Religion und Philosophie -  - E-Book

Religion und Philosophie E-Book

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Beschreibung

Die Frage nach gemeinsamen Wurzeln der Religions- und Philosophielehrerausbildung steht im Zentrum der Überlegungen von deutschen, französischen und schweizerischen Religionspädagogen, Philosophen, Historikern und Theologen. Der vorliegende Band unternimmt eine erste Bestandsaufnahme der Situation in den drei Ländern, die sich durch vielfältige Bezeichnungen der Fächer (Religionsunterricht, Religionslehre, Religionskunde, Philosophie, Geschichte) sowie unterschiedliche didaktische Varianten (konfessionell, konfessionell-kooperativ, religionskundlich, "fait religieux") auszeichnet. Diese Komplexität der Situation erfordert andere methodologische Strategien, als sie ein einfacher Vergleich der Lehrerausbildung in den drei Ländern nahelegen würde. Die Autoren stellen deshalb Überlegungen aus den Bereichen der institutionalisierten Lehrerbildung, des professionellen Verständnisses und der didaktischen Strukturen vor dem Hintergrund einer transnationalen Perspektive auf entsprechende historische Entwicklungen vor. Die Beiträge von Petra Bleisch Bouzar, Philippe Büttgen, Gérald Chaix, Béatrice Finet, Erhard Holze, Monika Jakobs, David Käbisch, Pierre Kahn, Angela Kaupp, Andreas Keßler, Antje Roggenkamp, Arnulf von Scheliha, Thomas Schlag, Henrik Simojoki und Michael Wermke dokumentieren ein mehrtägiges Kolloquium, das im Frühjahr 2016 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattfand. [Religion and Philosophy. Perspectives on the Teacher Training in Germany, France and Switzerland] The question of shared roots of teacher training in the subjects religion and philosophy is the centre of thought of German, French and Swiss scientists in the fields Religious Education, Philosophy, History and Theology. This volume describes a first state of situation in the three countries. They are marked by diverse names for the subject (e.g. Religious education, Philosophy, History) and different didactic methods (denominational, theological, "fait religieux"). This complex situations calls for more diverse methodological strategies than a simple comparison between teacher training in the three different countries. Therefore, the authors present considerations from the areas of institutional teacher training, professional understanding and didactical structures against the background of a transnational perspective on certain historical developments.

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STUDIEN ZUR RELIGIÖSEN BILDUNG (STRB)

Herausgegeben von

Michael Wermke und Thomas Heller

Band13

RELIGION UND PHILOSOPHIE

PERSPEKTIVISCHE ZUGÄNGE ZUR LEHRER- UND LEHRERINNENAUSBILDUNG IN DEUTSCHLAND, FRANKREICH UND DER SCHWEIZ

Herausgegeben von Philippe Büttgen, Antje Roggenkamp und Thomas Schlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Coverbild: Jan-Peter Kasper, Jena

Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-04822-9

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

I. BEGRÜNDUNG/​PROFIL/​BEZUGSWISSENSCHAFT

Thomas Schlag

Historische, verfassungsrechtliche und gesellschaftspolitische Hintergründe der Diversität des Religionsunterrichts in der Schweiz

Philippe Büttgen

Der Philosophieunterricht in Frankreich: von der laïcité zum fait religieux

David Käbisch

Von der nationalen zur transnationalen Rechts-, Religions- und Bildungsforschung. Zum Beispiel: Deutschland, Frankreich und die Schweiz

II. KONKRETE INSTITUTIONEN DER AUS- UND FORTBILDUNG

Monika Jakobs

Die Ausbildung von Religionslehrpersonen in der Schweiz im Spannungsfeld von kirchlichem und staatlichem Bildungsinteresse

Michael Wermke

Die Pädagogischen Akademien in Preußen zwischen 1926 und 1933 als Beitrag zur Professionalisierung der Religionslehrerbildung

Gérald Chaix

Das französische Schul- und Bildungssystem im Spiegel religiöser Elemente und Betrachtungen

III. GESCHICHTLICHE VORAUSSETZUNGEN UND AKTUELLE ENTWICKLUNGEN IM SELBSTVERSTÄNDNIS DER LEHRENDEN

Pierre Kahn

Die Wurzeln der laizistischen Schule und die Grundschulpädagogik

Antje Roggenkamp

Veränderungen im Selbstverständnis? − Der Religionslehrerberuf im Spiegel seiner Professionalisierung!

Petra Bleisch

Didaktische Überlegungen zum Unterricht in Religionskunde in einer religionspluralen Gesellschaft

IV. VERGLEICH EUROPÄISCHER UND ANGELSÄCHSISCHER RAHMENBEDINGUNGEN SOWIE ENTSPRECHENDER (ZIVIL‐) RELIGIÖSER EINFLÜSSE

Erhard Holze

Laicité in Frankreich, Religionsunterricht in Deutschland: zwischen Separation und res mixta

Ein aktueller deutsch-französischer Vergleich zur religiösen Bildung in der Schule.

Béatrice Finet

Zum Umgang mit der Shoah am Ende der Grundschulzeit: Kann der Einsatz von Literatur staatsbürgerlichen Zielen dienen?

Andreas Kessler

Neutralisierung des Religiösen – ein Triptychon: Gesellschaftliche und religionsdidaktische Entwicklungen im schweizerischen Kontext

Henrik Simojoki

Ist Europa ein Sonderfall? Religionshermeneutische Rahmenbedingungen des Religionsunterrichts in der globalisierten Welt

V. KOMMENTARE UND AUSBLICK

Angela Kaupp

Transnationale Religions- und Philosophie-Lehrerbildung in Deutschland, Frankreich und der Schweiz: Quadratur des Kreises oder zukunftsträchtiges Forschungsfeld?

Arnulf von Scheliha

Europäische Konvergenzen in Sachen Religionsunterricht? Beobachtungen zur Tagung und ein Vorschlag

Verzeichnis der Autoren

Fußnoten

EINLEITUNG

1. DER ANSATZ

Die Suche nach gemeinsamen kontinentaleuropäischen Wurzeln bewegte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Tagung, die im Februar 2016 an der Westfälischen Wilhelms-Universität stattfand. Dabei lag dem mehrtägigen Kolloquium die Beobachtung zu Grunde, dass zwischen dem angelsächsischen und dem kontinentaleuropäischen Lehrer-(Aus‐)Bildungsbereich erhebliche Differenzen bestehen.1 Die gemeinsam von Philippe Buettgen (Panthéon-Sorbonne, Paris), Antje Roggenkamp (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) und Thomas Schlag (Universität Zürich) organisierte Tagung hatte das Ziel, eine längerfristige Bearbeitung dieser Fragestellung vorzubereiten. Deutsche, französische sowie schweizerische Forscherinnen und Forscher aus den Bereichen Pädagogik, Religionspädagogik, Theologie und Philosophie widmeten sich der Frage gemeinsamer Grundlagen im – an und für sich disparaten – kontinentaleuropäischen Bereich.2 Die Organisatoren des Kolloquiums vermuteten, dass sich Gemeinsamkeiten überwiegend im Bereich der Didaktik, die ausdrücklich nicht als Reduktion oder Transformation, sondern als Reflexion verstanden wird, abzeichnen dürften.3

Die Frage nach Theorie und Praxis akademischer Religions- und Philosophielehrerausbildung dient sowohl der hermeneutischen Rekonstruktion einer allgemeinen Lehrerbildung als auch der Sichtbarmachung von Professionalisierung im Sinne einer kontinuierlichen Reflexion der Ausbildungspraxis.4 Unterschiedliche rechtliche Traditionen (landesherrliches Kirchenregiment, die hinkende Trennung von Staat und Kirche,5 der Laizismus,6 die kantonale Gliederung7) sowie verschiedene äußere Formen von (Religions‐)Unterricht (konfessioneller Religionsunterricht, konfessionell-kooperativer Religionsunterricht, Lebenskunde – Ethik – Religion [LER], Biblischer Geschichtsunterricht, Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung; fait religieux in allen Fächern, Philosophie;8 religionskundliche Bausteine im Lehrplan 219) kommen auch in geschichtlicher Perspektive hinzu: Der Weimarer Schulkompromiss (auf der Basis der Artikel WRV §136, §141 und §149), die Abschaffung des konfessionellen Religionsunterricht in der Schweiz seit 186510 sowie die Sistierung des Religionsunterrichts durch die französischen Schulgesetze aus den 1880er Jahren.11

Eigenständige Elemente von Religionspädagogik und der Didaktik der Philosophie gegenüber der Pädagogik liegen möglicherweise mit dem Konzept von Religion als viertem, nicht austauschbaren Modus der Weltbegegnung vor.12 Dabei ist dieser Modus allerdings im Sinne weiterer Kategorien – wie etwa Verkündigen/Verstehen bzw. religiöse Rede/Rede über Religion – einerseits, als Frage nach dem mündigen und insofern Verantwortung übernehmenden Subjekt andererseits zu spezifizieren.13

Schließlich soll langfristig auch eine Verständigung über die Anwendung entsprechender Methodologien (Zeitschriftenanalyse, Professionalisierungskonzepte, Fragen der vergleichenden und transnationalen Methodologie), Quellen (Zugänglichkeit von Archiven einzelner kirchlicher und staatlicher Institutionen, wissenschaftliche Zeitschriften, ggf. Zeitungen, Jahrbücher zur Verschränkung von Theorie und Praxis, Monographien und Lexika), Begrifflichkeiten (in Anlehnung an Kants Begrifflichkeit(en), Praktische Theologie, éducation civique; das Indoktrinations- und Überwältigungsverbot, Zielbestimmung im Sinne sowohl der formation du citoyen als auch des Verhältnisses zum Recht auf religiöse Information bzw. religiöse (Aus‐)Bildung des Mitmenschen) und weiterer Spiegelungen auf kontinentaleuropäische Länder erfolgen.

2. DIE TAGUNG IN MÜNSTER

Im Kontext der Tagung in Münster finden diese Fragen an vier Themenblöcken eine erste Überprüfung, die jeweils aus deutscher, französischer und schweizerischer Perspektive, aber gleichwohl interdisziplinär erfolgt: 1. Begründung/ Profil/ Bezugswissenschaft; 2. konkrete Institutionen der Aus- und Fortbildung; 3. geschichtliche Voraussetzungen und aktuelle Entwicklungen im Selbstverständnis der Lehrenden sowie 4. Vergleich europäischer und angelsächsischer Rahmenbedingungen sowie entsprechender (zivil‐)religiöser Einflüsse.

2.1BEGRÜNDUNG/PROFIL/BEZUGSWISSENSCHAFT

Die unter der ersten Rubrik Begründung/Profil/Bezugswissenschaft versammelten Beiträge zeichnen einerseits länderspezifisch die chronologischen Entwicklungen (Bedeutung der Reformation bzw. Religionskriege, Verhältnis Staat und Kirche, kantonal-kulturelle Identität; Verbindungslinien zwischen Philosophieunterricht und fait religieux statt Abwesenheit von Religionsunterricht; zunehmende Mobilität, Schulkampf) nach. Andererseits werden hier in der Gegenwart spürbare, grundlegende Tendenzen und Transformationen (Verzicht auf pädagogische Begründung; Frage nach Ersatz des Religionsunterrichts durch Philosophieunterricht im Sinne einer catholaicité, transnationale Gegenüberstellung der Aufgaben und Haltungen deutscher und französischer Philosophen, Luziditätsgewinn; Wissenstransfer, Recht des Kindes auf Religion, Selektionskriterien des Kulturtransfers, Abkehr von der Komparatistik zugunsten einer transnationalen Methodologie) aufgezeigt.

Thomas Schlag (Zürich)14 verweist auf die Notwendigkeit historischen, d.h. auch verfassungsmäßigen und gesellschaftspolitischen Arbeitens in der Religionspädagogik. Dabei schildert er ausgehend von der besonderen Situation in der Schweiz die Anfänge des kirchlichen Religionsunterrichts, dessen Weiterführung bzw. Infragestellung unter den Bedingungen der Aufklärung im 18. Jahrhundert, die Reaktionen von Kirche und Gesellschaft, die konfessionelle Neutralität der staatlichen Schule und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in der revidierten Bundesverfassung von 1874. Dabei weist Schlag auf Spannungen hin, die sich aus der Gleichzeitigkeit von überkonfessionellen Modellen am Lernort Schule und vielfältigen kirchlichen Traditionen ergeben: Die einzelnen Bundesstaaten sind nicht erst seit der in der Bundesverfassung von 1848 gewährten Religionsfreiheit unterschiedlich geprägt. Die sog. Pfadabhängigkeiten, d.h. die spezifisch religiösen Ausprägungen der Gegenwart, lassen sich auf das konfessionelle Zeitalter zurückführen. Dabei ist der Blick stets auf die Entwicklung hin zu einer multikulturellen und multiglobalen Gesellschaft gerichtet; entsprechende Fragestellungen werden in Form von Kriterien und Auffassungen negativer bzw. positiver Religionsfreiheit angezeigt. Konsequenzen für das Fach, aber insbesondere auch für die Ausbildung des Lehrpersonals, bleiben nicht aus.

Philippe Büttgen (Paris)15 geht dem Problem nach, wie sich das Spezifische der französischen laïcité républicaine in einem transnationalen, d.h. vor allem deutsch-französischen Kontext veranschaulichen lässt. Dabei geht es ihm weniger um eine wechselseitige Vermischung entsprechender Perspektiven, als vielmehr um die Frage einer Profilschärfung. Büttgen zeigt daher einige Konsequenzen auf, die sich aus der seit 1968 etwa 15 Jahre lang schwelenden Auseinandersetzung zwischen dem französischen Staat und den Philosophen von Vincennes ergeben: Michel Foucault betrachtete den französischen Philosophieunterricht als eine Art Luthertum des katholischen und antiklerikalen Frankreich. Büttgen rekonstruiert dessen katholische Genealogie, die zugleich den Rahmen für seine Interpretation des Philosophieunterrichts als eines zugleich museal-nostalgischen wie öffentlich nachgefragten Faches liefert. Auf diese Weise bildet die über die Katechismen Voltaires und die Glaubensbekenntnisse Rousseaus verlaufende republikanische Tradition jene Geschichte der Erbauung ab, vor deren Hintergrund sich französische Philosophie und Religionspädagogik als Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Christentum und Bildung in eine Beziehung bringen lassen.

David Käbisch (Frankfurt/Main)16 führt vor dem Hintergrund grundsätzlicher Überlegungen zu inter- bzw. transnationalen Ansätzen in die spezifisch komparatistischen Formen der bundesdeutschen Bildungs- und Transferforschung ein. Käbisch geht es dabei um das Potenzial transnationaler Ansätze für den trinationalen Ländervergleich. Er stellt den assoziativen, den systematischen und den theoriegeleiteten Ländervergleich vor und konfrontiert diese Perspektiven mit transnationalen Ansätzen. Die Beziehungs-, Transfer- und Verpflichtungsgeschichte nimmt Übergänge zwischen Regionen und Religionen auf besondere Weise in den Blick. Ein wesentliches Desiderat der aus verschiedenen Perspektiven heraus unternommenen rechtsgeschichtlichen, Religions- und Bildungsforschung besteht aus religionspädagogischer Sicht in der Interdisziplinarität bzw. im interdisziplinären Austausch. Eine transnationale, d.h. an gegenseitigen Austauschprozessen interessierte, trinationale Forschung könne insofern Exemplarisches leisten, als sie die Frage nach einem normativen, virtuellen und supranationalen tertium comparationis im Forschungsprozess selbst zwar nicht formuliert, als Problem aber wach hält.

2.2KONKRETE INSTITUTIONEN DER AUS- UND FORTBILDUNG

Eine zweite Gruppe von Beiträgen befasst sich mit konkreten Institutionen der Aus- und Fortbildung. Dabei stehen Institutionen (Bedeutung der Normalschulbewegung für Lehrer- und Lehrerinnenseminare; Transformation der Lehrerseminare in Akademien; Unterscheidung von École populaire und petit/grand lycée [Elitenbildung], Legitimität des kulturellen Erbes, zu dem der Laizismus als Organisator religiöser Begegnungen gehört) im Mittelpunkt, deren Wandlungspotentiale in einer sich pluralisierenden Welt untersucht werden (Veränderungen im Religionsunterricht der Volksschule hin zum biblischen bzw. ökumenischen Religionsunterricht; Diskussion um die simultane Lehrerbildung; Eintreten für Durchlässigkeit des Geschichts- bzw. Philosophieunterrichts für den enseignement du fait religieux, Insistieren auf Ausübung der Rechte von Religion in den Schulen, aber außerhalb des Unterrichts):

Monika Jakobs (Luzern)17 setzt sich mit den Anfängen der Volksschullehrerbildung in der Schweiz auseinander. Dabei beginnt sie mit dem sog. Stapfer-Bericht, der die freiheitlich revidierte Bundesverfassung von 1874 mit seiner Forderung nach allgemeiner Schulpflicht und Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts antizipiert. Das Schulwesen ist zwar seit Mitte des 19. Jahrhunderts überwiegend nicht-konfessionell organisiert, man hält aber aus zivilreligiösen Gründen am biblischen Religionsunterricht fest. Zur Einrichtung eines eidgenössischen, d.h. staatlichen Lehrerseminars kommt es hingegen im gesamten 19. Jahrhundert nicht. Zur Darstellung der komplexen Modelle im 20./21. Jahrhundert unterscheidet Jakobs drei bzw. vier Säulen, deren Mit- bzw. Nebeneinander sie an Beispielen aus Luzern, Zürich, Solothurn und St. Gallen erläutert. Vor diesem Hintergrund wird die nicht unkomplizierte Entwicklung der Lehrerbildung beschrieben, die, seit Beginn des neuen Jahrtausends durchgängig akademisiert, in einer Abfolge und Gleichzeitigkeit von Ausnahmen besteht.

Michael Wermke (Jena)18 befasst sich vor dem Hintergrund der unter dem Schlagwort Schulkampf in die bildungspolitischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik eingegangenen Diskussionen mit der Frage nach der Ausbildung der Volksschullehrer an den Pädagogischen Akademien. Er rekonstruiert die sich professionalisierende Lehrerbildung, die er in einen engen Zusammenhang mit der akademischen Institutionalisierung, aber auch der weiteren Entwicklung der religiösen Bildung stellt. Er weist darauf hin, dass die konfessionsgebundene Volksschullehrerbildung – im Gegensatz zum konfessionellen Religionsunterricht – im Widerspruch zur Reichsverfassung steht und arbeitet heraus, dass die Akademisierung der Volksschullehrerbildung trotz entsprechender Weichenstellungen in den 1920er und frühen 1930er Jahren erst in den 1970er Jahren vollzogen wird. Er verdichtet seine Beobachtungen am Ende exemplarisch auf die simultane Frankfurter Akademie.

Gérald Chaix (Paris)19 zeichnet die Entwicklung der in jüngster Zeit sog. faits religieux, des spezifisch französischen Umgangs mit Religion bzw. Religionen in den verschiedenen Schulfächern, insbesondere aber im Geschichtsunterricht, nach. Dabei zeigt er, inwiefern es sich nicht um ein neues Phänomen, sondern um eine nachträgliche Verdeutlichung von Ansätzen handelt, die bereits in den Diskussionen um die Laizisierung des französischen Schulsystems angelegt waren. Der enseignement des faits religieux stellt gleichwohl eine Herausforderung für die konfessionslose französische Schule dar, insofern er die vie scolaire, d.h. das Schulleben, prägt und hier das republikanische Projekt zu verwirklichen hilft. Zugleich ergeben sich aus den Schwierigkeiten, denen das französische Schulsystem im Laboratorium faits religieux begegnet, Chancen für die Entwicklung einer wirklich republikanischen Institution.

2.3GESCHICHTLICHE VORAUSSETZUNGEN UND AKTUELLE ENTWICKLUNGEN IM SELBSTVERSTÄNDNIS DER LEHRENDEN

Ein dritter Block steht unter dem Titel geschichtliche Voraussetzungen und aktuelle Entwicklungen im Selbstverständnis der Lehrenden. Er befasst sich mit unterschiedlichen Ansätzen im Kontext von Lehrerbild und Lehrerselbstverständnis. Inhaltlich steht die Ausbildung eines sowohl antiklerikalen als auch staatskritischen Selbstverständnisses im Zentrum (ambivalente Stellung der Lehrerinnen und Lehrer zu den bildungspolitischen Maßnahmen der Dritten Republik; Entstehung akademischer Professionalisierungsstrategien aus krisenhafter Wahrnehmung heraus; standortbezogene Differenz im Umgang mit Respekt und Toleranz durch Lehrpersonen). Hermeneutisch-konzeptionell lassen sich die Linien bis in die Gegenwart hinein ausziehen: Lehrer und Lehrerinnen vermitteln in der Auseinandersetzung um die laïcité; reflektierter Umgang mit sich z. T. widersprechenden Professionalisierungsstrategien; die Essentialisierung von religiösen Markern führt zur Sensibilisierung der Wahrnehmung, aber auch zur Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses über undifferenzierte Vorannahmen zu Religion und Religiosität.

Pierre Kahn (Caen)20 befasst sich mit den Wurzeln der laïcité, indem er zwei wichtige Kerngesetze miteinander vergleicht, die der laïcité des französischen Schulsystems zugrunde liegen: Während das Gesetz von 1882 den Unterricht laizisierte, ging es in der sog. loi Goblet von 1886 um die Laizisierung der Lehrer. Kahn geht dem zeitgenössischen Sinn dieses Unterrichtsverbots für Ordensangehörige, aber auch den aktuellen Folgen dieser ursprünglich auf den Grundschulbereich bezogenen Gesetze nach. Dabei weist er auf die Bedeutung einer grundsätzlichen Spannung hin, die heute als Spannung zwischen einer laïcité d′ abstention, d.h. der Enthaltung, und einer laïcité de confrontation verstanden wird.

Antje Roggenkamp (Münster)21 setzt sich mit dem Selbstverständnis von Religionslehrerinnen und -lehrern vor dem Hintergrund einer zunehmenden Professionalisierung seit den sog. Humboldtschen Bildungsreformen von 1810 auseinander. Zu diesem Zweck analysiert sie einschlägige Beiträge von Religionslehrern und deren Dezernenten. Dabei unterscheidet sie zwischen Grundlegungen, Präzisierungen sowie späteren Variationen des Lehrerselbstverständnisses und interpretiert diese vor dem Hintergrund von subjektiven Theorien und stellvertretenden Deutungen. Auf diese Weise scheint es möglich, Kategorien zu entwickeln, die einem transnationalen Vergleich zuarbeiten können. Am Ende wirft sie auf der Basis aktueller Professionalisierungstheorien die Frage auf, ob sich am Umgang mit Krisen möglicherweise das Spezifische des Selbstverständnisses von Religionslehrerinnen und -lehrern abzeichnet.

Petra Bleisch (Freiburg/Schweiz)22 beschäftigte sich mit der Integration von Religion bzw. Religionen in den neuen Deutschschweizer Lehrplan für die (obligatorischen) Volksschulen (Lehrplan 21). Dabei stellt sich die Frage, wie der in einer religionspluralen Gesellschaft grundsätzlich von allen Mitgliedern zu fordernde Respekt didaktisch umgesetzt werden kann. In ihrem Beitrag beschreibt sie zunächst die religionsplurale Gesellschaft auf der individuellen, institutionellen und diskursiven Ebene und weist dabei auf komplexe Interdependenzen hin, die sie mit der rechtlichen Bestimmung korreliert. In didaktischer Hinsicht plädiert sie nicht nur für die Beachtung konkreter Grenzziehungen zwischen öffentlicher und privater Religionsausübung, sondern auch für eine kritische Diskussion über den öffentlichen Umgang mit Religion.

2.4VERGLEICH EUROPÄISCHER UND ANGELSÄCHSISCHER RAHMENBEDINGUNGEN SOWIE ENTSPRECHENDER (ZIVIL‐)RELIGIÖSER EINFLÜSSE

In einer vierten Gruppe geht es um den Vergleich europäischer und angelsächsischer Rahmenbedingungen sowie entsprechender (zivil‐)religiöser Einflüsse. Dabei stehen zum einen aktuelle Problemstellungen im Vordergrund: eine komparatistische Entwicklung von Formen des laizistisch-(inter‐)religiösen Dialogs; eine Neutralisierung des Religiösen durch Didaktisierung innerhalb des Schulsystems; jüngste Entwicklungen einer religionskundlichen Didaktik. Zum anderen geht es um außereuropäische Entwicklungen und deren Bedeutung für die (europäische) Exzeptionalismusdebatte. Dabei scheint sich die multiple Gestalt transnationaler Abhängigkeiten (Neutralisierungsmechanismen des Religionsdidaktischen; empirisch beschreibbare Komplexität der religionspluralen Gesellschaft: Reduktion von nationalen Differenzen auf das Religiöse; trotz wechselseitiger Durchdringung von Globalem und Lokalem homogenisierende Thematisierung von Religion im öffentlichen Kontext (Pfadabhängigkeit)) durchzusetzen.

Ausgehend von Äußerungen des damaligen französischen Staatspräsidenten Sarkozy befasst sich Erhard Holze (Münster)23 mit der Frage, inwiefern nicht nur aktuell um das Verhältnis zur französischen laicité gerungen wird. Dabei zeichnet er zunächst die historischen Umstände nach, die von den Anfängen des Christentums bis hin zur französischen Revolution reichen. Vollzog sich in Frankreich seither eine nachhaltige Entkonfessionalisierung, so ist der Religionsunterricht in Deutschland ein Schulfach mit Verfassungsrang, dessen Aufgaben sich Staat und Kirche teilen. Holze geht diesen Unterschieden aus vergleichender Perspektive und unter verschiedenen, insbesondere zeitgeschichtlichen Gesichtspunkten nach.

Béatrice Finet (Caen)24 setzt sich mit den Folgen einer spezifischen Entwicklung des französischen Grundschullehrplans auseinander: Seit 2002 schreibt dieser die Behandlung der Eliminierung der Juden (bzw. seit 2008 der Shoah) sowie der Kinder- und Jugendbuchliteratur verbindlich vor. Finet weist nach, dass es bei der unterrichtlichen Umsetzung zu einer Veränderung der Literatur im Sinne einer Enthistorisierung sowie einer Entliterarisierung kommt. Demgegenüber schlägt sie vor, mit Hilfe des symbolischen Ansatzes von Martha Nussbaum die Lektüre von Werken der Shoah mit der Erziehung der künftigen Staatsbürger zu emotional sensiblen Menschen zu verbinden.

Andreas Kessler (Bern/Luzern)25 thematisiert die Neutralisierung des Religiösen, indem er verschiedene Perspektiven auf diesen Vorgang wirft: zum einen geht es um die Neutralisierung durch Deaktivierung, in der über didaktische Verfahren Eigenansprüche des Fachlichen, d.h. des Theologischen, liquidiert werden. Zum anderen geht es um die Neutralisierung des Religiösen durch Übersetzung, Imitation und Privatisierung. Vor dem Hintergrund einer generellen Religionsdistanzierung entstehe in der Schweiz ein besonderer Zugriff auf Religionen, insofern Neutralisierung im Sinne von Distanzierung, Opportunismus und Vorsicht verstanden wird. Kessler fokussiert seinen Beitrag auf die Probleme eines schulischen Umgangs mit Religion, der das Irritierende, aber auch das Verunsichernde religiöser Rede und religiösen Lebens von sich fernzuhalten sucht. Verschiedene Ansätze, die sich auf den religionskundlichen Unterricht beziehen, werden vorgestellt und kritisch gesichtet.

Henrik Simojoki (Bamberg)26 thematisiert die Frage, ob die religionshermeneutischen Bedingungen des Religionsunterrichts in der globalisierten Welt aus eurozentrischer oder nicht besser aus globaler Perspektive zu betrachten sind. Im Hintergrund steht das Problem, dass Europa sowohl als modellhaftes Paradebeispiel als auch als außergewöhnlicher Sonderfall betrachtet werden kann und wird. Dabei stellt Simojoki die Exzeptionalismusdebatte – inklusive ihrer zentralen These – in den Mittelpunkt, die danach fragt, was sich durch eine andere Rahmung, d.h. durch die Übertragung eines Phänomens in einen anderen religiösen Kontext, an der europäischen Diversität ändern könnte (so etwa Grace Davie). Die britische Soziologin deklariere Europa zum Ausnahmefall, ohne die Regel, von der abgewichen wird, zu bestimmen. Daher richtet Simojoki sein Augenmerk – unter anderem wegen einer immer noch dominanten Stellung des Katholizismus, der regional unterschiedlichen Wirksamkeit säkularer Strömungen sowie den pfingstlerischen Aufbruchsbewegungen – auf Lateinamerika, das bei näherer Betrachtung in den Bereichen Recht, Schule und Religionsunterricht Strukturen ausbildet, die sich auch für Europa entsprechend beschreiben lassen: die Funktionssphären Religion, Politik und Erziehung werden zunehmend entflochten, nicht ohne dass konfessionelle, insbesondere katholische, Privatschulen einen erheblichen Einfluss behalten. Simojoki geht davon aus, dass sich die gegenwärtige Gestalt des Religionsunterrichts in einer globalisierten Welt einerseits durch die historische Pfadabhängigkeit religiösen Wandels auszeichne, sich andererseits nationalstaatliche Traditionen in den religionsbezogenen Bildungsprozessen bemerkbar machen.

2.5KOMMENTARE

An dieser Stelle sind vor allem die vielfältigen Querverbindungen von Interesse, auf die die beiden Kommentatoren des Kolloquiums aufmerksam machen: Angela Kaupp (Koblenz)27 weist in ihren die Tagung perspektivierenden Überlegungen zum einen auf grundsätzliche Herausforderungen – wie Gemeinsamkeiten und Unterschiede – hin. Aus Sicht der katholischen Religionspädagogin bleibt die Ausgangsfrage nach den transnationalen Gemeinsamkeiten zentral: die vorliegenden Artikel thematisieren die Frage des Untersuchungsgegenstandes (Religionsunterricht, Religionskunde, fait religieux) (1) mit Hilfe von Leitbegriffen (Zielbestimmung, laicité, Mythen), die jeweils unübertragbar scheinen (Pfadabhängigkeit) (2) sowie der Erarbeitung spezifischer Differenzen in den Bezugswissenschaften des jeweiligen Faches (für Deutschland Theologie und Religionswissenschaft, für Frankreich Geschichte und Philosophie, für die Schweiz Religionswissenschaft und darin integriert die Theologie) (3). Diese drei Aspekte sind für die Frage nach der Hermeneutik zentral. Zum anderen deutet sie mit ihren Hinweisen auf grundsätzliche Schlüsselprobleme mögliche Forschungsparadigmen an, die sich aus dem transnationalen Ansatz ergeben: Nicht nur die Suche nach spezifischen Überschneidungsbereichen ist von erheblicher Bedeutung; so stellen insbesondere Philippe Büttgen, Gérald Chaix und David Käbisch transnationale (Zwischen‐)Räume in bi- und trinationalen Medien (4) vor. Für die Weiterarbeit wird auch die Identifizierung von Schlüsselproblemen (das Lehrer [selbst]bild, die Didaktik [Ziele im Ländervergleich] und das Phänomen der Neutralisierung des Religiösen) (5) empfohlen.

Arnulf von Scheliha (Münster)28 setzt ein mit allgemeinen Betrachtungen zur gegenwärtigen Tradition des Religiösen in Europa. Er schärft den Blick für die spezifische Situation von Religion in den schulischen Institutionen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Aus Sicht des protestantischen Ethikers ergeben sich aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus betrachtet erhebliche Konsequenzen: Der enseignement du fait religieux im Zusammenhang mit der vie scolaire und dem Unterricht in Geschichte sowie in Philosophie in Frankreich, die verschiedenen Formen von Religionsunterricht in Deutschland, aber auch die vielfältigen Formen religiösen und religionskundlichen Unterrichts in der Schweiz deuten die Bedeutung des Themas Religion bzw. Religionen in der Wahrnehmung der (west‐)europäischen Gesellschaft an: Die Bedeutung von Religion könne nicht länger ignoriert werden (1). Dabei scheint auffällig, dass sich der Staat zunehmend für deren Kommunikationsformen verantwortlich fühlt, Religion somit also zu einer staatsethischen Angelegenheit wird; die jeweiligen spezifischen (Länder‐)Verhältnisse stimmen darin strukturell überein, dass sie ein hohes Maß an pluraler Ausprägung aufweisen (2); die staatlichen Instanzen dominieren zunehmend den Umgang mit Religion/Philosophie im öffentlichen Raum Schule (3); das Nichtwissen über Religion und religiöse Pluralität stellt eine gesellschaftliche und zugleich religionspädagogische Aufgabe dar und belastet den Religionsunterricht bzw. entsprechende (Ersatz‐) Formen seitens des Staates mit hohen Erwartungen (4). In Frankreich, der Schweiz, aber auch in Deutschland schaltet sich der Staat in den operativen Umgang mit Religion ein. Insbesondere der Religionspädagogik, aber auch den anderen historischen, philosophischen und religionskundlichen Fachdidaktiken, komme dabei die Aufgabe zu, Deutungs- und Handlungsspielräume für die beteiligten Akteure zurückzugewinnen. Dies könnte u. U. in einem gemeinsamen deutsch-französisch-schweizerischen Unterrichtswerk für Religion/Religionskunde/Philosophie29 geschehen (5).

3.AUSBLICKE

Welche ersten Ergebnisse lassen sich erkennen? Bei der Aufnahme der (literarischen) Forschungsstände durch die einzelnen Referenten fiel bereits auf, dass es nicht unerhebliche Unwuchten in den Forschungstraditionen gibt: Für alle drei Länder ist zumindest eine gemeinsame, wenn auch zeitlich versetzte chronologische Entwicklung erkennbar. Im Großen und Ganzen bestätigt sich die Vermutung, dass wir über die äußeren, insbesondere geschichtlichen Rahmenbedingungen (vgl. dazu etwa die Beiträge von Schlag, Käbisch, Büttgen, Jakobs, Wermke) relativ gut informiert sind. Dabei entbergen die Aufsätze durch veränderte Perspektiven eine Reihe an neuen, z. T. transnationalen Erkenntnissen (vgl. etwa die Beiträge von Kahn, Käbisch, Kessler und Bleisch). Vor allem für die aktuelle Diskussion eröffnen sich aber auch ganz neue, vor allem interreligiöse und staatsbürgerliche Perspektiven (vgl. dazu etwa die Beiträge von Holze, Chaix, Finet, Simojoki).

Ähnliches gilt für die Institutionen, in denen Religions-(kunde-) und Philosophie-Lehrer und -innen ausgebildet werden. Einzelne Institutionen wie die Seminare und Akademien in Zürich, Luzern, Bern, Frankfurt/Main erweisen sich vor allem im Bereich der Volksschullehrerbildung (Primar-, Sekundarstufe) inzwischen als vergleichsweise gut erforscht (vgl. etwa Jakobs, Wermke), Forschungen auf französischer Seite sind anzuregen (vgl. etwa Chaix).

Sowohl das Selbstverständnis der Lehrenden als auch die vom Exemplarischen ausgehende Frage nach den globalen Zusammenhängen (Pfadabhängigkeit) stellen vor erhebliche Desiderate: Dies gilt sowohl für weitergehende Fragen nach der Professionalisierung insgesamt als auch für den entsprechenden inter- bzw. transnationalen Vergleich und Austausch (vgl. etwa Kahn, Roggenkamp). Dabei zeigen die Aufsätze, dass dem fehlenden Forschungsstand nur durch weitere Grundlagenarbeit (vgl. etwa die Beiträge von Roggenkamp, Kahn, Bleisch, Kessler, Simojoki) entsprochen werden kann.

Im Ergebnis erweist sich die ursprüngliche Fragestellung auch für die weitere Erforschung als zentral: Bei der hermeneutischen Rekonstruktion von Didaktik dürfte zum einen insbesondere die detailliertere Erforschung der historischen Dimension im Sinne der transnationalen Verschränkungen der Lehrerbildung eine größere Rolle spielen. Zum anderen wird dabei vor dem Hintergrund einer zunehmenden Neutralisierung der Religion die strukturelle Frage nach dem Problemlösungspotential von Religions- und Philosophieunterricht für das Zusammenleben in einer globaler werdenden Gesellschaft relevant: die historische Entwicklung ist aus anthropologischen, kulturellen und sozialen Gründen grundsätzlich zu berücksichtigen. Die im Verlauf der Geschichte diesbezüglich entwickelten Argumente – so erweist sich etwa der Unterschied zwischen Individuum/homme und Bürger/citoyen als zentral – sind sorgsam zu prüfen: Dabei ist bewusst zu machen, dass nur durch eine angemessene Thematisierung von Religion im öffentlichen Kontext Veränderungen des gegenwärtigen Zustands ermöglicht werden können. Auch insofern benötigt der öffentliche Raum für ein die Probleme angemessen reflektierendes Gespräch die Didaktik beider Bezugsdisziplinen.

Wir bedanken uns bei allen Beiträgern, die sich auf unser Projekt so bereitwillig eingelassen haben, beim International Office der WWU und bei der Fritz-Thyssen-Stiftung für großzügige Förderung des Projekts, bei der Thyssen-Stiftung darüber hinaus auch für die Übernahme der Druckkosten, bei den Studentinnen aus Münster, bei Lara Cassens und Hanna Lechtenböhmer für Hilfe bei den französischen Übersetzungen sowie bei Madlene Maciejczyk für ihre Unterstützung bei mannigfachen Korrektur- und Formatierungsarbeiten. Michael Wermke und Thomas Heller nahmen unseren Band in die Reihe Studien zur religiösen Bildung auf; Annette Weidhaas und Sina Dietl unterstützten das Projekt von Anbeginn an mit großem Nachdruck. Ohne diese breite Unterstützung wäre dieses Buch wohl nicht zustande gekommen. Daher gilt allen ein herzlicher Dank!

Im Dezember 2016

Antje Roggenkamp, Münster; Philippe Büttgen, Paris; Thomas Schlag, Zürich

I. BEGRÜNDUNG/​PROFIL/​BEZUGSWISSENSCHAFT

HISTORISCHE, VERFASSUNGSRECHTLICHE UND GESELLSCHAFTSPOLITISCHE HINTERGRÜNDE DER DIVERSITÄT DES RELIGIONSUNTERRICHTS IN DER SCHWEIZ

Thomas Schlag

1.EINLEITUNG

Für das Verständnis der Rahmenbedingungen und Herausforderungen des schulischen Religionsunterrichts und der damit verbundenen Lehrerbildung in der Schweiz ist die Einsicht in die historischen, verfassungsmäßigen und gesellschaftspolitischen Hintergründe dieses Bildungskontextes in der Mitte Europas unabdingbar. Deren möglichst intensive Wahrnehmung stellt die conditio sine qua non für alle Analysen und Überlegungen zur Gegenwart und Zukunft des Faches im schweizerischen Kontext dar.

Dabei ist von Beginn an festzuhalten, dass sich die spezifisch helvetische politische Pluralität, die damit verbundenen regionalen und lokalen sowie zugleich sprachlich konnotierten Identitätspolitiken sowie die ebenfalls sehr spezifische schweizerische Religionsgeschichte ausgesprochen deutlich in den historischen und gegenwärtigen Diskussionen um den schulischen Religionsunterricht abbilden. Um es zuzuspitzen: gerade die Tatsache der intensiv gepflegten, in aller Regel als hochautonom empfundenen Entscheidungskulturen bei gleichzeitiger Abwehr gegenüber jeglichen zentralistischen Einflussnahmen führt dazu, dass sich in der Schweiz die spezifischen Herausforderungen und Chancen religiöser Bildung in besonderer Weise abbilden.1

2.HISTORISCHE HINTERGRÜNDE

Wie in anderen europäischen Ländern hat sich religiöse Bildung an den Schulen auf Grund der Monopolstellung der Kirchen auch in der Schweiz über Jahrhunderte hinweg als kirchlich-konfessioneller Unterricht an der Schule verstanden. Die katholischen Klosterschulen und später die reformatorischen Bildungseinrichtungen dienten der Ergänzung, Weiterführung und Vertiefung der familiären religiösen Erziehung und wollten den christlichen Glauben als entscheidende Orientierungsmarke für das zukünftige Leben der Kinder und Jugendlichen herausstellen. Dabei ging, wie etwa die Bildungsprogramme der schweizerischen Reformatoren zeigen, die pädagogische Intention dahin, insbesondere mit Hilfe der katechetischen Belehrung die Vermittlung der je eigenen konfessionellen und dogmatischen Standards vorzunehmen, aber ebenso auch in das Verständnis der Bibel einzuführen und die Jugendlichen zugleich zur Mitwirkung am Gottesdienst bis hin zur möglichen Übernahme geistlicher und eben auch weltlicher Ämter zu befähigen.

Gleichwohl kam mit der Reformationszeit auch die permanente Gefahr einer konfessionell begründeten Spaltung des Territoriums auf: »Symptomatisch für diese Auseinandersetzung war 1526 die Weigerung der Zürcher, die alten Bundeseide so zu beschwören, wie das im 15. Jahrhundert jeweils geschehen war: mit einem Appell an die Heiligen. Damit fiel die metaphysische und rechtliche Basis für das weg, was eine Eidgenossenschaft war und jetzt eben diesen Eid nicht mehr leisten konnte.«2 Die kriegerischen Konflikte der Folgezeit machten deutlich: »man musste also entweder die Eidgenossenschaft auflösen oder das scheinbar Unmögliche versuchen: in einer politischen Gemeinschaft zwei verschiedene Bekenntnisse leben.«3

Zu einer Ablösung der kirchlichen und pfarrherrlichen Schulaufsicht kam es in der Folge der Aufklärungsdynamiken des 18. Jahrhunderts und hier insbesondere durch die französisch geprägte Gründung der Helvetischen Republik im Jahr 1798, die einen erheblichen Bruch darstellte: Die Republik übernahm das Schulwesen in eigener Regie und verkündete unbeschränkte Kultusfreiheit. Der Aufklärung verpflichtet, setzte sich die Schule zum Ziel, ohne Betonung der Religion alle Kräfte im Menschen zu entwickeln: »das bisher einzelörtisch und stark kirchlich geregelte Schulwesen [wurde] zu einer nationalen Aufgabe des Zentralstaats […], der die Aufklärer grösste Bedeutung beimassen: Wie, wenn nicht durch Bildung, konnte man aus Untertanen mündige Bürger machen, wie ein Volk sein Schicksal als politischer Souverän gestalten lassen, wie indoktrinierte Kirchgänger zum selbstständigen ethischen Urteil erziehen?«4

Dadurch wurde erstmals die Bedeutung einer religiösen und insbesondere einer kirchlichen Erziehung am Ort der Schule überhaupt grundlegend in Frage gestellt, was die Stellung des Faches letztlich von dieser Zeit an grundlegend geprägt hat. Einstweilen behielt der Religionsunterricht jedoch weiterhin seinen Platz in der Lektionentafel bzw. stand nach wie vor an erster Stelle des Lehrplans. In vielen Kantonen blieb er als religiös-sittliche Erziehung zwischen Schule und Kirche bestehen.5 Aber in den meisten schweizerischen Kantonen beschleunigte sich die zunehmende Trennung von Kirche und Schule ab den 1830er Jahren infolge der weiteren liberalen und radikalen Revolutionen der Zeit.6 Die Industrialisierung führte zur Einführung neuer Schulfächer; die Lehrerbildung wurde professionalisiert und unter staatliche Verantwortung gestellt. Vor allem die kontinuierlichen Versuche von Seiten der Kirchen, den Unterricht weiterhin nach wie vor als konfessionelle Speerspitze und primär bibelzentriert auszurichten und damit aber die pädagogischen Anforderungen tendenziell zu unterlaufen, führte zu erheblichen Konflikten zwischen Staat und Kirche.

Mit der revidierten und noch deutlicher laizistisch ausgerichteten Bundesverfassung von 1874 wurde nicht nur die allgemeine Schulpflicht eingeführt, sondern auch die konfessionelle Neutralität des Schulwesens verankert.7 Die Legitimität von Religion in der öffentlichen Schule wurde insofern mit der revidierten Bundesverfassung und der neuen Rahmung der Volksschule festgelegt. Vorgesehen war nicht nur, die Schule unter staatliche Leitung zu stellen, sondern diese gänzlich von den Kirchen abzulösen und konfessionell neutral zu gestalten, sodass alle Kinder die Schule »ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit« (§27, Abs. 3 der schweizerischen Bundesverfassung von 1874) besuchen konnten. Die neuen Kernbestimmungen lauteten dabei wie folgt: »Die Kantone sorgen für genügenden Primarunterricht, welcher ausschließlich unter staatlicher Leitung stehen soll. Derselbe ist obligatorisch und in den öffentlichen Schulen unentgeltlich« (§27, Abs. 2); »Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können« (§27, Abs. 3); »Niemand darf zur Teilnahme […] an einem religiösen Unterricht […] gezwungen […] werden« (§49, Abs. 2).

Insofern sind überkonfessionelle Modelle religiöser Bildung am Ort der Schule keineswegs erst auf Entwicklungen des späten 20. Jahrhunderts zurückzuführen. Allerdings – und hierin liegt die eigentliche Veränderung der jüngeren Entwicklungen – blieben trotz der offiziellen staatlichen Neutralität die Kirchen über die Zeiten hinweg die gleichsam natürlichen Kooperationspartnerinnen für den schulischen Religionsunterricht, was sich in den allermeisten Kantonen erst in den vergangenen Jahren fundamental zu verändern begann.

Im Blick auf die historischen Entwicklungen ist folglich zu sagen: Die im Einzelnen unterschiedlichen Modelle der Zuständigkeit oder der Kooperation für den schulischen Religionsunterricht beruhen in der Regel auf seit dem 19. Jahrhundert historisch gewachsenen Modellen, in denen sich nicht nur die spezifisch helvetische Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche widerspiegelt, sondern auch die unterschiedliche politische und konfessionelle Ausrichtung der einzelnen Kantone selbst. Bei aller kantonalen Unterschiedlichkeit ist jedoch eine Reihe von gemeinsamen Rahmenbedingungen gegeben, die ihrerseits geschichtlich geprägt zu gemeinsamen verfassungsrechtlichen Bestimmungen im Zusammenhang der Religionsfreiheit sowie des Verhältnisses von Kirche und Staat geführt haben. Diese sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

3.VERFASSUNGSRECHTLICHE HINTERGRÜNDE

Bis zur Gründung der Helvetischen Republik bestand in der Schweiz faktisch keine Religionsfreiheit. Dies betraf vor allem die seit der Reformationszeit in der Schweiz bestehenden Täufergemeinden, die bis weit ins 18. Jahrhundert verfolgt wurden. In der Bundesverfassung von 1848 wurde die Kultusfreiheit nur den anerkannten christlichen Konfessionen gewährt. In der vollständig revidierten Bundesverfassung von 1874 wurde die Religionsfreiheit im heutigen Umfang eingeführt, wenn es etwa heißt: »Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich. Niemand darf zur Teilnahme an einer Religionsgenossenschaft, oder an einem religiösen Unterricht, oder zur Vornahme einer religiösen Handlung gezwungen, oder wegen Glaubensansichten mit Strafen irgendwelcher Art belegt werden. […] Die Ausübung bürgerlicher oder politischer Rechte darf durch keinerlei Vorschriften oder Bedingungen kirchlicher oder religiöser Natur beschränkt werden« (§49). Deutlich wird schon hier, dass man die Ausübung der Religion und deren Schranken unbedingt vom Kriterium des Gemeinwohls aus beurteilte, wenn etwa festgelegt wird: »Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet. Den Kantonen sowie dem Bunde bleibt vorbehalten, zur Handhabung der Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgesellschaften sowie gegen Eingriffe kirchlicher Behörden in die Rechte der Bürger und des Staates die geeigneten Maßnahmen zu treffen.« (§50)

In dieser Entwicklung kumuliert nun aber überhaupt die spezifisch helvetische Geschichte des Religionsverständnisses, wonach sich die gesellschaftliche Integrationsfunktion von Religion seit der Reformation auf die lokale, regionale oder kantonale Ebene beschränkt: Spätestens seit dem konfessionellen Sonderbundskrieg von 1847 und dem Ende des Kulturkampfs 1870 ist der Vorrang des politischen Zweckbündnisses der Stände im Föderalstaat gegenüber religiös-konfessionellen Differenzen um des konfessionellen Friedens willen anerkannt. Anders als in den meisten europäischen Staaten bediente sich das Nationalbewusstsein in der Schweiz im 19. und 20. Jh. nie direkt einer religiösen, aber auch keiner dezidiert antireligiösen Legitimation.

Im modernen Bundesstaat koexistieren somit Kantone unterschiedlicher Konfessionstradition (konfessionelle Parität), d.h. zum einen solche mit intensiv gepflegten Traditionen der Verbindung von Religion und Republik (etwa Bern, Zürich und Waadt als reformierte, Freiburg und Wallis als katholische Beispiele) und zum anderen solche mit bewusster Laizität (wie Genf und Neuenburg).

In allen schweizerischen Kantonen – außer den laizistisch geprägten Trennungskantonen Genf und Neuenburg – ist ein System der staatlichen Kirchenhoheit (auch Landeskirchentum genannt) gegeben,8 in dem – im Unterschied zum Modell eines Staatskirchentums – von der Zweckverschiedenheit von Staat und Kirche ausgegangen wird. Im Unterschied zu einem strikten Trennungssystem bleiben die Kirchen mit dem Staat verbunden, der Staat verhält sich jedoch religiös neutral. Die Religionsgemeinschaften sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt, worin nach wie vor die Wichtigkeit ihrer Aufgaben für die Gesellschaft deutlich werden soll, wobei öffentliche Artikulationen allerdings im Einzelfall mehr und mehr symbolisch-ritualisierten Charakter annehmen können.

Welche Rechte und Pflichten im Einzelnen mit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung verbunden sind, ist von Kanton zu Kanton sehr verschieden ausgestaltet.9 Verallgemeinernd ist in traditionell reformierten Kantonen wie etwa Zürich, Bern, dem Aargau oder dem Thurgau eine eher engere Bindung der einstigen Staatskirche an den Staat festzustellen, während die katholischen Kantone, hier ist insbesondere an die Innerschweiz, also etwa Luzern, Zug oder Uri zu denken, den Kirchen eine größere Freiheit für ihre Selbstorganisation gewähren, was dann auch entsprechende Konsequenzen für den Religionsunterricht mit sich bringt.

4. AKTUELLE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE HINTERGRÜNDE

Neben den schon erwähnten spezifischen religionskulturellen Traditionen der Schweiz ist es dann aber seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entwicklung hin zu einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft, die zu grundsätzlichen Überlegungen hinsichtlich des zukünftigen Religionsunterrichts geführt hat. So ist hier zu erwähnen, dass der Anteil der Mitglieder der beiden großen Volkskirchen im Lauf der letzten 40 Jahre von rund 90% auf gegenwärtig ca. 60% abgenommen und sich der Anteil der Konfessionslosen im selben Zeitraum mehr als verzehnfacht hat.

Damit ist zwar immer noch der überwiegende Teil der schweizerischen Bevölkerung Mitglied einer christlichen Kirche oder Religionsgemeinschaft, allerdings werden angesichts der zunehmenden Religionspluralisierung Überlegungen zu einem forcierten interreligiösen Dialog auch am Ort der Schule angestellt.

Für die Betrachtung des Religionsunterrichts in der Schweiz ist nun eben entscheidend, dass Religion stark als Privatsache verstanden wird und sich Gesellschaft wie Politik etwa in Fragen ethischer Debatten eher auf säkulare als auf religiöse Prinzipien des Zusammenlebens beziehen, um so das hoch gehaltene Gut einer möglichst auf Ausgleich bedachten Konsenskultur zu schützen. Tendenzen hin zu einer weitgehenden Entkonfessionalisierung des Faches und zu einem allgemeinen Kulturunterricht sind kaum zu übersehen.10 Auf Grund der angedeuteten, stark humanistischen und liberalen Begründungsgeschichte der schweizerischen Verfassungsprinzipien werden in der Tendenz religiöse Semantiken und Machtansprüche im öffentlich-politischen Raum als eher problematisch angesehen.

Von dort her sind dann auch, was außerhalb der Schweiz gerne übersehen wird, die heftigen Debatten etwa um die Minarettinitiative oder auch das Kopftuchverbot nicht in erster Linie als Debatten um die richtige Religion oder gar als prinzipielle Infragestellung muslimischer Religionsausübung anzusehen, sondern diese beziehen ihre Heftigkeit aus der befürchteten Infragestellung der kulturellen Standards des freiheitlichen und natürlich auch des deutlich durch bestehende Traditionen geprägten Zusammenlebens.

Dies bedeutet konsequenterweise für die Frage der öffentlichen Debatten über den Religionsunterricht, dass das verfassungsmäßig garantierte Prinzip der Religionsfreiheit im Zweifelsfall eher die negative Religionsfreiheit stark macht als die positive.11 Dies heißt – um es schon hier anzudeuten – für die konkrete Auslegung des Faches, dass in Fragen des Religionsunterrichts die öffentliche Meinung vorherrschend ist, Kinder und Jugendliche eher vor möglicherweise problematischen Religionspraktiken schützen zu müssen.

5.KONSEQUENZEN FÜR DEN RELIGIONSUNTERRICHT

Im Unterschied etwa zu Deutschland ist der schulische Religionsunterricht verfassungsmäßig weder garantiert noch seine Stellung durch eine eigene rechtliche Bestimmung in besonderer Weise hervorgehoben. Da den Kantonen die Schulhoheit zukommt, führt dies auf dem Boden der angedeuteten verschiedenen historischen Traditionen zu überaus unterschiedlichen Schulsystemen und den entsprechend abweichenden Regelungen für den Religionsunterricht – ganz abgesehen von den höchst unterschiedlichen Bezeichnungen, die das Fach erfährt: so finden sich Fächernamen wie Biblische Geschichte, Berufswahlkunde – Lebenskunde – Ethik, Ethik und Religionen, Ethik und Religion, Ethik und Religion – Bibel, Religion, Religion und Kultur, Religionen und Kulturen, Religion und Ethik oder Religionskunde und Ethik.

Die bereits seit den 1960er Jahren vehement betriebene Unterscheidung zwischen schulischer religiöser Bildung und kirchlicher Katechese führte faktisch zu einer immer stärkeren Auseinanderentwicklung beider Bildungsbereiche, und zwar sowohl in Hinsicht auf die jeweilige Didaktik sowie die Ausbildungsstätten für das Lehrpersonal als auch mit Blick auf die rechtliche und finanzielle Zuständigkeit.

Für diese Auseinanderentwicklung ist sicherlich auch ein bildungstheoretisches Defizit im Sinne einer fehlenden pädagogischen Begründung für den schulischen Religionsunterricht mitverantwortlich, wie Monika Jacobs ganz richtig konstatiert: Im Unterschied zur Situation in Deutschland ist es »weder der Schule noch der kirchlichen Seite gelungen […], die Relevanz religiöser Bildung auch außerhalb eines konfessionellen Rahmens zu begründen und zu vertreten«12; zudem habe die mangelnde Ausbildung kirchlicher Lehrkräfte in der Schule dazu geführt, dass diese »um ihre Integration und Anerkennung kämpfen mussten und dass sie für die Auseinandersetzungen um das Fach schlecht gerüstet waren.«13

An die Stelle der konfessionellen Ausrichtung treten nun mehr und mehr überkonfessionell und jüngst auch dezidiert religionskundlich orientierte Modelle. Grundsätzlich, wenn auch sehr schematisch, lässt sich die Erteilung des schulischen Religionsunterrichts nach dem Kriterium der Verantwortung und Durchführung durch Kirche und Staat in eine dreifache Modellbildung unterteilen:

In Verantwortung durch die staatlichen Schulen ohne Mitverantwortung der öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften;

in Mitverantwortung der öffentlich-rechtlichen anerkannten Religionsgemeinschaften;

in der Verantwortung der öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften in Zusammenarbeit mit dem Staat.

Allerdings sind nun in jüngster Zeit Harmonisierungstendenzen zu konstatieren, die eben auch den Religionsunterricht betreffen. Diese Veränderungen zeigen sich deutlich im Zusammenhang der Lehrpersonenausbildung für den Religionsunterricht14: Bis zur umfassenden Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in den 1990er Jahren erfolgte die Ausbildung von Lehrpersonen für die Vorschulstufe, die Primarstufe und Sekundarstufe I mehrheitlich an den sog. Seminarien, teilweise durchaus eben auch in konfessioneller Tradition. Die Bologna-Maßnahmen wurden nun sehr früh von der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) zur Grundlage ihrer bildungspolitischen Strategien gemacht15 – und dies von Seiten der Religionspädagogik mit der durchaus kritischen Wahrnehmung, dass »das altehrwürdige Seminar […] der eurokompatiblen und milenniumstauglichen PH«16 wich. So erließ der Fachhochschulrat der EDK am 5. Dezember 2002 Richtlinien für die Umsetzung der Erklärung von Bologna an den Fachhochschulen (FH) und den Pädagogischen Hochschulen (PH) und im Jahr 2004 traf die EDK Beschlüsse zur gesamtschweizerischen Gestaltung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Seitdem findet diese Ausbildung im Sinne der Tertiarisierung, d.h. der Akademisierung, vornehmlich an Universitäten und Fachhochschulen (Pädagogischen Hochschulen, Musik- und Kunsthochschulen) statt.

Bis zum Jahr 2010 wurden sämtliche Studiengänge auf ein neues, zweistufiges Studienmodell umgestellt: Die erste Studienstufe wird mit dem Bachelordiplom abgeschlossen, die zweite Studienstufe mit dem Masterdiplom; pädagogische Hochschulen sorgen für die Ausbildung der Lehrkräfte der Vorschule und der Primarstufe sowie für die Ausbildung der Fach- und Fächergruppenlehrkräfte verschiedener Stufen; Universitäten sind zuständig für die Ausbildung der Lehrkräfte der Sekundarstufe II, teilweise auch für die Ausbildung der Lehrkräfte der SekundarstufeI. Damit stellt sich dann aber sowohl die Frage nach der universitär-religionspädagogischen Ausbildung als auch nach einer kirchlich mitverantworteten Ausbildung nochmals in neuer Weise.

In diesem Zusammenhang hat sich in den vergangenen Jahren das Problem der Bezugswissenschaften für diese Ausbildung verschärft: bis vor wenigen Jahren bestand an den Theologischen Fakultäten der Schweiz die Religionslehrerausbildung zwar nicht exklusiv, aber doch als eine Möglichkeit. Damit hatte auch die universitäre Religionspädagogik ihre Verbindung zum schulischen Religionsunterricht. Auf Grund der zunehmend religionspluralen Zusammensetzung der Schülerschaft und konkreter bildungspolitischer Initiativen in einigen Kantonen gelangt gegenwärtig die Religionswissenschaft als mögliche Bezugsgröße für den schulischen Religionsunterricht verstärkt ins Blickfeld. Unter der Signatur eines religionskundlichen teaching about gewinnt die Religionswissenschaft offenkundig Plausibilität als eine gleichsam neutrale wissenschaftliche Didaktik in Sachen Religion. Dabei ist allerdings nicht zu verkennen, dass von jener Seite aus auch deutliche Infragestellungen und Abwertungstendenzen der theologisch verankerten universitären Religionspädagogik zu verzeichnen sind – was nicht zuletzt auch mit der konkreten Frage der beruflichen Optionen für Absolventen der Religionswissenschaft zusammenhängt. Zudem hat eine besonders vehemente Spielart religionswissenschaftlicher Fachdidaktik, die im Gewand der Kulturkunde auftritt, in jüngster Zeit scharfen Widerspruch bis hin zu Vertretern der allgemeinen Pädagogik gefunden.

So kritisiert der Berliner Pädagoge Dietrich Benner an einer religionswissenschaftlich geprägten Evaluation des Züricher Modells Religion und Kultur, dass diese allgemein-pädagogische, allgemein-didaktische, schulpädagogische, religionspädagogische und theologische Fragestellungen und Konzepte für die Auswertung schlichtweg vernachlässigt habe und damit keinen Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität erheben könne.17 In didaktischer Hinsicht notiert er: »ein unterrichtliches Reden about religion, in dem keine Erfahrungen in religion thematisiert und, sofern angezeigt, problematisiert und kein learning from religion zugelassen würde, [ist] aus pädagogischen und didaktischen Gründen gar nicht realisierbar.«18

Eine weitere Konsequenz für den Religionsunterricht stellt in jüngerer Zeit die Entwicklung hin zu einem die gesamte Schweiz betreffenden Harmonisierungsmodell für den Schulunterricht dar. Im Rahmen des sog. Lehrplan 21 steht auch der Religionsunterricht erneut zur Diskussion: Der neu geplante Teilbereich Ethik – Religionen – Gemeinschaft soll dabei im Horizont der Kompetenzorientierung Kinder und Jugendlicher

– »zur Nachdenklichkeit zu sachgerechtem Vernunftgebrauch und Reflexion grundlegender Werte und Normen anleiten,

– mit religiösen Traditionen und weltanschaulichen Vorstellungen und ihren kulturellen Aspekten bekannt machen und gesellschaftliche Orientierung, Teilhabe und Abgrenzung ermöglichen,

– zu eigenständiger Lebensgestaltung und Verantwortungsbereitschaft ermutigen und zur verantwortlichen Teilhabe an der Gemeinschaft, zu Kommunikation und Kooperation befähigen.«19

Was hier auf den ersten Blick als Chance für die Thematisierung von Religion erscheint, droht dann doch innerhalb eines solchen Teilbereichs in ethische und gemeinschaftsbezogene Unterrichtsinhalte aufzugehen. Insofern besteht im Blick auf die Ausbildung der Religionslehrpersonen die Verantwortung, die spezifischen Inhalte und Dimensionen religiöser Bildung gerade über einen existenziell-ultimativen Modus der Weltbegegnung zu erschließen.

Im Übrigen gilt diese Art der Zurückhaltung gegenüber expressiven Formen von Religion am Ort der öffentlichen Schule, auch bei den Religionslehrern selbst. Sogar dort, wo auf Grund der ganz persönlichen theologischen Berufsbiografie eigentlich im Kontext des Religionsunterrichts auch die persönliche Stellungnahme möglich wäre, geben sich die Lehrpersonen etwa in der Frage von Schulgottesdiensten im Zweifelsfall eher defensiv und vorsichtig.20

Eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, als Theologinnen und Theologen am Ort der Schule präsent zu bleiben, ist die etwa im Kanton Zürich vorhandene ökumenische Schulseelsorge (Mittelschulseelsorge), deren geistliche Mitarbeiter sowohl im Unterricht als auch in der Seelsorge großen Wert auf die Beziehung von Arbeit und Kommunikation legen und dabei auch die religiöse Dimension des Lebens ins Gespräch bringen.21

6.FOLGERUNGEN

Auf dem engen Raum der Schweiz bildet sich die Vielfalt der verschiedenen, auch in Europa praktizierten Zuordnungsmodelle ab, gleichsam von einem kirchlich-konfessionell verankerten Religionsunterricht über eher religionskundliche Modelle bis hin zu einem auf Ethik ausgerichteten laizistisch verankerten Modell, in dem Religion bestenfalls noch am Rande thematisiert wird. Zugleich wird aber auch deutlich, dass die erwähnten Harmonisierungsbestrebungen zu einem überkonfessionellen, im Prinzip religionskundlich geprägten Modell führen könnten, wenn denn zukünftig überhaupt noch eine Art eigenständiges Fach erhalten bleibt, was durchaus fraglich sein könnte.22 Man kann also sagen, dass die alte historische und verfassungsrechtliche Tradition der negativen Religionsfreiheit nun insoweit auf den Religionsunterricht durchschlägt, als dieser als eigenständiges Fach und damit auch als substantielles Thema ganz aus dem allgemeinbildenden Zusammenhang23 zu verschwinden droht.

Und interessanterweise haben sich die Kirchen selbst in den vergangenen Jahren zunehmend aus dem schulischen Bereich zurückgezogen und verlegen ihre Energien und finanziellen Ressourcen deutlicher zurück auf Formen der innerkirchlichen Katechese – was konkret zu Programmnamen wie dem Religionspädagogischen Gesamtkonzept (Zürich), der Geistlichen Begleitung (St. Gallen) oder der Kirchlichen Unterweisung (Bern) geführt hat, auf katholischer Seite ist der entsprechende Bereich von der Sakramentenkatechese geprägt.

Demgegenüber ist festzuhalten, dass durch die in den letzten Jahren verstärkte grenzüberschreitende religionspädagogische Forschung und Arbeit in diesem Bereich nun wiederum auch Fachdebatten über diese Entwicklungen und den konkreten Zuschnitt von Religionsdidaktik geführt werden. Insofern zeigt sich interessanterweise durch den stärker werdenden Wissenstransfer auch die wechselseitige Einflussnahme, deren Konsequenzen für die Profilierung des schweizerischen Religionsunterrichts einstweilen noch nicht absehbar sind.

Von der Betrachtung dieses spezifischen nationalen Bildungskontextes aus sollen hinsichtlich der Frage der transnationalen Vergleichbarkeit einige Einsichten und Problemstellungen benannt werden:

Die kontextuelle Selbstvergewisserung und der internationale Vergleich dienen zum einen dazu, den

Blick über das Gewohnte und die eigenen Grenzen hinaus

auszuweiten – und dies sowohl auf Seiten gegenwärtiger und zukünftiger Forschung als auch in der konkreten Praxis der Ausbildung und des Religionsunterrichts selbst.

Diese Horizonterweiterung kann sowohl den Blick auf die je eigene Praxis schärfen als auch die

grenzüberschreitende Zusammenarbeit

fördern.

Von einer solchen verstärkten Wahrnehmungskultur und Zusammenarbeit aus kann sich die

Kriteriologie der Betrachtung und Einschätzung des eigenen Bildungskontextes

hilfreich ausweiten: und zwar zum einen in Hinsicht darauf, was sich als Spezifikum des eigenen Bildungskontextes bisher bewährt hat und weiter erhalten bleiben sollte, zum anderen in Bezug auf Aspekte, aus denen vom internationalen Vergleich

gelernt

werden kann und gegebenenfalls Veränderungsbedarf angezeigt ist.

Dieser Erkenntniszuwachs im Blick auf den Religionsunterricht dürfte nun insbesondere für die Schweiz von besonderer Bedeutung sein, insofern die gegenwärtigen Debatten sowie die damit verbundenen Modelle des Religionsunterrichts eine gewisse

Selbstreferentialität

zeigen und der Blick auf die Entwicklungen und Modelle in anderen Ländern nicht selten geradezu systematisch verengt bleibt.

Geht man allerdings davon aus, dass sowohl die Herausforderungen der multireligiösen Gesellschaft, die spezifischen Lernbedingungen des Kindes- und Jugendalters sowie die didaktische Zielsetzung des Religionsunterrichts in der Perspektive persönlicher Orientierung und Urteilsbildung tatsächlich

gesamteuropäisch

zu denken sind, dann werden auch die schweizerischen Debatten um die Zukunft des Religionsunterrichtes dies mit zu berücksichtigen haben.

Jedenfalls macht es sowohl inhaltlich als auch atmosphärisch wenig Sinn, die schweizerischen Debatten um den Religionsunterricht gleichsam als

Immunisierungs- oder Abgrenzungsstrategien

von einer bestimmten mentalen Insellage aus zu führen – so als ob es gleichsam primär darum ginge, sich des Eigenen zu vergewissern, um sich damit zugleich vom Anderen abzugrenzen.

Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass die pädagogischen Debatten eben nicht nur in fachimmanenter Weise zu führen sind, sondern zugleich immer auch im Zusammenhang mit sehr viel

weiterreichenden gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Haltungen

stehen.

Da nun durch die angedeuteten politischen Debatten überhaupt in Frage steht, ob der Religionsunterricht als eigenes schulisches Fach auch zukünftig noch Bestand haben wird, scheint es jedenfalls dringlich, dass die hier vorhandenen Kräfte um des Faches und der Schülerschaft willen – und jenseits der fachinternen Differenzen – intensiv und stärker als bisher nach möglichen

Formen der Kooperation

suchen. Dies geschieht um eines allgemeinbildenden Verständnisses von religiöser Bildung am Ort der öffentlichen Schule willen.

DER PHILOSOPHIEUNTERRICHT IN FRANKREICH: VON DERLAÏCITÉZUM FAITRELIGIEUX

Philippe Büttgen

Das französische Schulsystem weist zwei auffällige Besonderheiten auf: den obligatorischen Philosophieunterricht in der Abschlussklasse des französischen Gymnasiums und den Verzicht auf jegliche Form von religiösem Unterricht in den staatlichen Schulen. Man verbindet diese Besonderheiten gemeinhin mit einem Phänomen, das sie wie kaum etwas Anderes verkörpern: die sog. laïcité républicaine, die laïcité der französischen Republik. Diese besondere Form der laïcité zeichnet sich durch drei Elemente aus, die man nicht miteinander vermischen sollte: eine politische Doktrin, nämlich den Säkularismus, eine besondere Form regierungsamtlicher Gewalt, die dem Gesetz vom 9. November 1905, das die Trennung von Kirche und Staat vorsieht, entspringt, und ein verfassungsmäßiges Prinzip, das der erste Artikel der Verfassung der Fünften Republik von 1958 benennt. Frankreich ist demnach eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik.1

In Deutschland von der französischen Schule und der französischen laïcité zu sprechen, ist ein schwieriges Unterfangen, insofern der Komplex alles andere als unbekannt, sondern – im Gegenteil – vermutlich nur allzu gut bekannt sein dürfte. Es sei an dieser Stelle nur an den Kopftuchstreit erinnert, der zwischen 1998 und 2003 als deutsche Version der französischen affaire du voile,2 die ihrerseits seit 1989 und den Ereignissen von Creil das französische Klima prägte, die Diskussion verschärfte.

Zur Zeit des Kopftuchstreits konzentrierte sich meine Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, der in einer frappierenden Weise nicht nur einem, sondern allen, auch den gegensätzlichen Urteilen zu Grunde liegt, die in der Angelegenheit Ferestha Ludin gesprochen wurden, jener Grundschulreferendarin, die das Kopftuch während ihres Unterrichts tragen wollte: Sämtliche Urteile des Verwaltungsgerichts in Baden-Württemberg, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts äußerten sich in ihren Begründungen ausdrücklich gegen ein laizistisches Verständnis der religiösen Neutralität des Staats und ebenso gegen eine strikte Trennung von Kirche und Staat nach dem französischen Modell. Auf eine sehr eindrückliche Weise erwies sich in dieser sehr deutschen Diskussion die Frage nach einer Prävention bzw. nach einer Verhinderung laizistischer Elemente als ein Konsenselement.3

Ich bin Staatsbürger zweier Nationen, der deutschen und der französischen. Insofern befinde ich mich gegenüber Fragen der laïcité in einer gewissen Verlegenheit. Daher befassen sich die folgenden Ausführungen mit Aspekten, die aus meiner Sicht immer schon zu den wirklich deutsch-französischen Konflikten hinzugehören, selbst wenn diese Konflikte glücklicherweise keine praktischen Folgen mehr haben, sondern der Sphäre der juristischen und theologischen Gedanken- und Vorstellungswelt angehören.

Die Wendung laïcité républicaine mit der Vorstellung eines republikanischen Staates zu verbinden, ist sicherlich erklärungsbedürftig. Denn eine Republik kann wohl neutral und konfessionell zugleich sein, wie es eben auch die Bundesrepublik zu sein beansprucht. Daher lässt er sich auch nur schwer ins Deutsche übersetzen. Gleichwohl wäre es ausgesprochen ungeschickt, sich in die Rolle desjenigen zu versetzen, der den Deutschen die laïcité erklären oder sie gar zur ihr bekehren wollte. Es ist unzweifelhaft, dass die Deutschen die französische laïcité anders verstehen als die Franzosen. Sie wissen allerdings sehr nachdrücklich, dass sie sie nicht wollen und sie haben ihre Gründe.

Fernerhin wissen wir alle, was auch immer unsere Überzeugungen sind, dass sich die laïcité républicaine in einer Krise befindet. Aus diesem Grund wäre es wiederum ungeschickt, sie weiter zu belasten oder das Modell – jenseits französischer Grenzen – zu kritisieren. Die Ereignisse der letzten Monate in Paris, Köln, Lesbos oder Raqqa haben vielmehr gezeigt, dass das, was sich in Frankreich als Krise des republikanischen Modells zu erweisen schien, in Wahrheit die besondere Form einer globalen Krise ist.

Man wird sich daher sowohl vor allzu großen Lobeshymnen als auch vor überzogenem Tadel der laïcité hüten müssen; aber, insofern es sich hier um philosophische Gegenstände handelt, wird die Darstellung des Anliegens französischer laïcité deswegen nicht weniger komplex. Man kann vielleicht sagen, dass die Vermeidung von Lob oder Tadel die besondere Aufgabe der Philosophie darstellt – getreu der Devise Spinozas, nicht zu weinen oder zu lachen, sondern zu verstehen.4Aber die Philosophie und ihre Lehre sind in Frankreich derart eng mit dem Schicksal der laïcité républicaine verbunden, dass ihre bloße Erwähnung keine Garantie für irgendeine Neutralität übernimmt. Dies gilt umso weniger als ich selbst Professor für Philosophie bin und ich nicht gedenke, jene rein symbolische Rolle zu spielen, die man der Disziplin gemeinhin zuzugestehen bereit ist. Dies wäre zu einfach. Das Thema fordert mich vielmehr dazu heraus, von der Philosophie und ihrem Unterricht in einer Weise zu sprechen, in der ich mich möglichst aller Gewissheiten enthalte, die mir die Ausübung des Berufs eines Professors für Philosophie nahelegt. Die Aufgabe ist nicht einfach.

Die Lösung des Problems präsentierte sich mir in Gestalt eines etwas barock anmutenden Textes von Michel Foucault, der 1970 den Unterricht der Philosophie in Frankreich als »équivalent laïque du luthéranisme«5 definiert hat. Diese Definition ist zugegebenermaßen etwas eigenwillig, aber sie hat den Vorteil, dass sie eine implizite Lösung auf jene Frage geben kann, die sich mir an dieser Stelle imponiert: Was verbindet den vorgeschriebenen Philosophieunterricht, den eigentlich verbotenen Religionsunterricht und die laïcité républicaine in Frankreich miteinander? Dabei wird zu zeigen sein, dass der Text von Foucault noch 45 Jahre später die Situation des Philosophieunterrichts in Frankreich gut beschreibt, nämlich als eine solche, die sich inzwischen mit der Forderung nach Kenntnisnahme des fait religieux auseinanderzusetzen hat. Am Ende meiner Überlegungen werde ich versuchen, einige praktische Konkretionen zu entwickeln.

1. DAS LAIZISTISCHEÄQUIVALENT DES LUTHERTUMS

Es scheint mir, als könnten Fremdheit und Charakter des Textes von Foucault, der sich zunächst weit von den aktuellen Umständen entfernt, jene Distanz wiederherstellen, die zur Bewältigung des den transnationalen, deutsch-französischen Beziehungen zu Grunde liegenden Problems fehlte. Es handelt sich dabei um ein Interview, das Foucault im Februar 1970 dem Magazin Le Nouvel Observateur gegeben hat.6 Einen Monat zuvor hatte der franzözische Erziehungsminister, Olivier Guichard, ein Gaullist historischen Ranges, offiziell seine Absicht angekündigt, dem Centre universitaire expérimental de Vincennes, in dem Foucault lehrte, die Erlaubnis zu entziehen, den Grad einer Lizenz in Philosophie zu verleihen. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass sich die Rahmenbedingungen inzwischen verändert haben, denn damals eröffnete nur diese Lizenz bzw. die Lizenz zum Unterrichten ihren Inhabern das Recht zu lehren oder sich zumindest dem concours, d.h. dem konkurrentiellen Wettbewerb im Rahmen der agrégation bzw. des certificat d’aptitude professionnelle à l’enseignement secondaire (CAPES)7 in Philosophie zu stellen, den die angehenden Professoren für Philosophie mit Blick auf das Unterrichten in den höheren Klassen zu durchlaufen hatten.8 Ferner soll daran erinnert werden, dass zwar die Diplome von den Universitäten ausgestellt werden, sie aber vom Staat zu bestätigen sind, bevor man die Rechte und Pflichten – wie man in Frankreich sagt – genießen kann. Dabei wollte die damalige Regierung den Lizentiaten der Philosophie, sofern sie der Universität von Vincennes angehörten, die staatliche Anerkennung vorenthalten bzw. entziehen. Die fadenscheinige Begründung, die der Minister gab, betonte deren singulären und besonderen Charakter: die marxistisch-leninistische Einfärbung des Unterrichts, die, so Olivier Guichard, auf diese Weise unterlaufen werden sollte.9

Der Konflikt zwischen dem Staat und den Philosophen von Vincennes verschlimmerte sich noch, als die Universität 1980 zum Umzug nach Saint-Denis gezwungen wurde. Er dauerte insgesamt 15 Jahre und stellt in der französischen Universitätsgeschichte nach 1968 ein Schlüsselereignis dar, das hinreichend dokumentiert und erforscht worden ist – so etwa in den Arbeiten von Charles Soulié, besonders in seiner Sozialgeschichte der Erziehung, die in enger Anlehnung an die Schule Pierre Bourdieus ausgearbeitet worden ist.10 Es war das Interview mit Foucault, dem damaligen Direktor des philosophischen Seminars in Vincennes, das nach der Ankündigung der ministeriellen Entscheidung den schweren Konflikt auslöste. Dieser Konflikt war ein ausgesprochen politischer, insofern Vincennes eine Art Laboruniversität verkörperte, ein enfant terrible aus dem Mai 68, eine Art französisches Bielefeld.11 Die große Geschicklichkeit von Foucault bestand allerdings zu Beginn des Interviews darin, nicht auf dem politischen Charakter des gegen Vincennes gerichteten Angriffs zu insistieren, sondern sich auf die praktischen Konsequenzen zu konzentrieren, die sich aus der ministeriellen Entscheidung ergaben. Jene waren – Foucault zufolge – ausgesprochen präzise formulierbar: »die Studierenden, die ihre Studien in Vincennes absolvierten, hatten demnach keine Berechtigung in der Sekundarstufe zu unterrichten.«12 Die politische Aufmerksamkeit wird also von vornherein auf jene französische Institution gerichtet, die die classe de philosophie nun einmal darstellt, nämlich den obligatorischen Kurs in der letzten Klasse vor dem Abitur. Foucault bemerkt dazu Folgendes:

»Das Spiel – so scheint mir – besteht in Folgendem: den Schülern der Grundschule verhilft die Gesellschaft zum Lese- und Schreibunterricht; jenen, die eher technisch begabt sind, stellt sie die Ausbildung ihrer speziellen aber auch nützlichen Kenntnisse zur Verfügung; jenen, die die Sekundarstufe besuchen – normalerweise führen diese zum Eintritt ins Studium – eröffnet sie ein allgemeines Wissen (die Literatur, die Wissenschaft), und gleichzeitig eine allgemeine Form des Denkens, die es erlaubt, jedes Wissen zu beurteilen, jede Technik, ja die Wurzel jedes Unterrichts. Sie gibt ihnen das Recht und die Pflicht nachzudenken, ihre Freiheit auszuüben, aber nach Maßgabe des reinen Gedankens, ihr Urteilsvermögen auszuüben, aber nach Maßgabe des selbstständigen und freien Gewissens. Der Philosophieunterricht in Frankreich ist daher das laizistische Äquivalent des Luthertums, der Anti-Gegenreformation, die Wiederherstellung des Edikts von Nantes. Die französische Bourgeoisie verlangte wie vergleichbare europäische Schichten auch nach dieser Art von Freiheit. Nachdem sie sie nur um ein Weniges im 16. Jahrhundert verfehlt hatte, erwarb sie diese Freiheit im 18. Jahrhundert nicht nur erneut zurück, sondern konnte sie im 19. Jahrhundert im Bildungssystem institutionalisieren. Der Philosophieunterricht ist also das Luthertum eines katholischen und antiklerikalen Landes. Demgegenüber benötigen angelsächsische Länder einen solchen Unterricht nicht, sie verzichten darauf.« 13

In diesem Moment des Gesprächs weist der Interviewer darauf hin, dass die Anzahl der französischen Abiturienten immerhin gering und damit der Philosophieunterricht trotz offiziellen Diskurses seit seiner Einrichtung ein Fach für die Elite gewesen sein. Und Foucault antwortet ihm sinngemäß:

»Sie haben recht: für die Bourgeoisie handelt es sich um einen lutherischen Ansatz für den eigenen Gebrauch. Sie war im 19. Jahrhundert gezwungen, das universelle Wahlrecht einzuführen und allen zuzugestehen. Allerdings, im Gegensatz zum Protestantismus, konnte das katholische Gewissen nicht zugleich die Bourgeoisie unterstützen, die ihre Macht auf Kosten der Kirche entfaltet hatte, und die Kontrolle über diese Freiheit garantieren. Deswegen war es notwendig, sich an die Erziehung zu halten, an die öffentliche Erziehung. Das Sekundarstufensystem, das mit dem Philosophieunterricht gekrönt wird, sicherte die Ausbildung einer Elite, die die Folgen des allgemeinen Wahlrechts kompensieren, seinen Gebrauch in vernünftige Bahnen leiten und einen Missbrauch begrenzen sollte. Es handelte sich darum, eine Art politisch-moralisches Bewusstseins zu begründen anstelle und am Platz eines Luthertums, das es nicht gab: eine Art Nationalgarde des Gewissens.«14

Sieht man sich die gesamte Argumentationskette an, so dient die Annäherung von classe de philosophie und Luthertum, die Foucault an dieser Stelle vornimmt, der näheren Charakterisierung der hohen Bedeutung, die die französische Regierung dem Philosophieunterricht immer schon beigemessen hat. Er formuliert aber auch das Risiko, das die nicht staatlich anerkannte Lehre von Vincennes den künftigen Lehrern zumutet: »Was hat der Philosophie-Unterricht an so Besonderem und an so Zerbrechlichem, dass man so viele Sicherungen benötigt, um ihn zu schützen? Und welche gefährlichen Eigenschaften und Strategien gibt es bei denen, die die Universität von Vincennes besuchen?«15

Diese Art der Argumentation scheint uns heute nicht länger zu betreffen. Die Diplome der Universität Vincennes in Saint-Denis sind erneut staatlich anerkannt, akkreditiert, wie es im modernen Sprachgebrauch heißt. Zwar bereitet die Universität von Vincennes noch immer nicht auf den concours in Philosophie vor, aber das ist ihre Entscheidung. Im Übrigen scheint die Gefahr einer vollständigen Entfernung des Philosophieunterrichts aus den Gymnasien, eine Gefahr, auf die Foucault mehrfach in seinem Text hinweist und die bis in die 1990er Jahre hinein ein erhebliches Problem darstellte, relativ betrachtet gebannt zu sein. Was also bleibt von diesem streitbaren Interview, oder besser: was lässt sich daraus lernen?

An dieser Stelle möchte ich mich vor allem auf die erstaunliche Feststellung konzentrieren, dass eine funktionale Äquivalenz zwischen der französischen classe de philosophie und dem Luthertum insofern in den Fokus rückt, als dass jene das Luthertum eines katholischen und antiklerikalen Landes verkörpert. Die Philosophie wäre folglich ein reformatorisches Element, das sich in einem Land durchsetzen kann, in dem die Reformation gescheitert ist. Wenn man es akzeptiert, über diese Verbindung nachzudenken, dann scheint Foucaults Vorschlag – so barock er auch klingen mag – an verschiedene Feststellungen und bekannte Problemstellungen anzuknüpfen.

Die Verbindung zwischen der école laïque und dem französischen Protestantismus lässt sich zunächst durch eine ganze Reihe an Schulreformatoren der Dritten Republik – wie etwa Félix Pécaut, Ferdinand Buisson – belegen,16 die als Protestanten eng mit dem liberalen französischen Judentum – wie etwa Camille Sée – verbunden waren. Dies gilt auch für das Milieu der Freimaurer.17 Aus der Fülle der historischen Literatur, die zu diesem Phänomen existiert und insbesondere aus den Arbeiten von Patrick Cabanel, jenem großen Historiographen des zeitgenössischen französischen Protestantismus, sei eine Zahl übernommen, die an dieser Stelle von nicht unerheblichem Interesse ist: Um 1900 hatten 25% aller Mädchengymnasien in Frankreich eine protestantische Direktorin, während der protestantische Bevölkerungsanteil selbst etwas unterhalb von 2% lag.18 Patrick Cabanel hat vollkommen Recht, wenn er für die Jahre zu Beginn der Dritten Republik von einer konfessionellen Säuberung der öffentlichen Ämter in Frankreich ausgeht; dies gilt allerdings ebenso für die Unterrichtenden.19

Zur Verbindung von Protestantismus und laïcité scolaire gesellt sich ein weiteres enges Verhältnis von Protestantismus und Philosophie in Frankreich hinzu: die konfessionelle Zugehörigkeit einer ganzen Reihe exponierter Repräsentanten der Philosophie in der Dritten Republik – ob sie nun akademisch tätig waren (Jules Simon) oder nicht (Charles Renouvier).20 Unter diesen Umständen bekommt sogar der von Foucault verwandte Ausdruck Luthertum