menschheit ballt sich inzwischen in gewaltigen, immer weiter ausgeuferten Megametropolen in den USA, Westeuropa, Russland, China und Südostasien. So konzentrieren sich nach Krieg, Flucht und Umsiedlung al lein in L.A. nun etwa 106 Millionen Einwohner, was zu Überbevölkerungsproblemen führt. Infolge der massiven Strahlenschäden ist nur noch gut die Hälfte der Menschen überhaupt fortpflanzungsfähig und kognitiv auf der Höhe. Ein beträchtlicher Teil der Geschädigten fristet als ‚Sonderfälle‘ vor allem an den Stadträndern eine klägliche Existenz.

„Auf der Erde werden sämtliche Ressourcen knapp. Zumindest in dem Teil der Welt, der sich den Zuschauern präsentiert, sind die Ökosysteme weitgehend zerstört und Tiere zum großen Teil ausgestorben. Wer es sich leisten kann, verlässt die Erde und lebt in außerirdischen Kolonien. […] Es ist eine Erde wie ein Untoter.“ (Karsten Schmidt, S. 25)

>> Off-World-Kolonien.

„Ein neues Leben erwartet Sie in den Kolonien fern unserer Welt! Die große Chance, neu anzufangen in einem goldenen Land voller Möglichkeiten und Abenteuer!“

Beginnend mit dem Erdmond und dem Mars, begann die Menschheit zunächst zaghaft und nach Terminus erheblich forciert, den Weg zu den Sternen zu beschreiten. Rund ein Dutzend Koloniewelten konnten mithilfe von sklavisch gehaltenen und eingesetzten Replikantenarbeitern erschlossen und mittels Terraforming mehr oder weniger gut besiedelbar gemacht werden. Seither werden jene Menschen auf der Erde, die die Voraussetzungen erfüllen (Erbanlagen, Gesundheit, verfügbares Einkommen, gesellschaftlicher Status etc.), ermutigt, in die Koloniewelten auszuwandern; dies wird aggressiv mit Werbung der Shimago-Dominguez Corporation gefördert, die die sagenhaften Abenteuer und Möglichkeiten anpreist, welche die Auswanderungswilligen erwarten. Neben finanziellen Anreizen wird allen Kolonisten ein kostenloser Replikant für den persönlichen Gebrauch versprochen. Dennoch ist es ein offenes Geheimnis, dass keine einzige der Kolonien auch nur ansatzweise dazu in der Lage ist, einen beträchtlichen Teil der Erdbevölkerung aufzunehmen, geschweige denn existierte überhaupt die Möglichkeit, eine derartige Zahl von Menschen dorthin zu bringen. Dies ist jedoch angesichts des klar umrissenen Off-World-Geschäftsmodells auch gar nicht das Ziel.

Bei der überaus blutigen Meuterei einer Nexus-Kampftruppe in einer der entlegenen Kolonien kamen Hunderte Menschen ums Leben. Seitdem sind Replikanten auf der Erde ausdrücklich verboten.

„Trotz der Anpreisungen in der allgegenwärtigen Werbung: So paradiesisch kann es in diesem „golden land“ nicht sein, jedenfalls gibt es einen großen Bedarf an ‚Kampfmodellen‘. Eines davon ist Leon Kowalski, genauer ist er ein ‚Ammunition loader on intergalactic runs‘ und ‚he can lift 400-pound atomic loads all day and night‘. Seine Aufgabe ist es, Munition zu laden, und die ist ‚atomic‘. Was immer das bedeutet, es klingt nicht gut – nicht wie in der Werbung. In den Kolonien herrscht Krieg.“ (Karsten Schmidt, S. 115)

Auftakt – Kein Entrinnen

Der Jäger war auf der Jagd.

Es hatte eine Weile gebraucht, bis er die Fährte aufgenommen hatte. Minutiös hatte er die Informationsschnipsel wie Puzzleteile zusammengefügt, war Hinweisen nachgegangen, die auf den ersten Blick wenig interessant zu sein schienen, und hatte verdächtige Orte besucht. Verschlungene Pfade war er quer durch den Moloch von einer Stadt gegangen, und manch einer hätte befürchten können, er laufe mit seinen Ermittlungen in eine Sackgasse.

Aber dem Jäger war die Zuversicht niemals abhandengekommen. Seine Geduld hatte sich schließlich ausgezahlt. Die Maskerade seines Zielobjekts war eingerissen worden – es war aufgeflogen. Endgültig entlarvt, hatte es getan, was ihm einzig übrigblieb: die Flucht ergreifen, die schiere Vergeblichkeit seines Bemühens ahnend.

Ein langer Lauf durch die Nacht hatte sich angeschlossen. Es hatte versucht, ihn abzuhängen, doch der Jäger hatte sich nicht beirren lassen. Er hatte die Spur zu keiner Zeit verloren. Jetzt spürte er, dass er kurz davor war, die Partie zu gewinnen, und er würde nicht eher ruhen, bis es soweit war. Wenn er ins Präsidium zurückkehrte, würde er seinem Lieutenant eine Trophäe auf den Schreibtisch legen. Er würde endgültig in der ersten Liga der Jäger mitspielen, und er würde – nicht zu vergessen – eine satte Prämie kassieren.

Der vierte Sektor präsentierte sich wie gewohnt unüberschaubar. Regen hämmerte immer erbarmungsloser vom schwarzen, gelegentlich von blauen Blitzen durchzuckten Himmel. Am Boden ein Chaos aus Fahrzeugen und Passanten, Verkäufern, Tänzern, Polizisten, Verkehrssystemen, Reklameschildern, Werbebotschaften, Durchsagen und vielem mehr. Ein Schmelztiegel der Moden, Nationalitäten, Religionen, Aktivitäten. Der aus der Kanalisation aufsteigende Qualm vernebelte einem die Sicht.

All das betrachtete der Jäger jetzt nur noch als Hindernis auf dem Weg zum Erreichen seines Ziels. Er sah die Herausforderung, die ihn anspornte. Wie Stromschnellen umfloss ihn das hektische Leben der Stadt; er schwamm darauf, ließ sich ein Stück treiben, nur um dann diesen Stromschnellen geschickt auszuweichen, das Eine, das ihn antrieb, stets unverrückbar im Fokus seiner Aufmerksamkeit.

Seine Intuition entpuppte sich als goldrichtig, als er in einem Augenwinkel, gleich hinter den zahlreichen Taxen, den davoneilenden Schatten aufzucken sah. Den Laufbewegungen haftete etwas Stakkatohaftes, Abgehacktes an; er wusste sofort, dass es sich um die Maschine handelte. Um sich nicht ins Gewimmel aus Fußgängern stürzen zu müssen, improvisierte der Jäger eine Abkürzung, die ihn über die Dächer mehrerer schwerer Reinigungs- und Abfallbeseitigungsfahrzeuge führte. Daraufhin sprang er in hohem Bogen auf einen Müllcontainer, federte mit Leichtigkeit ab und setzte ohne Verzögerung die Verfolgung fort.

Die Maschine lieferte ihm noch eine gute Stunde lang eine anspruchsvolle Hatz, dann aber rannte sie mitten in ihr Verderben. Sie hatte einen Highwayzubringer betreten, der steil in die Höhe führte, über mehrere Bürogebäude hinweg. Doch er endete im Nichts, denn er war noch nicht fertig gebaut. Die Maschine kam vor einem fünfzig Meter tiefen Abgrund zum Stillstand, aus dem kalter, regengepeitschter Wind hochpfiff. Endstation.

Als der Jäger sich ihr näherte, drehte sie sich langsam um. In ihrem ausdruckslosen Gesicht meinte er innere Kapitulation lesen zu können. Es schien, als hätte sie resigniert. Der Jäger kannte das von anderen kritischen Situationen. Die künstliche Lebenskraft, die die Maschinen antrieb, schien in sich zusammenzufallen, wenn sie vor unlösbare Aufgaben gestellt waren oder in eine aussichtslose Lage gerieten. Zumindest bei einigen von ihnen hatte er eine Art von Selbstaufgabe beobachtet.

Tatsächlich lag die Maschine richtig. Für sie gab es kein Entkommen mehr. Es war aus für sie, ein für alle Mal.

Sie standen vielleicht fünfundzwanzig Meter auseinander. Wie er sie so betrachtete – verloren, allein, am Ende –, schien sich die Zeit seltsam auszudehnen. Ein Gefühl schwappte über ihn hinweg; es war ihm nicht recht. Diese Empfindung brach wie ein fremdes Unheil über ihn herein. Mitleid regte sich in ihm, sickerte wie Gift in sein Innenleben. Warum zum Teufel, fragte er sich? Wozu Mitleid? Es war doch nur eine Maschine. Eine Maschine, die nicht richtig funktionierte. Die gefährlich war. Die nicht das Recht hatte, hier zu sein. Sie hatte ihren Platz zugewiesen bekommen, doch eine Fehlfunktion hatte sie dazu verleitet, zu rebellieren, auf die Erde zu kommen und dort ihr Unwesen zu treiben. Genau hier begann seine Aufgabe und seine Verantwortung.

Der Jäger besann sich auf seine Ausbildung. Wir projizieren etwas Menschliches in sie hinein, obwohl sie nichts Menschliches in sich haben. Diese Schwäche wollen sie ausnutzen. Das hatte er gelernt, darauf konnte er sich verlassen. Und mehr noch. Die Worte seines Mentors klingelten ihm in den Ohren. Nichts ist bösartiger als ein entflohener Nexus, der seine Herrn geschlachtet hat, der ausgestattet ist mit einer Intelligenz größer als die vieler Menschen, der tierisches Leben nicht achtet, der nicht in der Lage ist, Freude und Anteil an der Existenz anderer Lebensformen oder Kummer über ihr Leiden zu empfinden. Das ist die Ausgeburt der Unmenschlichkeit, und es ist unsere Pflicht, sie dafür zu richten!

Sein Zögern dauerte wohl nur ein paar Sekunden, aber die Maschine hatte den kurzen Anflug von Unsicherheit erkannt. Es genügte, damit sie ihre Chancen neu überdachte, ihre vermeintliche Lethargie überwand.

Plötzlich nahm sie Anlauf und rannte mit unsäglichem Tempo auf ihn zu…

Tack, tack, tack! Das Geräusch der gleichklingenden Schritte pochte im Kontrapunkt zum Blut in seinen Ohren.

Der Jäger war schneller. Er hob die Waffe, zielte und drückte ab.

Diese Stadt war eine Narbe, die nicht verheilen wollte. Der Regen brachte sie zum Eitern. Sie brauchte die Sonne, aber es gab nur Dunkelheit. Das Fenster im Hintergrund präsentierte die Stadt in ihrem üblichen zusammengeballten Durcheinander aus Farben, Formen und Stilen. Seit Jahren wusste schon niemand mehr, wie viele Menschen genau in Greater L.A. lebten. Aus vielen anderen Teilen der Welt waren so viele Immigranten in die Megametropole geströmt, dass das überforderte Statistikamt schließlich kapitulierte – mit dem Ergebnis, dass man die Einwohnerzahl nur noch schätzte. Und selbst das war ohne die Hilfe von allgegenwärtigen Drohnen nicht möglich, wobei diese wie die menschlichen Auszähler auch jene den frühen Höhlenbewohnern nicht unähnlichen Bürger übersahen, die ihr Leben in den stillgelegten U-Bahn-Tunneln fristeten, oder die Plünderer, die in den Verbindungsgängen der Gebäude ihr klägliches Dasein zubrachten.

All das hatte dazu geführt, dass diese Stadt sich Monat für Monat mehr anfühlte wie ein Kessel unter akutem Hochdruck. Eines Tages würde dieser Kessel hochgehen, das schien vorprogrammiert.

„Sie haben die Männer hier richtig überrascht, Deckard.“, sagte Lieutenant Bryant zufrieden.

Deckard und er standen in seinem Büro im LAPD-Hauptquartier, und der stämmige Lieutenant grinste ihn an, als wäre er soeben Vater geworden. Wenn man es genau nahm, besaß Bryant keine besonderen Eigenschaften, die ihn für seinen Job qualifizierten. Außer dass er seine Augen und Ohren überall hatte und er über die Leute Bescheid wusste, die ihn umgaben. Das war ein exzellentes Mittel, um die Motivation der ihm Untergebenen hochzuhalten. Und es mochte eines nicht allzu fernen Tages dazu führen, dass Bryant die Abteilung übernahm.

„Sie haben diesen Rep wie ein alter Profi aus dem Verkehr gezogen.“

„Ich mach‘ nur meinen Job.“, geizte Deckard nicht mit einer selbstbewussten Antwort. Er war sich darüber im Klaren, dass Bryant kein Mann falscher Bescheidenheit war. Folglich wertete er bescheidenes oder höfliches Verhalten bei anderen schnell als Zeichen der Schwäche.

„Und Sie machen ihn mit Stil, Deckard. Wusst‘ ich’s doch, dass ich den Richtigen abgeworben habe. Lassen Sie uns das feiern, ja?“ Bryant goss ihm und sich ein Glas Tsingtao ein. Sie stießen an und tranken.

„Diese 5er können verdammt unberechenbar sein.“, meinte der Lieutenant, nachdem er sein Glas geleert hatte. „Richtige Hurensöhne. Aber gegen uns Blade Runner ist kein Kraut gewachsen. Wir kriegen sie alle, da kann der alte Tyrell sich noch so viel einfallen lassen, um sie kräftiger und schlauer zu machen.“ Bryant tätschelte ihm jovial den Arm. „Ich bin stolz auf Sie, Deckard. Und warten Sie ab, wie stolz erst der Captain sein wird, wenn ich’s ihm erzähle. Nehmen Sie sich doch ein, zwei Tage frei. Und was Ihre Prämie angeht: Ich werd‘ der Finanzabteilung Beine machen.“

Deckard lächelte dünn. „Hört sich gut an, Sir.“

„Schon mal drüber nachgedacht, was Sie mit der Prämie anstell‘n?“, fragte Bryant.

„Mir ist da bei Crazylegs Larry’s ein Sedan unter die Augen gekommen. War Liebe auf den ersten Blick.“

Der Lieutenant pfiff einen hohen Ton und zwinkerte. „Schickes Teil. Nur weiter so, Deckard, und Sie werden sich noch viele Wünsche erfüll’n können.“

Deckard stellte sein Glas ab, nickte und bewegte sich in Richtung Tür.

„Wissen Sie was?“, hörte er Bryant sagen. „Ab sofort gehör’n Sie zur Familie…und deshalb nenn‘ ich Sie jetzt… ‚Deck‘. Na, wie finden Sie das? Fast so schnittig wie der Feuerstuhl, auf den Sie hinsparen, was?“ Sein Vorgesetzter stieß vergnügliches Gelächter hervor.

Es sollte ihm recht sein. Hauptsache, er war jetzt so richtig im Geschäft. „Tun Sie sich keinen Zwang an, Sir.“

„Sie passen hier gut rein, Kumpel. Ich bin sicher, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“

Als Deckard das Departement verließ und sich auf den Heimweg machte, kam es ihm vor, als hätte er seinen Platz im Leben gefunden. Seine Feuertaufe war erfolgreich verlaufen, und es würden noch viele ‚Hautjobs‘ folgen…

Existenzielle Unsicherheiten – Die ganz andere Romanvorlage

Ein tiefes Gewässer

Philip K. Dick war ein Science-Fiction-Autor, der erst nach seiner Lebzeit jenen Ruhm erlangte, der ihm tatsächlich gebührt. Denn zu dem Zeitpunkt, da die filmische Adaptierung seines Romans Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (Do Androids Dream of Electric Sheep?) unter dem Titel Blade Runner zu einem Bestseller wurde, war Dick schon seit einigen Jahren verstorben. Viele Bücher Dicks werden heute zu den modernen Klassikern der amerikanischen Literatur gezählt und haben das Science-Fiction-Genre als Ganzes inspiriert. Filme wie beispielsweise Dark City oder Matrix beruhen auf Dicks Arbeiten und Ideen. Auch die Liste der Verfilmungen von Dicks Romanen bzw. Kurzgeschichten ist beträchtlich. Nach Blade Runner folgten noch viele weitere: Total Recall, Screamers, Impostor, Minority Report, Paycheck, A Scanner Darkly, Next und The Adjustment Bureau. Zwischen 2015 und 2019 produzierte Amazon Studios die von Dick adaptierte Fernsehserie The Man in the High Castle, und Sony Pictures Television brachte 2017 eine Science-Fiction-Anthologie-Fernsehserie heraus, die auf Kurzgeschichten des Autors basiert.

Wer war dieser Mann, der 1928 in Chicago geboren wurde, allerdings in Kalifornien aufwuchs? Soviel steht fest: Ganz sicher war er niemand, der sich auf ausgetretenen Pfaden aufhielt. Zeit seines Lebens hatte Dick ein problematisches Verhältnis zu seinen bürgerlichen Eltern gehabt, die beide im Staatsdienst arbeiteten und sich scheiden ließen, als er fünf Jahre alt war. Aufgrund seiner für ihn teils traumatischen Jugendzeit war er vorübergehend in psychologischer Betreuung, und sein Lebensweg in der Erwachsenenwelt verlief durchaus holperig. Anfang der 1950er Jahre, in der Phase zwischen dem Scheitern seiner ersten beiden Ehen, verdingte er sich in einem Plattenladen und als Radiomoderator für klassische Musik. In dieser Zeit gelang es ihm, seine erste Kurzgeschichte zu verkaufen, und er begann mit der Arbeit an einem Roman. Das sollte erst der Beginn von etwas Großem sein.

Wohl nur wenige Autoren waren in ihrer schriftstellerischen Schaffenszeit so fleißig wie Philip K. Dick – bis 1982 brachte er mehr als vierzig Romane und fast dreimal so viele Kurzgeschichten heraus. Dieser Fleiß hing jedoch unmittelbar damit zusammen, dass Dick angesichts der Geringschätzung, die Sci-Fi zu dieser Zeit oftmals entgegengebracht wurde, eine enorme Schlagzahl an beständig neuen Werken an den Tag legen musste, da er sonst das Auskommen für sich und seine Familie nicht bestreiten konnte. Diese wirtschaftliche Not, unter der Dick lange Jahre stand, ist nicht ohne traurige Ironie, denn tatsächlich kann seine Prosa nicht weiter entfernt sein vom Trash der zu dieser Zeit verbreiteten Groschenromane.

Dick hat sich in den unterschiedlichen Abschnitten seines Schaffens mit Fragen nach dem Wesen der Realität ebenso auseinandergesetzt wie mit Weltraumabenteuern, die den Gesetzen des jungen, von Pulp-Magazinen bestimmten Science-Fiction-Marktes geschuldet waren. In der zweiten, bis etwa 1970 reichenden Periode verfasste er mit sagenhafter Produktivität etwa zwanzig Romane, darunter die meisten seiner Hauptwerke, in denen er seine Untersuchungen zu objektiver und subjektiver Realität vertiefte. Spätere Bücher stellten dagegen Dicks (drogeninduzierte) Visionen und Erfahrungen in den Mittelpunkt, weshalb er gelegentlich ziemlich flapsig und verkürzt als „Drogenautor“ oder „Schriftsteller mit Bewusstseinserweiterung“ plakatiert wurde. Sicher ist richtig, dass Dick immer wieder mit der Loslösung des vermeintlich Realen von der individuellen Wirklichkeit experimentierte und dies auch in den Entstehungsprozess mancher Bücher einbaute. Doch dabei legte er ein gedankenvolles Können an den Tag, in das von ihm mannigfach verschlungene Literatur über Religion, Philosophie (besonders Metaphysik und Existenzialismus) und Gnostizismus einfloss.

Dick war sicherlich kein Kind von naivem Optimismus, sondern melancholisch veranlagt, unsicher und stets suchend. Der Verlust seiner Zwillingsschwester Jane, die gerade einmal sechs Wochen alt wurde, begleitete ihn ein Leben lang. Für Dick war sie ein fehlender Teil seiner selbst, doch in seiner Welt war sie überaus real. Dick konnte sich seine Schwester äußerst lebhaft vorstellen; manchmal glaubte er gar, sie vor sich zu haben oder dass sie ihm etwas mitteilte. Einige Psychologen führten dies auf eine psychische Erkrankung oder Drogenkonsum zurück. Die Bilder seiner Schwester hatten dennoch großen Einfluss auf seine Gedankenwelt als Autor, brachten sie ihn zum Grübeln, was einen Menschen als Persönlichkeit ausmacht. Die Summe der eigenen Erfahrungen? Das Verhältnis zu den eigenen Eltern? Träume? Kindheitsängste? All diese Erinnerungen formen einen einzigartigen Charakter. Doch was, wenn man vorgetäuschte Erinnerungen einpflanzen könnte an ein Leben, das es nie gab? Wenn eine schwere Kindheit oder der Verlust einer Schwester in glückliche Erinnerungen verwandelt werden könnten?

Das ist nur ein Beispiel unter vielen für die unorthodoxen, tiefschürfenden Überlegungen des Mannes. Entsprechend hebt sich sein Werk signifikant von zeitgenössischen Technologie- und Fortschrittsutopisten merklich ab. In seinen oft minimalistisch-lakonisch verfassten Büchern entwarf Dick komplexe, düstere Welten, in denen es schwer ist, Halt und Orientierung zu finden. Das, was vertraut und verlässlich zu sein schien, löst sich auf, und grundlegende Fragen rücken an die Stelle der einstigen Sicherheiten. Je tiefer man in Dicks Werken unterwegs ist, desto mehr ist man von drastischen Zweifeln und geradezu existenziellen Unsicherheiten befallen, die auch und gerade mit dem eigenen Ich zu tun haben. Diese Irritationen des Status quo sind so allumfassend, dass Dick sie mit den ihm eigenen Zutaten Bitterkeit und Sarkasmus auflädt. Die Erkenntnis ist in Dicks Geschichten nicht nur ein Dauerthema, sondern ein geradezu zweischneidiges Schwert, weil er die Angewohnheit hat, neue Einsichten und vermeintliche Wahrheiten sofort wieder zu relativieren, sodass man als Leser zunehmend den Eindruck hat, permanent durch nie enden wollende Zwischenböden zu stürzen, ohne dass ein klares Ende der eigenen Erkenntnisreise in Sicht ist. Realität bleibt fraglich und höchstens als subjektiv-flüchtige Wirklichkeit erfahrbar. Darin kommt eine nihilistische Haltung von Dick zum Ausdruck; er sät permanent Zweifel an übergeordneten Gewissheiten. Dicks Universum ist ein unbequemes und fehlerhaftes und lässt den verwirrten Leser gerne zum Schluss allein zurück. Seine Protagonisten sind keine Helden, sondern oft durchschnittlich und fehlbar. Ebenso wenig wie für den Leser gibt es für sie so etwas wie ein Happy End. Uwe Anton, Autor diverser kluger Essays zum berühmten Schriftsteller, schreibt treffend: